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Document 62021CJ0829

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 29. Juni 2023.
TE und RU gegen Stadt Frankfurt am Main und EF gegen Stadt Offenbach am Main.
Vorabentscheidungsersuchen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs und des Verwaltungsgerichts Darmstadt.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 14 Abs. 1, Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 19 Abs. 2 und Art. 22 – Anspruch Drittstaatsangehöriger auf die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem Mitgliedstaat – Ausstellung einer unbefristeten ‚langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU‘ durch den ersten Mitgliedstaat – Drittstaatsangehöriger, der sich während eines Zeitraums von mehr als sechs Jahren nicht im ersten Mitgliedstaat aufgehalten hat – Daraus folgender Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten – Antrag auf Verlängerung eines vom zweiten Mitgliedstaat nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109/EG erteilten Aufenthaltstitels – Ablehnung des Antrags durch den zweiten Mitgliedstaat wegen Verlusts dieser Rechtsstellung – Voraussetzungen.
Verbundene Rechtssachen C-829/21 und C-129/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:525

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

29. Juni 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Einwanderungspolitik – Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen – Richtlinie 2003/109/EG – Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 14 Abs. 1, Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 19 Abs. 2 und Art. 22 – Anspruch Drittstaatsangehöriger auf die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem Mitgliedstaat – Ausstellung einer unbefristeten ‚langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU‘ durch den ersten Mitgliedstaat – Drittstaatsangehöriger, der sich während eines Zeitraums von mehr als sechs Jahren nicht im ersten Mitgliedstaat aufgehalten hat – Daraus folgender Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten – Antrag auf Verlängerung eines vom zweiten Mitgliedstaat nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109/EG erteilten Aufenthaltstitels – Ablehnung des Antrags durch den zweiten Mitgliedstaat wegen Verlusts dieser Rechtsstellung – Voraussetzungen“

In den verbundenen Rechtssachen C‑829/21 und C‑129/22

betreffend zwei Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland) (C‑829/21) und vom Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland) (C‑129/22) mit Entscheidungen vom 17. Dezember 2021 und vom 21. Februar 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 24. Dezember 2021 bzw. am 24. Februar 2022, in den Verfahren

TE,

RU, gesetzlich vertreten durch TE,

gegen

Stadt Frankfurt am Main (C‑829/21)

und

EF

gegen

Stadt Offenbach am Main (C‑129/22)

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal (Berichterstatterin), der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen, N. Wahl und J. Passer,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Katsimerou und H. Leupold als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 23. März 2023

folgendes

Urteil

1

Die Vorabentscheidungsersuchen betreffen die Auslegung von Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2, Art. 14 Abs. 1, Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 (ABl. 2011, L 132, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2003/109).

2

Sie ergehen im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten, in denen sich in der Rechtssache C‑829/21 TE und RU, zwei ghanaische Staatsangehörige, auf der einen Seite und die Stadt Frankfurt am Main (Deutschland) auf der anderen Seite – wegen der Weigerung Letzterer, die Aufenthaltserlaubnis von TE zu verlängern und RU eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen – sowie in der Rechtssache C‑129/22 EF, ein pakistanischer Staatsangehöriger, und die Stadt Offenbach am Main (Deutschland) – wegen der Weigerung Letzterer, die Aufenthaltserlaubnis von EF zu verlängern – gegenüberstehen. In beiden Rechtsstreitigkeiten wurde als Begründung angeführt, dass TE bzw. EF ihre Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigte, die ihnen von der Italienischen Republik zuerkannt und durch Ausstellung einer unbefristeten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU bescheinigt worden sei, verloren hätten, da sie sich länger als sechs Jahre nicht im italienischen Hoheitsgebiet aufgehalten hätten.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 4, 6, 10, 11, 17, 21 und 22 der Richtlinie 2003/109 heißt es:

„(4)

Die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, trägt entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts bei, der als eines der Hauptziele der [Europäischen Union] im Vertrag angegeben ist.

(6)

Die Dauer des Aufenthalts im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats sollte das Hauptkriterium für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sein. Der Aufenthalt sollte rechtmäßig und ununterbrochen sein, um die Verwurzlung der betreffenden Person im Land zu belegen. …

(10)

Für die Prüfung des Antrags auf Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sollte ein System von Verfahrensregeln festgelegt werden. Diese Verfahren sollten effizient und angemessen sein, wobei die normale Arbeitsbelastung der mitgliedstaatlichen Verwaltungen zu berücksichtigen sind; sie sollten auch transparent und gerecht sein, um den betreffenden Personen angemessene Rechtssicherheit zu bieten. Sie sollten nicht dazu eingesetzt werden, um die betreffenden Personen in der Ausübung ihres Aufenthaltsrechts zu behindern.

(11)

Die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sollte durch einen Aufenthaltstitel bescheinigt werden, mit dem die betreffende Person ohne weiteres und unverzüglich ihre Rechtsstellung nachweisen kann. …

(17)

Die Harmonisierung der Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten fördert das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten. …

(21)

Der Mitgliedstaat, in dem der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht ausüben möchte, sollte überprüfen können, ob diese Person die Voraussetzungen erfüllt, um sich in seinem Hoheitsgebiet aufzuhalten. …

(22)

Langfristig Aufenthaltsberechtigte sollten, damit ihr Recht auf Aufenthalt nicht ohne Wirkung bleibt, nach Maßgabe dieser Richtlinie in dem zweiten Mitgliedstaat die gleiche Behandlung genießen, die sie auch in dem Mitgliedstaat genießen, der ihnen die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten gewährt hat. …“

4

Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Ziel dieser Richtlinie ist die Festlegung

a)

der Bedingungen, unter denen ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der sich rechtmäßig in seinem Hoheitsgebiet aufhält, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erteilen oder entziehen kann, sowie der mit dieser Rechtsstellung verbundenen Rechte …

…“

5

In Art. 2 („Definitionen“) Buchst. b bis d und g der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

b)

‚langfristig Aufenthaltsberechtigter‘ jeden Drittstaatsangehörigen, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der Artikel 4 bis 7 besitzt;

c)

‚erster Mitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, der einem Drittstaatsangehörigen erstmals die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat;

d)

‚zweiter Mitgliedstaat‘ einen anderen Mitgliedstaat als den, der einem Drittstaatsangehörigen erstmals die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, und in dem dieser langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht ausübt;

g)

‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ den Aufenthaltstitel, der bei der Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten von dem betreffenden Mitgliedstaat ausgestellt wird.“

6

Kapitel II der Richtlinie, zu dem deren Art. 4 bis 13 gehören, enthält eine Reihe von Regelungen über die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in einem Mitgliedstaat, insbesondere zu Gewährung und Verlust dieser Rechtsstellung.

7

Art. 8 („Langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]“) Abs. 1 und 2 sieht vor:

„(1)   Vorbehaltlich des Artikels 9 ist die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten dauerhaft.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine ‚langfristige Aufenthaltsberechtigung – [EU]‘ aus. Dieser Aufenthaltstitel ist mindestens fünf Jahre gültig und wird – erforderlichenfalls auf Antrag – ohne weiteres verlängert.“

8

Art. 9 („Entzug oder Verlust der Rechtsstellung“) der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Ein Drittstaatsangehöriger ist nicht mehr berechtigt, die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu behalten, wenn

c)

er sich während eines Zeitraums von 12 aufeinander folgenden Monaten nicht im Gebiet der [Union] aufgehalten hat.

(4)   Ein Drittstaatsangehöriger, der sich gemäß Kapitel III in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, verliert die in dem ersten Mitgliedstaat erworbene Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, wenn ihm diese Rechtsstellung in einem anderen Mitgliedstaat gemäß Artikel 23 zuerkannt wird.

Auf jeden Fall verliert die betreffende Person, die sich sechs Jahre lang nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, der ihr die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, in diesem Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten.

Abweichend von Unterabsatz 2 kann der betreffende Mitgliedstaat vorsehen, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte aus besonderen Gründen seine Rechtsstellung in diesem Mitgliedstaat behält, wenn der Zeitraum, in dem er sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, sechs Jahre überschreitet.

(5)   Im Hinblick auf die Fälle des Absatzes 1 Buchstabe c) und des Absatzes 4 führen die Mitgliedstaaten, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt haben, ein vereinfachtes Verfahren für die Wiedererlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten ein.

Dieses Verfahren gilt insbesondere für Fälle, in denen sich Personen in einem zweiten Mitgliedstaat zum Studium aufgehalten haben.

Die Voraussetzungen und das Verfahren für die Wiedererlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten bestimmen sich nach dem nationalen Recht.

(6)   Das Ablaufen einer langfristigen Aufenthaltsberechtigung – [EU] hat auf keinen Fall den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Folge.

…“

9

Kapitel III („Aufenthalt in den anderen Mitgliedstaaten“) der Richtlinie 2003/109 umfasst deren Art. 14 bis 23.

10

Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 bestimmt:

„Ein langfristig Aufenthaltsberechtigter erwirbt das Recht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten, sofern die in diesem Kapitel festgelegten Bedingungen erfüllt sind.“

11

In Art. 15 („Bedingungen für den Aufenthalt in einem zweiten Mitgliedstaat“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Der langfristig Aufenthaltsberechtigte beantragt unverzüglich, spätestens jedoch drei Monate nach seiner Einreise in den zweiten Mitgliedstaat, einen Aufenthaltstitel bei den zuständigen Behörden jenes Mitgliedstaats.

(2)   Die Mitgliedstaaten können von den betreffenden Personen verlangen, Folgendes nachzuweisen:

a)

feste und regelmäßige Einkünfte, die ohne Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des betreffenden Mitgliedstaats für ihren eigenen Lebensunterhalt und den ihrer Familienangehörigen ausreichen. …

(4)   Dem Antrag sind vom nationalen Recht zu bestimmende Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass die betreffenden Personen die einschlägigen Bedingungen erfüllen[,] beizufügen, sowie ihre langfristige Aufenthaltsberechtigung und ein gültiges Reisedokument oder beglaubigte Abschriften davon.

Die Nachweise nach Unterabsatz 1 können auch Unterlagen in Bezug auf ausreichenden Wohnraum einschließen.

…“

12

Art. 19 („Prüfung von Anträgen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels“) Abs. 2 der Richtlinie bestimmt:

„Sind die Voraussetzungen der Artikel 14, 15 und 16 erfüllt, so stellt der zweite Mitgliedstaat – vorbehaltlich der Bestimmungen der Artikel 17 und 18 über die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit und die öffentliche Gesundheit – dem langfristig Aufenthaltsberechtigten einen verlängerbaren Aufenthaltstitel aus. Dieser Aufenthaltstitel kann – erforderlichenfalls auf Antrag – bei Ablauf verlängert werden. Der zweite Mitgliedstaat teilt dem ersten Mitgliedstaat seine Entscheidung mit.“

13

In Art. 20 („Verfahrensgarantien“) der Richtlinie heißt es:

„(1)   Die Entscheidung, einen Aufenthaltstitel zu versagen, ist zu begründen. Sie wird dem betreffenden Drittstaatsangehörigen nach den Verfahren der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften mitgeteilt. In dieser Mitteilung ist auf die möglichen Rechtsbehelfe und die entsprechenden Fristen hinzuweisen.

(2)   Wird ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel zurückgewiesen oder der Aufenthaltstitel nicht verlängert oder entzogen, so kann die betreffende Person in dem betreffenden Mitgliedstaat Rechtsbehelfe einlegen.“

14

Art. 22 („Entzug des Aufenthaltstitels und Verpflichtung zur Rückübernahme“) Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 sieht vor:

„Bis der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt hat, kann der zweite Mitgliedstaat die Verlängerung des Aufenthaltstitels versagen oder den Aufenthaltstitel entziehen und die betreffende Person und ihre Familienangehörigen gemäß den Verfahren des nationalen Rechts einschließlich der Rückführungsverfahren zur Ausreise aus seinem Hoheitsgebiet verpflichten, wenn

b)

die Voraussetzungen der Artikel 14, 15 und 16 nicht mehr vorliegen;

…“

Deutsches Recht

15

§ 2 („Begriffsbestimmungen“) Abs. 4 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet vom 30. Juli 2004 (BGBl. 2004 I S. 1950) in seiner auf die Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: AufenthG) sieht vor:

„Als ausreichender Wohnraum wird nicht mehr gefordert, als für die Unterbringung eines Wohnungssuchenden in einer öffentlich geförderten Sozialmietwohnung genügt. …“

16

§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG bestimmt, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels in der Regel voraussetzt, dass der Lebensunterhalt gesichert ist.

17

Nach § 9a Abs. 2 Nr. 6 AufenthG wird eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU nur erteilt, wenn der betreffende Ausländer über ausreichenden Wohnraum für sich und seine mit ihm in familiärer Gemeinschaft lebenden Familienangehörigen verfügt.

18

§ 38a („Aufenthaltserlaubnis für in anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union langfristig Aufenthaltsberechtigte“) Abs. 1 AufenthG sieht vor:

„Einem Ausländer, der in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten innehat, wird eine Aufenthaltserlaubnis erteilt, wenn er sich länger als 90 Tage im Bundesgebiet aufhalten will. …“

19

§ 51 Abs. 9 Unterabs. 1 Nr. 4 AufenthG bestimmt, dass die von den deutschen Behörden erteilte langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU nur erlischt, wenn sich der Ausländer für einen Zeitraum von sechs Jahren außerhalb des deutschen Hoheitsgebiets aufhält.

20

§ 52 Abs. 6 AufenthG sieht vor, dass die Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG widerrufen werden soll, wenn der Ausländer seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verliert.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Rechtssache C‑829/21

21

TE, eine ghanaische Staatsangehörige, reiste am 3. September 2013 aus Italien nach Deutschland ein.

22

Sie ist im Besitz einer in Italien ausgestellten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU mit den Vermerken „illimitata“ ([Dauer] unbegrenzt) und „Soggiornante di Lungo Periodo – [UE]“ (langfristig Aufenthaltsberechtigte – [EU]).

23

Gemäß § 38a AufenthG erteilte ihr die damals zuständige Ausländerbehörde der Stadt Offenbach (Deutschland) am 5. Dezember 2013 eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Geltungsdauer von einem Jahr.

24

Am 5. August 2014 brachte TE RU zur Welt. Da RU an einem schweren Herzfehler litt, der Operationen und Nachsorgeuntersuchungen erforderte, war TE gezwungen, ihre berufliche Tätigkeit aufzugeben. Angesichts dieser Situation musste TE Sozialleistungen in Anspruch nehmen, um den Lebensunterhalt ihrer Familie zu bestreiten.

25

Mit Bescheiden vom 30. Januar 2015 wies die Ausländerbehörde der Stadt Offenbach die am 12. November 2014 gestellten Anträge von TE und RU auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung ab, dass ihr Lebensunterhalt entgegen dem in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG genannten Erfordernis nicht gesichert sei. Sie wurden aufgefordert, das deutsche Hoheitsgebiet zu verlassen, und ihnen wurde die Abschiebung, was TE betrifft, in die Italienische Republik und, was RU betrifft, in die Republik Ghana angedroht.

26

Die von TE und RU gegen diese Bescheide erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Frankfurt am Main (Deutschland) mit Urteil vom 20. November 2015 ab.

27

TE und RU beantragten beim vorlegenden Gericht, dem Hessischen Verwaltungsgerichtshof (Deutschland), die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil.

28

Mit Beschluss vom 11. März 2016 ließ dieses Gericht die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils zu, die es in Anbetracht des Umfangs der von RU benötigten medizinischen Versorgung hegte, eines Umstands, der eine Ausnahme von der allgemeinen Regel von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gebieten könne.

29

Ab dem 1. November 2017 ruhte das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht.

30

Am 7. September 2020 nahm die Stadt Frankfurt am Main, die zwischenzeitlich in diesem Verfahren zur Beklagten geworden war, das Verfahren wieder auf und machte geltend, dass die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an TE nach § 38a AufenthG nun nicht mehr möglich sei. TE habe sich nämlich seit mehr als sechs Jahren nicht mehr in Italien aufgehalten und genieße daher nicht mehr die Rechtsstellung einer langfristig Aufenthaltsberechtigten. Auch nach § 9a AufenthG könne TE keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, weil TE und RU eine vom Sozialamt finanzierte Wohnung bewohnten, was kein „ausreichender Wohnraum“ im Sinne dieser Bestimmung sei.

31

Unter diesen Umständen hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht § 38a Abs. 1 AufenthG, der nach nationalem Recht dahin gehend auszulegen ist, dass der weiterwandernde langfristig Aufenthaltsberechtigte auch im Zeitpunkt der Verlängerung seines Aufenthaltstitels die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem ersten Mitgliedstaat innehaben muss, mit den Regelungen der Art. 14 ff. der Richtlinie 2003/109 in Einklang, die lediglich bestimmen, dass ein langfristig Aufenthaltsberechtigter das Recht hat, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten, sofern die in dem Kapitel III der Richtlinie im Übrigen festgelegten Bedingungen erfüllt sind?

2.

Ist die Ausländerbehörde nach den Regelungen der Art. 14 ff. der Richtlinie 2003/109 berechtigt, bei der Entscheidung über einen Verlängerungsantrag nach § 38a Abs. 1 AufenthG, wenn die übrigen Voraussetzungen für eine befristete Verlängerung vorliegen und der Ausländer insbesondere über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, anspruchsvernichtend festzustellen, dass der Ausländer die Rechtsstellung in dem ersten Mitgliedstaat mittlerweile, also nach Übersiedelung in den zweiten Mitgliedstaat, gemäß Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 verloren hat? Ist maßgeblicher Zeitpunkt der Entscheidung derjenige der letzten Behörden- bzw. der letzten Gerichtsentscheidung?

3.

Sollten die Fragen 1 und 2 verneint werden:

Obliegt dem langfristig Aufenthaltsberechtigten die Darlegungslast dafür, dass sein Aufenthaltsrecht als langfristig Aufenthaltsberechtigter im ersten Mitgliedstaat nicht erloschen ist?

Sollte dies verneint werden: Ist ein nationales Gericht oder eine nationale Behörde berechtigt zu prüfen, ob der dem langfristig Aufenthaltsberechtigten unbefristet erteilte Aufenthaltstitel erloschen ist, oder widerspräche dies dem unionsrechtlichen Prinzip gegenseitiger Anerkennung behördlicher Entscheidungen?

4.

Kann einer mit einem unbefristet erteilten Aufenthaltstitel für langfristig aufenthaltsberechtigte Personen aus Italien kommenden, nach Deutschland eingereisten Drittstaaterin, die über feste und regelmäßige Einkünfte verfügt, das Fehlen des Nachweises ausreichenden Wohnraums vorgehalten werden, obgleich Deutschland von der Ermächtigung des Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 keinen Gebrauch gemacht hat und die Einweisung in eine Sozialwohnung nur deshalb erforderlich wurde, weil ihr, solange sie keinen Aufenthaltstitel nach § 38a AufenthG in den Händen hält, kein Kindergeld ausgezahlt wird?

Rechtssache C‑129/22

32

EF, ein pakistanischer Staatsangehöriger, reiste am 1. April 2014 aus Italien nach Deutschland ein.

33

Er ist im Besitz einer in Italien ausgestellten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU mit den Vermerken „illimitata“ ([Dauer] unbegrenzt) und „Soggiornante di Lungo Periodo – [EU]“ (langfristig Aufenthaltsberechtigter – [EU]).

34

Gemäß § 38a AufenthG erteilte ihm die damals zuständige Ausländerbehörde des Landkreises Offenbach (Deutschland) am 10. Juli 2014 eine Aufenthaltserlaubnis mit einer Geltungsdauer von einem Jahr.

35

Diese Aufenthaltserlaubnis wurde fortlaufend verlängert, zuletzt von der nunmehr zuständigen Stadt Offenbach am Main am 28. Mai 2019 bis zum 13. Juli 2021.

36

Der von EF am 17. März 2021 gestellte Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG wurde jedoch mit Verfügung der Stadt Offenbach am Main vom 27. April 2021 im Wesentlichen mit der Begründung abgelehnt, dass EF die Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten in Italien verloren habe, weil er sich länger als sechs Jahre nicht mehr in Italien aufgehalten habe.

37

Am 6. Mai 2021 erhob EF beim Verwaltungsgericht Darmstadt (Deutschland), bei dem es sich um das vorlegende Gericht handelt, gegen diese Verfügung Klage, mit der er u. a. beantragte, die Stadt Offenbach am Main zu verpflichten, seine Aufenthaltserlaubnis nach § 38a AufenthG zu verlängern.

38

Unter diesen Umständen hat das Verwaltungsgericht Darmstadt beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann ein Drittstaatsangehöriger, dem von einem ersten Mitgliedstaat (hier: Italien) die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach der Richtlinie 2003/109 zuerkannt worden ist, von dem zweiten Mitgliedstaat (hier: Deutschland) die Verlängerung eines ihm in Umsetzung der Art. 14 ff. der Richtlinie 2003/109 erteilten Aufenthaltstitels verlangen, ohne den Fortbestand der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nachzuweisen?

Wenn die Frage verneint wird:

2.

Ist in dem zweiten Mitgliedstaat allein deshalb von einem Fortbestand der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten auszugehen, weil der Drittstaatsangehörige im Besitz einer vom ersten Mitgliedstaat unbefristet ausgestellten langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU ist, obwohl er sich sechs Jahre lang nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, der ihm die Rechtsstellung zuerkannt hat?

Wenn die Frage verneint wird:

3.

Ist der zweite Mitgliedstaat befugt, im Rahmen der Verlängerung des Aufenthaltstitels den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 zu prüfen und gegebenenfalls die Verlängerung zu versagen, oder ist der erste Mitgliedstaat zuständig, den nachträglichen Verlust dieser Rechtsstellung festzustellen?

Wenn die Frage bejaht wird:

4.

Bedarf in diesem Fall die Prüfung des Verlustgrundes des Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 einer Umsetzung in nationales Recht, bei der die Tatbestände, die zum Verlust der Rechtsstellung des langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat führen, konkretisiert werden, oder ist es ausreichend, wenn im nationalen Recht ohne konkrete Bezugnahme auf die Richtlinie geregelt wird, dass der zweite Mitgliedstaat den Aufenthaltstitel versagen darf, „wenn der Ausländer seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verliert“?

39

Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. November 2022 sind die Rechtssachen C‑829/21 und C‑129/22 zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.

Zu den Vorlagefragen

Zu den ersten drei Fragen in den Rechtssachen C‑829/21 und C‑129/22

40

Mit ihren ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchten die mit den Rechtssachen C‑829/21 und C‑129/22 befassten vorlegenden Gerichte im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat die Verlängerung eines Aufenthaltstitels, den er einem Drittstaatsangehörigen nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie erteilt hat, aus dem in deren Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 genannten Grund versagen kann, dass der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem Mitgliedstaat, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat, verloren hat, da er sich während eines Zeitraums von sechs Jahren nicht in dessen Hoheitsgebiet aufgehalten hat, und – sofern dies bejaht wird – welchen Bedingungen eine solche Versagung unterliegt.

41

Hierzu ergibt sich erstens aus Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109, dass ein Drittstaatsangehöriger, der sich auf der Grundlage eines nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie erteilten Aufenthaltstitels im Hoheitsgebiet des „zweite[n] Mitgliedstaat[s]“ aufhalten möchte, vorab die Voraussetzung erfüllen muss, dass ihm im „erste[n] Mitgliedstaat“ im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie die der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zukommt. Dass eine solche Vorbedingung besteht, wird durch Art. 19 Abs. 2 der Richtlinie bestätigt.

42

Art. 22 der Richtlinie 2003/109 bekräftigt, dass diese Voraussetzung auch für die Verlängerung eines derartigen Aufenthaltstitels des Betreffenden im zweiten Mitgliedstaat gegeben sein muss, da Letzterer nach Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der genannten Richtlinie die Verlängerung des Titels versagen kann, wenn die Voraussetzungen der Art. 14 bis 16 der Richtlinie nicht mehr vorliegen.

43

Aus Art. 15 der Richtlinie 2003/109 ergibt sich überdies, dass die Mitgliedstaaten von der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils angeführten Voraussetzung im Gegensatz zu den weiteren in Art. 15 vorgesehenen Bedingungen nicht abweichen dürfen.

44

Dass es sich hierbei um eine zwingende Voraussetzung handelt, ergibt sich daraus, dass das Aufenthaltsrecht im zweiten Mitgliedstaat, wie auch der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ein aus der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten abgeleitetes Recht ist.

45

Falls der zweite Mitgliedstaat bei der Bearbeitung eines Antrags auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat namentlich aus dem in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 angeführten Grund verloren hat, dass er sich seit mehr als sechs Jahren nicht im ersten Mitgliedstaat aufgehalten hat, so steht diese Feststellung einer solchen Verlängerung entgegen.

46

Zweitens obliegt es, wie vom 21. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 bestätigt wird, in dem von dieser Richtlinie geschaffenen System dem zweiten Mitgliedstaat, in dem sich der Drittstaatsangehörige aufgrund der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, die ihm im ersten Mitgliedstaat zukommt, aufhalten möchte, zu überprüfen, ob der Drittstaatsangehörige die Voraussetzungen für die Erteilung oder für die Verlängerung eines Aufenthaltstitels erfüllt; hierzu gehört die in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie aufgestellte Voraussetzung, dass er im ersten Mitgliedstaat tatsächlich diese Rechtsstellung innehat.

47

Mithin kann der zweite Mitgliedstaat im Rahmen einer solchen Überprüfung dazu angehalten sein, zu untersuchen, ob der betreffende Drittstaatsangehörige die fragliche Rechtsstellung namentlich nicht aus dem in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 angeführten Grund verloren hat.

48

Zwar kann eine solche Überprüfung gegebenenfalls dazu führen, dass der zweite Mitgliedstaat den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten feststellt und folglich dem betreffenden Drittstaatsangehörigen die Verlängerung seines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. b dieser Richtlinie versagt; indessen kann nur der erste Mitgliedstaat diese Rechtsstellung und die langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU entziehen oder gegebenenfalls das vereinfachte Verfahren für die Wiedererlangung der Rechtsstellung anwenden, ein Verfahren, das die Mitgliedstaaten nach Art. 9 Abs. 5 der Richtlinie einführen müssen.

49

Was drittens den Zeitpunkt betrifft, der für die Beurteilung der Frage durch den zweiten Mitgliedstaat maßgeblich ist, ob die in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 für die Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist, so können auf den ersten Blick drei Zeitpunkte in Betracht gezogen werden.

50

So könnte als maßgeblicher Zeitpunkt, wie im Übrigen der Generalanwalt in Nr. 46 seiner Schlussanträge im Kern ausgeführt hat, entweder auf denjenigen des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels oder auf einen späteren Zeitpunkt vor der Verwaltungsentscheidung über diesen Antrag abzustellen sein oder aber auf einen noch späteren Zeitpunkt, der zwischen dem der Einreichung eines gerichtlichen Rechtsbehelfs gegen die ablehnende Verwaltungsentscheidung und dem des Erlasses der gerichtlichen Entscheidung liegt, etwa, wie vom vorlegenden Gericht in der Rechtssache C‑829/21 angeregt, auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung.

51

Einzig maßgeblich für die Beurteilung der in Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 aufgestellten Voraussetzung ist indessen der Zeitpunkt des Antrags des betreffenden Drittstaatsangehörigen auf Verlängerung seines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III.

52

Es verstieße nämlich gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, wenn man zuließe, dass die Mitgliedstaaten für eine solche Beurteilung über die Möglichkeit verfügten, auf einen späteren Zeitpunkt im Verlauf eines Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens abzustellen, da der Erfolg eines solchen Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels dann von Umständen abhängen könnte, die nicht in der Sphäre des Antragstellers selbst liegen, sondern hauptsächlich in der Sphäre der Verwaltung oder der nationalen Gerichte, wie etwa der mehr oder weniger zügigen Bearbeitung des Antrags oder der mehr oder weniger zügigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf gegen eine einen solchen Antrag ablehnende Entscheidung (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2020, État belge [Familienzusammenführung – Minderjähriges Kind], C‑133/19, C‑136/19 und C‑137/19, EU:C:2020:577, Rn. 42).

53

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass der Unionsgesetzgeber – wie sich auch aus dem zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 ergibt – im Rahmen der Verfahrensregeln für die Prüfung des Antrags auf Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten den betreffenden Drittstaatsangehörigen eine angemessene Rechtssicherheit garantieren wollte.

54

Wenn allerdings der zweite Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass der Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat etwa aufgrund dessen eingetreten ist, dass die in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 genannte Sechsjahresfrist während des Verwaltungs- oder Gerichtsverfahrens zu diesem Verlängerungsantrag abgelaufen ist, so ist er, wie der Generalanwalt in den Nrn. 55 und 56 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, durch nichts daran gehindert, auf dieser Grundlage eine neue Entscheidung zu erlassen, mit der in Anwendung von Art. 22 der Richtlinie die Verlängerung des Aufenthaltstitels versagt oder dieser entzogen wird.

55

Was viertens die Beweislast dafür betrifft, dass für die Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 die in Rn. 41 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung dahin gehend verifiziert wird, dass der betreffende Drittstaatsangehörige im ersten Mitgliedstaat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten besitzt, so ist dieser Beweis grundsätzlich von dem Drittstaatsangehörigen zu führen.

56

Aus Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/109 lässt sich allerdings im Licht von deren elftem Erwägungsgrund entnehmen, dass es für den Nachweis, dass diese Voraussetzung vorliegt, grundsätzlich ausreicht, dass der Drittstaatsangehörige seine vom ersten Mitgliedstaat gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie ausgestellte langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU dem zweiten Mitgliedstaat vorlegt, da der Drittstaatsangehörige mit einer solchen Aufenthaltsberechtigung, wenn sie noch gültig ist, ohne Weiteres und unverzüglich seine Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten und deren Fortbestand nachweisen kann. Eine solche gültige Aufenthaltsberechtigung lässt daher vermuten, dass der Drittstaatsangehörige weiterhin diese Rechtsstellung besitzt.

57

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU, wie sich aus Art. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 ergibt, ihrem Inhaber grundsätzlich das Recht verleiht, sich länger als drei Monate im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten als desjenigen, der ihm die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zuerkannt hat, aufzuhalten (Urteil vom 17. Juli 2014, Tahir, C‑469/13, EU:C:2014:2094, Rn. 42).

58

Im Übrigen sieht Art. 9 Abs. 6 der Richtlinie 2003/109 umgekehrt vor, dass das Ablaufen der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU auf keinen Fall den Entzug oder den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zur Folge hat, was vom deklaratorischen Charakter eines solchen Aufenthaltstitels zeugt.

59

Im vorliegenden Fall steht außer Streit, dass TE und EF jeweils im ersten Mitgliedstaat, d. h. in Italien, über eine unbefristete und damit noch gültige langfristige Aufenthaltsberechtigung – EU verfügen, so dass zu ihren Gunsten zu vermuten ist, dass sie weiterhin die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in diesem Mitgliedstaat besitzen.

60

Eine solche Vermutung entspricht insofern, als sie für den zweiten Mitgliedstaat bei der Bearbeitung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung eines Aufenthaltstitels gilt, dem Geist des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten, das – wie im 17. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 ausgeführt – durch die Harmonisierung der Bedingungen für die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gefördert wird.

61

Fünftens ist klarzustellen, dass diese Vermutung allerdings nicht unwiderlegbar ist.

62

In Anbetracht des bereits in Rn. 58 des vorliegenden Urteils festgestellten deklaratorischen Charakters der langfristigen Aufenthaltsberechtigung – EU kann der zweite Mitgliedstaat nämlich, auch wenn der betreffende Drittstaatsangehörige ihm eine solche gültige Aufenthaltsberechtigung vorlegen kann, u. a. bei der Bearbeitung eines Antrags auf Verlängerung eines nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 erteilten Aufenthaltstitels zur Prüfung dessen angehalten sein, ob der Fortbestand der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nicht in Anbetracht eines der in Art. 9 der Richtlinie genannten Gründe für den Verlust dieser Rechtsstellung in Frage zu stellen ist.

63

Eine solche Infragestellung setzt aber die Feststellung durch den zweiten Mitgliedstaat voraus, dass hinreichend konkrete und übereinstimmende Indizien dafür bestehen, dass einer dieser Gründe in dem ihm vorgelegten Fall eingreifen kann.

64

Was insbesondere den in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 genannten Grund betrifft, so stellt der Umstand, dass zum Zeitpunkt der Antragstellung durch den Betroffenen seit dessen Ankunft im Hoheitsgebiet des zweiten Mitgliedstaats oder seit Erteilung seines ersten Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie im zweiten Mitgliedstaat mehr als sechs Jahre vergangen sind, einen Anhaltspunkt für einen solchen Verlust dar, der es rechtfertigen kann, dass durch diesen Mitgliedstaat der Fortbestand der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten überprüft wird.

65

Sechstens ist der zweite Mitgliedstaat bei Vorliegen derartiger Anhaltspunkte zu zwei zusätzlichen Prüfungsschritten speziell zu dem in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Grund für den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verpflichtet.

66

Als Erstes hat der zweite Mitgliedstaat für die Feststellung, ob diese Bestimmung Anwendung findet, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass jede physische Anwesenheit des Betreffenden im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats während des Zeitraums von sechs Jahren ausreicht, um den Verlust seiner Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten zu verhindern, auch wenn sie während dieses Zeitraums eine Gesamtdauer von nur wenigen Tagen nicht überschreitet (vgl. entsprechend zu Art. 9 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/109 Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien [Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten], C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 47).

67

Dieses Verständnis von Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 beruht namentlich auf der bereits in Rn. 53 des vorliegenden Urteils hervorgehobenen Notwendigkeit, den betreffenden Drittstaatsangehörigen im Rahmen der Verfahrensregeln für die Prüfung des Antrags auf Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten eine angemessene Rechtssicherheit zu garantieren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Januar 2022, Landeshauptmann von Wien [Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten], C‑432/20, EU:C:2022:39, Rn. 38 bis 40).

68

Folglich führt eine – auch nur sehr kurze – Anwesenheit des betreffenden Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats im Verlauf des in dieser Bestimmung genannten Zeitraums von sechs Jahren dazu, dass die dort festgesetzte Verlustfrist unterbrochen wird und eine neue Frist von sechs Jahren ab dem Zeitpunkt zu laufen beginnt, zu dem die jeweilige Anwesenheit des Drittstaatsangehörigen im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats endet.

69

Somit obliegt es dem zweiten Mitgliedstaat im Rahmen der Prüfung eines Antrags auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109, selbst zu prüfen, ob Anhaltspunkte bestehen, aus denen sich für ihn folgern lässt, dass der in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie genannte Zeitraum von sechs Jahren zum Zeitpunkt der Antragstellung durch den Betroffenen verstrichen war, und, soweit dies zutrifft, Letzterem diesen Umstand mitzuteilen und ihn dabei darüber zu informieren, dass diese Frist unterbrochen worden sein und eine neue Frist von sechs Jahren zu laufen begonnen haben kann, wenn er sich zwischenzeitlich erneut im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats aufgehalten hat.

70

In diesem Zusammenhang hat der zweite Mitgliedstaat den betreffenden Drittstaatsangehörigen, sofern sich dieser auf eine derartige Unterbrechung beruft, dazu aufzufordern, Beweismittel vorzulegen, anhand deren der Nachweis einer Anwesenheit im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats im Verlauf des fraglichen Sechsjahreszeitraums erbracht werden kann, auch wenn diese Anwesenheit nur einige Tage umfasst haben sollte.

71

Als Zweites hat der zweite Mitgliedstaat, wenn sich aus den von ihm durchgeführten Überprüfungen ergibt, dass sich der betreffende Drittstaatsangehörige für einen sechs Jahre übersteigenden Zeitraum nicht im ersten Mitgliedstaat aufgehalten hat, nach Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie 2003/109 auch zu prüfen, ob der erste Mitgliedstaat in seinen Rechtsvorschriften von der in dieser Bestimmung vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht hat, abweichend von Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie vorzusehen, dass der langfristig Aufenthaltsberechtigte „aus besonderen Gründen“ seine Rechtsstellung in diesem Mitgliedstaat behält, „wenn der Zeitraum, in dem er sich nicht im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufgehalten hat, sechs Jahre überschreitet“, und – wenn dies der Fall ist –, ob ein solcher besonderer Grund vorliegt.

72

Bei diesen beiden Prüfungsschritten hat sich der zweite Mitgliedstaat an den ersten Mitgliedstaat zu wenden, um dessen Unterstützung anzufordern, sobald diese Überprüfungen den Zugriff auf Informationen erfordern, über die allein der zuletzt genannte Mitgliedstaat verfügen kann.

73

Hierbei ist daran zu erinnern, dass in den Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten der in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit zu berücksichtigen ist, der die Mitgliedstaaten allgemein und damit u. a. im Rahmen der durch die Richtlinie 2003/109 geregelten Sachverhalte verpflichtet, sich bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben, gegenseitig zu achten und zu unterstützen.

74

Schließlich kann der zweite Mitgliedstaat erst nach Abschluss dieser Überprüfungen und erst unter Würdigung sämtlicher maßgeblicher Gesichtspunkte ausschließlich für die Zwecke des Verfahrens zur Prüfung des Antrags auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 gegebenenfalls die Schlussfolgerung ziehen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt der Antragstellung nach Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie nicht mehr die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat besaß, und kann aus diesem Grund die Verlängerung des Aufenthaltstitels gemäß Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie versagen.

75

Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen in den Rechtssachen C‑829/21 und C‑129/22 zu antworten, dass die Richtlinie 2003/109, und insbesondere ihr Art. 22 Abs. 1 Buchst. b, dahin auszulegen ist, dass ein Mitgliedstaat die Verlängerung eines Aufenthaltstitels, den er einem Drittstaatsangehörigen nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie erteilt hat, aus dem in deren Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 genannten Grund versagen kann, dass der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem Mitgliedstaat, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat, verloren hat, da er sich während eines Zeitraums von sechs Jahren nicht in dessen Hoheitsgebiet aufgehalten hat und dieser Mitgliedstaat keinen Gebrauch von der in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit gemacht hat, vorausgesetzt, dass die Frist von sechs Jahren spätestens zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels abgelaufen war und dass der Drittstaatsangehörige vorher aufgefordert wurde, etwaige Anwesenheiten im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats, die in diese Frist fallen, nachzuweisen.

Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑129/22

76

Mit seiner vierten Frage möchte das mit der Rechtssache C‑129/22 befasste vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen sind, dass der zweite Mitgliedstaat, der diese Bestimmungen mittels zweier verschiedener Vorschriften umsetzt, sie ordnungsgemäß in nationales Recht umsetzt, wenn die erste Vorschrift den in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie genannten Grund für den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aufgreift und die zweite Vorschrift ohne eine konkrete Bezugnahme auf einen der in Art. 9 der Richtlinie genannten Verlustgründe vorsieht, dass ein nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie erteilter Aufenthaltstitel widerrufen werden soll, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in dem Mitgliedstaat, der sie zuerkannt hatte, verloren hat.

77

Hierzu ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass die Umsetzung in nationales Recht von Bestimmungen des Unionsrechts wie Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 verlangt, dass diese durch Vorschriften umgesetzt werden, die so konkret, bestimmt und klar sind, dass es dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügt (vgl. entsprechend Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 87, sowie vom 3. September 2020, Subdelegación del Gobierno en Barcelona [Langfristig Aufenthaltsberechtigte], C‑503/19 und C‑592/19, EU:C:2020:629, Rn. 36 und 37).

78

Was im Einzelnen Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 betrifft, so lässt sich dieser Rechtsprechung ebenfalls entnehmen, dass sich der betreffende Mitgliedstaat, sollte es sich erweisen, dass dies nicht der Fall ist, nicht auf diese Bestimmung berufen könnte, um den Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2003/109 abzulehnen.

79

Eine nationale Rechtsvorschrift wie § 52 Abs. 6 AufenthG, wonach eine Aufenthaltserlaubnis nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie widerrufen werden soll, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in einem anderen Mitgliedstaat verliert, setzt Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109, auch wenn diese nationale Rechtsvorschrift nicht ausdrücklich auf die in Art. 9 der Richtlinie vorgesehenen Verlustgründe verweist, so konkret, bestimmt und klar um, wie von der in Rn. 77 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gefordert.

80

Denn zum einen lässt sich einer solchen nationalen Vorschrift zweifelsfrei entnehmen, dass ein derartiger Aufenthaltstitel vom zweiten Mitgliedstaat widerrufen wird, wenn der Betroffene die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem Mitgliedstaat, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hatte, verloren hat.

81

Zum anderen kann der in dieser nationalen Vorschrift genannte Umstand, der dem zweiten Mitgliedstaat die Begründung für einen solchen Widerruf liefert, nämlich dass der betreffende Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat verloren hat, als eine Verweisung auf die verschiedenen, in Art. 9 der Richtlinie 2003/109 vorgesehenen Gründe für den Verlust dieser Rechtsstellung angesehen werden, da der Mitgliedstaat, der diese Rechtsstellung zuerkannt hat, selbige nur aus einem dieser Gründe widerrufen kann.

82

Ferner wird Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 von einer nationalen Vorschrift wie § 51 Abs. 9 Unterabs. 1 Nr. 4 AufenthG, wonach ein Drittstaatsangehöriger, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in diesem Mitgliedstaat besitzt, diese Rechtsstellung verliert, wenn er sich für einen Zeitraum von sechs Jahren außerhalb des Hoheitsgebiets des genannten Mitgliedstaats aufhält, so konkret, bestimmt und klar umgesetzt, wie von der in Rn. 77 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung gefordert.

83

Auf Grundlage der nationalen Vorschrift zur Umsetzung von Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 kann es der zweite Mitgliedstaat folglich ablehnen, dem Drittstaatsangehörigen einen Aufenthaltstitel nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie zu erteilen oder einen solchen Aufenthaltstitel zu verlängern, wenn er feststellt, dass dieser Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat aus dem in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie genannten Grund verloren hat.

84

Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑129/22 zu antworten, dass Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen sind, dass der zweite Mitgliedstaat, der diese Bestimmungen mittels zweier verschiedener Vorschriften umsetzt, sie ordnungsgemäß in nationales Recht umsetzt, wenn die erste Vorschrift den in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie genannten Grund für den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aufgreift und die zweite Vorschrift ohne eine konkrete Bezugnahme auf einen der in Art. 9 der Richtlinie genannten Verlustgründe vorsieht, dass ein nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie erteilter Aufenthaltstitel widerrufen werden soll, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in dem Mitgliedstaat, der sie zuerkannt hatte, verloren hat.

Zur vierten Frage in der Rechtssache C‑829/21

85

Mit seiner vierten Frage möchte das mit der Rechtssache C‑829/21 befasste vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie oder die Verlängerung eines solchen Titels beantragt hat, diesen Antrag, obgleich der Mitgliedstaat diese Bestimmung nicht umgesetzt hat, mit der Begründung ablehnen kann, dass der Drittstaatsangehörige seinem Antrag keine Nachweise über ausreichenden Wohnraum beigefügt hat.

86

Insoweit ist es, wie sich aus der bereits in den Rn. 77 und 78 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt, Sache des vorlegenden Gerichts, das im Rahmen des von Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens für die Auslegung des nationalen Rechts ausschließlich zuständig ist, zu prüfen, ob sein nationales Recht eine Bestimmung enthält, mit der Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 so konkret, bestimmt und klar umgesetzt wird, dass es dem Erfordernis der Rechtssicherheit genügt. Sollte sich herausstellen, dass dies nicht der Fall ist, könnte sich der zweite Mitgliedstaat nicht auf diese Bestimmung berufen, um den Antrag eines Drittstaatsangehörigen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie oder dessen Verlängerung abzulehnen.

87

Im vorliegenden Fall geht das mit der Rechtssache C‑829/21 befasste vorlegende Gericht aber schon nach dem Wortlaut seiner vierten Frage davon aus, dass „Deutschland von der Ermächtigung des Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 keinen Gebrauch gemacht hat“.

88

Nach alledem ist auf die vierte Frage in der Rechtssache C‑829/21 zu antworten, dass Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie oder die Verlängerung eines solchen Titels beantragt hat, diesen Antrag, sofern der Mitgliedstaat diese Bestimmung nicht umgesetzt hat, nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass der Drittstaatsangehörige seinem Antrag keine Nachweise über ausreichenden Wohnraum beigefügt hat.

Kosten

89

Für die Beteiligten der Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil der bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Die Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen in der durch die Richtlinie 2011/51/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2011 geänderten Fassung, und insbesondere ihr Art. 22 Abs. 1 Buchst. b,

ist dahin auszulegen, dass

ein Mitgliedstaat die Verlängerung eines Aufenthaltstitels, den er einem Drittstaatsangehörigen nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie in ihrer geänderten Fassung erteilt hat, aus dem in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie in ihrer geänderten Fassung genannten Grund versagen kann, dass der Drittstaatsangehörige die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten in dem Mitgliedstaat, der ihm diese Rechtsstellung zuerkannt hat, verloren hat, da er sich während eines Zeitraums von sechs Jahren nicht in dessen Hoheitsgebiet aufgehalten hat und dieser Mitgliedstaat keinen Gebrauch von der in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 3 der Richtlinie in ihrer geänderten Fassung vorgesehenen Möglichkeit gemacht hat, vorausgesetzt, dass die Frist von sechs Jahren spätestens zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Verlängerung des Aufenthaltstitels abgelaufen war und dass der Drittstaatsangehörige vorher aufgefordert wurde, etwaige Anwesenheiten im Hoheitsgebiet des ersten Mitgliedstaats, die in diese Frist fallen, nachzuweisen.

 

2.

Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 und Art. 22 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2003/109 in der durch die Richtlinie 2011/51 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

der zweite Mitgliedstaat, der diese Bestimmungen mittels zweier verschiedener Vorschriften umsetzt, sie ordnungsgemäß in nationales Recht umsetzt, wenn die erste Vorschrift den in Art. 9 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie in ihrer geänderten Fassung genannten Grund für den Verlust der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten aufgreift und die zweite Vorschrift ohne eine konkrete Bezugnahme auf einen der in Art. 9 der Richtlinie in ihrer geänderten Fassung genannten Verlustgründe vorsieht, dass ein nach den Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie in ihrer geänderten Fassung erteilter Aufenthaltstitel widerrufen werden soll, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige seine Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter in dem Mitgliedstaat, der sie zuerkannt hatte, verloren hat.

 

3.

Art. 15 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/109 in der durch die Richtlinie 2011/51 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

der Mitgliedstaat, in dem der Drittstaatsangehörige die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach den Bestimmungen des Kapitels III dieser Richtlinie in ihrer geänderten Fassung oder die Verlängerung eines solchen Titels beantragt hat, diesen Antrag, sofern der Mitgliedstaat diese Bestimmung nicht umgesetzt hat, nicht mit der Begründung ablehnen darf, dass der Drittstaatsangehörige seinem Antrag keine Nachweise über ausreichenden Wohnraum beigefügt hat.

 

Prechal

Arastey Sahún

Biltgen

Wahl

Passer

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Juni 2023.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Die Kammerpräsidentin

A. Prechal


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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