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Document 62009CJ0256

Urteil des Gerichtshofes (Zweite Kammer) vom 15. Juli 2010.
Bianca Purrucker gegen Guillermo Vallés Pérez.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesgerichtshof - Deutschland.
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung - Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 - Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen - Anerkennung und Vollstreckung.
Rechtssache C-256/09.

Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-07353

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:437

Rechtssache C‑256/09

Bianca Purrucker

gegen

Guillermo Vallés Pérez

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesgerichtshofs)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen – Anerkennung und Vollstreckung“

Leitsätze des Urteils

1.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 8 bis 14)

2.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 20 und 39)

3.        Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung Nr. 2201/2003

(Verordnung Nr. 2201/2003 des Rates, Art. 20 bis 27)

1.        Ergibt sich nicht offensichtlich aus der erlassenen Entscheidung, dass ein Gericht, das einstweilige Maßnahmen angeordnet hat, nach der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 in der Hauptsache zuständig ist, oder enthält diese Entscheidung keine unzweideutige Begründung für die Zuständigkeit dieses Gerichts in der Hauptsache unter Bezugnahme auf eine der in den Art. 8 bis 14 der Verordnung genannten Zuständigkeiten, kann daraus geschlossen werden, dass diese Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen ist. Es kann jedoch anhand von Art. 20 der Verordnung über einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen geprüft werden, ob die Entscheidung unter diese Vorschrift fällt.

(vgl. Randnr. 76)

2.        In Anbetracht der Bedeutung einstweiliger Maßnahmen – ob sie nun von einem in der Hauptsache zuständigen oder unzuständigen Gericht erlassen werden –, die in Verfahren über die elterliche Verantwortung angeordnet werden können, insbesondere ihrer möglichen Auswirkungen auf Kleinkinder, zumal bei Zwillingen, die voneinander getrennt werden, und des Umstands, dass das Gericht, das die Maßnahmen angeordnet hat, gegebenenfalls eine Bescheinigung gemäß Art. 39 der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 ausgestellt hat, während sich die Gültigkeit der von dieser Bescheinigung erfassten Maßnahmen danach bestimmt, ob binnen 30 Tagen Klage in der Hauptsache erhoben wird, ist es wichtig, dass derjenige, der von einem solchen Verfahren betroffen ist – auch wenn er von dem Gericht, das die Maßnahmen angeordnet hat, gehört worden ist –, die Initiative ergreifen und einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die einstweiligen Maßnahmen angeordnet werden, einlegen kann, damit er vor einem Gericht, das nicht dasjenige ist, das diese Maßnahmen erlassen hat, und das binnen kurzer Frist entscheidet, insbesondere die Zuständigkeit in der Hauptsache, die das Gericht, das die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat, bejaht hat, oder, wenn sich aus der Entscheidung nicht ergibt, dass das Gericht zuständig sei oder seine Zuständigkeit in der Hauptsache nach der Verordnung Nr. 2201/2003 bejaht habe, das Vorliegen folgender Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 20 dieser Verordnung in Frage stellen kann:

–        Die betreffenden Maßnahmen müssen dringend sein,

–        sie müssen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem diese Gerichte ihren Sitz haben, und

–        sie müssen vorübergehender Art sein.

Dieser Rechtsbehelf sollte eingelegt werden können, ohne dass damit eine wie auch immer geartete Anerkennung der von dem Gericht, das die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat, gegebenenfalls bejahten Zuständigkeit in der Hauptsache durch denjenigen, der den Rechtsbehelf einlegt, präjudiziert wird.

(vgl. Randnrn. 77, 97-98)

3.        Die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung Nr. 1347/2000 sind nicht auf einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar. Der Unionsgesetzgeber hat nämlich eine solche Geltung nicht gewollt, wie sowohl aus der Entstehungsgeschichte dieser Vorschriften als auch aus entsprechenden Vorschriften vorheriger Rechtsinstrumente wie der Verordnung Nr. 1347/2000 und dem Übereinkommen Brüssel II hervorgeht. Außerdem würde, wenn die in der Verordnung Nr. 2201/2003 vorgesehene Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung in jedem anderen Mitgliedstaat einschließlich des in der Hauptsache zuständigen Mitgliedstaats in Bezug auf einstweilige Maßnahmen angewandt würde, dies die Gefahr einer Umgehung der in dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften und eines „forum shopping“ heraufbeschwören, was im Widerspruch zu den mit der Verordnung verfolgten Zielen und insbesondere zur Berücksichtigung des Kindeswohls stünde, die dadurch erfolgt, dass Entscheidungen, die das Kind betreffen, von dem in geografischer Nähe zu dessen gewöhnlichem Aufenthalt gelegenen Gericht erlassen werden, das nach Ansicht des Unionsgesetzgebers die im Interesse des Kindes anzuordnenden Maßnahmen am besten beurteilen kann.

(vgl. Randnrn. 84 und 91 sowie Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

15. Juli 2010(*)

„Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Zuständigkeit sowie Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung – Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 – Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen – Anerkennung und Vollstreckung“

In der Rechtssache C‑256/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach den Art. 68 EG und 234 EG, eingereicht vom Bundesgerichtshof (Deutschland) mit Entscheidung vom 10. Juni 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Juli 2009, in dem Rechtsbeschwerdeverfahren

Bianca Purrucker

gegen

Guillermo Vallés Pérez

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin P. Lindh sowie der Richter A. Rosas (Berichterstatter), U. Lõhmus und A. Arabadjiev,

Generalanwältin: E. Sharpston,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2010,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Purrucker, vertreten durch Rechtsanwältin B. Steinacker,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und J. Kemper als Bevollmächtigte,

–       der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek als Bevollmächtigten,

–      der spanischen Regierung, vertreten durch J. López-Medel Báscones als Bevollmächtigten,

–      der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Russo, avvocato dello Stato,

–      der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich, K. Szíjjártó und S. Boreczki als Bevollmächtigte,

–      der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes als Bevollmächtigten,

–      der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte im Beistand von K. Smith, Barrister,

–      der Europäischen Kommission, vertreten durch A. M. Rouchaud-Joët und S. Grünheid als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 20. Mai 2010

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 (ABl. L 338, S. 1).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen einer Rechtsbeschwerde von Frau Purrucker, der Mutter der Kinder Merlín und Samira Purrucker, vor dem Bundesgerichtshof gegen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart (Deutschland) vom 22. September 2008, mit der die Erteilung der Vollstreckungsklausel für eine Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial (Spanien), mit der das Sorgerecht für beide Kinder deren Vater übertragen wurde, bestätigt wird.

 Rechtlicher Rahmen

3        Das Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung wurde am 25. Oktober 1980 im Rahmen der Haager Konferenz für internationales Privatrecht unterzeichnet (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1980). Es trat am 1. Dezember 1983 in Kraft. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind Vertragsparteien des Übereinkommens.

4        Das Übereinkommen enthält Vorschriften, wonach die sofortige Rückgabe eines widerrechtlich verbrachten oder zurückgehaltenen Kindes anzuordnen ist.

5        Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 sieht insbesondere vor, dass die Gerichte des Vertragsstaats, in den das Kind verbracht oder in dem es zurückgehalten wurde, wenn ihnen das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten des Kindes mitgeteilt worden ist, eine Sachentscheidung über das Sorgerecht erst treffen dürfen, wenn entschieden ist, dass das Kind aufgrund dieses Übereinkommens nicht zurückzugeben ist.

6        Das Übereinkommen über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern wurde am 19. Oktober 1996 ebenfalls im Rahmen der Haager Konferenz für internationales Privatrecht unterzeichnet (im Folgenden: Haager Übereinkommen von 1996) und ist an die Stelle des Übereinkommens vom 5. Oktober 1961 über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen getreten.

7        Einige Mitgliedstaaten, u. a. die Bundesrepublik Deutschland und das Königreich Spanien, haben dieses Übereinkommen nicht ratifiziert. Sie sind hierzu ermächtigt durch die Entscheidung 2008/431/EG des Rates vom 5. Juni 2008 zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, das Haager Übereinkommen von 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern im Interesse der Europäischen Gemeinschaft zu ratifizieren oder ihm beizutreten, und zur Ermächtigung einiger Mitgliedstaaten, eine Erklärung über die Anwendung der einschlägigen internen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts abzugeben (ABl. L 151, S. 36).

8        Art. 11 in Kapitel II („Zuständigkeit“) des Haager Übereinkommens von 1996 lautet:

„(1)      In allen dringenden Fällen sind die Behörden jedes Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind oder ihm gehörendes Vermögen befindet, zuständig, die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen.

(2)      Maßnahmen nach Absatz 1, die in Bezug auf ein Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Vertragsstaat getroffen wurden, treten außer Kraft, sobald die nach den Artikeln 5 bis 10 zuständigen Behörden die durch die Umstände gebotenen Maßnahmen getroffen haben.

(3)      Maßnahmen nach Absatz 1, die in Bezug auf ein Kind mit gewöhnlichem Aufenthalt in einem Nichtvertragsstaat getroffen wurden, treten in jedem Vertragsstaat außer Kraft, sobald dort die durch die Umstände gebotenen und von den Behörden eines anderen Staates getroffenen Maßnahmen anerkannt werden.“

9        Art. 23 in Kapitel IV („Anerkennung und Vollstreckung“) des Haager Übereinkommens von 1996 sieht vor:

„(1)      Die von den Behörden eines Vertragsstaats getroffenen Maßnahmen werden kraft Gesetzes in den anderen Vertragsstaaten anerkannt.

(2)      Die Anerkennung kann jedoch versagt werden,

a)       wenn die Maßnahme von einer Behörde getroffen wurde, die nicht nach Kapitel II zuständig war;

…“

10      Art. 26 im selben Kapitel dieses Übereinkommens bestimmt:

„(1)      Erfordern die in einem Vertragsstaat getroffenen und dort vollstreckbaren Maßnahmen in einem anderen Vertragsstaat Vollstreckungshandlungen, so werden sie in diesem anderen Staat auf Antrag jeder betroffenen Partei nach dem im Recht dieses Staates vorgesehenen Verfahren für vollstreckbar erklärt oder zur Vollstreckung registriert.

(3)      Die Vollstreckbarerklärung oder die Registrierung darf nur aus einem der in Artikel 23 Absatz 2 vorgesehenen Gründe versagt werden.“

11      Art. 31 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1) bestimmt:

„Die im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich solcher, die auf eine Sicherung gerichtet sind, können bei den Gerichten dieses Staates auch dann beantragt werden, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache das Gericht eines anderen Mitgliedstaats aufgrund dieser Verordnung zuständig ist.“

12      Eine ähnliche Bestimmung war enthalten in Art. 24 des Brüsseler Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, geänderter Text S. 77), des Übereinkommens vom 25. Oktober 1982 über den Beitritt der Republik Griechenland (ABl. L 388, S. 1), des Übereinkommens vom 26. Mai 1989 über den Beitritt des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik (ABl. L 285, S. 1) und des Übereinkommens vom 29. November 1996 über den Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden (ABl. 1997, C 15, S. 1) (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen).

13      Vor dem Inkrafttreten der Verordnung Nr. 2201/2003 hatte der Rat der Europäischen Union mit Rechtsakt vom 28. Mai 1998 das Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen (ABl. C 221, S. 1, im Folgenden: Übereinkommen Brüssel II) ausgearbeitet. Dieses Übereinkommen ist nicht in Kraft getreten. Da sein Text als Modell für die Verordnung Nr. 2201/2003 gedient hat, ist der von A. Borrás erstellte Erläuternde Bericht zu diesem Übereinkommen (ABl. 1998, C 221, S. 27, im Folgenden: Borrás-Bericht) angeführt worden, um die Auslegung dieser Verordnung zu klären.

14      Der Verordnung Nr. 2201/2003 ging die Verordnung Nr. 1347/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten (ABl. L 160, S. 19) voraus. Die Verordnung Nr. 1347/2000 wurde durch die Verordnung Nr. 2201/2003, deren Anwendungsbereich weiter ist, aufgehoben.

15      Die Erwägungsgründe 12, 16, 21 und 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 lauten:

„(12)  Die in dieser Verordnung für die elterliche Verantwortung festgelegten Zuständigkeitsvorschriften wurden dem Wohle des Kindes entsprechend und insbesondere nach dem Kriterium der räumlichen Nähe ausgestaltet. Die Zuständigkeit sollte vorzugsweise dem Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes vorbehalten sein außer in bestimmten Fällen, in denen sich der Aufenthaltsort des Kindes geändert hat oder in denen die Träger der elterlichen Verantwortung etwas anderes vereinbart haben.

(16) Die vorliegende Verordnung hindert die Gerichte eines Mitgliedstaats nicht daran, in dringenden Fällen einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände, die sich in diesem Staat befinden, anzuordnen.

(21)  Die Anerkennung und Vollstreckung der in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen sollten auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen und die Gründe für die Nichtanerkennung auf das notwendige Minimum beschränkt sein.

(24)  Gegen die Bescheinigung, die ausgestellt wird, um die Vollstreckung der Entscheidung zu erleichtern, sollte kein Rechtsbehelf möglich sein. Sie sollte nur Gegenstand einer Klage auf Berichtigung sein, wenn ein materieller Fehler vorliegt, d. h., wenn in der Bescheinigung der Inhalt der Entscheidung nicht korrekt wiedergegeben ist.“

16      Art. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

1.      ‚Gericht‘ alle Behörden der Mitgliedstaaten, die für Rechtssachen zuständig sind, die gemäß Artikel 1 in den Anwendungsbereich dieser Verordnung fallen;

4.      ‚Entscheidung‘ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene … Entscheidung über die elterliche Verantwortung, ohne Rücksicht auf die Bezeichnung der jeweiligen Entscheidung, wie Urteil oder Beschluss;

7.      ‚elterliche Verantwortung‘ die gesamten Rechte und Pflichten, die einer natürlichen oder juristischen Person durch Entscheidung oder kraft Gesetzes oder durch eine rechtlich verbindliche Vereinbarung betreffend die Person oder das Vermögen eines Kindes übertragen wurden. Elterliche Verantwortung umfasst insbesondere das Sorge- und das Umgangsrecht;

9.      ‚Sorgerecht‘ die Rechte und Pflichten, die mit der Sorge für die Person eines Kindes verbunden sind, insbesondere das Recht auf die Bestimmung des Aufenthaltsortes des Kindes;

11.      ‚widerrechtliches Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes‘ das Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes, wenn

a)      dadurch das Sorgerecht verletzt wird, das aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes oder aufgrund einer rechtlich verbindlichen Vereinbarung nach dem Recht des Mitgliedstaats besteht, in dem das Kind unmittelbar vor dem Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte,

und

b)      das Sorgerecht zum Zeitpunkt des Verbringens oder Zurückhaltens allein oder gemeinsam tatsächlich ausgeübt wurde oder ausgeübt worden wäre, wenn das Verbringen oder Zurückhalten nicht stattgefunden hätte. Von einer gemeinsamen Ausübung des Sorgerechts ist auszugehen, wenn einer der Träger der elterlichen Verantwortung aufgrund einer Entscheidung oder kraft Gesetzes nicht ohne die Zustimmung des anderen Trägers der elterlichen Verantwortung über den Aufenthaltsort des Kindes bestimmen kann.

…“

17      Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung sieht vor:

„Für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat.“

18      Art. 9 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Beim rechtmäßigen Umzug eines Kindes von einem Mitgliedstaat in einen anderen, durch den es dort einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt erlangt, verbleibt abweichend von Artikel 8 die Zuständigkeit für eine Änderung einer vor dem Umzug des Kindes in diesem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidung über das Umgangsrecht während einer Dauer von drei Monaten nach dem Umzug bei den Gerichten des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes, wenn sich der laut der Entscheidung über das Umgangsrecht umgangsberechtigte Elternteil weiterhin gewöhnlich in dem Mitgliedstaat des früheren gewöhnlichen Aufenthalts des Kindes aufhält.“

19      Art. 10 der Verordnung bestimmt:

„Bei widerrechtlichem Verbringen oder Zurückhalten eines Kindes bleiben die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem das Kind unmittelbar vor dem widerrechtlichen Verbringen oder Zurückhalten seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, so lange zuständig, bis das Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erlangt hat …“

20      Art. 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sieht vor:

„Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts geklärt ist.“

21      Art. 20 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen“) dieser Verordnung bestimmt:

„(1)  Die Gerichte eines Mitgliedstaats können in dringenden Fällen ungeachtet der Bestimmungen dieser Verordnung die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen in Bezug auf in diesem Staat befindliche Personen oder Vermögensgegenstände auch dann anordnen, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist.

(2)       Die zur Durchführung des Absatzes 1 ergriffenen Maßnahmen treten außer Kraft, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.“

22      Die Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 betreffen die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen. Gemäß Art. 21 Abs. 1 der Verordnung werden die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.

23      Gemäß Art. 24 der Verordnung Nr. 2201/2003 darf die Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats nicht überprüft werden.

24      Art. 39 dieser Verordnung sieht die Ausstellung einer Bescheinigung vor. Wie aus Anhang II der Verordnung hervorgeht, der den Inhalt der Bescheinigung festlegt, enthält diese Angaben zum Verfahren, insbesondere eine Bescheinigung über die Vollstreckbarkeit und Zustellung einer gerichtlichen Entscheidung.

25      Art. 46 der Verordnung bestimmt:

„Öffentliche Urkunden, die in einem Mitgliedstaat aufgenommen und vollstreckbar sind, sowie Vereinbarungen zwischen den Parteien, die in dem Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar sind, werden unter denselben Bedingungen wie Entscheidungen anerkannt und für vollstreckbar erklärt.“

26      Die Verordnung Nr. 2201/2003 hat nach ihrem Art. 60 Vorrang vor dem Haager Übereinkommen von 1980. Art. 61 regelt das Verhältnis zwischen der Verordnung und dem Haager Übereinkommen von 1996.

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und anhängige Verfahren

27      Aus dem Vorlagebeschluss geht hervor, dass Frau Purrucker Mitte 2005 zu Herrn Vallés Pérez nach Spanien zog. Im Mai 2006 gebar sie Zwillinge, die als Frühgeburten zur Welt kamen. Der Sohn Merlín konnte das Krankenhaus im September 2006 verlassen. Die Tochter Samira konnte nach zwischenzeitlich eingetretenen Komplikationen erst im März 2007 entlassen werden.

28      Zuvor hatte sich das Verhältnis zwischen Frau Purrucker und Herrn Vallés Pérez verschlechtert. Frau Purrucker wollte mit ihren Kindern nach Deutschland zurückkehren, während Herr Vallés Pérez damit zunächst nicht einverstanden war. Am 30. Januar 2007 schlossen die Parteien eine notarielle Vereinbarung, die zu ihrer Vollstreckbarkeit der Genehmigung durch ein Gericht bedurfte. Die Klauseln 2 und 3 dieser Vereinbarung lauten:

„ZWEITENS − Was die minderjährigen Kinder der Beziehung betrifft, ist vereinbart, dass sie in der Obhut des Vaters und der Mutter bleiben und beide die elterliche Sorge tragen, unbeschadet des Besuchsrechts des Vaters für seine Kinder, von dem er jederzeit nach Wunsch freien Gebrauch machen kann, wobei die unter DRITTENS beschriebene Vereinbarung bezüglich des Wohnorts getroffen wird.

DRITTENS – In Bezug auf den Wohnort der Mutter und der Kinder wird vereinbart, dass Frau Purrucker mit ihnen nach Deutschland zieht, wo sie ihren festen Wohnsitz einnimmt, welchen sie dem leiblichen Vater mitteilt, der dem Umzug der Mutter mit den Kindern in genanntes Land ausdrücklich zustimmt, wobei die Mutter das Besuchsrecht des Vaters anerkennt und diesem erlaubt, zu jeder Zeit nach Wunsch bei seinen Kindern zu sein, nachdem er der Mutter vorher die Besuchstermine mitgeteilt hat. Der Wohnort ist unbefristet, unbeschadet der Entscheidungen, welche die aus der Beziehung hervorgegangenen Kinder bei Erlangen der Volljährigkeit treffen können.“

29      Frau Purrucker beabsichtigte, gemeinsam mit ihrem aus einer früheren Beziehung hervorgegangenen Sohn D. und den Kindern Merlín und Samira nach Deutschland zurückzukehren.

30      Da Samira wegen eingetretener Komplikationen und eines notwendigen chirurgischen Eingriffs nicht aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte, reiste Frau Purrucker am 2. Februar 2007 mit dem Sohn Merlín nach Deutschland. Nach dem Vortrag von Frau Purrucker vor dem vorlegenden Gericht sollte die Tochter Samira nach der Entlassung aus dem Krankenhaus ebenfalls nach Deutschland gebracht werden.

31      Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens sind drei Verfahren anhängig:

–        Das erste, in Spanien von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren betrifft die Anordnung einstweiliger Maßnahmen. Dieses Verfahren könnte unter bestimmten Bedingungen offenbar als Hauptsacheverfahren zur Übertragung des Sorgerechts für die Kinder Merlín und Samira angesehen werden.

–        Das zweite, in Deutschland von Frau Purrucker eingeleitete Verfahren betrifft die Übertragung des Sorgerechts für dieselben Kinder.

–        Das dritte, in Deutschland von Herrn Vallés Pérez eingeleitete Verfahren betrifft die Vollstreckbarerklärung der Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial über die Anordnung vorläufiger Maßnahmen. In diesem Verfahren ist das Vorabentscheidungsersuchen ergangen.

 Das in Spanien eingeleitete Verfahren auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen

32      Herr Vallés Pérez, der sich nicht mehr an die notarielle Vereinbarung gebunden fühlte, leitete im Juni 2007 vor dem Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial ein Verfahren zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen und insbesondere zur Übertragung des Sorgerechts für die Kinder Samira und Merlín ein.

33      Die mündliche Verhandlung fand am 26. September 2007 statt. Frau Purrucker gab schriftliche Erklärungen ab und war im Termin anwaltlich vertreten.

34      Mit Beschluss vom 8. November 2007 ordnete der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial dringende einstweilige Maßnahmen an.

35      Wie aus diesem Beschluss, den Frau Purrucker ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen beigefügt hat, hervorgeht, stellt das spanische Gericht fest:

„Neben dem einschlägigen spanischen materiellen Recht stützt sich die Klage auf das Haager Übereinkommen [von 1980] (Art. 1 und 2), die Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 und das Abkommen zwischen dem Königreich Spanien und der Bundesrepublik Deutschland vom 14. November 1983 über die Zuständigkeit der spanischen Gerichte (Art. 8).“

36      In Abschnitt 3 der rechtlichen Begründung des Beschlusses heißt es:

„DRITTENS – In erster Linie erweist sich angesichts der angeführten europäischen Gesetzgebung und der zwischen Spanien und Deutschland in Sachen Familienrecht, Sorgerecht und Unterhaltsrecht geschlossenen Übereinkommen dieses Gericht als eindeutig zuständig, da beide Elternteile in Spanien gewohnt haben und die Familie in diesem Land ihren letzten Wohnsitz hatte (Art. 769.3 LEC [Ley de Enjuiciamiento Civil – spanische Zivilprozessordnung]; Art. 1 Haager Übereinkommen [von 1980] – Zuständigkeit des Gerichts am Ort des gewöhnlichen Aufenthalts des Minderjährigen –, da Merlín in Colmenarejo gemeldet ist und er seinen gewöhnlichen Aufenthalt bis zur Ausreise nach Deutschland am 2. Februar 2007 in Spanien hatte).

Hinzu kommt, dass der Kläger Spanier ist, in Spanien seinen ständigen Wohnsitz hat und dies das erste in dieser Sache eingeleitete Verfahren in Spanien ist, sowie dass sich das erkennende Gericht mit Zulassungsbeschluss vom 28. Juni und Verfügung vom 20. September für zuständig erklärt hat. Infolgedessen wird sich das Gericht von Albstadt gemäß Art. 19 [der Verordnung Nr. 2201/2003] gegebenenfalls von Amts wegen zugunsten dieses spanischen Gerichts für unzuständig zu erklären haben. Dies gilt nur dann, wenn bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Verfahren bezüglich der elterlichen Verantwortung für ein Kind wegen desselben Anspruchs anhängig gemacht worden sind. Das später in Deutschland von Bianca Purrucker anhängig gemachte Verfahren ist eigentlich ein vereinfachtes Verfahren zur Durchsetzung einer Unterhaltspflicht zugunsten des Kindes Merlín gegen den Vater Guillermo Vallés, das unter der Nummer 8FH 13/07 vor dem Familiengericht Albstadt geführt wird.

Die Rechtsanwältin von Bianca Purrucker hat in der mündlichen Verhandlung die Unzuständigkeit des erkennenden Gerichts mit der Begründung gerügt, dass sich Merlín gewöhnlich in Deutschland befinde, weshalb die Interessen dieses Kindes in Deutschland zu wahren seien, und dass zwischen den Parteien die private Vereinbarung bestehe.

Die Gegenseite spricht sich dagegen aus[, die Sache an das deutsche Gericht zu verweisen], da der tatsächliche Gesundheitszustand Merlíns nicht bekannt sei, man nicht wisse, ob die Mutter irgendwann nach Spanien zurückkehren werde, und die Mutter abgereist sei, als sich Samira in Lebensgefahr befunden habe; überdies sei die private Vereinbarung weder gerichtlich noch von der Staatsanwaltschaft genehmigt worden und könnte unter Täuschung und Druck geschlossen worden sein.

Die Staatsanwaltschaft hat in der mündlichen Verhandlung die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts bejaht, weil die Vereinbarung zwischen den Parteien nicht gerichtlich genehmigt und die Anordnung einstweiliger Maßnahmen dringend erforderlich sei. Die Zuständigkeit des spanischen Gerichts ergebe sich aus dem ständigen Wohnsitz des Klägers in Spanien, dem in Spanien ausgefertigten Dokument über die private Vereinbarung und der Tatsache, dass Merlín in Spanien geboren wurde. Es sei zu bezweifeln, dass die Ausreise Merlíns aus Spanien ordnungsgemäß erfolgt sei.

Aufgrund dessen erklärt sich das erkennende Gericht für zuständig, die beantragten einstweiligen Maßnahmen anzuordnen.“

37      Nach den Angaben des Bundesgerichtshofs im Vorlagebeschluss wurden folgende einstweiligen Maßnahmen angeordnet:

„Als dringende und sofortige einstweilige Maßnahme wird in Entscheidung des Antrags von Guillermo Vallés Pérez gegen Frau Bianca Purrucker vorsorglich beschlossen:

1.      Die Übertragung des gemeinsamen Sorgerechts für die beiden Kinder Samira und Merlín Vallés Purrucker an den Vater Guillermo Vallés Pérez; die elterliche Gewalt verbleibt bei beiden Elternteilen.

Zur Ausführung dieser Verfügung muss die Mutter den minderjährigen Sohn Merlín seinem in Spanien ansässigen Vater zurückgeben. Es sind geeignete Maßnahmen zu treffen, die es der Mutter ermöglichen, mit dem Jungen zu reisen und Samira und Merlín zu besuchen, wann immer sie es wünscht, bzw. ist ihr eine Wohnung zur Verfügung zu stellen, die der familiäre Treffpunkt sein kann oder von dem Verwandten oder der dritten Vertrauensperson gestellt werden kann, die bei den Besuchen während der ganzen Zeit, die die Mutter mit den Kindern verbringt, anwesend sein muss, oder die väterliche Wohnung sein kann, falls beide Parteien dies vereinbaren sollten.

2.      Verbot, ohne vorherige gerichtliche Genehmigung mit den beiden Kindern das spanische Hoheitsgebiet zu verlassen.

3.      Verbleib der Reisepässe der beiden Kinder im Besitz des Elternteils, der das Sorgerecht ausübt.

4.      Unterstellung sämtlicher Wohnungswechsel der beiden Kinder Samira und Merlín unter vorherige richterliche Genehmigung.

5.      Die Festsetzung einer Unterhaltspflicht zu Lasten der Mutter erfolgt nicht.

Es ergeht keine Kostenentscheidung.

Dieser Beschluss ist bei Eröffnung eines Hauptverfahrens in die entsprechende Verfahrensakte aufzunehmen.

Dieser Beschluss ist in der gesetzlichen Form und unter Hinweis auf seine Unanfechtbarkeit den Parteien und der Staatsanwaltschaft zuzustellen.“

38      Wie aus den Anlagen zu den Erklärungen von Frau Purrucker hervorgeht, wurde der Beschluss des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial vom 8. November 2007 durch Beschluss vom 28. November 2007 berichtigt. Die Nr. 1 der Beschlussformel wurde dahin berichtigt, dass die Übertragung „des Sorgerechts“, und nicht mehr des „gemeinsamen Sorgerechts“, auf den Vater angeordnet wird.

39      Am 11. Januar 2008 stellte der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial eine Bescheinigung nach Art. 39 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 darüber aus, dass seine Entscheidung vollstreckbar ist und zugestellt wurde.

40      Offenbar stellte Herr Vallés Pérez einen Hauptsacheantrag, über den vom angerufenen Gericht am 28. Oktober 2008 entschieden wurde; gegen diese Entscheidung wurde offenbar Rechtsmittel eingelegt.

 Das in Deutschland eingeleitete Verfahren auf Übertragung des Sorgerechts

41      Am 20. September 2007, also noch bevor die Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial ergangen war, hatte Frau Purrucker in einem Hauptsacheverfahren vor dem Amtsgericht Albstadt (Deutschland) beantragt, ihr die elterliche Sorge für die Kinder Merlín und Samira zu übertragen. Das Sorgerechtsverfahren war vom 19. März bis 28. Mai 2008 nach Art. 16 des Haager Übereinkommens von 1980 ausgesetzt und wurde sodann gemäß § 13 des deutschen Gesetzes zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts an das Amtsgericht Stuttgart (Deutschland) abgegeben. Das Amtsgericht Stuttgart lehnte den Erlass einer neuen einstweiligen Anordnung über das Sorgerecht für die beiden gemeinsamen Kinder ab. In der Hauptsache hat es noch nicht entschieden, sondern Bedenken gegen seine internationale Zuständigkeit geäußert. Mit Beschluss vom 8. Dezember 2008 stellte es fest, dass der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial mit seinem in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils erwähnten Beschluss vom 28. Oktober 2008 festgestellt habe, dass er das zuerst angerufene Gericht im Sinne der Art. 16 und 19 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003 sei. Das Amtsgericht Stuttgart setzte daher das Verfahren gemäß Art. 19 Abs. 2 dieser Verordnung bis zur Rechtskraft der Entscheidung des spanischen Gerichts von San Lorenzo de El Escorial aus.

42      Frau Purrucker legte gegen den Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Stuttgart hob den Beschluss am 14. Mai 2009 auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Stuttgart zurück. Das Oberlandesgericht Stuttgart war der Auffassung, dass jedes Gericht seine Zuständigkeit in eigener Verantwortung prüfen müsse und Art. 19 der Verordnung Nr. 2201/2003 keinem der beteiligten Gerichte die alleinige Kompetenz für die verbindliche Entscheidung über die Erstzuständigkeit übertrage. Der von Herrn Vallés Pérez im Juni 2007 in Spanien eingereichte Antrag zum Sorgerecht sei im Rahmen eines Verfahrens auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt worden, während es sich bei dem von Frau Purrucker am 20. September 2007 in Deutschland gestellten Antrag zum Sorgerecht um ein Hauptsacheverfahren handele. Ein Hauptsacheverfahren und ein Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz bildeten nicht denselben Streitgegenstand bzw. denselben Anspruch.

43      Mit Verfügung vom 8. Juni 2009 bat das Amtsgericht Stuttgart die Parteien um Mitteilung, in welchem Stadium sich das in Spanien anhängige Verfahren befinde, und gab ihnen Gelegenheit, zu der Möglichkeit Stellung zu nehmen, dem Gerichtshof gemäß Art. 104b seiner Verfahrensordnung die Frage der Erstanrufung eines Gerichts zur Vorabentscheidung vorzulegen.

 Das in Deutschland eingeleitete Verfahren auf Vollstreckbarerklärung der spanischen Entscheidung

44      Dieses Verfahren hat zu dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geführt. Herr Vallés Pérez hatte zunächst u. a. die Herausgabe des Kindes Merlín verlangt und nur vorsorglich die Vollstreckbarerklärung der Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial beantragt. Später betrieb er die Vollstreckbarerklärung dieser Entscheidung vorrangig weiter. Entsprechend versahen das Amtsgericht Stuttgart mit Entscheidung vom 3. Juli 2008 und das Oberlandesgericht Stuttgart mit Beschwerdeentscheidung vom 22. September 2008 die Entscheidung des spanischen Gerichts mit der Vollstreckungsklausel und drohten ein Ordnungsgeld gegen Frau Purrucker an.

45      Der Bundesgerichtshof fasst die Entscheidung des Oberlandesgerichts wie folgt zusammen:

„Gründe, die einer Vollstreckbarkeit der Entscheidung des spanischen Gerichts entgegenstünden, seien nicht ersichtlich. Zwar handele es sich um eine einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts. Die [Verordnung Nr. 2201/2003] unterscheide im Rahmen der Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten in Art. 2 Nr. 4 aber nicht nach der Entscheidungsform, sondern fordere lediglich eine ‚gerichtliche Entscheidung‘. Auch wenn die gemeinsamen Kinder nicht von dem spanischen Gericht angehört worden seien, verletze dies keine wesentlichen verfahrensrechtlichen Grundsätze des deutschen Rechts, zumal die Kinder im Zeitpunkt der Entscheidung erst eineinhalb Jahre alt gewesen seien. Soweit die Antragsgegnerin wegen einer verspäteten Einleitung des Hauptsacheverfahrens die Vollstreckbarkeit der spanischen Entscheidung in Zweifel stelle, stehe dem die Bescheinigung des spanischen Gerichts nach Art. 39 der [Verordnung Nr. 2201/2003] entgegen. Auch Versagungsgründe nach Art. 23 der [Verordnung Nr. 2201/2003] lägen nicht vor. Insbesondere sei kein Verstoß gegen den deutschen ordre public ersichtlich; das rechtliche Gehör der Antragsgegnerin sei durch ihre Ladung zum Termin gewährt gewesen. Dass sie den Termin nicht persönlich wahrgenommen, sondern sich lediglich anwaltlich habe vertreten lassen, beruhe auf ihrer eigenen Entscheidung. Eine Sachprüfung des in Spanien entschiedenen Sorgerechtsverfahrens sei dem Gericht im Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahren verwehrt.“

46      Mit ihrer Rechtsbeschwerde vor dem Bundesgerichtshof greift Frau Purrucker die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 22. September 2008 mit der Begründung an, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen der Gerichte anderer Mitgliedstaaten erfasse nach Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Verordnung, weil diese nicht als Entscheidungen über die elterliche Verantwortung zu qualifizieren seien.

 Vorabentscheidungsersuchen und Vorlagefrage

47      Der Bundesgerichtshof führt aus, die Frage, ob die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 auch für einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 dieser Verordnung oder nur für Entscheidungen in der Hauptsache gälten, sei in der Literatur umstritten und in der Rechtsprechung noch nicht abschließend geklärt.

48      Nach einer ersten Ansicht seien einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 grundsätzlich vom Anwendungsbereich der Vorschriften über die Anerkennung und Vollstreckung nach den Art. 21 ff. der Verordnung ausgenommen. Art. 20 dieser Verordnung sei eine reine Zuständigkeitsregelung. Für diese Auffassung könnte auch das Urteil vom 2. April 2009, A (C‑523/07, Slg. 2009, I‑2805, Randnrn. 46 ff.), sprechen, wonach einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 vorübergehender Art sein müssten und sich ihre Durchführung und Bindungswirkung nach nationalem Recht bestimme. Wenn dies der Fall sei, müsse der Rechtsbeschwerde von Frau Purrucker stattgegeben werden.

49      Nach anderer Ansicht werde der Geltungsbereich des Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 auf solche vorläufigen Anordnungen ausgedehnt, die ein zuständiges Gericht innerhalb eines Hauptsacheverfahrens erlasse, soweit das rechtliche Gehör zumindest nachträglich gewährleistet sei. Das entspreche der Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach auch eine nachträgliche Anhörung zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens ausreiche (Urteil vom 16. Juni 1981, Klomps, 166/80, Slg. 1981, 1593). Wieder andere Stimmen beschränkten die Geltung der Verordnung Nr. 2201/2003 auf einstweilige Maßnahmen, die – gegebenenfalls in einem kontradiktorischen Verfahren – nach Gewährung rechtlichen Gehörs erlassen worden seien.

50      Folge man den beiden letztgenannten Auffassungen, hänge der Erfolg der Rechtsbeschwerde davon ab, ob Frau Purrucker im Verfahren der einstweiligen Maßnahme ausreichendes rechtliches Gehör gewährt worden sei. Dafür spreche, dass sie zu der mündlichen Verhandlung geladen und dort anwaltlich vertreten gewesen sei und dass die Kinder ein Alter gehabt hätten, in dem von ihrer Anhörung keine weiteren Erkenntnisse hätten erwartet werden können.

51      Schließlich werde auch eine umfassende Einbeziehung einstweiliger Maßnahmen in das System der Verordnung Nr. 2201/2003 befürwortet. Teilweise würden einstweilige Maßnahmen nach Art. 20 dieser Verordnung als Entscheidungen im Sinne des Art. 2 Nr. 4 der Verordnung angesehen, für die die Vorschriften der Art. 21 ff. dieser Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung gälten. Teilweise werde von den Vertretern dieser Auffassung sogar vorgebracht, dass einstweilige Maßnahmen im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 zwar nicht von der Definition des Begriffs „Entscheidung“ in Art. 2 Nr. 4 der Verordnung erfasst seien; gleichwohl seien auf solche Maßnahmen die Vorschriften der Art. 21 ff. dieser Verordnung über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten anwendbar. Nach dieser Auffassung wären die Art. 21 ff. zweifelsfrei auf die einstweilige Maßnahme des spanischen Gerichts anwendbar, und die Rechtsbeschwerde hätte keinen Erfolg.

52      Der Bundesgerichtshof weist darauf hin, dass die Entscheidung des spanischen Gerichts nicht den deutschen Ordre public verletze.

53      Unter diesen Umständen hat der Bundesgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten nach Art. 2 Nr. 4 der Verordnung Nr. 2201/2003 auch auf vollstreckbare einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 anwendbar?

 Verfahren vor dem Gerichtshof

54      Gemäß Art. 54a der Verfahrensordnung des Gerichtshofs haben der Berichterstatter und die Generalanwältin Frau Purrucker aufgefordert, dem Gerichtshof die in den Randnrn. 41, 42 und 43 des vorliegenden Urteils erwähnten Entscheidungen vom 8. Dezember 2008, 14. Mai 2009 und 8. Juni 2009 zu übermitteln, auf die Frau Purrucker in ihren Erklärungen Bezug genommen hat.

55      Aus den eingereichten Erklärungen geht hervor, dass wahrscheinlich nur Frau Purrucker und die spanische Regierung die Begründung des Beschlusses des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial vom 8. November 2007, vor allem hinsichtlich der Zuständigkeit des spanischen Gerichts, kannten. Mehrere Regierungen, die Erklärungen eingereicht haben, haben eine Antwort auf die Vorlagefrage vorgeschlagen, die von einer bestimmten Annahme in Bezug auf diese Zuständigkeit ausgeht, während die Europäische Kommission unterschiedliche Möglichkeiten in Betracht gezogen hat.

56      Der Gerichtshof hat diesen den Erklärungen von Frau Purrucker als Anlage beigefügten Beschluss den in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Beteiligten zugestellt und sie gleichzeitig gebeten, zur Vorlagefrage unter Berücksichtigung des in Randnr. 36 des vorliegenden Urteils wiedergegebenen Abschnitts 3 des Beschlusses erneut schriftlich Stellung zu nehmen. Außerdem hat er die spanische Regierung um verschiedene Angaben zum Verfahren auf Anordnung einstweiliger Maßnahmen in Rechtssachen wie der des Ausgangsverfahrens gebeten.

 Zur Vorlagefrage

57      Der Bundesgerichtshof möchte mit seiner Frage wissen, ob die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 auch auf vollstreckbare einstweilige Maßnahmen im Bereich des Sorgerechts im Sinne von Art. 20 dieser Verordnung anwendbar sind.

58      Die Erheblichkeit dieser Frage ist zum einen mit der Begründung in Frage gestellt worden, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden einstweiligen Maßnahmen nicht unter Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 fielen, weil sie von einem in der Hauptsache zuständigen Gericht erlassen worden seien, und zum anderen mit der Begründung, dass diese Maßnahmen auch dann, wenn sie von einem nicht in der Hauptsache zuständigen Gericht angeordnet worden wären, jedenfalls in Bezug auf Merlín nicht unter Art. 20 fallen könnten, da sich das Kind zu der Zeit, als der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial entschieden habe, nicht in Spanien befunden habe.

59      Diese gegensätzlichen Einwände belegen die Notwendigkeit, die Auslegung von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht auf die Wirkungen einer unter diese Vorschrift fallenden Entscheidung zu beschränken, sondern auch zu untersuchen, welche Entscheidungen überhaupt unter Art. 20 fallen.

60      Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 ist der letzte Artikel des die Zuständigkeit betreffenden Kapitels II der Verordnung. Er gehört nicht zu den Artikeln, die speziell die Zuständigkeit hinsichtlich der elterlichen Verantwortung regeln und die den Abschnitt 2 dieses Kapitels bilden, sondern steht in dessen Abschnitt 3 („Gemeinsame Bestimmungen“).

61      Aus seiner Stellung im Gefüge der Verordnung Nr. 2201/2003 ergibt sich, dass Art. 20 keine Vorschrift ist, die die Zuständigkeit in der Hauptsache im Sinne dieser Verordnung begründet.

62      Diese Feststellung wird durch den Wortlaut des Art. 20 untermauert, der sich auf die Regelung beschränkt, dass die Gerichte eines Mitgliedstaats in dringenden Fällen „ungeachtet“ der Bestimmungen der Verordnung Nr. 2201/2003 die nach dem Recht dieses Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen auch dann anordnen können, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache gemäß dieser Verordnung ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats zuständig ist. Auch im 16. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 heißt es, dass die Verordnung die Gerichte „nicht daran hindert“, solche Maßnahmen anzuordnen.

63      Daraus folgt, dass Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nur Maßnahmen von Gerichten erfassen kann, die hinsichtlich der elterlichen Verantwortung nicht nach einem der Artikel in Kapitel II Abschnitt 2 der Verordnung zuständig sind.

64      Folglich ist es nicht allein das Wesen der vom Gericht angeordneten Maßnahmen – einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen im Gegensatz zu Entscheidungen in der Hauptsache –, das bestimmt, ob diese Maßnahmen unter Art. 20 der Verordnung fallen, sondern vor allem der Umstand, dass sie von einem Gericht angeordnet worden sind, das nicht nach einer anderen Bestimmung dieser Verordnung zuständig ist.

65      Das Ausgangsverfahren zeigt, dass es nicht immer leicht ist, anhand eines Urteils oder Beschlusses die von einem Gericht im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Verordnung Nr. 2201/2003 erlassene Entscheidung insoweit rechtlich einzuordnen. Der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial stellt nämlich fest, dass die Klage auf das einschlägige spanische materielle Recht, das Haager Übereinkommen von 1980, die Verordnung Nr. 2201/2003 und das Abkommen zwischen dem Königreich Spanien und der Bundesrepublik Deutschland vom 14. November 1983 über die Zuständigkeit der spanischen Gerichte gestützt sei. Unter diesen Bestimmungen begründet das Gericht seine Zuständigkeit offenbar insbesondere mit Art. 769.3 der spanischen Zivilprozessordnung und Art. 1 des Haager Übereinkommens von 1980. Bezüglich der Tatsachen, die nach diesen Bestimmungen die Zuständigkeit rechtfertigen können, verweist der Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial sowohl auf den Wohnort der Eltern als auch auf den letzten Wohnsitz der Familie, den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes bis zur Ausreise nach Deutschland, die Staatsangehörigkeit des Klägers, seinen ständigen Wohnsitz in Spanien und den Umstand, dass dies das erste in dieser Sache eingeleitete Verfahren in Spanien sei. Schließlich erwähnt dieses Gericht die Auffassung der Staatsanwaltschaft, die zusätzlich zu den bereits genannten Gesichtspunkten berücksichtige, dass die notariell beglaubigte Urkunde in Spanien ausgefertigt und das Kind Merlín in Spanien geboren worden sei.

66      Es zeigt sich, dass die meisten der vom Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial erwähnten Umstände nicht Kriterien entsprechen, die nach den Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 eine Zuständigkeit begründen können. Was diejenigen Umstände anbelangt, die den in den Art. 8, 9 und 10 dieser Verordnung genannten Kriterien, die eine solche Zuständigkeit begründen können – gewöhnlicher Aufenthalt des Kindes und dessen früherer gewöhnlicher Aufenthalt –, entsprechen, lassen sie nicht erkennen, nach welcher dieser drei Vorschriften das Gericht gegebenenfalls seine Zuständigkeit aufgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 bejaht haben sollte.

67      Wie die beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen und die Schwierigkeiten belegen, mit denen es für die Verfahrensbeteiligten, die Erklärungen eingereicht haben, verbunden war, eine Antwort auf die Vorlagefrage vorzuschlagen, ergibt sich aus der Gesamtheit dieser Gesichtspunkte in der Entscheidung des Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial eine große Unsicherheit im Hinblick darauf, ob dieses Gericht den Vorrang der Verordnung Nr. 2201/2003 vor den anderen in der Entscheidung erwähnten Vorschriften anerkannt und diese Verordnung auf den Sachverhalt angewandt hat.

68      Nach Ansicht der tschechischen Regierung gebietet es der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, der der Verordnung Nr. 2201/2003 zugrunde liege, dass dann, wenn in einer Entscheidung nicht ausdrücklich angegeben sei, dass sie auf Art. 20 dieser Verordnung beruhe, davon ausgegangen werde, dass ein Gericht, das eine Entscheidung erlasse, nach dieser Verordnung zuständig sei. Frau Purrucker und die deutsche Regierung vertreten dagegen die Ansicht, dass bei fehlenden Angaben zu einer Zuständigkeit nach der Verordnung Nr. 2201/2003 vielmehr vermutet werden müsse, dass es sich bei dieser Entscheidung um eine Maßnahme nach Art. 20 der Verordnung handele.

69      Dazu ist darauf hinzuweisen, dass die Verordnung Nr. 2201/2003 als Teil des Unionsrechts Vorrang vor dem nationalen Recht hat. Außerdem hat sie unter den in ihren Art. 59 bis 63 genannten Voraussetzungen Vorrang vor den meisten internationalen Übereinkommen über die von ihr geregelten Bereiche.

70      Wie aus dem zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2201/2003 hervorgeht, ist der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen für die Schaffung eines echten europäischen Rechtsraums unabdingbar.

71      Nach dem 21. Erwägungsgrund der Verordnung sollte diese Anerkennung auf dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen.

72      Dieses gegenseitige Vertrauen hat es ermöglicht, im Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 2201/2003 ein für die Gerichte verbindliches Zuständigkeitssystem zu schaffen und dementsprechend auf die innerstaatlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Anerkennung und die Vollstreckbarerklärung zugunsten eines vereinfachten Anerkennungs- und Vollstreckungsverfahrens für die in Verfahren im Bereich der elterlichen Verantwortung ergangenen Entscheidungen zu verzichten (vgl. entsprechend, zu Insolvenzverfahren, Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC, C‑341/04, Slg. 2006, I‑3813, Randnr. 40).

73      Zu diesem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens gehört es, dass das Gericht eines Mitgliedstaats, bei dem ein Antrag hinsichtlich der elterlichen Verantwortung anhängig gemacht wird, seine Zuständigkeit anhand der Art. 8 bis 14 der Verordnung Nr. 2201/2003 prüft (vgl. entsprechend Urteil Eurofood IFSC, Randnr. 41) und dass aus der von ihm erlassenen Entscheidung klar hervorgeht, dass es sich den in dieser Verordnung vorgesehenen unmittelbar anwendbaren Zuständigkeitsvorschriften hat unterwerfen wollen oder nach diesen entschieden hat.

74      Im Gegenzug dürfen, wie Art. 24 der Verordnung bestimmt, die Gerichte der anderen Mitgliedstaaten nicht die Beurteilung überprüfen, aufgrund deren das erste Gericht seine Zuständigkeit bejaht hat.

75      Dieses Verbot präjudiziert nicht, ob ein Gericht, dem eine Entscheidung vorgelegt wird, die keine Angaben zum Beleg dafür enthält, dass das Gericht des Ursprungsmitgliedstaats unzweifelhaft in der Hauptsache zuständig ist, prüfen darf, ob sich aus dieser Entscheidung ergibt, dass dieses Gericht seine Zuständigkeit auf eine Vorschrift der Verordnung Nr. 2201/2003 hat stützen wollen. Wie die Generalanwältin in Nr. 139 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, ist eine solche Prüfung nämlich keine Nachprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats, sondern dient nur der Ermittlung der Grundlage, auf der das Gericht seine Zuständigkeit bejaht hat.

76      Demnach kann, wenn sich nicht offensichtlich aus der erlassenen Entscheidung ergibt, dass ein Gericht, das einstweilige Maßnahmen angeordnet hat, nach der Verordnung Nr. 2201/2003 in der Hauptsache zuständig ist, oder diese Entscheidung keine unzweideutige Begründung für die Zuständigkeit dieses Gerichts in der Hauptsache unter Bezugnahme auf eine der in den Art. 8 bis 14 der Verordnung genannten Zuständigkeiten enthält, daraus geschlossen werden, dass diese Entscheidung nicht nach den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung Nr. 2201/2003 ergangen ist. Es kann jedoch anhand von Art. 20 der Verordnung geprüft werden, ob die Entscheidung unter diese Vorschrift fällt.

77      Für Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Wie der Gerichtshof klargestellt hat, dürfen die in Art. 20 Abs. 1 der Verordnung genannten Gerichte einstweilige Maßnahmen einschließlich Schutzmaßnahmen nur erlassen, wenn folgende drei kumulative Voraussetzungen erfüllt sind:

–        Die betreffenden Maßnahmen müssen dringend sein,

–        sie müssen in Bezug auf Personen oder Vermögensgegenstände getroffen werden, die sich in dem Mitgliedstaat befinden, in dem diese Gerichte ihren Sitz haben, und

–        sie müssen vorübergehender Art sein (Urteile A, Randnr. 47, und vom 23. Dezember 2009, Detiček, C‑403/09 PPU, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 39).

78      Daraus folgt, dass eine Entscheidung, aus der sich nicht ergibt, dass sie von einem tatsächlich oder vermeintlich in der Hauptsache zuständigen Gericht erlassen wurde, nicht zwangsläufig unter Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 fällt, sondern nur dann, wenn sie dessen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt.

79      Zu den Wirkungen einer Maßnahme nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 hat der Gerichtshof entschieden, dass, da die Maßnahme, um die es ging, auf der Grundlage der Bestimmungen des nationalen Rechts erfolgt war, sich ihre Bindungswirkung aus den betreffenden nationalen Bestimmungen ergeben musste (Urteil A, Randnr. 52).

80      Außerdem bestimmt Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2201/2003, dass zur Durchführung von Art. 20 Abs. 1 der Verordnung ergriffene Maßnahmen außer Kraft treten, wenn das Gericht des Mitgliedstaats, das gemäß dieser Verordnung für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, die Maßnahmen getroffen hat, die es für angemessen hält.

81      Aus der Verbindlichkeit und unmittelbaren Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 2201/2003 und dem Wortlaut ihres Art. 20 ergibt sich, dass eine unter diese Vorschrift fallende Maßnahme im Mitgliedstaat des Gerichts, das die Entscheidung erlassen hat, der früheren Entscheidung eines in der Hauptsache zuständigen Gerichts eines anderen Mitgliedstaats entgegengehalten werden kann. Dagegen kann eine Entscheidung, die nicht unter Art. 20 der Verordnung fällt, weil sie dessen Tatbestandsvoraussetzungen nicht erfüllt, keinen Vorrang vor einer solchen früheren Entscheidung haben (vgl. die im Urteil Detiček, insbesondere in Randnr. 49, genannte Situation).

82      Zur Wirkung einer unter Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 fallenden Entscheidung in anderen Mitgliedstaaten als dem des Gerichts, das sie erlassen hat, haben die Kommission und mehrere Mitgliedstaaten vorgetragen, dass für Maßnahmen nach Art. 20 die in der Verordnung vorgesehene Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung gelten sollte. Sie haben auf die Möglichkeit einer Verbringung von Personen oder Vermögensgegenständen, nachdem das Gericht entschieden habe, oder auf die eines Unfalls oder einer Erkrankung des Kindes hingewiesen, was eine Bevollmächtigung einer in einem anderen Mitgliedstaat befindlichen Person erforderlich mache.

83      Es ist jedoch, wie die Generalanwältin in den Nrn. 172 bis 175 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass die Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht für Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung gilt.

84      Der Unionsgesetzgeber hat nämlich eine solche Geltung nicht gewollt. Ausweislich der Begründung des Vorschlags der Kommission von 2002, der zum Erlass der Verordnung Nr. 2201/2003 geführt hat (Dokument KOM[2002] 222 endg.), geht Art. 20 Abs. 1 dieser Verordnung auf Art. 12 der Verordnung Nr. 1347/2000 zurück, mit dem Art. 12 des Übereinkommens Brüssel II übernommen wurde. Sowohl in der Begründung des Vorschlags der Kommission von 1999, der zum Erlass der Verordnung Nr. 1347/2000 geführt hat (Dokument KOM[1999] 220 endg.), als auch im Borrás-Bericht zum Übereinkommen Brüssel II heißt es zu diesen Artikeln gleichlautend, dass „[d]ie Bestimmung dieses Artikels … lediglich auf territoriale Wirkungen in dem Staat ab[stellt], in dem die Maßnahmen ergriffen werden“.

85      Der Borrás-Bericht weist in diesem Zusammenhang auf den Unterschied in der Fassung von Art. 12 des Übereinkommens Brüssel II und Art. 24 des Brüsseler Übereinkommens hin, der darin bestehe, dass „die in dessen Artikel 24 vorgesehenen Maßnahmen zum einen auf Aspekte beschränkt sind, die in den Anwendungsbereich des Übereinkommens fallen, zum anderen aber extraterritoriale Wirkung haben“. Aus diesem Vergleich mit dem Brüsseler Übereinkommen ergibt sich, dass die Verfasser des Übereinkommens Brüssel II die Aspekte, auf die sich die einstweiligen Maßnahmen beziehen konnten, mit der territorialen Wirkung dieser Maßnahmen verknüpfen wollten.

86      Diese Verknüpfung lässt sich mit der Gefahr einer Umgehung von Bestimmungen anderer Regelungen der Union, insbesondere der Verordnung Nr. 44/2001, erklären. Wie nämlich sowohl die Begründung des Vorschlags der Kommission von 1999, der zum Erlass der Verordnung Nr. 1347/2000 geführt hat, als auch der Borrás-Bericht betonen, können sich die in Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 genannten einstweiligen Maßnahmen sowohl auf Personen als auch auf Güter beziehen und somit Aspekte umfassen, die nicht unter diese Verordnung fallen. Die Anwendung der Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung der Verordnung Nr. 2201/2003 würde es daher ermöglichen, dass in anderen Mitgliedstaaten Maßnahmen anerkannt und vollstreckt werden, die sich auf Aspekte, die nicht unter diese Verordnung fallen, beziehen und die z. B. unter Verstoß gegen Vorschriften über die besondere oder ausschließliche Zuständigkeit anderer Gerichte nach der Verordnung Nr. 44/2001 angeordnet worden sein könnten.

87      Der Wortlaut der Verordnung Nr. 2201/2003 belegt in keiner Weise, dass die in diesen Materialien enthaltenen Erläuterungen nicht auch für die Wirkungen von Maßnahmen nach Art. 20 dieser Verordnung gelten sollten. Im Gegenteil zeigen die Stellung dieser Vorschrift in der Verordnung und die Ausdrücke „können“ in Art. 20 Abs. 1 und „hindert nicht“ im 16. Erwägungsgrund dieser Verordnung, dass die unter Art. 20 fallenden Maßnahmen nicht zu den Entscheidungen gehören, die nach den in dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften erlassen werden und für die infolgedessen die mit der Verordnung eingeführte Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung gilt.

88      Gegen diese Schlussfolgerung kann nicht Art. 11 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1996 angeführt werden, wonach „[i]n allen dringenden Fällen … die Behörden jedes Vertragsstaats, in dessen Hoheitsgebiet sich das Kind oder ihm gehörendes Vermögen befindet, zuständig [sind], die erforderlichen Schutzmaßnahmen zu treffen“.

89      Wie die deutsche Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen betont, gibt es zwei wichtige Unterschiede zwischen Art. 11 Abs. 1 des Haager Übereinkommens von 1996 und Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003. So ist Art. 11 dieses Übereinkommens eindeutig als Zuständigkeitsvorschrift ausgestaltet und auch systematisch in die Liste der Zuständigkeitsvorschriften aufgenommen, was bei Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003, wie in Randnr. 61 des vorliegenden Urteils dargelegt, nicht der Fall ist.

90      Außerdem sieht das Haager Übereinkommen von 1996 zwar die Anerkennung und Vollstreckung der nach seinem Art. 11 angeordneten Maßnahmen vor, doch ist darauf hinzuweisen, dass nach den Vorschriften dieses Übereinkommens – insbesondere Art. 23 Abs. 2 Buchst. a zur Anerkennung und Art. 26 Abs. 3, der auf Art. 23 Abs. 2 verweist, zur Vollstreckung – die internationale Zuständigkeit des Gerichts, das die Maßnahme angeordnet hat, überprüft werden kann. Dies ist bei der Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht der Fall, da deren Art. 24 die Überprüfung der Zuständigkeit des Gerichts des Ursprungsmitgliedstaats verbietet.

91      Wie die Regierung des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, würde, wenn die Anerkennung und Vollstreckung von Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 in jedem anderen Mitgliedstaat einschließlich des in der Hauptsache zuständigen Mitgliedstaats zugelassen würde, dies die Gefahr einer Umgehung der in dieser Verordnung vorgesehenen Zuständigkeitsvorschriften und eines „forum shopping“ heraufbeschwören, was im Widerspruch zu den mit der Verordnung verfolgten Zielen und insbesondere zur Berücksichtigung des Kindeswohls stünde, die dadurch erfolgt, dass Entscheidungen, die das Kind betreffen, von dem in geografischer Nähe zu dessen gewöhnlichem Aufenthalt gelegenen Gericht erlassen werden, das nach Ansicht des Unionsgesetzgebers die im Interesse des Kindes anzuordnenden Maßnahmen am besten beurteilen kann.

92      Dass für Maßnahmen nach Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht die Anerkennungs- und Vollstreckungsregelung dieser Verordnung gilt, unterbindet jedoch nicht jede Anerkennung und jede Vollstreckung dieser Maßnahmen in einem anderen Mitgliedstaat, wie die Generalanwältin in Nr. 176 ihrer Schlussanträge bemerkt hat. Es können nämlich – unter Beachtung der Verordnung Nr. 2201/2003 – andere internationale Rechtsinstrumente oder andere nationale Rechtsvorschriften zur Anwendung gelangen.

93      Im Übrigen sieht die Verordnung Nr. 2201/2003 nicht nur Vorschriften über die Zuständigkeit der Gerichte und die Anerkennung und Vollstreckung ihrer Entscheidungen vor, sondern auch eine Zusammenarbeit zwischen den zentralen Behörden der Mitgliedstaaten bei Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung. Eine solche Zusammenarbeit muss ermöglicht werden, um – unter Beachtung der Verordnung und der nationalen Rechtsvorschriften – in dringenden Ausnahmefällen wie den in Randnr. 82 des vorliegenden Urteils genannten Beistand zu leisten.

94      In Randnr. 42 des Urteils Detiček hat der Gerichtshof den Begriff „in dringenden Fällen“ im Sinne von Art. 20 der Verordnung Nr. 2201/2003 so definiert, dass er sich sowohl auf die Lage, in der sich das Kind befindet, als auch auf die praktische Unmöglichkeit bezieht, den die elterliche Verantwortung betreffenden Antrag vor dem Gericht zu stellen, das für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist.

95      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass zwar die konkreten Ausprägungen des Anspruchs des Beklagten auf rechtliches Gehör auch in Relation zu der möglicherweise gegebenen Eilbedürftigkeit einer Entscheidung variieren können; doch muss jede Beschränkung der Ausübung dieses Anspruchs ordnungsgemäß gerechtfertigt werden und mit Verfahrensgarantien einhergehen, die für die von einem solchen Verfahren betroffenen Personen eine effektive Möglichkeit sicherstellen, getroffene Eilmaßnahmen anzufechten (vgl. entsprechend, zu Insolvenzverfahren, Urteil Eurofood IFSC, Randnr. 66).

96      Es ist unstreitig, dass Frau Purrucker im Ausgangsverfahren vom Juzgado de Primera Instancia n° 4 de San Lorenzo de El Escorial gehört wurde, bevor dieses Gericht die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat. Dagegen ergibt sich aus den Erläuterungen der spanischen Regierung zum Ausgangsverfahren, die auf Ersuchen des Gerichtshofs eingereicht worden sind, Folgendes:

–        Gegen die Entscheidung über den Erlass einstweiliger Maßnahmen ist kein Rechtsbehelf gegeben, so dass der Antragsgegner die Änderung der Entscheidung, mit der diese Maßnahmen getroffen werden, nur in dem nachfolgenden oder gleichzeitig mit dem Antrag auf einstweilige Maßnahmen eingeleiteten Hauptsacheverfahren erwirken kann;

–        jede Partei kann eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache erwirken, sowohl diejenige, die einstweilige Maßnahmen beantragt hat, als auch diejenige, die sie nicht beantragt hat;

–        bei einstweiligen Maßnahmen, die vor einem Hauptsacheverfahren angeordnet werden, bestehen die Wirkungen nur dann fort, wenn binnen 30 Tagen nach Erlass der Maßnahmen Klage im Hauptsacheverfahren erhoben wird;

–        die Klage in der Hauptsache ist, wenn zuvor einstweilige Maßnahmen beantragt wurden, beim örtlich zuständigen Gericht zu erheben, das dasselbe sein kann, das den Beschluss über die einstweiligen Maßnahmen erlassen hat, oder ein anderes Gericht;

–        die Zuständigkeitsfrage kann nur mit einem Rechtsmittel gegen die erstinstanzliche Entscheidung in der Hauptsache einem anderen Gericht unterbreitet werden;

–        es ist schwer vorherzusagen, wie viel Zeit durchschnittlich zwischen der Anordnung der einstweiligen Maßnahmen und einer Entscheidung über einen bei einem anderen Gericht eingelegten Rechtsbehelf vergeht.

97      In Anbetracht der Bedeutung einstweiliger Maßnahmen – ob sie nun von einem in der Hauptsache zuständigen oder unzuständigen Gericht erlassen werden –, die in Verfahren über die elterliche Verantwortung angeordnet werden können, insbesondere ihrer möglichen Auswirkungen auf Kleinkinder (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juli 2008, Rinau, C‑195/08 PPU, Slg. 2008, I‑5271, Randnr. 81), zumal bei Zwillingen, die voneinander getrennt werden, und des Umstands, dass das Gericht, das die Maßnahmen angeordnet hat, gegebenenfalls eine Bescheinigung gemäß Art. 39 der Verordnung Nr. 2201/2003 ausgestellt hat, während sich die Gültigkeit der von dieser Bescheinigung erfassten Maßnahmen danach bestimmt, ob binnen 30 Tagen Klage in der Hauptsache erhoben wird, ist es wichtig, dass derjenige, der von einem solchen Verfahren betroffen ist – auch wenn er von dem Gericht, das die Maßnahmen angeordnet hat, gehört worden ist –, die Initiative ergreifen und einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, mit der die einstweiligen Maßnahmen angeordnet werden, einlegen kann, damit er vor einem Gericht, das nicht dasjenige ist, das diese Maßnahmen erlassen hat, und das binnen kurzer Frist entscheidet, insbesondere die Zuständigkeit in der Hauptsache, die das Gericht, das die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat, bejaht hat, oder, wenn sich aus der Entscheidung nicht ergibt, dass das Gericht zuständig sei oder seine Zuständigkeit in der Hauptsache nach der Verordnung Nr. 2201/2003 bejaht habe, das Vorliegen der in Randnr. 77 des vorliegenden Urteils genannten Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 20 dieser Verordnung in Frage stellen kann.

98      Dieser Rechtsbehelf sollte eingelegt werden können, ohne dass damit eine wie auch immer geartete Anerkennung der von dem Gericht, das die einstweiligen Maßnahmen angeordnet hat, gegebenenfalls bejahten Zuständigkeit in der Hauptsache durch denjenigen, der den Rechtsbehelf einlegt, präjudiziert wird.

99      Es ist Sache des nationalen Gerichts, grundsätzlich sein nationales Recht anzuwenden, wobei es dafür Sorge zu tragen hat, dass die volle Wirksamkeit des Unionsrechts gewährleistet wird. Letzteres kann das Gericht dazu veranlassen, falls erforderlich, eine nationale Vorschrift, die dem entgegensteht, außer Acht zu lassen oder eine nationale Vorschrift, die nur im Hinblick auf einen rein innerstaatlichen Sachverhalt ausgearbeitet worden ist, auszulegen, um sie auf den betreffenden grenzüberschreitenden Sachverhalt anzuwenden (vgl. u. a. in diesem Sinne die Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnr. 16, vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C‑213/89, Slg. 1990, I‑2433, Randnr. 19, vom 20. September 2001, Courage und Crehan, C‑453/99, Slg. 2001, I‑6297, Randnr. 25, vom 17. September 2002, Muñoz und Superior Fruiticola, C‑253/00, Slg. 2002, I‑7289, Randnr. 28, und vom 8. November 2005, Leffler, C‑443/03, Slg. 2005, I‑9611, Randnr. 51).

100    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung Nr. 2201/2003 nicht auf einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar sind.

 Kosten

101    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Vorschriften der Art. 21 ff. der Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 des Rates vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 sind nicht auf einstweilige Maßnahmen hinsichtlich des Sorgerechts nach Art. 20 dieser Verordnung anwendbar.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.

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