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Document 62022CJ0626

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 25. Juni 2024.
    C. Z. u. a. gegen Ilva SpA in Amministrazione Straordinaria u. a.
    Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Milano.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 191 AEUV – Industrieemissionen – Richtlinie 2010/75/EU – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Art. 1, 3, 8, 11, 12, 14, 18, 21 und 23 – Art. 35 und 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verfahren zur Erteilung und Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine Anlage – Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit – Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt.
    Rechtssache C-626/22.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:542

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    25. Juni 2024 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Art. 191 AEUV – Industrieemissionen – Richtlinie 2010/75/EU – Integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung – Art. 1, 3, 8, 11, 12, 14, 18, 21 und 23 – Art. 35 und 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Verfahren zur Erteilung und Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine Anlage – Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit – Recht auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt“

    In der Rechtssache C‑626/22

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien) mit Entscheidung vom 16. September 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Oktober 2022, in dem Verfahren

    C. Z. u. a.

    gegen

    Ilva SpA in Amministrazione Straordinaria,

    Acciaierie d’Italia Holding SpA,

    Acciaierie d’Italia SpA,

    Beteiligte:

    Regione Puglia,

    Gruppo di Intervento Giuridico – ODV,

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Kammerpräsidentinnen A. Prechal und K. Jürimäe, der Kammerpräsidenten F. Biltgen und N. Piçarra, des Richters S. Rodin, der Richterin L. S. Rossi, der Richter I. Jarukaitis, N. Jääskinen, N. Wahl, J. Passer und D. Gratsias sowie der Richterin M. L. Arastey Sahún,

    Generalanwältin: J. Kokott,

    Kanzler: C. Di Bella, Verwaltungsrat,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. November 2023,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von C. Z. u. a., vertreten durch A. Amenduni und M. Rizzo Striano, Avvocati,

    der Ilva SpA in Amministrazione Straordinaria, vertreten durch M. Annoni, R. A. Cassano, A. Cogoni, G. Lombardi, M. Merola, L.‑D. Tassinari Vittone und C. Tesauro, Avvocati,

    der Acciaierie d’Italia Holding SpA und der Acciaierie d’Italia SpA, vertreten durch M. Beraldi, E. Gardini, S. Grassi, R. Perini, G. C. Rizza, G. Scassellati Sforzolini, C. Tatozzi, G. Tombesi und L. Torchia, Avvocati,

    der Regione Puglia, vertreten durch A. Bucci und R. Lanza, Avvocate,

    der Gruppo di Intervento Giuridico – ODV, vertreten durch C. Colapinto und F. Colapinto, Avvocati,

    der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von S. Fiorentino, Avvocato dello Stato,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und C. Valero als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 14. Dezember 2023

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) (ABl. 2010, L 334, S. 17).

    2

    Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen C. Z. u. a., Einwohnern der Gemeinde Tarent (Italien) und benachbarter Gemeinden, auf der einen Seite sowie der Ilva SpA in Amministrazione Straordinaria (im Folgenden: Ilva), einer Gesellschaft, die ein Stahlwerk in dieser Gemeinde (im Folgenden: Werk Ilva) besitzt, der Acciaierie d’Italia Holding SpA und der Acciaierie d’Italia SpA auf der anderen Seite wegen der durch den Betrieb dieses Werks verursachten Umweltverschmutzung und der daraus resultierenden Schäden für die menschliche Gesundheit.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    Aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/75 geht hervor, dass mit ihr sieben Richtlinien neu gefasst wurden, darunter die Richtlinie 2008/1/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Januar 2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. 2008, L 24, S. 8), mit der die Richtlinie 96/61/EG des Rates vom 24. September 1996 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (ABl. 1996, L 257, S. 26) kodifiziert worden war.

    4

    In den Erwägungsgründen 2, 12, 15, 27, 29, 43 und 45 der Richtlinie 2010/75 heißt es:

    „(2)

    Um in Einklang mit dem Verursacher- und Vorsorgeprinzip die Umweltverschmutzung durch Industrietätigkeiten zu vermeiden, zu vermindern und so weit wie möglich zu beseitigen, muss ein allgemeiner Rahmen für die Kontrolle der wichtigsten Industrietätigkeiten aufgestellt werden, der vorzugsweise Eingriffe an der Quelle vorsieht, eine umsichtige Bewirtschaftung der natürlichen Ressourcen gewährleistet und, sofern erforderlich, der Wirtschaftslage und den lokalen Besonderheiten des Ortes, an dem die Industrietätigkeit erfolgt, Rechnung trägt.

    (12)

    Die Genehmigung sollte alle Maßnahmen enthalten, die für ein hohes Schutzniveau für die Umwelt als Ganzes erforderlich sind und mit denen sichergestellt wird, dass die Anlage im Einklang mit den allgemeinen Prinzipien der Grundpflichten der Betreiber betrieben wird. Die Genehmigung sollte darüber hinaus Emissionsgrenzwerte für Schadstoffe oder äquivalente Parameter bzw. äquivalente technische Maßnahmen, angemessene Vorschriften für den Boden- und Grundwasserschutz sowie Überwachungsvorschriften aufweisen. Den Genehmigungsauflagen sollten die besten verfügbaren Techniken [(BVT)] zugrunde liegen.

    (15)

    Es ist wichtig, den zuständigen Behörden ausreichenden Spielraum für die Festlegung von Emissionsgrenzwerten zu gewähren, die sicherstellen, dass die Emissionen unter normalen Betriebsbedingungen die mit den [BVT] assoziierten Emissionswerte nicht überschreiten. … Die Einhaltung der in Genehmigungen festgelegten Emissionsgrenzwerte führt zu Emissionen, die unter diesen Emissionsgrenzwerten liegen.

    (27)

    … Als Beitrag zum Schutz des Rechts, in einer für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen angemessenen Umwelt zu leben, sollte die betroffene Öffentlichkeit Zugang zu Rechtsmitteln haben.

    (29)

    Großfeuerungsanlagen tragen erheblich zu Emissionen von Schadstoffen in die Luft bei, die sich in erheblichem Maße auf die menschliche Gesundheit und auf die Umwelt auswirken. …

    (43)

    Damit genügend Zeit bleibt, um die bestehenden Anlagen technisch an die neuen Bestimmungen dieser Richtlinie anzupassen, sollten einige neue Bestimmungen für diese Anlagen erst nach einer festen Frist nach dem Beginn der Anwendung dieser Richtlinie gelten. Feuerungsanlagen benötigen ausreichend Zeit für den Einbau der notwendigen Abgasreinigungsanlagen, um die Emissionsgrenzwerte in Anhang V einhalten zu können.

    (45)

    Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden. Die Richtlinie zielt insbesondere darauf ab, die Anwendung von Artikel 37 jener Charta zu fördern.“

    5

    Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie lautet:

    „Diese Richtlinie regelt die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung infolge industrieller Tätigkeiten.

    Sie sieht auch Vorschriften zur Vermeidung und, sofern dies nicht möglich ist, zur Verminderung von Emissionen in Luft, Wasser und Boden und zur Abfallvermeidung vor, um ein hohes Schutzniveau für die Umwelt insgesamt zu erreichen.“

    6

    In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:

    „Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

    2.   ‚Umweltverschmutzung‘ die durch menschliche Tätigkeiten direkt oder indirekt bewirkte Freisetzung von Stoffen, Erschütterungen, Wärme oder Lärm in Luft, Wasser oder Boden, die der menschlichen Gesundheit oder der Umweltqualität schaden oder zu einer Schädigung von Sachwerten bzw. zu einer Beeinträchtigung oder Störung von Annehmlichkeiten und anderen legitimen Nutzungen der Umwelt führen können;

    3.   ‚Anlage‘ eine ortsfeste technische Einheit, in der eine oder mehrere der in Anhang I oder Anhang VII Teil 1 genannten Tätigkeiten sowie andere unmittelbar damit verbundene Tätigkeiten am selben Standort durchgeführt werden, die mit den in den genannten Anhängen aufgeführten Tätigkeiten in einem technischen Zusammenhang stehen und die Auswirkungen auf die Emissionen und die Umweltverschmutzung haben können;

    5.   ‚Emissionsgrenzwert‘ die im Verhältnis zu bestimmten spezifischen Parametern ausgedrückte Masse, die Konzentration und/oder das Niveau einer Emission, die in einem oder mehreren Zeiträumen nicht überschritten werden dürfen;

    6.   ‚Umweltqualitätsnorm‘ die Gesamtheit von Anforderungen, die zu einem gegebenen Zeitpunkt in einer gegebenen Umwelt oder einem bestimmten Teil davon nach den Rechtsvorschriften der Union erfüllt werden müssen;

    8.   ‚allgemeine bindende Vorschriften‘ Emissionsgrenzwerte oder andere Bedingungen, zumindest auf Sektorebene, die zur direkten Verwendung bei der Formulierung von Genehmigungsauflagen festgelegt werden;

    10.   ‚[BVT]‘ den effizientesten und fortschrittlichsten Entwicklungsstand der Tätigkeiten und entsprechenden Betriebsmethoden, der bestimmte Techniken als praktisch geeignet erscheinen lässt, als Grundlage für die Emissionsgrenzwerte und sonstige Genehmigungsauflagen zu dienen, um Emissionen in und Auswirkungen auf die gesamte Umwelt zu vermeiden oder, wenn dies nicht möglich ist, zu vermindern:

    a)

    ‚Techniken‘: sowohl die angewandte Technologie als auch die Art und Weise, wie die Anlage geplant, gebaut, gewartet, betrieben und stillgelegt wird;

    b)

    ‚verfügbare Techniken‘: die Techniken, die in einem Maßstab entwickelt sind, der unter Berücksichtigung des Kosten/Nutzen-Verhältnisses die Anwendung unter in dem betreffenden industriellen Sektor wirtschaftlich und technisch vertretbaren Verhältnissen ermöglicht, gleich, ob diese Techniken innerhalb des betreffenden Mitgliedstaats verwendet oder hergestellt werden, sofern sie zu vertretbaren Bedingungen für den Betreiber zugänglich sind;

    c)

    ‚beste‘: die Techniken, die am wirksamsten zur Erreichung eines allgemein hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt sind;

    …“

    7

    Art. 4 („Genehmigungspflicht“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass keine Anlage, Feuerungsanlage, Abfallverbrennungsanlage oder Abfallmitverbrennungsanlage ohne eine Genehmigung betrieben wird.

    …“

    8

    Art. 5 („Erteilung einer Genehmigung“) Abs. 1 der Richtlinie 2010/75 lautet:

    „Unbeschadet sonstiger Anforderungen aufgrund einzelstaatlichen Rechts oder Unionsrechts erteilt die zuständige Behörde eine Genehmigung, wenn die Anlage den Anforderungen dieser Richtlinie entspricht.“

    9

    Art. 8 („Nichteinhaltung der Anforderungen“) der Richtlinie bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Genehmigungsauflagen eingehalten werden.

    (2)   Bei einer Nichteinhaltung der Genehmigungsauflagen stellen die Mitgliedstaaten Folgendes sicher:

    a)

    [D]er Betreiber informiert unverzüglich die zuständige Behörde;

    b)

    der Betreiber ergreift unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Einhaltung der Anforderungen so schnell wie möglich wiederhergestellt wird;

    c)

    die zuständige Behörde verpflichtet den Betreiber, alle weiteren geeigneten Maßnahmen zu treffen, die ihres Erachtens erforderlich sind, um die Einhaltung der Anforderungen wiederherzustellen.

    Wenn ein Verstoß gegen die Genehmigungsauflagen eine unmittelbare Gefährdung der menschlichen Gesundheit verursacht oder eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der Umwelt darstellt, wird der weitere Betrieb der Anlage … ausgesetzt, bis die erneute Einhaltung der Anforderungen … sichergestellt ist.“

    10

    Art. 10 („Geltungsbereich“) der Richtlinie lautet:

    „Dieses Kapitel gilt für die Tätigkeiten, die in Anhang I aufgelistet sind und bei denen gegebenenfalls die in dem genannten Anhang festgelegten Kapazitätsschwellen erreicht werden.“

    11

    Art. 11 („Allgemeine Prinzipien der Grundpflichten der Betreiber“) der Richtlinie sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Anlage nach folgenden Prinzipien betrieben wird:

    a)

    Es werden alle geeigneten Vorsorgemaßnahmen gegen Umweltverschmutzungen getroffen;

    b)

    die [BVT] werden angewandt;

    c)

    es werden keine erheblichen Umweltverschmutzungen verursacht;

    …“

    12

    Art. 12 („Genehmigungsantrag“) Abs. 1 der Richtlinie 2010/75 sieht vor:

    „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit ein Genehmigungsantrag eine Beschreibung von Folgendem enthält:

    f)

    Art und Menge der vorhersehbaren Emissionen aus der Anlage in jedes einzelne Umweltmedium sowie Feststellung von erheblichen Auswirkungen der Emissionen auf die Umwelt;

    i)

    sonstige vorgesehene Maßnahmen zur Erfüllung der Vorschriften bezüglich der allgemeinen Prinzipien der Grundpflichten der Betreiber gemäß Artikel 11;

    j)

    vorgesehene Maßnahmen zur Überwachung der Emissionen in die Umwelt;

    …“

    13

    Art. 14 („Genehmigungsauflagen“) der Richtlinie sieht vor:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Genehmigung alle Maßnahmen umfasst, die zur Erfüllung der in den Artikeln 11 und 18 genannten Genehmigungsvoraussetzungen notwendig sind.

    Diese Maßnahmen umfassen mindestens Folgendes:

    a)

    Emissionsgrenzwerte für die Schadstoffe der Liste in Anhang II und für sonstige Schadstoffe, die von der betreffenden Anlage unter Berücksichtigung der Art der Schadstoffe und der Gefahr einer Verlagerung der Verschmutzung von einem Medium auf ein anderes in relevanter Menge emittiert werden können;

    (2)   Für die Zwecke von Absatz 1 Buchstabe a können die Emissionsgrenzwerte durch äquivalente Parameter bzw. äquivalente technische Maßnahmen, die ein gleichwertiges Umweltschutzniveau gewährleisten, erweitert oder ersetzt werden.

    (3)   Die BVT‑Schlussfolgerungen dienen als Referenzdokument für die Festlegung der Genehmigungsauflagen.

    (4)   Unbeschadet des Artikels 18 darf die zuständige Behörde strengere Genehmigungsauflagen vorgeben, als sie mit der Verwendung der in den BVT‑Schlussfolgerungen beschriebenen [BVT] einzuhalten sind. Die Mitgliedstaaten können Regeln festlegen, nach denen die zuständige Behörde solche strengeren Auflagen vorgeben kann.

    (6)   Liegen für eine Tätigkeit oder einen Typ eines Produktionsprozesses, die bzw. der innerhalb einer Anlage durchgeführt wird, keine BVT‑Schlussfolgerungen vor oder decken diese Schlussfolgerungen nicht alle potenziellen Umweltauswirkungen der Tätigkeit oder des Prozesses ab, so legt die zuständige Behörde nach vorheriger Konsultation des Betreibers auf der Grundlage der [BVT], die sie für die betreffenden Tätigkeiten oder Prozesse bestimmt hat, die Genehmigungsauflagen fest, wobei sie den Kriterien des Anhangs III besonders Rechnung trägt.

    …“

    14

    In Art. 15 („Emissionsgrenzwerte, äquivalente Parameter und äquivalente technische Maßnahmen“) Abs. 2 und 3 der Richtlinie heißt es:

    „(2)   Die in Artikel 14 Absätze 1 und 2 genannten Emissionsgrenzwerte, äquivalenten Parameter und äquivalenten technischen Maßnahmen sind vorbehaltlich des Artikels 18 auf die [BVT] zu stützen, ohne dass die Anwendung einer bestimmten Technik oder Technologie vorgeschrieben wird.

    (3)   Die zuständige Behörde legt Emissionsgrenzwerte fest, mit denen sichergestellt wird, dass die Emissionen unter normalen Betriebsbedingungen die mit den [BVT] assoziierten Emissionswerte, wie sie in den Entscheidungen über die BVT‑Schlussfolgerungen gemäß Artikel 13 Absatz 5 festgelegt sind, nicht überschreiten, und trifft hierzu eine der beiden folgenden Maßnahmen:

    a)

    Festlegung von Emissionsgrenzwerten, die die mit den [BVT] assoziierten Emissionswerte nicht überschreiten. Diese Emissionsgrenzwerte werden für die gleichen oder kürzere Zeiträume und unter denselben Referenzbedingungen ausgedrückt wie die mit den [BVT] assoziierten Emissionswerte; oder

    b)

    Festlegung von Emissionsgrenzwerten, die in Bezug auf Werte, Zeiträume und Referenzbedingungen von den in Buchstabe a aufgeführten Emissionsgrenzwerten abweichen.

    Kommt Buchstabe b zur Anwendung, so bewertet die zuständige Behörde mindestens jährlich die Ergebnisse der Emissionsüberwachung, um sicherzustellen, dass die Emissionen unter normalen Betriebsbedingungen die mit den [BVT] assoziierten Emissionswerte nicht überschritten haben.“

    15

    Art. 18 („Umweltqualitätsnormen“) der Richtlinie lautet:

    „Erfordert eine Umweltqualitätsnorm strengere Auflagen, als durch die Anwendung der [BVT] zu erfüllen sind, so werden unbeschadet anderer Maßnahmen, die zur Einhaltung der Umweltqualitätsnormen ergriffen werden können, zusätzliche Auflagen in der Genehmigung vorgesehen.“

    16

    Art. 21 („Überprüfung und Aktualisierung der Genehmigungsauflagen durch die zuständige Behörde“) der Richtlinie 2010/75 bestimmt:

    „(1)   Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit die zuständige Behörde alle Genehmigungsauflagen gemäß den Absätzen 2 bis 5 regelmäßig überprüft und gegebenenfalls im Hinblick auf die Einhaltung der Bestimmungen dieser Richtlinie diese Auflagen auf den neuesten Stand bringt.

    (2)   Auf Anfrage der zuständigen Behörde übermittelt der Betreiber ihr alle für die Überprüfung der Genehmigungsauflagen erforderlichen Informationen, insbesondere Ergebnisse der Emissionsüberwachung und sonstige Daten, die ihr einen Vergleich des Betriebs der Anlage mit den [BVT] gemäß der Beschreibung in den geltenden BVT‑Schlussfolgerungen und mit den mit den [BVT] assoziierten Emissionswerten ermöglichen.

    Die zuständige Behörde zieht für die Überprüfung der Genehmigungsauflagen die im Zuge der Überwachung oder Inspektionen erlangten Informationen heran.

    (3)   Innerhalb von vier Jahren nach der Veröffentlichung von Entscheidungen über BVT‑Schlussfolgerungen nach Artikel 13 Absatz 5 zur Haupttätigkeit einer Anlage stellt die zuständige Behörde sicher, dass

    a)

    alle Genehmigungsauflagen für die betreffende Anlage überprüft und erforderlichenfalls auf den neuesten Stand gebracht werden, um die Einhaltung dieser Richtlinie und gegebenenfalls insbesondere des Artikels 15 Absätze 3 und 4 zu gewährleisten;

    b)

    die betreffende Anlage diese Genehmigungsauflagen einhält.

    (5)   Die Genehmigungsauflagen werden zumindest in folgenden Fällen überprüft und erforderlichenfalls aktualisiert:

    a)

    Die durch die Anlage verursachte Umweltverschmutzung ist so stark, dass die in der Genehmigung festgelegten Emissionsgrenzwerte überprüft oder in der Genehmigung neue Emissionsgrenzwerte vorgesehen werden müssen;

    b)

    die Betriebssicherheit erfordert die Anwendung anderer Techniken;

    c)

    es muss eine neue oder überarbeitete Umweltqualitätsnorm gemäß Artikel 18 eingehalten werden.“

    17

    Art. 23 („Umweltinspektionen“) Abs. 4 Unterabs. 4 Buchst. a der Richtlinie sieht vor:

    „Die systematische Beurteilung der Umweltrisiken stützt sich mindestens auf folgende Kriterien:

    a)

    potenzielle und tatsächliche Auswirkungen der betreffenden Anlagen auf die menschliche Gesundheit und auf die Umwelt unter Berücksichtigung der Emissionswerte und ‑typen, der Empfindlichkeit der örtlichen Umgebung und des Unfallrisikos“.

    18

    Art. 80 („Umsetzung“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:

    „Die Mitgliedstaaten erlassen die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften … bis zum 7. Januar 2013 …

    Sie wenden diese Vorschriften ab dem gleichen Datum an.

    …“

    19

    Art. 82 („Übergangsbestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

    „Bei Anlagen, die Tätigkeiten gemäß Anhang I … durchführen …, wenden die Mitgliedstaaten die gemäß Artikel 80 Absatz 1 erlassenen Rechts- und Verwaltungsvorschriften ab dem 7. Januar 2014 an, mit Ausnahme des Kapitels III und des Anhangs V.“

    Italienisches Recht

    Gesetzesvertretendes Dekret Nr. 152/2006

    20

    Das Decreto legislativo n. 152 – Norme in materia ambientale (gesetzesvertretendes Dekret Nr. 152 – Umweltvorschriften) vom 3. April 2006 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 88 vom 14. April 2006) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: gesetzesvertretendes Dekret Nr. 152/2006) regelt die Industrie- und Produktionstätigkeiten einschließlich der Tätigkeiten der Stahlindustrie und hat den Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit vor Umweltverschmutzung durch diese Tätigkeiten zum Ziel. Mit ihm wird die Richtlinie 2010/75 umgesetzt.

    21

    Art. 5 Abs. 1 des gesetzesvertretenden Dekrets sieht eine Gesundheitsverträglichkeitsprüfung vor, die „vom Antragsteller auf der Grundlage der vom Gesundheitsministerium ausgearbeiteten Leitlinien … durchgeführt [wird], um die gesamten direkten und indirekten Auswirkungen abzuschätzen, die die Umsetzung und der Betrieb des Vorhabens auf die Gesundheit der Bevölkerung haben können“. Nach Art. 5 gehören zu den „Umweltauswirkungen“ u. a. „erhebliche direkte und indirekte Auswirkungen eines Plans, Programms oder Vorhabens“, insbesondere auf „die Bevölkerung und die menschliche Gesundheit“. Er definiert „Umweltverschmutzung“ u. a. als „die durch menschliche Tätigkeiten direkt oder indirekt bewirkte Freisetzung von Stoffen, Erschütterungen, Wärme oder Lärm oder allgemeiner physischer oder chemischer Agenzien in Luft, Wasser oder Boden, die der menschlichen Gesundheit schaden können“.

    22

    Nach Art. 19 des gesetzesvertretenden Dekrets, der das Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) betrifft, sind die Merkmale der Vorhaben unter Berücksichtigung des Risikos für die menschliche Gesundheit, auch zum Zweck der Überprüfung von Amts wegen weiterer erheblicher Umweltauswirkungen neben den vom Antragsteller angegebenen, sowie der während des Verfahrens eingegangenen Stellungnahmen und weiterer im Einklang mit den geltenden Vorschriften durchgeführter Prüfungen zu bewerten.

    23

    Art. 22 des gesetzesvertretenden Dekrets Nr. 152/2006, der sich auf die Umweltverträglichkeitsstudie bezieht, bestimmt, dass der Antragsteller eine solche Studie erstellen muss, in der u. a. die voraussichtlichen erheblichen Auswirkungen des betreffenden Vorhabens auf die Umwelt und die Maßnahmen zur Vermeidung, Verhütung und Verringerung sowie zum Ausgleich der voraussichtlichen nachteiligen Umweltauswirkungen durch die Planung der Überwachung potenzieller erheblicher und nachteiliger Umweltauswirkungen infolge der Umsetzung und Inbetriebnahme des Vorhabens beschrieben werden.

    24

    Nach Art. 23 Abs. 2 des gesetzesvertretenden Dekrets muss derjenige, der die Genehmigung bestimmter Projekte beantragt, um die Durchführung einer UVP zu erwirken, die ihrerseits Voraussetzung für die Erteilung einer integrierten Umweltgenehmigung ist, auch eine Bewertung der gesundheitlichen Auswirkungen als spezifisches Instrument zur Bewertung der Auswirkungen der genehmigungsfähigen Tätigkeiten auf die menschliche Gesundheit vorlegen.

    25

    Nach Art. 29quater Abs. 7 des gesetzesvertretenden Dekrets ist der zuständige Bürgermeister befugt, aus Gründen der öffentlichen Gesundheit eine Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung zu beantragen.

    26

    Art. 29decies des gesetzesvertretenden Dekrets betrifft die Kontroll- und Datenübermittlungspflichten des Betreibers sowie die Überprüfungen und Kontrollen hinsichtlich der Erfüllung dieser Pflichten und der Auflagen der integrierten Umweltgenehmigung.

    Die Sonderregeln für Ilva

    27

    Im Juli 2012 ordnete das Tribunale di Taranto (Gericht Tarent, Italien) die vorläufige Beschlagnahme ohne Nutzungsrecht des „Heißbereichs“ des Werks Ilva sowie aller Materialien von Ilva an. Mit Erlass vom 26. Oktober 2012 über die integrierte Umweltgenehmigung für das Jahr 2012 überprüfte der Ministro dell’ambiente e della tutela del territorio e del mare (Minister für Umwelt und den Schutz von Land und Meer, Italien) die integrierte Umweltgenehmigung, die Ilva am 4. August 2011 erteilt worden war. Die Fortsetzung der Produktion wurde durch besondere Ausnahmeregeln sichergestellt.

    28

    In Art. 1 Abs. 1 des Decreto-legge n. 207, convertito con modificazioni dalla legge 24 dicembre 2012, n. 231 – Disposizioni urgenti a tutela della salute, dell’ambiente e dei livelli di occupazione, in caso di crisi di stabilimenti industriali di interesse strategico nazionale (Decreto-legge Nr. 207, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 231 vom 24. Dezember 2012 – Sofortmaßnahmen zum Schutz der Gesundheit, der Umwelt und des Beschäftigungsniveaus bei Krisen in Industrieanlagen von nationaler strategischer Bedeutung) vom 3. Dezember 2012 (GURI Nr. 282 vom 3. Dezember 2012, S. 4) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 207/2012) wurde der Begriff „Anlage von nationaler strategischer Bedeutung“ eingeführt; er sah vor, dass der Minister für Umwelt und den Schutz von Land und Meer, falls dies zur Sicherung der Beschäftigung und der Produktion während der Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung unabdingbar ist, die Fortsetzung der fraglichen Tätigkeit für 36 Monate genehmigen kann, sofern die in der betreffenden Entscheidung über die Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung enthaltenen Vorschriften eingehalten werden, auch wenn die Justizbehörden das Vermögen des Unternehmens beschlagnahmt haben, unbeschadet der Ausübung seiner Geschäftstätigkeit. Das Werk Ilva wurde als Anlage von nationaler strategischer Bedeutung im Sinne dieser Bestimmung eingestuft. Infolgedessen wurde Ilva gestattet, ihre Produktionstätigkeit in diesem Werk und den Vertrieb ihrer Erzeugnisse bis zum 3. Dezember 2015 fortzusetzen.

    29

    Art. 1 Abs. 1 des Decreto-legge n. 61, convertito con modificazioni dalla legge 3 agosto 2013, n. 89 – Nuove disposizioni urgenti a tutela dell’ambiente, della salute e del lavoro nell’esercizio di imprese di interesse strategico nazionale (Decreto-legge Nr. 61, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 89 vom 3. August 2013 – Neue Sofortmaßnahmen zum Schutz von Umwelt, Gesundheit und Beschäftigung beim Betrieb von Unternehmen von nationaler strategischer Bedeutung) vom 4. Juni 2013 (GURI Nr. 129 vom 4. Juni 2013, S. 1) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Decreto-legge Nr. 61/2013) sieht vor, dass jedes Unternehmen von bestimmter Größe, das mindestens eine Industrieanlage von strategischer nationaler Bedeutung betreibt, unter „außerordentliche kommissarische Leitung“ gestellt werden kann, wenn „die Produktionstätigkeit aufgrund der wiederholten Nichteinhaltung der integrierten Umweltgenehmigung … bei objektiver Betrachtung schwerwiegende Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der Gesundheit mit sich gebracht hat und mit sich bringt“. Nach Art. 2 Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 61/2013 waren die Voraussetzungen für die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Ausnahmeregelung im Fall von Ilva erfüllt.

    30

    Art. 1 Abs. 5 dieses Dekreto-legge sieht vor, dass ein aus drei Sachverständigen bestehender Ausschuss einen „Maßnahmen- und Aktivitätsplan für den Umwelt- und Gesundheitsschutz, der die Aktionen und den Zeitrahmen vorsieht, die erforderlich sind, um die Einhaltung der Bestimmungen des Gesetzes und der integrierten Umweltgenehmigung zu gewährleisten“, erstellen muss, dessen Genehmigung „einer Änderung der integrierten Umweltgenehmigung gleichkommt“. Außerdem mussten nach Art. 1 Abs. 7 dieses Decreto-legge die in der integrierten Umweltgenehmigung vorgesehenen Maßnahmen innerhalb einer Frist von „36 Monaten ab dem Inkrafttreten des Gesetzes [zu seiner] Umwandlung“ durchgeführt werden, d. h. bis 3. August 2016.

    31

    Mit Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri – Approvazione del piano delle misure e delle attività di tutela ambientale e sanitaria, a norma dell’articolo 1, commi 5 e 7, del decreto-legge 4 giugno 2013, n. 61, convertito, con modificazioni, dalla legge 3 agosto 2013, n. 89 (Dekret des Präsidenten des Ministerrats – Genehmigung des Maßnahmen- und Aktivitätsplans für den Umwelt- und Gesundheitsschutz gemäß Artikel 1 Absätze 5 und 7 des Decreto-legge Nr. 61 vom 4. Juni 2013, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 89 vom 3. August 2013) vom 14. März 2014 (GURI Nr. 105 vom 8. Mai 2014, S. 34) (im Folgenden: Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2014) wurden die ursprünglichen Fristen für die Durchführung der in den integrierten Umweltgenehmigungen für die Jahre 2011 und 2012 vorgesehenen Umweltsanierungsmaßnahmen neu festgelegt.

    32

    Art. 2 Abs. 5 des Decreto-legge n. 1, convertito con modificazioni dalla legge 4 marzo 2015, n. 20 – Disposizioni urgenti per l’esercizio di imprese di interesse strategico nazionale in crisi e per lo sviluppo della città e dell’area di Taranto (Decreto-legge Nr. 1, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 20 vom 4. März 2015 – Sofortmaßnahmen für den Betrieb von Unternehmen von nationaler strategischer Bedeutung in Schwierigkeiten und die Entwicklung der Stadt und des Gebiets Tarent) vom 5. Januar 2015 (GURI Nr. 3 vom 5. Januar 2015, S. 1) sieht vor, dass der mit Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2014 genehmigte Maßnahmen- und Aktivitätsplan für den Umwelt- und Gesundheitsschutz „als umgesetzt gilt, wenn bis 31. Juli 2015 mindestens 80 Prozent der zu diesem Zeitpunkt auslaufenden Bestimmungen erfüllt sind“. Ferner wurde als letzte Frist für die Umsetzung der verbleibenden Bestimmungen der 3. August 2016 festgesetzt; diese Frist wurde später bis zum 30. September 2017 verlängert.

    33

    Das Decreto-legge n. 98, convertito con modificazioni dalla legge 1 agosto 2016, n. 151 – Disposizioni urgenti per il completamento della procedura di cessione dei complessi aziendali del Gruppo Ilva (Decreto-legge Nr. 98, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 151 vom 1. August 2016 – Sofortmaßnahmen für den Abschluss des Verfahrens zum Verkauf der Unternehmen der Ilva-Gruppe) vom 9. Juni 2016 (GURI Nr. 133 vom 9. Juni 2016, S. 1) sah u. a. den Erlass eines neuen Dekrets des Präsidenten des Ministerrats im Rang einer integrierten Umweltgenehmigung vor, das die UVP ersetzt.

    34

    Durch das Decreto-legge n. 244, convertito con modificazioni dalla legge 27 febbraio 2017, n. 19 – Proroga e definizione di termini (Decreto-legge Nr. 244, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 19 vom 27. Februar 2017 – Verlängerung und Festsetzung der Fristen) vom 30. Dezember 2016 (GURI Nr. 304 vom 30. Dezember 2016, S. 13) wurde die Frist für die Umsetzung bestimmter Umweltsanierungsmaßnahmen letztmalig bis zum 23. August 2023 verlängert.

    35

    Die im Decreto-legge Nr. 98 vom 9. Juni 2016 vorgesehenen Maßnahmen und Aktivitäten für den Umwelt- und Gesundheitsschutz wurden durch das Decreto del Presidente del Consiglio dei Ministri – Approvazione delle modifiche al Piano delle misure e delle attività di tutela ambientale e sanitaria di cui al decreto del Presidente del Consiglio dei ministri 14 marzo 2014, a norma dell’articolo 1, comma 8.1., del decreto-legge 4 dicembre 2015, n. 191, convertito, con modificazioni, dalla legge 1 febbraio 2016, n. 13 (Dekret des Präsidenten des Ministerrats – Genehmigung der Änderungen des im Dekret des Präsidenten des Ministerrats vom 14. März 2014 vorgesehenen Maßnahmen- und Aktivitätsplans für den Umwelt- und Gesundheitsschutz gemäß Art. 1 Abs. 8.1 des Decreto-legge Nr. 191 vom 4. Dezember 2015, mit Änderungen umgewandelt durch das Gesetz Nr. 13 vom 1. Februar 2016) vom 29. September 2017 (GURI Nr. 229 vom 30. September 2017, S. 1) (im Folgenden: Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2017) angenommen, das die integrierte Umweltgenehmigung für das Jahr 2017 darstellt und alle beim Ministerium für Umwelt und den Schutz von Land und Meer laufenden Verfahren zur Erteilung einer integrierten Umweltgenehmigung beendet. Mit dieser integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2017 wurde die in der vorstehenden Randnummer erwähnte Fristverlängerung bestätigt.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

    36

    Die Kläger des Ausgangsverfahrens erhoben beim Tribunale di Milano (Gericht Mailand, Italien), dem vorlegenden Gericht, eine Sammelklage zum Schutz von Rechten homogener Natur, deren Inhaber die etwa 300000 Einwohner der Gemeinde Tarent und benachbarter Gemeinden sind. Diese Rechte würden durch den Betrieb des Werks Ilva erheblich beeinträchtigt.

    37

    Mit ihrer Klage begehren sie den Schutz ihres Rechts auf Gesundheit, ihres Rechts auf ein unbeschwertes und ruhiges Leben sowie ihrer Klimarechte. Diese Rechte würden gegenwärtig und dauerhaft durch vorsätzliche Handlungen verletzt, die zu einer Verschmutzung durch die vom Werk Ilva ausgehenden Emissionen führe, aufgrund deren sie einer höheren Sterberate und zusätzlichen Krankheiten ausgesetzt seien. Die betroffenen Gemeinden seien wegen der erheblichen Verschmutzung der Umweltmedien Wasser, Luft und Boden als „Gebiet von nationaler Bedeutung“ eingestuft worden.

    38

    Die Kläger des Ausgangsverfahrens stützen ihr Vorbringen auf die in den Jahren 2017, 2018 und 2021 erstellten Gutachten über Gesundheitsschäden, die einen Kausalzusammenhang zwischen der Verschlechterung des Gesundheitszustands der Einwohner der Region Tarent und den Emissionen des Werks Ilva belegten, insbesondere in Bezug auf PM10-Partikel mit einem Durchmesser von bis zu zehn Mikrometern und Schwefeldioxid (SO2) industriellen Ursprungs. Sie stützen sich zudem auf den „Bericht des Sonderberichterstatters zur Frage der Menschenrechtsverpflichtungen in Bezug auf den Zugang zu einer sicheren, sauberen, gesunden und nachhaltigen Umwelt“ des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen vom 12. Januar 2022, in dem der Ballungsraum Tarent zu den „Opferzonen“ gezählt werde, d. h. den Zonen, die durch extreme Verschmutzung und Kontamination durch toxische Stoffe gekennzeichnet seien und in denen die schutzbedürftigen und marginalisierten Bewohner viel mehr als andere den Folgen von Umweltverschmutzung und gefährlichen Stoffen für die Gesundheit, die Menschenrechte und die Umwelt ausgesetzt seien.

    39

    Die Kläger des Ausgangsverfahrens rügten auch die Verlängerung der im Decreto-legge Nr. 207/2012 vorgesehenen Frist von 36 Monaten für die Umsetzung der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2012. Sie beantragten beim vorlegenden Gericht u. a., die Schließung des „Heißbereichs“ des Werks Ilva oder die Einstellung der entsprechenden Tätigkeiten anzuordnen. Hilfsweise beantragten sie, den Beklagten des Ausgangsverfahrens aufzugeben, die Kokereien zu schließen, und, weiter hilfsweise, ihnen aufzugeben, die Produktionstätigkeit dieses „Heißbereichs“ bis zur vollständigen Umsetzung der Vorschriften des Umweltplans in der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2017 einzustellen. Schließlich beantragten sie, den Beklagten des Ausgangsverfahrens jedenfalls aufzugeben, einen Geschäftsplan zu erstellen, der eine Verringerung der Treibhausgasemissionen um mindestens 50 %, bezogen auf die Emissionen aus einer Produktion von 6 Mio. Tonnen Stahl pro Jahr, zwischen dem Zeitpunkt ihres Antrags und dem Jahr 2026 vorsehe, oder geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die Auswirkungen der festgestellten Verstöße zu beseitigen oder zu verringern.

    40

    Das vorlegende Gericht führt erstens aus, nach italienischem Recht sei die Bewertung von Gesundheitsschäden nicht Bestandteil des Verfahrens zur Erteilung oder Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung. Es sei auch nicht vorgesehen, dass die Genehmigung kurzfristig und verbindlich überprüft werden müsse, wenn eine solche Bewertung zu dem Ergebnis komme, dass das Gesundheitsrisiko für eine große den Schadstoffemissionen ausgesetzte Bevölkerung nicht tolerierbar sei. Im Wesentlichen sehe dieses Recht eine nachträgliche Bewertung der Gesundheitsschäden vor, mit der nicht unbedingt eine Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung einhergehe. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung verstoße somit im Licht des Vorsorgeprinzips möglicherweise gegen die Richtlinie 2010/75.

    41

    Zweitens hebt das vorlegende Gericht hervor, dass der Bürgermeister von Tarent mit Rechtsakt vom 21. Mai 2019 gemäß dem gesetzesvertretenden Dekret Nr. 152/2006 im Wesentlichen aufgrund von Berichten der zuständigen Gesundheitsbehörden, denen zufolge ein inakzeptables Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung bestehe, die Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2017 gefordert habe. Im Mai 2019 habe das Ministerium für Umwelt und den Schutz von Land und Meer die Überprüfung der Genehmigung angeordnet. Aus der von diesen Behörden durchgeführten Untersuchung gehe hervor, dass bei der Überwachung der Emissionen des Werks Ilva zumindest alle Schadstoffe, die in dem 2018 für die Region Tarent erstellten Abschlussbericht über die Bewertung von Gesundheitsschäden behandelt worden seien, sowie andere Schadstoffe wie Kupfer, Quecksilber und Naphthalin aus diffusen Quellen dieses Werks sowie PM2,5- und PM10-Partikel aus diffusen Quellen und kanalisierten Ableitungen berücksichtigt werden müssten. Es handele sich um die „ergänzende Aufstellung“ der potenziellen Schadstoffe für die menschliche Gesundheit. Die Sonderregeln für Ilva hätten es jedoch ermöglicht, die ihr erteilte integrierte Umweltgenehmigung zu überprüfen, ohne die in dieser ergänzenden Aufstellung erwähnten Schadstoffe und ihre schädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung von Tarent zu berücksichtigen.

    42

    Drittens führt das vorlegende Gericht aus, mindestens 80 % der Vorgaben der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2012 sowie der mit dem Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2014 genehmigte Maßnahmen- und Aktivitätsplan für den Umwelt- und Gesundheitsschutz hätten ursprünglich bis spätestens 31. Juli 2015 eingehalten werden sollen. Dieser Stichtag sei aber um mehr als siebeneinhalb Jahre aufgeschoben worden, was einer Verlängerung um elf Jahre ab dem Zeitpunkt der Beschlagnahme im Strafverfahren entspreche, die zum Erlass der in den Rn. 27 bis 35 des vorliegenden Urteils dargestellten Sonderregeln für Ilva geführt habe. Dieser Aufschub sei zum einen bei einem Industriebetrieb erfolgt, den der italienische Gesetzgeber selbst als ernste Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt angesehen habe, und zum anderen mit dem Ziel, Arbeiten durchzuführen und abzuschließen, die die Stahlproduktion des Werks Ilva theoretisch für die Gesundheit der in der Nähe des Werks lebenden Menschen unbedenklich machen sollten.

    43

    Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Milano (Gericht Mailand) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    1.

    Sind die Richtlinie 2010/75, insbesondere die Erwägungsgründe 4, 18, 34, 28 und 29 sowie Art. 3 Nr. 2 und die Art. 11, 12 und 23, sowie der Grundsatz der Vorsorge und des Schutzes der menschlichen Gesundheit gemäß Art. 191 AEUV dahin auszulegen, dass es einem Mitgliedstaat freisteht, in einem nationalen Gesetz vorzusehen, dass die Bewertung von Gesundheitsschäden eine Handlung außerhalb des Verfahrens zur Erteilung und Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung – im vorliegenden Fall des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats von 2017 – ist und dass ihre Ausarbeitung insbesondere dann keine automatische Wirkung auf eine rechtzeitige und wirksame Prüfung durch die zuständige Behörde in einem Verfahren zur Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung/des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats haben kann, wenn sie zum Ergebnis hat, dass das Gesundheitsrisiko für eine von den Schadstoffemissionen erheblich betroffene Bevölkerung nicht tolerierbar ist, oder ist die Richtlinie vielmehr dahin auszulegen, dass

    i)

    das tolerierbare Risiko für die menschliche Gesundheit anhand wissenschaftlicher Untersuchungen epidemiologischer Art beurteilt werden kann;

    ii)

    die Bewertung von Gesundheitsschäden eine Handlung innerhalb des Verfahrens zur Erteilung und Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung/des Dekrets des Präsidenten des Ministerrats und sogar eine notwendige Voraussetzung dafür sein muss und dass insbesondere die für die Erteilung und Überprüfung der integrierten Umweltgenehmigung zuständige Behörde sie wirksam und rechtzeitig berücksichtigen muss?

    2.

    Ist die Richtlinie 2010/75, insbesondere die Erwägungsgründe 4, 15, 18, 21, 34, 28 und 29, Art. 3 Nr. 2 sowie die Art. 11, 14, 15, 18 und 21, dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat in einem nationalen Gesetz vorsehen muss, dass in der integrierten Umweltgenehmigung (hier der integrierten Umweltgenehmigung von 2012, dem Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2014 und dem Dekret des Präsidenten des Ministerrats von 2017) stets alle emittierten Stoffe zu berücksichtigen sind, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schädlich sind, einschließlich der Kategorien PM10 und PM2,5, die jedenfalls von der zu prüfenden Anlage ausgehen, oder ist die Richtlinie dahin auszulegen, dass die integrierte Umweltgenehmigung (die behördliche Genehmigungsmaßnahme) nur die Schadstoffe umfassen muss, die aufgrund der Art und des Typs der ausgeübten industriellen Tätigkeit von vornherein vorhergesagt werden?

    3.

    Ist die Richtlinie 2010/75, insbesondere die Erwägungsgründe 4, 18, 21, 22, 28, 29, 34 und 43, Art. 3 Nrn. 2 und 25 sowie die Art. 11, 14, 16 und 21 dieser Richtlinie, dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat in einem nationalen Gesetz bei Vorliegen einer industriellen Tätigkeit, die eine schwere und erhebliche Gefahr für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit mit sich bringt, die Frist, die dem Betreiber eingeräumt ist, um die industrielle Tätigkeit mit der erteilten Genehmigung in Einklang zu bringen, indem er die darin vorgesehenen Maßnahmen und Tätigkeiten zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit durchführt, von der ursprünglich festgesetzten Frist um etwa siebeneinhalb Jahre auf eine Gesamtdauer von elf Jahren verlängern kann?

    Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

    44

    Die Beklagten des Ausgangsverfahrens halten das Vorabentscheidungsersuchen aus drei Gründen für unzulässig.

    45

    Sie machen erstens geltend, das Ersuchen genüge nicht den Anforderungen von Art. 94 Buchst. b und c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs. Das vorlegende Gericht beschreibe nicht hinreichend den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich seine Vorlagefragen einfügten, und lege nicht dar, weshalb ihm die Auslegung der Unionsrechtsvorschriften, auf die diese Fragen abzielten, fraglich erscheine.

    46

    Nach ständiger Rechtsprechung ist es im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Unionsrechts betreffen (Urteil vom 21. Dezember 2023, Infraestruturas de Portugal und Futrifer Indústrias Ferroviárias, C‑66/22, EU:C:2023:1016, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    47

    Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die Auslegung des Unionsrechts, um die er ersucht wird, offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos, C‑116/20, EU:C:2022:273, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    48

    Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 94 Buchst. a bis c der Verfahrensordnung das nationale Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen des Ausgangsrechtsstreits darzulegen und die erforderlichen Erläuterungen zu den Gründen für die Wahl der Vorschriften des Unionsrechts, um deren Auslegung es ersucht, und zu dem Zusammenhang zu geben hat, den es zwischen diesen Vorschriften und der nationalen Regelung herstellt, die in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit anzuwenden ist. Auf diese kumulativen Anforderungen an den Inhalt eines Vorabentscheidungsersuchens wird u. a. in den Nrn. 13, 15 und 16 der Empfehlungen des Gerichtshofs der Europäischen Union an die nationalen Gerichte bezüglich der Vorlage von Vorabentscheidungsersuchen (ABl. 2019, C 380, S. 1) hingewiesen (Urteil vom 16. November 2023, Ministerstvo vnútra Slovenskej republiky, C‑283/22, EU:C:2023:886, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    49

    Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen eindeutig hervor, dass das vorlegende Gericht seine Vorlagefragen als für die Beurteilung der Begründetheit der von den Klägern des Ausgangsverfahrens bei ihm gestellten Anträge erheblich ansieht. Es gibt darin zum einen ausdrücklich an, dass es wissen möchte, ob sich im Kontext des Ausgangsverfahrens bestimmte spezifische Verpflichtungen aus dem Unionsrecht ergeben, und zum anderen, dass die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung dieses Rechts entscheidenden Einfluss auf die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der industriellen Tätigkeit des Werks Ilva haben werde. Folglich wird der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits im Ersuchen hinreichend dargelegt, und es enthält zudem alle Angaben, die der Gerichtshof benötigt, um diese Fragen zweckdienlich beantworten zu können.

    50

    Darüber hinaus hat das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen die anwendbaren Vorschriften des Unionsrechts und die Gründe angegeben, aus denen sich ihm Fragen nach der Auslegung dieser Vorschriften stellen. Außerdem geht aus dem Ersuchen hervor, dass die Auslegung dieser Vorschriften einen Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits aufweist, da sich ihre Auslegung auf dessen Ausgang auswirken kann.

    51

    Der erste von den Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Unzulässigkeitsgrund ist daher zurückzuweisen.

    52

    Zweitens machen die Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend, die Feststellung, dass die neue Frist zur Sicherstellung der Vereinbarkeit des Betriebs des Werks Ilva mit den nationalen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit mit der Richtlinie 2010/75 im Einklang stehe, habe aufgrund von Gutachten des Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien), dessen Beurteilung das vorlegende Gericht nicht in Frage stellen könne, Rechtskraft erlangt.

    53

    Insoweit ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die dem Grundsatz der Rechtskraft sowohl in der Rechtsordnung der Europäischen Union als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt. Das Unionsrecht verlangt daher nicht, dass ein nationales Rechtsprechungsorgan seine rechtskräftig gewordene Entscheidung grundsätzlich rückgängig machen muss, um der Auslegung einer einschlägigen unionsrechtlichen Bestimmung durch den Gerichtshof Rechnung zu tragen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos, C‑116/20, EU:C:2022:273, Rn. 92 und 94 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

    54

    Dieser Grundsatz kann als solcher jedoch nicht zu dem Schluss führen, dass das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen unzulässig ist. So hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht nicht allein deshalb, weil eine nationale Vorschrift von anderen Gerichten in einem Sinne ausgelegt wurde, der sich als nicht mit dem Unionsrecht vereinbar erweist, davon ausgehen darf, dass es die Vorschrift nicht im Einklang mit dem Unionsrecht auslegen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. April 2022, Avio Lucos, C‑116/20, EU:C:2022:273, Rn. 97 bis 104).

    55

    Der zweite von den Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Unzulässigkeitsgrund ist daher ebenfalls zurückzuweisen.

    56

    Drittens machen die Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend, nach nationalem Verfahrensrecht könne ein ordentliches Gericht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Privatpersonen einen Verwaltungsakt nur dann außer Acht lassen, wenn die von einer der Parteien geltend gemachte Rechtsverletzung nicht mit der Beurteilung der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsakts zusammenhänge, was vorliegend nicht der Fall sei. Auch wenn der Gerichtshof die Richtlinie 2010/75 dahin auslegen sollte, dass eine Prüfung der gesundheitlichen Auswirkungen der Tätigkeit einer Anlage vor der Erteilung einer Genehmigung für ihren Betrieb oder bei der Überprüfung dieser Genehmigung durchgeführt werden müsse, sei es Sache des nationalen Gesetzgebers, einen Umsetzungsrechtsakt zu erlassen, um den Inhalt dieser Prüfung festzulegen.

    57

    Insoweit ist zum einen hervorzuheben, dass, wie die Generalanwältin in Nr. 62 ihrer Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, der Umstand, dass sich in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit Privatpersonen gegenüberstehen, als solcher nicht zur Unzulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens führen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Mai 2019, Praxair MRC, C‑486/18, EU:C:2019:379, Rn. 35).

    58

    Zum anderen besteht zwar gemäß Art. 288 Abs. 3 AEUV die Verbindlichkeit einer Richtlinie, aufgrund deren eine Berufung auf sie möglich ist, nur in Bezug auf „jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet wird“. Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Richtlinie folglich nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche vor nationalen Gerichten nicht möglich ist (Urteil vom 22. Dezember 2022, Sambre & Biesme und Commune de Farciennes, C‑383/21 und C‑384/21, EU:C:2022:1022, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    59

    Jedoch kann der Einzelne, wenn er sich nicht gegenüber einer Privatperson, sondern gegenüber einem Mitgliedstaat auf eine Richtlinie berufen kann, dies unabhängig davon tun, in welcher Eigenschaft der Staat handelt. Es muss nämlich verhindert werden, dass der Mitgliedstaat aus der Nichtbeachtung des Unionsrechts Nutzen ziehen kann (Urteil vom 22. Dezember 2022, Sambre & Biesme und Commune de Farciennes, C‑383/21 und C‑384/21, EU:C:2022:1022, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    60

    Insoweit müssen nach der in der vorstehenden Randnummer angeführten Rechtsprechung Organisationen oder Einrichtungen – selbst privatrechtliche –, die einer staatlichen Stelle oder deren Aufsicht unterstehen oder von einem Mitgliedstaat mit der Erfüllung einer im öffentlichen Interesse liegenden Aufgabe betraut und hierzu mit besonderen Rechten ausgestattet wurden, die über diejenigen hinausgehen, die sich aus den für die Beziehungen zwischen Privatpersonen geltenden Vorschriften ergeben, einem Mitgliedstaat und allen Trägern seiner Verwaltung gleichgestellt werden (Urteil vom 22. Dezember 2022, Sambre & Biesme und Commune de Farciennes, C‑383/21 und C‑384/21, EU:C:2022:1022, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    61

    Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass nach Art. 1 Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 207/2012 „das [Werk Ilva] eine Anlage von nationaler strategischer Bedeutung [darstellt]“.

    62

    Ferner geht aus diesem Ersuchen hervor, dass das Decreto-legge Nr. 61/2013 in Art. 1 Abs. 1 die Möglichkeit vorsieht, jedes Unternehmen von bestimmter Größe, das mindestens eine Industrieanlage von strategischer nationaler Bedeutung betreibt, unter „außerordentliche kommissarische Leitung“ zu stellen, wenn „die Produktionstätigkeit aufgrund der wiederholten Nichteinhaltung der integrierten Umweltgenehmigung … bei objektiver Betrachtung schwerwiegende Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der Gesundheit mit sich gebracht hat und mit sich bringt“. Das vorlegende Gericht fügt hinzu, dass nach Art. 2 Abs. 1 dieses Decreto-legge die Voraussetzungen für die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Ausnahmeregelung im Fall von Ilva erfüllt gewesen seien.

    63

    Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens im Rahmen des beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits eine Reihe von Sonderregeln rügen, die von den nationalen Behörden in Bezug auf Ilva erlassen wurden und die sowohl aufgrund der Materie, die sie regeln, als auch aufgrund ihres Charakters als lex specialis im Verhältnis zum gesetzesvertretenden Dekret Nr. 152/2006 in den Geltungsbereich der Richtlinie 2010/75 fallen.

    64

    Der dritte von den Beklagten des Ausgangsverfahrens geltend gemachte Unzulässigkeitsgrund ist daher ebenfalls zurückzuweisen.

    65

    Nach alledem sind die Vorlagefragen zulässig.

    Zu den Vorlagefragen

    Zur ersten Frage

    66

    Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2010/75 im Licht von Art. 191 AEUV dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, eine vorherige Prüfung der Auswirkungen, die die Tätigkeit der betreffenden Anlage sowohl auf die Umwelt als auch auf die menschliche Gesundheit hat, als Bestandteil der Verfahren zur Erteilung oder Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine solche Anlage nach dieser Richtlinie vorzusehen.

    67

    Zunächst ist hervorzuheben, dass die Richtlinie 2010/75 auf der Grundlage von Art. 192 Abs. 1 AEUV erlassen wurde, der das Tätigwerden der Union im Umweltbereich zur Erreichung der in Art. 191 AEUV genannten Ziele betrifft. Nach Art. 191 Abs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich AEUV trägt die Umweltpolitik der Union zur Verfolgung der Ziele bei, die Umwelt zu erhalten und zu schützen sowie ihre Qualität zu verbessern und die menschliche Gesundheit zu schützen. Nach Art. 191 Abs. 2 zielt die Umweltpolitik der Union unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Gegebenheiten in ihren einzelnen Regionen auf ein hohes Schutzniveau ab.

    68

    Aus diesen Vorschriften ergibt sich, dass der Schutz der Umwelt und die Verbesserung der Umweltqualität sowie der Schutz der menschlichen Gesundheit zwei eng miteinander verbundene Komponenten der Umweltpolitik der Union sind, zu der die Richtlinie 2010/75 gehört.

    69

    Wie sich aus Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie ergibt, hat sie die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung infolge industrieller Tätigkeiten zum Ziel. Nach ihrem Art. 1 Abs. 2 im Licht ihres zwölften Erwägungsgrundes zielt sie ferner auf die Vermeidung und, sofern dies nicht möglich ist, die Verminderung von Emissionen in Luft, Wasser und Boden und auf die Abfallvermeidung ab, um ein hohes Schutzniveau für die Umwelt „insgesamt“ zu erreichen.

    70

    Die in der Richtlinie 2010/75 aufgestellten Regeln konkretisieren somit die Verpflichtungen der Union im Bereich des Schutzes der Umwelt und der menschlichen Gesundheit, die sich u. a. aus Art. 191 Abs. 1 und 2 AEUV ergeben.

    71

    Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 35 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) bei der Festlegung und Durchführung der Politik und von Maßnahmen der Union in allen Bereichen ein hohes Gesundheitsschutzniveau sichergestellt wird. Zum anderen müssen nach Art. 37 der Charta ein hohes Umweltschutzniveau und die Verbesserung der Umweltqualität in die Politik der Union einbezogen und nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung sichergestellt werden.

    72

    In Anbetracht des engen Zusammenhangs zwischen dem Schutz der Umwelt und dem Schutz der menschlichen Gesundheit zielt die Richtlinie 2010/75 darauf ab, die Anwendung nicht nur von Art. 37 der Charta zu fördern, wie es in ihrem 45. Erwägungsgrund heißt, sondern auch von Art. 35 der Charta, da ein hohes Gesundheitsschutzniveau ohne ein hohes Umweltschutzniveau nach dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung nicht erreicht werden kann. Die Richtlinie 2010/75 trägt somit zur Wahrung des in ihrem 27. Erwägungsgrund genannten Rechts bei, in einer für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Einzelnen angemessenen Umwelt zu leben.

    73

    Erstens ist in Bezug auf die Bestimmungen der Richtlinie 2010/75 für die Verfahren zur Erteilung einer Genehmigung darauf hinzuweisen, dass ihr Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 vorsieht, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass keine Anlage, Feuerungsanlage, Abfallverbrennungsanlage oder Abfallmitverbrennungsanlage ohne Genehmigung betrieben wird.

    74

    Der in Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2010/75 definierte Begriff „Anlage“ bezeichnet insbesondere eine ortsfeste technische Einheit, in der eine oder mehrere der in Anhang I oder Anhang VII Teil 1 der Richtlinie genannten Tätigkeiten sowie andere unmittelbar damit verbundene Tätigkeiten am selben Standort durchgeführt werden, die mit den in den genannten Anhängen aufgeführten Tätigkeiten in einem technischen Zusammenhang stehen und Auswirkungen auf die Emissionen und die Umweltverschmutzung haben können. Anhang I betrifft u. a. die Tätigkeiten der Herstellung und Verarbeitung von Metallen.

    75

    Daraus folgt, dass gemäß Art. 4 der Richtlinie 2010/75 in Verbindung mit ihrem Art. 3 Nr. 3 Tätigkeiten der Herstellung und Verarbeitung von Metallen, die die in ihrem Anhang I festgelegten Kapazitätsschwellenwerte erreichen, zu den genehmigungspflichtigen Tätigkeiten gehören.

    76

    Daher darf ein Werk wie das Werk Ilva, das unstreitig als Anlage im Sinne von Art. 3 Nr. 3 der Richtlinie 2010/75 anzusehen ist und diese Kapazitätsschwellenwerte erreicht, nicht ohne eine solche Genehmigung betrieben werden.

    77

    Die Erteilung einer Genehmigung durch die zuständige Behörde setzt nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2010/75 die Erfüllung der Anforderungen dieser Richtlinie voraus.

    78

    Nach Art. 10 der Richtlinie 2010/75 fällt eine Anlage wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende in den Geltungsbereich ihres Kapitels II, zu dem ihre Art. 11 bis 27 gehören, in denen die für derartige Anlagen geltenden Anforderungen festgelegt sind.

    79

    Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. i der Richtlinie 2010/75 treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit ein Genehmigungsantrag eine Beschreibung der zur Erfüllung der Vorschriften bezüglich der allgemeinen Prinzipien der Grundpflichten der Betreiber gemäß Art. 11 vorgesehenen Maßnahmen enthält.

    80

    Nach Art. 11 Buchst. a der Richtlinie muss der Betreiber einer Anlage alle geeigneten Vorsorgemaßnahmen gegen „Umweltverschmutzungen“ treffen.

    81

    Art. 11 Buchst. b der Richtlinie 2010/75 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit beim Betrieb einer Anlage die BVT angewandt werden. In Art. 3 Nr. 10 der Richtlinie wird der Begriff „[BVT]“ definiert als effizientester und fortschrittlichster Entwicklungsstand der Tätigkeiten und entsprechenden Betriebsmethoden, der bestimmte Techniken als praktisch geeignet erscheinen lässt, als Grundlage für die Emissionsgrenzwerte und sonstige Genehmigungsauflagen zu dienen, um Emissionen in und Auswirkungen auf die „gesamte“ Umwelt zu vermeiden oder, wenn dies nicht möglich ist, zu vermindern.

    82

    Nach Art. 11 Buchst. c der Richtlinie 2010/75 muss der Betreiber einer Anlage dafür sorgen, dass keine erheblichen „Umweltverschmutzungen“ verursacht werden.

    83

    Art. 12 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2010/75 sieht vor, dass der Genehmigungsantrag eine Beschreibung von Art und Menge der vorhersehbaren Emissionen aus der Anlage in jedes einzelne Umweltmedium sowie die Feststellung von erheblichen Auswirkungen der Emissionen auf die Umwelt enthalten muss. Nach Art. 12 Abs. 1 Buchst. j der Richtlinie muss der Genehmigungsantrag eine Beschreibung der zur Überwachung der Emissionen in die „Umwelt“ vorgesehenen Maßnahmen enthalten.

    84

    Insoweit verweist Art. 14 der Richtlinie 2010/75, der die Genehmigungsauflagen betrifft, in Abs. 1 Buchst. a auf die Emissionsgrenzwerte für die Schadstoffe der Liste in ihrem Anhang II und für sonstige Schadstoffe, die von der betreffenden Anlage unter Berücksichtigung der Art der Schadstoffe und der Gefahr einer Verlagerung der „Verschmutzung“ von einem Medium auf ein anderes in relevanter Menge emittiert werden können.

    85

    Zweitens bestimmt Art. 21 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2010/75 in Bezug auf die Überprüfung einer Genehmigung u. a., dass die Genehmigungsauflagen überprüft werden, wenn die durch die betreffende Anlage verursachte „Umweltverschmutzung“ so stark ist, dass die in der Betriebsgenehmigung für diese Anlage festgelegten Emissionsgrenzwerte überprüft oder in der Genehmigung neue Emissionsgrenzwerte vorgesehen werden müssen.

    86

    Wie die Europäische Kommission geltend gemacht hat, muss der Zeitrahmen für die Überprüfung der fraglichen Genehmigung dem Umfang und der Art der Anlage angepasst sein. Aus dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/75 geht nämlich hervor, dass u. a. den lokalen Besonderheiten des Ortes, an dem die Industrietätigkeit erfolgt, Rechnung zu tragen ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn sie in der Nähe von Wohngebäuden stattfindet.

    87

    Somit nehmen die in den Rn. 80, 82, 84 und 85 des vorliegenden Urteils genannten Bestimmungen für die Verfahren zur Erteilung oder Überprüfung einer Genehmigung alle auf den Begriff „Umweltverschmutzung“ Bezug.

    88

    Unter diesen Begriff fällt nach Art. 3 Nr. 2 der Richtlinie 2010/75 u. a. die Freisetzung von Stoffen in Luft, Wasser oder Boden, die der menschlichen Gesundheit oder der Umweltqualität schaden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Sdruzhenie Za Zemyata – dostap do pravosadie u. a., C‑375/21, EU:C:2023:173, Rn. 48).

    89

    Daraus folgt, dass der genannte Begriff für die Zwecke der Anwendung der Richtlinie 2010/75 Schäden umfasst, die der Umwelt und der menschlichen Gesundheit zugefügt wurden oder zugefügt werden können.

    90

    Eine solche weite Definition bestätigt den in den Rn. 67 bis 72 des vorliegenden Urteils hervorgehobenen engen Zusammenhang, der – insbesondere im Kontext dieser Richtlinie – zwischen dem Schutz der Umweltqualität und dem Schutz der menschlichen Gesundheit besteht.

    91

    Diese Auslegung der Richtlinie 2010/75 wird durch ihren Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 bestätigt, wonach der weitere Betrieb der Anlage ausgesetzt wird, bis die erneute Einhaltung der Anforderungen sichergestellt ist, wenn die Nichteinhaltung der Genehmigungsauflagen eine „unmittelbare Gefährdung der menschlichen Gesundheit“ verursacht oder eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der Umwelt darstellt.

    92

    Sie wird auch durch Art. 23 Abs. 4 Unterabs. 4 Buchst. a der Richtlinie bestätigt, der in Bezug auf Umweltinspektionen ausdrücklich bestimmt, dass sich die systematische Beurteilung der Umweltrisiken u. a. auf potenzielle und tatsächliche Auswirkungen der betreffenden Anlagen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt stützen muss.

    93

    Die vorstehende Analyse entspricht überdies der des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der sich speziell in Bezug auf die Umweltverschmutzung durch den Betrieb des Werks Ilva bei der Feststellung eines Verstoßes gegen Art. 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten auf wissenschaftliche Untersuchungen gestützt hat, wonach die Emissionen dieses Werks schädigende Auswirkungen sowohl auf die Umwelt als auch auf die Gesundheit haben (EGMR, 24. Januar 2019, Cordella u. a./Italien, CE:ECHR:2019:0124JUD005441413, §§ 163 und 172).

    94

    Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass entgegen dem Vorbringen der italienischen Regierung der Betreiber einer in den Geltungsbereich der Richtlinie 2010/75 fallenden Anlage in seinem Genehmigungsantrag u. a. angemessene Informationen über die Emissionen aus seiner Anlage erteilen und außerdem während ihres gesamten Betriebszeitraums die Einhaltung seiner grundlegenden Verpflichtungen nach dieser Richtlinie und der insoweit vorgesehenen Maßnahmen durch eine fortlaufende Bewertung der Auswirkungen der Tätigkeiten dieser Anlage sowohl auf die Umwelt als auch auf die menschliche Gesundheit gewährleisten muss.

    95

    Desgleichen obliegt es den Mitgliedstaaten und ihren zuständigen Behörden, eine solche Bewertung zum Bestandteil der Verfahren zur Erteilung und Überprüfung einer Genehmigung zu machen.

    96

    Im Ausgangsverfahren stellt das vorlegende Gericht fest, dass die einschlägigen nationalen Vorschriften eine nachträgliche Bewertung der Auswirkungen der in Rede stehenden industriellen Tätigkeiten auf die menschliche Gesundheit vorsähen, mit der nicht unbedingt eine Überprüfung der Umweltgenehmigung einhergehe.

    97

    Es weist insbesondere darauf hin, dass nach Art. 1bis Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 207/2012 die örtlich zuständigen Gesundheitsbehörden in allen Gebieten, in denen es Anlagen von nationaler strategischer Bedeutung wie das Werk Ilva gebe, „gemeinsam einen Bericht zur Bewertung von Gesundheitsschäden erstellen, der mindestens einmal jährlich aktualisiert wird, auch auf der Grundlage des regionalen Tumorregisters und der epidemiologischen Karten für die wichtigsten umweltbedingten Krankheiten“.

    98

    Das vorlegende Gericht stellt jedoch klar, dass nach den Sonderregeln für Ilva diese Bewertung der Gesundheitsschäden weder eine Vorbedingung für die Erteilung einer integrierten Umweltgenehmigung noch ein Bestandteil der Verfahren zur Erteilung oder Überprüfung dieser Genehmigung sei.

    99

    Die Bewertung von Gesundheitsschäden nach Art. 1bis Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 207/2012 könne daher für sich genommen eine integrierte Umweltgenehmigung nicht ändern, sondern nur einen etwaigen Antrag auf ihre Überprüfung stützen. Die Ergebnisse der Analysen der von den Gesundheitsbehörden erfassten Daten würden anhand der Schwere der festgestellten Probleme in drei progressive Bewertungsstufen eingeteilt. Nur die dritte Stufe ermächtige die zuständige Behörde aber, die Überprüfung einer solchen Genehmigung zu beantragen.

    100

    Die Sonderregeln für Ilva sähen mithin nicht vor, dass die integrierte Umweltgenehmigung zwingend und unverzüglich überprüft werden müsse, wenn eine solche Bewertung zu Ergebnissen führe, nach denen das Gesundheitsrisiko für eine den Schadstoffemissionen ausgesetzte große Bevölkerungsgruppe inakzeptabel sei.

    101

    In Bezug auf das Werk Ilva fügt das vorlegende Gericht hinzu, von den zuständigen Gesundheitsbehörden erstellte, dieses Werk betreffende Berichte über die Bewertung gesundheitlicher Schäden bestätigten, dass weiterhin ein inakzeptables Risiko für die Bevölkerung bestehe, das mit bestimmten Schadstoffemissionen dieses Werks zusammenhänge. Die Auswirkungen dieser Schadstoffe auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit seien jedoch im Rahmen der integrierten Umweltgenehmigungen für die Jahre 2011 und 2012 nicht bewertet worden. Diese Berichte hätten dazu geführt, dass der Bürgermeister von Tarent die Einleitung des Verfahrens zur Überprüfung der Genehmigung für das Jahr 2017 durch das Ministerium für Umwelt und den Schutz von Land und Meer gefordert habe, was im Mai 2019 geschehen sei. Dieses Verfahren sei noch nicht abgeschlossen, und das Werk Ilva sei weiterhin in Betrieb.

    102

    Die italienische Regierung trägt hierzu vor, nach der Richtlinie 2010/75 sei weder eine Bewertung von Gesundheitsschäden noch eine andere, ähnliche Bewertung gesundheitlicher Auswirkungen oder Effekte Voraussetzung für die Erteilung der von ihr vorgesehenen Genehmigungen.

    103

    Sie und Ilva machen ferner geltend, eine Ex-ante-Bewertung und eine vorherige Prüfung solcher Schäden seien mit dem dynamischen Charakter industrieller Tätigkeiten und ihrer Genehmigungen unvereinbar. Außerdem garantiere ein solches Vorgehen nicht, dass Beeinträchtigungen der menschlichen Gesundheit rechtzeitig abgestellt würden.

    104

    Aus den Rn. 67 bis 95 des vorliegenden Urteils ergibt sich jedoch, dass die Bewertung der Auswirkungen der Tätigkeit einer Anlage auf die menschliche Gesundheit, wie sie in Art. 1bis Abs. 1 des Decreto-legge Nr. 207/2012 vorgesehen ist, Bestandteil der Verfahren zur Erteilung und Überprüfung der Betriebsgenehmigung dieser Anlage sein und eine Vorbedingung für die Erteilung oder Überprüfung dieser Genehmigung darstellen muss. Insbesondere muss eine solche Bewertung von der für die Erteilung oder Überprüfung der Genehmigung zuständigen Behörde effektiv und zeitnah berücksichtigt werden. Sie darf nicht von einer Antragsbefugnis abhängen, von der die Gesundheitsbehörden nur in schwerwiegendsten Problemfällen Gebrauch machen können. Führt eine solche Bewertung zu den vom vorlegenden Gericht geschilderten Ergebnissen, die zeigen, dass eine inakzeptable Gefahr für die Gesundheit einer großen Bevölkerungsgruppe, die Schadstoffemissionen ausgesetzt ist, besteht, muss die betreffende Genehmigung kurzfristig überprüft werden.

    105

    Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2010/75 im Licht von Art. 191 AEUV sowie der Art. 35 und 37 der Charta dahin auszulegen ist, dass die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass die vorherige Prüfung der Auswirkungen, die die Tätigkeit der betreffenden Anlage sowohl auf die Umwelt als auch auf die menschliche Gesundheit hat, Bestandteil der Verfahren zur Erteilung und Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine solche Anlage nach dieser Richtlinie ist.

    Zur zweiten Frage

    106

    Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2010/75 dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde für die Zwecke der Erteilung oder Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine Anlage nach dieser Richtlinie neben den Schadstoffen, die aufgrund der Art und des Typs der betreffenden industriellen Tätigkeit vorhersehbar sind, alle Schadstoffe in Emissionen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schädlich sind und aus der Tätigkeit der betreffenden Anlage resultieren, berücksichtigen muss einschließlich der durch diese Tätigkeit erzeugten, die im ursprünglichen Genehmigungsverfahren der Anlage nicht bewertet wurden.

    107

    Wie in Rn. 101 des vorliegenden Urteils ausgeführt, nimmt das vorlegende Gericht Bezug auf Berichte, die den Fortbestand eines inakzeptablen Risikos für die Bevölkerung bestätigten, das nachweislich mit bestimmten Schadstoffemissionen des Werks Ilva, und zwar Feinstaubpartikel PM2,5 und PM10, Kupfer, Quecksilber und Naphthalin aus diffusen Quellen, zusammenhänge. Die Auswirkungen dieser Schadstoffe auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit seien jedoch im Rahmen der integrierten Umweltgenehmigungen für die Jahre 2011 und 2012 nicht bewertet worden.

    108

    Außerdem geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Sonderregeln für Ilva es ermöglichten, ihrer Anlage die integrierte Umweltgenehmigung zu erteilen und diese zu überprüfen, ohne die in der in Rn. 41 des vorliegenden Urteils erwähnten „ergänzenden Aufstellung“ aufgeführten Schadstoffe, einschließlich der Feinstaubpartikel PM2,5 und PM10, oder ihre schädlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung von Tarent, insbesondere im Stadtteil Tamburi, zu berücksichtigen.

    109

    Erstens sieht Art. 12 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2010/75 in Bezug auf den Genehmigungsantrag und das Verfahren zur Erteilung einer Genehmigung vor, dass ein solcher Antrag eine Beschreibung von Art und Menge der vorhersehbaren Emissionen aus der Anlage in jedes einzelne Umweltmedium sowie die Feststellung von erheblichen Auswirkungen der Emissionen auf die Umwelt enthalten muss.

    110

    Ferner ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie, dass in der Genehmigung Emissionsgrenzwerte nicht nur für die Schadstoffe der Liste in ihrem Anhang II vorgesehen werden müssen, sondern auch für sonstige Schadstoffe, die von der betreffenden Anlage „emittiert werden können“.

    111

    Die zuständigen nationalen Behörden verfügen zwar nach den Ausführungen im 15. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/75 über einen Spielraum im Rahmen der von ihnen vorzunehmenden Beurteilung, für welche Schadstoffe in der Betriebsgenehmigung einer Anlage Emissionsgrenzwerte gelten müssen.

    112

    Nach Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie müssen aber in der von diesen Behörden erteilten Genehmigung Emissionsgrenzwerte sowohl für die Schadstoffe der Liste in ihrem Anhang II festgelegt werden als auch für „sonstige“ Schadstoffe, die „unter Berücksichtigung der Art der Schadstoffe und der Gefahr einer Verlagerung der Verschmutzung von einem Medium auf ein anderes in relevanter Menge“ emittiert werden können.

    113

    Darin kommt der Wille des Unionsgesetzgebers zum Ausdruck, wonach im Einklang mit dem Vorsorgeprinzip, auf dem die Richtlinie 2010/75 beruht, die Ermittlung der Menge an Schadstoffen, deren Emission genehmigt werden kann, an den Grad der Schädlichkeit der betreffenden Stoffe anknüpfen muss.

    114

    Folglich können nur Schadstoffe, von denen anzunehmen ist, dass ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt zu vernachlässigen sind, von der Kategorie der Stoffe ausgenommen werden, für die in der Betriebsgenehmigung einer Anlage Emissionsgrenzwerte festzulegen sind.

    115

    Daher ist der Betreiber einer Anlage verpflichtet, in seinem Antrag auf Erteilung einer Betriebsgenehmigung für diese Anlage Informationen über Art, Menge und potenzielle nachteilige Auswirkungen der Emissionen, die von ihr ausgehen können, zu liefern, damit die zuständigen Behörden Grenzwerte für diese Emissionen festlegen können; davon ausgenommen sind allein Emissionen, die nach Art oder Menge keine Gefahr für die Umwelt oder die menschliche Gesundheit darstellen können.

    116

    Zweitens verlangt Art. 21 Abs. 5 Buchst. a der Richtlinie 2010/75 in Bezug auf das Verfahren zur Überprüfung einer Genehmigung, dass die Genehmigungsauflagen überprüft werden, wenn die durch eine Anlage verursachte Umweltverschmutzung so stark ist, dass die in ihrer Betriebsgenehmigung festgelegten Emissionsgrenzwerte überprüft oder „neue Emissionsgrenzwerte vorgesehen werden“ müssen.

    117

    Daher ist davon auszugehen, dass sich das Verfahren zur Überprüfung einer Genehmigung entgegen dem Vorbringen von Ilva und der italienischen Regierung nicht darauf beschränken darf, Grenzwerte allein für Schadstoffe festzulegen, deren Emission vorhersehbar war und im ursprünglichen Genehmigungsverfahren berücksichtigt wurde, ohne auch Emissionen zu berücksichtigen, die von der betreffenden Anlage während ihres Betriebs tatsächlich erzeugt wurden und andere Schadstoffe betreffen.

    118

    Wie die Generalanwältin in Nr. 133 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sind somit die Erfahrungen aus dem Betrieb der betreffenden Anlage als Teil der relevanten wissenschaftlichen Daten über die Umweltverschmutzung zu berücksichtigen, also die tatsächlich festgestellten Emissionen.

    119

    Hinzuzufügen ist, dass u. a. im Rahmen der in der Richtlinie 2010/75 vorgesehenen Verfahren zur Überprüfung einer Genehmigung für den Betrieb einer Anlage stets eine umfassende Beurteilung unter Berücksichtigung aller Schadstoffquellen und ihrer kumulativen Wirkung vorzunehmen ist, um sicherzustellen, dass die Summe ihrer Emissionen nicht zu einer Überschreitung der in der Richtlinie 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. Mai 2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa (ABl. 2008, L 152, S. 1) in der durch die Richtlinie (EU) 2015/1480 der Kommission vom 28. August 2015 (ABl. 2015, L 226, S. 4) geänderten Fassung festgelegten Luftqualitätsgrenzwerte führt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Sdruzhenie Za Zemyata – dostap do pravosadie u. a., C‑375/21, EU:C:2023:173, Rn. 54).

    120

    Im Ausgangsverfahren ist – insbesondere in Bezug auf die Partikel PM10 und PM2,5, die nach den Angaben des vorlegenden Gerichts unberücksichtigt blieben, als im Rahmen der für das Werk Ilva erteilten integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2011 Emissionsgrenzwerte festgelegt wurden – festzustellen, dass die in der Richtlinie 2008/50 in der durch die Richtlinie 2015/1480 geänderten Fassung festgelegten Grenzwerte als „Umweltqualitätsnormen“ im Sinne von Art. 3 Nr. 6 und Art. 18 der Richtlinie 2010/75 anzusehen sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. März 2023, Sdruzhenie Za Zemyata – dostap do pravosadie u. a., C‑375/21, EU:C:2023:173, Rn. 59).

    121

    Wie die Generalanwältin in Nr. 129 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, müssen daher, wenn die Einhaltung dieser Normen es erfordert, der betreffenden Anlage strengere Emissionsgrenzwerte aufzuerlegen, diese nach Art. 18 festgesetzt werden, der bestimmt, dass dann unbeschadet anderer Maßnahmen, die zur Einhaltung der Umweltqualitätsnormen ergriffen werden können, zusätzliche Auflagen in der Genehmigung vorzusehen sind.

    122

    Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2010/75 dahin auszulegen ist, dass die zuständige Behörde für die Zwecke der Erteilung oder Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine Anlage nach dieser Richtlinie neben den Schadstoffen, die aufgrund der Art und des Typs der betreffenden industriellen Tätigkeit vorhersehbar sind, alle Schadstoffe in Emissionen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schädlich sind und von der betreffenden Anlage emittiert werden können, berücksichtigen muss, einschließlich der durch diese Tätigkeit erzeugten, die im ursprünglichen Genehmigungsverfahren der Anlage nicht bewertet wurden.

    Zur dritten Frage

    123

    Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Richtlinie 2010/75 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der die Frist, über die der Betreiber einer Anlage verfügt, um die in der Betriebsgenehmigung für diese Anlage vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit umzusetzen, wiederholt verlängert wurde, obwohl schwere und erhebliche Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit dargetan wurden.

    124

    Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, die Sonderregeln für Ilva hätten es ermöglicht, dem Werk Ilva zahlreiche Verlängerungen zu gewähren, mit denen nicht immer tatsächliche Überprüfungen und Aktualisierungen der Bedingungen für den Betrieb dieses Werks einhergegangen seien. Die Verlängerung der Fristen für die Umsetzung der Maßnahmen zur Sicherstellung der Einhaltung der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2011 sei zum einen für eine industrielle Tätigkeit erfolgt, in der der Gesetzgeber selbst eine ernsthafte Gefahr für die menschliche Gesundheit und die Umwelt gesehen habe, und habe zum anderen darauf abgezielt, Arbeiten durchzuführen, um den Betrieb theoretisch für die Gesundheit der in der Nähe dieses Werks lebenden Personen unbedenklich zu machen. Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht und wie Ilva und die italienische Regierung in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt haben, wurden der Erlass und die Umsetzung der Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels jedoch mehrmals verschoben.

    125

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die fragliche Genehmigung, da es sich im Ausgangsverfahren um eine bestehende Anlage im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der Richtlinie 96/61 handelt, zunächst unter die Bestimmungen dieser Richtlinie und dann unter die Bestimmungen der Richtlinie 2008/1 fiel. Nach Art. 5 Abs. 1 der letztgenannten Richtlinie endete die Übergangsfrist für bestehende Anlagen am 30. Oktober 2007 (Urteil vom 31. März 2011, Kommission/Italien, C‑50/10, EU:C:2011:200, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung). Wie sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen ergibt, wurde diese Frist jedoch im Fall des Werks Ilva, für dessen Betrieb erst am 4. August 2011 eine Umweltgenehmigung erteilt wurde, nicht eingehalten.

    126

    Daran anknüpfend ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 82 Abs. 1 der Richtlinie 2010/75 bei Anlagen wie dem Werk Ilva die zur Umsetzung dieser Richtlinie in ihre nationale Rechtsordnung erlassenen Vorschriften ab dem 7. Januar 2014 anwenden mussten, abgesehen von Vorschriften, die im Kontext der vorliegenden Rechtssache nicht relevant sind. Nach Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2010/75 galt für die Anpassung der Genehmigungsauflagen an neue Techniken eine Frist von vier Jahren nach der Veröffentlichung von Entscheidungen über BVT‑Schlussfolgerungen nach ihrem Art. 13 Abs. 5 zur Haupttätigkeit einer Anlage, die im vorliegenden Fall am 28. Februar 2016 endete.

    127

    Hinzuzufügen ist, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a und b der Richtlinie 2010/75 bei Nichteinhaltung der Genehmigungsauflagen für eine Anlage die erforderlichen Maßnahmen treffen müssen, um ihre Einhaltung unverzüglich sicherzustellen. Insbesondere muss der Betreiber der betreffenden Anlage unverzüglich die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Einhaltung der Auflagen durch seine Anlage so schnell wie möglich wiederhergestellt wird.

    128

    Außerdem verlangt, wie bereits in Rn. 91 des vorliegenden Urteils ausgeführt, Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie 2010/75, dass der Betrieb dieser Anlage ausgesetzt wird, wenn ein Verstoß gegen derartige Auflagen eine unmittelbare Gefährdung der menschlichen Gesundheit verursacht oder eine unmittelbare erhebliche Gefährdung der Umwelt darstellt.

    129

    Die italienische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof geltend gemacht, dass eine Anpassung an die Anforderungen der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2011 zu einer mehrjährigen Unterbrechung der betrieblichen Tätigkeit geführt hätte. Die Anlage sei aber ein wichtiger Arbeitgeber in der betreffenden Region. Der Erlass der Sonderregeln für Ilva habe daher auf einer Abwägung zwischen den berührten Interessen – dem Schutz der Umwelt einerseits und dem Schutz der Beschäftigung andererseits – beruht.

    130

    Insoweit ist jedoch hervorzuheben, dass nach dem im 43. Erwägungsgrund der Richtlinie 2010/75 zum Ausdruck kommenden Willen des Unionsgesetzgebers einige neue Bestimmungen dieser Richtlinie für bestehende Anlagen wie das Werk Ilva erst nach einer festen Frist nach dem Beginn ihrer Anwendung gelten sollten, „[d]amit genügend Zeit bleibt“, um die bestehenden Anlagen technisch an die neuen Bestimmungen anzupassen.

    131

    Unter diesen Umständen wird das vorlegende Gericht zu beurteilen haben, ob die Sonderregeln für das Werk Ilva dazu führten, dass die Umsetzung der zur Einhaltung der integrierten Umweltgenehmigung für das Jahr 2011 erforderlichen Maßnahmen über diesen Übergangszeitraum und die in Art. 21 Abs. 3 der Richtlinie 2010/75 vorgesehene Frist hinaus in einer angesichts des Schweregrads der dargetanen Beeinträchtigungen der Umwelt und der menschlichen Gesundheit exzessiven Weise aufgeschoben wurde.

    132

    Nach alledem ist auf die dritte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2010/75 dahin auszulegen ist, dass sie einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der die Frist, über die der Betreiber einer Anlage verfügt, um die in der Betriebsgenehmigung für diese Anlage vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit umzusetzen, wiederholt verlängert wurde, obwohl schwere und erhebliche Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit dargetan wurden. Bringt die Tätigkeit der betreffenden Anlage solche Gefahren mit sich, verlangt Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie in jedem Fall, dass ihr Betrieb ausgesetzt wird.

    Kosten

    133

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    1.

    Die Richtlinie 2010/75/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. November 2010 über Industrieemissionen (integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung) ist im Licht von Art. 191 AEUV sowie der Art. 35 und 37 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

    dahin auszulegen, dass

    die Mitgliedstaaten vorsehen müssen, dass die vorherige Prüfung der Auswirkungen, die die Tätigkeit der betreffenden Anlage sowohl auf die Umwelt als auch auf die menschliche Gesundheit hat, Bestandteil der Verfahren zur Erteilung und Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine solche Anlage nach dieser Richtlinie ist.

     

    2.

    Die Richtlinie 2010/75 ist dahin auszulegen, dass

    die zuständige Behörde für die Zwecke der Erteilung oder Überprüfung einer Betriebsgenehmigung für eine Anlage nach dieser Richtlinie neben den Schadstoffen, die aufgrund der Art und des Typs der betreffenden industriellen Tätigkeit vorhersehbar sind, alle Schadstoffe in Emissionen, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schädlich sind und von der betreffenden Anlage emittiert werden können, berücksichtigen muss, einschließlich der durch diese Tätigkeit erzeugten, die im ursprünglichen Genehmigungsverfahren der Anlage nicht bewertet wurden.

     

    3.

    Die Richtlinie 2010/75 ist dahin auszulegen, dass

    sie einer nationalen Regelung entgegensteht, mit der die Frist, über die der Betreiber einer Anlage verfügt, um die in der Betriebsgenehmigung für diese Anlage vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und der menschlichen Gesundheit umzusetzen, wiederholt verlängert wurde, obwohl schwere und erhebliche Gefahren für die Unversehrtheit der Umwelt und der menschlichen Gesundheit dargetan wurden. Bringt die Tätigkeit der betreffenden Anlage solche Gefahren mit sich, verlangt Art. 8 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie in jedem Fall, dass ihr Betrieb ausgesetzt wird.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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