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Document 62022CJ0397

Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 21. Dezember 2023.
LM.
Vorabentscheidungsersuchen des Kammergerichts Berlin.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4a Abs. 1 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Ausnahmen – Pflicht zur Vollstreckung – In Abwesenheit verhängte Strafe – Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Betroffener, der weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren persönlich erschienen ist – Nationale Regelung, die ein absolutes Verbot der Übergabe des Betroffenen im Fall einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung vorsieht – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung.
Rechtssache C-397/22.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:1030

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

21. Dezember 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Europäischer Haftbefehl – Art. 4a Abs. 1 – Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Vollstreckungsvoraussetzungen – Gründe, aus denen die Vollstreckung abgelehnt werden kann – Ausnahmen – Pflicht zur Vollstreckung – In Abwesenheit verhängte Strafe – Wendung ‚Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat‘ – Betroffener, der weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren persönlich erschienen ist – Nationale Regelung, die ein absolutes Verbot der Übergabe des Betroffenen im Fall einer in Abwesenheit ergangenen Entscheidung vorsieht – Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung“

In der Rechtssache C‑397/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Kammergericht (Berlin, Deutschland) mit Entscheidung vom 14. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Juni 2022, in dem Verfahren betreffend die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls gegen

LM,

Beteiligte:

Generalstaatsanwaltschaft Berlin,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen (Berichterstatter) sowie des Richters N. Wahl und der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, P. Busche, M. Hellmann und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Grünheid und H. Leupold als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584).

2

Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Deutschland, der gegen einen polnischen Staatsangehörigen ausgestellt wurde, um eine Freiheitsstrafe in Polen zu vollstrecken.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 1 („Definition des Europäischen Haftbefehls und Verpflichtung zu seiner Vollstreckung“) des Rahmenbeschlusses 2002/584 bestimmt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EU] niedergelegt sind, zu achten.“

4

In Art. 4a („Entscheidungen, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen sind, zu der die Person nicht persönlich erschienen ist“) Abs. 1 dieses Rahmenbeschlusses heißt es:

„Die vollstreckende Justizbehörde kann die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls auch verweigern, wenn die Person nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die Person im Einklang mit den weiteren verfahrensrechtlichen Vorschriften des einzelstaatlichen Rechts des Ausstellungsmitgliedstaats

a)

rechtzeitig

i)

entweder persönlich vorgeladen wurde und dabei von dem vorgesehenen Termin und Ort der Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, die zu der Entscheidung geführt hat, oder auf andere Weise tatsächlich offiziell von dem vorgesehenen Termin und Ort dieser Verhandlung in Kenntnis gesetzt wurde, und zwar auf eine Weise, dass zweifelsfrei nachgewiesen wurde, dass sie von der anberaumten Verhandlung Kenntnis hatte,

und

ii)

davon in Kenntnis gesetzt wurde, dass eine Entscheidung auch dann ergehen kann, wenn sie zu der Verhandlung nicht erscheint;

…“

Deutsches Recht

5

§ 83 Abs. 1 Nr. 3 des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen vom 23. Dezember 1982 (BGBl. 1982 I S. 2071) in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juni 1994 (BGBl. 1994 I S. 1537) (im Folgenden: IRG) sieht vor:

„Die Auslieferung ist nicht zulässig, wenn

3.

bei Ersuchen zum Zweck der Strafvollstreckung die verurteilte Person zu der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung nicht persönlich erschienen ist …“

Polnisches Recht

6

§ 139 Abs. 1 des Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung) sieht im Wesentlichen die Möglichkeit vor, eine Zustellung an die bekannte Adresse einer Person zu bewirken, die ihre neue Adresse nicht angegeben hat.

7

Nach § 75 Abs. 1 der Strafprozessordnung ist der Beschuldigte verpflichtet, im Rahmen eines Strafverfahrens bei einem Wohnortwechsel seine neue Adresse mitzuteilen.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

8

Die polnischen Behörden beantragten beim Kammergericht (Berlin, Deutschland), dem vorlegenden Gericht, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, der am 26. Juli 2021 vom Sąd Okręgowy w Poznaniu (Regionalgericht Poznań [Posen], Polen) gegen einen polnischen Staatsangehörigen ausgestellt wurde. Dieser Haftbefehl ist auf die Festnahme und Übergabe des Betroffenen an die polnischen Behörden zum Zweck der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten aus dem Urteil des Sąd Rejonowy w Pile (Rayongericht Piła, Polen) vom 25. Februar 2020 gerichtet, von der noch fünf Monate und 29 Tage zu vollstrecken sind.

9

Mit Urteil vom 16. Juni 2020 wies der Sąd Okręgowy w Poznaniu (Regionalgericht Poznań, Polen) die Berufung des Betroffenen gegen dieses Urteil ab, ohne eine Prüfung in der Sache durchzuführen.

10

Der Betroffene ist unstreitig weder im ersten Rechtszug noch im Berufungsverfahren zu seiner Verhandlung erschienen und war auch nicht anwaltlich vertreten.

11

Die Ladung zur Verhandlung im ersten Rechtszug und die Begründung des erstinstanzlichen Urteils wurden dem Betroffenen an die Adresse zugestellt, die er den zuständigen polnischen Behörden bei seiner Festnahme als seinen ständigen Aufenthalt angegeben hatte. Die an diese Anschrift gerichtete Ladung für die Berufungsverhandlung wurde hingegen nicht vom Betroffenen, der die Berufung eingelegt hatte, sondern von seiner ebenfalls unter dieser Anschrift wohnhaften Lebensgefährtin entgegengenommen. Einen Nachweis dafür, dass diese die Ladung an den Betroffenen ausgehändigt hatte, konnten die polnischen Behörden nicht erbringen.

12

Am 25. August 2021 wurde der Betroffene in Berlin (Deutschland) festgenommen und auf der Grundlage des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls in Untersuchungshaft genommen. Mit einer vereinfachten Auslieferung an die polnischen Behörden erklärte er sich nicht einverstanden.

13

Am 1. September 2021 ordnete das vorlegende Gericht Auslieferungshaft zur Überstellung an die polnischen Behörden gegen den Betroffenen an.

14

Die Generalstaatsanwaltschaft Berlin (Deutschland) ordnete, nachdem sie von der betreffenden ausstellenden Justizbehörde weitere Informationen über die genauen Umstände der Ladung des Betroffenen erhalten hatte, dessen Entlassung aus der Haft an und beantragte beim vorlegenden Gericht, den Auslieferungshaftbefehl aufzuheben und die Übergabe des Betroffenen mit der Begründung für unzulässig zu erklären, dass § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG, mit dem Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 in deutsches Recht umgesetzt worden sei, einer solchen Übergabe entgegenstehe.

15

Mit Beschluss vom 24. September 2021 hob das vorlegende Gericht den Auslieferungshaftbefehl gegen den bereits aus der Haft entlassenen Betroffenen auf. Obgleich es davon ausging, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit der Tat gegeben sei, unter der eine solche Übergabe stehe und die eine Prüfung zum Inhalt habe, ob die vorgeworfene Tat in beiden zur Zusammenarbeit aufgerufenen Mitgliedstaaten eine Straftat darstelle, beschloss es, die Entscheidung über den Antrag, die Übergabe des Betroffenen für unzulässig zu erklären, auszusetzen.

16

Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob der Umstand, dass die Ladung des Betroffenen zur Berufungsverhandlung von seiner Lebensgefährtin entgegengenommen wurde, den in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Anforderungen genügt.

17

Es ist nämlich der Ansicht, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki (C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346), dass eine durch Übergabe an einen erwachsenen Mitbewohner bewirkte Ladung nur dann ausreiche, wenn sich dem Europäischen Haftbefehl entnehmen lasse, ob und gegebenenfalls wann der Mitbewohner die Ladung dem Betroffenen tatsächlich ausgehändigt habe, zu restriktiv sei. Es sei vielmehr regelmäßig zu vermuten, dass erwachsene Mitbewohner eines Haushalts sich die für sie bestimmten Sendungen gegenseitig aushändigten und dass Strafverfolgungsbehörden, da ihnen ein Einblick in interne Vorgänge des betreffenden Haushalts verwehrt sei, mithin die tatsächliche Übergabe an den Betroffenen nicht nachweisen könnten. Ohne eine derartige Vermutung könne es nicht zur „Beseitigung“ des in der Abwesenheitsverurteilung liegenden Übergabehindernisses kommen.

18

Der Nachweis, dass der Betroffene tatsächlich von der ihm zugestellten Ladung Kenntnis erhalten habe, sei als erbracht anzusehen, wenn die Ladung an einen erwachsenen Hausbewohner zugestellt worden sei, es sei denn, der Betroffene lege das Gegenteil plausibel dar.

19

Zweitens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass darunter die Verhandlung zu verstehen ist, die der erstinstanzlichen Entscheidung vorausgegangen ist, wenn die Berufung des Betroffenen ohne Prüfung in der Sache verworfen wurde.

20

Das vorlegende Gericht weist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Urteil vom 10. August 2017, Tupikas (C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628), hin, nach der im Fall eines mehrere Rechtszüge umfassenden Strafverfahrens unter dieser Wendung diejenige Verhandlung zu verstehen sei, in der der Betroffene nach einer erneuten Prüfung des Sachverhalts in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht rechtskräftig für schuldig befunden und zu einer Strafe verurteilt worden sei, mithin die letzte Tatsacheninstanz.

21

Das vorlegende Gericht leitet daraus ab, dass im vorliegenden Fall für die Anwendung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 auf die Verhandlung vor dem Berufungsgericht abzustellen sei, an der der Betroffene nicht teilgenommen habe. Da er zu dieser Verhandlung nicht persönlich erschienen sei, sei seine Übergabe für unzulässig zu erklären und die Vollstreckung des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls abzulehnen.

22

Es sei jedoch zweifelhaft, ob die Rechtsprechung aus dem genannten Urteil auch in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anwendung finde, in der der Betroffene seine Ladung zur Berufungsverhandlung möglicherweise vereitelt habe.

23

Das vorlegende Gericht geht insoweit zum einen davon aus, dass nur Verfahren, in denen eine Prüfung in der Sache stattgefunden habe, unter den Begriff der „Verhandlung“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fielen. Es gebe aber Unterschiede in der Organisation des Berufungsverfahrens in den verschiedenen Mitgliedstaaten, u. a. hinsichtlich der Verpflichtung des nationalen Gerichts, eine solche Prüfung durchzuführen, wenn der Betroffene der Verhandlung fernbleibe.

24

Zum anderen erwachse das erstinstanzliche Urteil in Rechtskraft, wenn die Berufung ohne Prüfung in der Sache verworfen werde, und sei daher vollstreckbar, was bedeute, dass die Übergabe des Betroffenen in Wirklichkeit in Vollstreckung dieses Urteils beantragt werde. Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 sei somit dahin auszulegen, dass sich der Begriff „Verhandlung“ im Sinne dieser Bestimmung auf die zu vollstreckende Entscheidung beziehe.

25

Drittens wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Regelung wie § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG entgegenstehe, die eine Verurteilung in Abwesenheit als „absolutes Übergabehindernis“ zugunsten der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, statuiere, wohingegen Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584, der mit dieser nationalen Regelung in deutsches Recht umgesetzt worden sei, insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsehe.

26

Die zuletzt genannte Bestimmung sei nicht vollständig in deutsches Recht umgesetzt worden, da § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit keine Möglichkeit zur Ermessensausübung durch die vollstreckende Justizbehörde vorsehe.

27

Im Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski (C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 69, 72, 73 und 76), habe der Gerichtshof entschieden, dass eine unmittelbare Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 zwar ausgeschlossen sei, da er keine unmittelbare Wirkung entfalte. Eine vollstreckende Justizbehörde sei jedoch verpflichtet, das nationale Recht rahmenbeschlusskonform auszulegen, um das in dem Rahmenbeschluss festgelegte Ziel zu erreichen, wobei aber eine Auslegung contra legem ausscheide.

28

Das vorlegende Gericht meint, § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG nicht dahin auslegen zu können, dass er ihm im Rahmen der Prüfung eines Hindernisses für die Übergabe des Betroffenen ein Ermessen zugestehe, das es ihm ermöglichen würde, die Übergabe trotz der in § 83 Abs. 2 bis 4 IRG vorgesehenen Ausnahmen für zulässig zu erklären. Bei Anwendung von Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 sowie des Ermessens, über das es insoweit verfügen müsste, würde das vorlegende Gericht in Anbetracht der Umstände des vorliegenden Falls davon ausgehen, dass dem Betroffenen – obgleich er im Rahmen des Berufungsverfahrens nicht persönlich erschienen sei – rechtliches Gehör gewährt worden sei und seine Übergabe daher zulässig sei.

29

Unter diesen Umständen hat das Kammergericht beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist daran festzuhalten, dass im Fall der Zustellung einer Ladung an einen erwachsenen Mitbewohner Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die ausstellende Justizbehörde den Nachweis zu erbringen hat, dass der Betroffene die Ladung tatsächlich erhalten hat, oder ist Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass die Zustellung an den erwachsenen Mitbewohner die tatsächliche Kenntnis nachweist, wenn der Betroffene nicht plausibel darlegt, dass und warum er von der Ladung keine Kenntnis bekommen hat?

2.

Ist bei durchgeführtem Berufungsverfahren der Begriff der „Verhandlung“ in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass er sich auf die der erstinstanzlichen Entscheidung vorangegangene Verhandlung bezieht, wenn nur der Verfolgte Berufung eingelegt hat und die Berufung verworfen worden ist?

3.

Ist es mit dem Vorrang des Unionsrechts vereinbar, dass der deutsche Gesetzgeber in § 83 Abs. 1 Nr. 3 IRG den Fall der Abwesenheitsverurteilung als absolutes Übergabehindernis ausgestaltet hat, obwohl Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 insoweit nur einen fakultativen Verweigerungsgrund vorsieht?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

30

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass ohne plausible Darlegung des Gegenteils durch den Betroffenen von dessen tatsächlicher Kenntnis von einer Ladung auszugehen ist, wenn ihm diese Ladung durch Übergabe an einen erwachsenen Mitbewohner zugestellt wurde, oder dahin, dass die betreffende ausstellende Justizbehörde den Nachweis zu erbringen hat, dass der Betroffene die Ladung tatsächlich erhalten hat.

31

Hierzu hat der Gerichtshof entschieden, dass sich durch den Umstand, dass eine Vorladung einem Dritten übergeben wurde, der sich verpflichtet hat, sie dem Betroffenen auszuhändigen, nicht zweifelsfrei nachweisen lässt, dass und gegebenenfalls wann genau der Betroffene die Informationen über Termin und Ort seiner Verhandlung tatsächlich erhalten hat (Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki,C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 47).

32

Eine Vorladung, die nicht dem Betroffenen selbst zugestellt, sondern an dessen Anschrift einem dort wohnenden Erwachsenen übergeben wurde, der sich verpflichtet hat, sie dem Betroffenen auszuhändigen, ohne dass sich dem Europäischen Haftbefehl entnehmen lässt, ob und gegebenenfalls wann er sie dem Betroffenen tatsächlich ausgehändigt hat, erfüllt die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Voraussetzungen für sich genommen nicht (Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki,C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 54).

33

Das vorlegende Gericht hält es für angebracht, von der Rechtsprechung aus diesem Urteil abzuweichen, die ihm zu restriktiv erscheint. Es sei vielmehr eine Vermutung einzuführen, dass ein zum Haushalt des Betroffenen gehörender Erwachsener diesem eine an ihn gerichtete Ladung tatsächlich übergebe, wobei diese Vermutung widerlegt werden könne, wenn der Betroffene nachweise, dass dies nicht der Fall gewesen sei. Ohne eine derartige Vermutung könne es nicht zur „Beseitigung“ des in der Abwesenheitsverurteilung liegenden Hindernisses für die Übergabe des Betroffenen kommen.

34

Es ist festzustellen, dass eine solche Vermutung dem Ziel von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 widerspricht, das darin besteht, die geladene Person zu schützen, indem dafür gesorgt wird, dass ihr die Informationen über Termin und Ort ihrer Verhandlung zur Verfügung stehen. Der Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass zur Erreichung des mit dieser Bestimmung verfolgten Ziels zweifelsfrei nachgewiesen werden muss, dass der Dritte die Vorladung dem Betroffenen tatsächlich ausgehändigt hat (Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki,C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 46 und 48).

35

Jedenfalls kann die Rechtsprechung aus diesem Urteil nicht als zu restriktiv angesehen werden.

36

Aus dieser Rechtsprechung ergibt sich nämlich, dass eine Ladung, die einem zum Haushalt des Betroffenen gehörenden Erwachsenen übergeben wurde, der sich verpflichtet hat, sie dem Betroffenen auszuhändigen, nur dann die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, wenn sich dem Europäischen Haftbefehl entnehmen lässt, ob und gegebenenfalls wann diese Person sie dem Betroffenen tatsächlich ausgehändigt hat.

37

Eine ausstellende Justizbehörde hat daher im Europäischen Haftbefehl anzugeben, aufgrund welcher Anhaltspunkte sie festgestellt hat, dass der Betroffene tatsächlich offiziell die Informationen über Termin und Ort seiner Verhandlung erhalten hat (Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki,C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 46 und 49).

38

Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass sich eine vollstreckende Justizbehörde, wenn sie sich vergewissert, dass die Voraussetzungen von Art. 4a Abs. 1 Buchst. a des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorliegen, auch auf andere Umstände, u. a. das Verhalten des Betroffenen, stützen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe der Vorladung an den Betroffenen keine Verletzung seiner Verteidigungsrechte impliziert. In diesem Stadium des Übergabeverfahrens kann nämlich besonderes Augenmerk auf einen etwaigen offensichtlichen Mangel an Sorgfalt des Betroffenen gerichtet werden, insbesondere, wenn sich zeigt, dass er versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen (Urteil vom 24. Mai 2016, Dworzecki,C‑108/16 PPU, EU:C:2016:346, Rn. 50 und 51).

39

Demnach stellt der Umstand, dass der Betroffene die Ladung nicht persönlich entgegengenommen hat, kein „absolutes Hindernis“ für die Vollstreckung eines gegen ihn ausgestellten Europäischen Haftbefehls dar. Es lässt sich im Übrigen nicht ausschließen, dass eine vollstreckende Justizbehörde auf der Grundlage der Informationen, die die betreffende ausstellende Justizbehörde im Europäischen Haftbefehl gegen den Betroffenen angegeben hat, zu dem Schluss gelangt, dass eine solche Ladung jedenfalls die Voraussetzungen nach Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 erfüllt, oder auch, dass die Verteidigungsrechte des Betroffenen unter den Umständen des konkreten Einzelfalls dennoch ordnungsgemäß gewahrt wurden und die Übergabe des Betroffenen daher zulässig ist.

40

Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass die betreffende ausstellende Justizbehörde, wenn dem Betroffenen eine Ladung durch Übergabe an einen erwachsenen Mitbewohner zugestellt wurde, den Nachweis zu erbringen hat, dass der Betroffene diese Ladung tatsächlich erhalten hat.

Zur zweiten Frage

41

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass sich die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung auf die Verhandlung bezieht, die zur erstinstanzlichen Entscheidung geführt hat, wenn die vom Betroffenen eingelegte Berufung ohne Prüfung in der Sache verworfen wurde.

42

Das vorlegende Gericht wirft mit anderen Worten die Frage auf, ob das Berufungsverfahren bei einer Fallgestaltung, in der der Betroffene wie im vorliegenden Fall im Rahmen dieses Verfahrens, in dem die erstinstanzliche Entscheidung ohne Prüfung in der Sache bestätigt wurde, nicht persönlich erschienen ist, unter die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 fällt.

43

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs als autonomer Begriff des Unionsrechts anzusehen und – unabhängig von den Wertungen in den Mitgliedstaaten – im Gebiet der Union einheitlich auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 67, und vom 22. Dezember 2017, Ardic,C‑571/17 PPU, EU:C:2017:1026, Rn. 63).

44

Diese Wendung ist so zu verstehen, dass sie sich auf das Verfahren bezieht, das zu der justiziellen Entscheidung geführt hat, durch die die Person, um deren Übergabe im Rahmen der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ersucht wird, rechtskräftig verurteilt wurde (Urteile vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 74, und vom 23. März 2023, Minister for Justice and Equality [Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung], C‑514/21 und C‑515/21, EU:C:2023:235, Rn. 52).

45

Ausschlaggebend für den Betroffenen ist die justizielle Entscheidung, durch die endgültig über den Sachverhalt entschieden wird und gegen die kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben ist, denn unter dem Gesichtspunkt des Schuldspruchs und gegebenenfalls der Festsetzung der von ihm zu verbüßenden Freiheitsstrafe betrifft sie seine persönliche Situation unmittelbar (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 83).

46

Dies ist also das Verfahrensstadium, in dem der Betroffene in der Lage sein muss, seine Verteidigungsrechte uneingeschränkt auszuüben, um seinen Standpunkt wirksam darzulegen und so die endgültige Entscheidung, durch die ihm möglicherweise seine persönliche Freiheit entzogen wird, zu beeinflussen. Der Ausgang dieses Verfahrens ist insoweit unerheblich (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 84).

47

Konkret hat der Gerichtshof für eine Fallgestaltung wie die des Ausgangsverfahrens, in dem das Verfahren zwei aufeinanderfolgende Rechtszüge umfasst, nämlich eine erste Instanz und ein Rechtsmittelverfahren, entschieden, dass es für die Anwendung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 allein auf das Verfahren ankommt, das zu der Entscheidung über das Rechtsmittel geführt hat, sofern gegen diese Entscheidung kein ordentliches Rechtsmittel mehr gegeben ist, so dass sie eine endgültige Beurteilung des Sachverhalts enthält (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 90).

48

Demnach liegt der ausschlaggebende Gesichtspunkt, um ein Verfahren unter die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ im Sinne von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zu fassen, darin, dass dieses Verfahren zu einer Entscheidung geführt hat, die eine rechtskräftige Verurteilung darstellt und die Rechtssache folglich endgültig in der Sache entscheidet.

49

Ein Berufungsverfahren wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende, in dem ein Urteil ergangen ist, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung ohne Prüfung in der Sache bestätigt wurde, fällt unter diese Wendung, da die betreffende Rechtssache mit ihm endgültig entschieden wird, was jedoch vom vorlegenden Gericht zu prüfen sein wird.

50

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 zielt nämlich darauf ab, ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten und es der betreffenden vollstreckenden Behörde zu ermöglichen, den Betroffenen trotz seiner Abwesenheit bei der Verhandlung, die zu seiner Verurteilung geführt hat, unter Achtung der Verteidigungsrechte zu übergeben (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 58).

51

Würde ein in Abwesenheit des Betroffenen durchgeführtes Berufungsverfahren aber aus dem Anwendungsbereich von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 mit der Begründung ausgenommen, dass es keine Prüfung in der Sache umfasst, hätte dies zur Folge, dass das für die Anwendung dieser Bestimmung ausschlaggebende Verfahren das erstinstanzliche Verfahren wäre und dass die Achtung der Verteidigungsrechte des Betroffenen nur im Hinblick auf dieses Verfahren geprüft werden könnte.

52

Eine solche Situation darf, wie der Gerichtshof entschieden hat, nicht zugelassen werden, da bei einem zwei Instanzen umfassenden Verfahren der Umstand, dass der Betroffene seine Verteidigungsrechte im erstinstanzlichen Verfahren wirksam ausüben konnte, noch nicht den Schluss zulässt, dass dies notwendigerweise auch im Rechtsmittelverfahren der Fall war, wenn dieses in seiner Abwesenheit stattgefunden hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 80). Dass eine in erster Instanz verurteilte Person zur Verteidigung ihrer Rechte Berufung einlegt, darf ferner nicht dazu führen, dass der ihr durch den Rahmenbeschluss 2002/584 gewährte Schutz verringert wird.

53

Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass sich die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung auf eine Berufungsverhandlung bezieht, die zu einem Urteil geführt hat, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und somit die Rechtssache endgültig entschieden wurde. Der Umstand, dass dieses Berufungsverfahren ohne eine Prüfung in der Sache durchgeführt wurde, ist insoweit unerheblich.

Zur dritten Frage

54

Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts einer nationalen Regelung zur Umsetzung von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden entgegensteht, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist.

55

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 in seinem Art. 1 Abs. 2 die Regel aufstellt, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses zu vollstrecken. Die vollstreckenden Justizbehörden können also die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – nur in den in diesem Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen ablehnen. Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls kann nur an eine der Bedingungen geknüpft werden, die dort erschöpfend aufgeführt sind. Folglich stellt die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls den Grundsatz dar, während die Ablehnung seiner Vollstreckung als Ausnahme ausgestaltet und eng auszulegen ist (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 50).

56

So nennt der Rahmenbeschluss 2002/584 explizit einerseits die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abzulehnen ist (Art. 3 des Rahmenbeschlusses), und andererseits die Gründe, aus denen die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann (Art. 4 und 4a des Rahmenbeschlusses). Insbesondere durch Art. 4a des Rahmenbeschlusses wird die Möglichkeit, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls abzulehnen, eingeschränkt, indem darin genau und einheitlich die Bedingungen angegeben werden, unter denen Anerkennung und Vollstreckung einer Entscheidung, die im Anschluss an eine Verhandlung ergangen ist, zu der der Betroffene nicht persönlich erschienen ist, nicht verweigert werden dürfen (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 53).

57

Aus dem Wortlaut von Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 ergibt sich, dass diese Bestimmung einen Grund vorsieht, aus dem die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls abgelehnt werden kann, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu seiner Verurteilung geführt hat. Von dieser Möglichkeit bestehen jedoch vier, in den Buchst. a bis d dieser Bestimmung aufgezählte Ausnahmen, bei denen die betreffende vollstreckende Justizbehörde nicht die Wahl hat, die Vollstreckung des ihr übermittelten Europäischen Haftbefehls abzulehnen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Februar 2013, Melloni,C‑399/11, EU:C:2013:107, Rn. 40).

58

Eine vollstreckende Justizbehörde kann somit die Vollstreckung eines zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung ausgestellten Europäischen Haftbefehls verweigern, wenn der Betroffene nicht persönlich zu der Verhandlung erschienen ist, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, es sei denn, aus dem Europäischen Haftbefehl geht hervor, dass die in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 genannten Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 54).

59

Folglich ist eine vollstreckende Justizbehörde verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl ungeachtet der Abwesenheit des Betroffenen in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, zu vollstrecken, wenn nachweislich einer der in Art. 4a Abs. 1 Buchst. a bis d dieses Rahmenbeschlusses genannten Fälle vorliegt (Urteil vom 10. August 2017, Tupikas,C‑270/17 PPU, EU:C:2017:628, Rn. 55).

60

Der Gerichtshof hat bereits klargestellt, dass eine vollstreckende Justizbehörde, da Art. 4a des Rahmenbeschlusses 2002/584 einen Fall der fakultativen Nichtvollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vorsieht, auch dann, wenn sie feststellt, dass die Situation der Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl erlassen wurde, unter keinen der in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils angeführten Tatbestände fällt, jedenfalls andere Umstände berücksichtigen kann, die es ihr erlauben, sich zu vergewissern, dass die Übergabe des Betroffenen nicht zu einer Verletzung seiner Verteidigungsrechte führt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. August 2017,Zdziaszek,C‑271/17 PPU, EU:C:2017:629, Rn. 107, und vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg,C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Im Rahmen einer solchen Beurteilung kann eine vollstreckende Justizbehörde somit das Verhalten des Betroffenen berücksichtigen. In diesem Stadium des Übergabeverfahrens könnte nämlich besonderes Augenmerk u. a. darauf gerichtet werden, dass der Betroffene versucht hat, sich der Zustellung der an ihn gerichteten Informationen zu entziehen (Urteil vom 17. Dezember 2020, Generalstaatsanwaltschaft Hamburg,C‑416/20 PPU, EU:C:2020:1042, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

62

Daraus ergibt sich, dass eine vollstreckende Justizbehörde bei der Prüfung, ob eine der in Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt ist, nicht daran gehindert werden kann, sich der Achtung der Verteidigungsrechte der betroffenen Person zu vergewissern und dabei alle Umstände des Falles, mit dem sie befasst ist, einschließlich der Informationen, über die sie möglicherweise selbst verfügt, gebührend zu berücksichtigen.

63

Im vorliegenden Fall lässt sich den Angaben des vorlegenden Gerichts entnehmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende deutsche Regelung die betreffende vollstreckende Justizbehörde generell verpflichtet, die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Fall einer Verurteilung in Abwesenheit abzulehnen. Diese Regelung lässt der vollstreckenden Justizbehörde bei der Prüfung auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls, ob eine der in Art. 4a Buchst. a bis d des Rahmenbeschlusses 2002/584 angeführten Tatbestände erfüllt ist, hinsichtlich der Frage, ob die Verteidigungsrechte des Betroffenen als gewahrt angesehen werden können, und folglich auch hinsichtlich der Entscheidung, den betreffenden Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, keinerlei Entscheidungsspielraum.

64

Daher ist festzustellen, dass eine solche nationale Regelung gegen Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 verstößt.

65

Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts dahin auszulegen ist, dass er ein nationales Gericht nicht verpflichtet, eine Bestimmung des nationalen Rechts, die mit den Bestimmungen des Rahmenbeschlusses 2002/584 unvereinbar ist, unangewendet zu lassen, da diese Bestimmungen keine unmittelbare Wirkung haben. Allerdings sind die Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der Gerichte, verpflichtet, ihrem nationalen Recht so weit wie möglich eine rahmenbeschlusskonforme Auslegung beizumessen, die es ihnen ermöglicht, ein Ergebnis zu gewährleisten, das mit dem Zweck vereinbar ist, der mit diesem Rahmenbeschluss verfolgt wird (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski,C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 109).

66

Die Rahmenbeschlüsse können zwar keine unmittelbare Wirkung haben, ihr zwingender Charakter hat für die nationalen Behörden aber gleichwohl eine Verpflichtung zu rahmenbeschlusskonformer Auslegung ihres innerstaatlichen Rechts ab dem Zeitpunkt des Ablaufs der Frist für die Umsetzung dieser Rahmenbeschlüsse zur Folge. Diese Behörden müssen ihr nationales Recht bei seiner Anwendung daher so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des betreffenden Rahmenbeschlusses auslegen, um das darin festgelegte Ziel zu erreichen, wobei eine Auslegung des nationalen Rechts contra legem allerdings ausgeschlossen ist. Somit gebietet der Grundsatz der rahmenbeschlusskonformen Auslegung die Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und die Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden, um die volle Wirksamkeit des Rahmenbeschlusses zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das im Einklang mit dem mit ihm verfolgten Zweck steht (Urteil vom 24. Juni 2019, Popławski,C‑573/17, EU:C:2019:530, Rn. 72 bis 77).

67

Daraus folgt, dass es dem vorlegenden Gericht obliegt, unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem anerkannten Auslegungsmethoden die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks des Rahmenbeschlusses 2002/584 auszulegen.

68

Folglich ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, gegen die genannte Bestimmung verstößt. Ein nationales Gericht ist verpflichtet, diese nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen.

Kosten

69

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4a Abs. 1 Buchst. a Ziff. i des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass die betreffende ausstellende Justizbehörde, wenn dem Betroffenen eine Ladung durch Übergabe an einen erwachsenen Mitbewohner zugestellt wurde, den Nachweis zu erbringen hat, dass der Betroffene diese Ladung tatsächlich erhalten hat.

 

2.

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass sich die Wendung „Verhandlung, die zu der Entscheidung geführt hat“ in dieser Bestimmung auf eine Berufungsverhandlung bezieht, die zu einem Urteil geführt hat, mit dem die erstinstanzliche Entscheidung bestätigt und somit die Rechtssache endgültig entschieden wurde. Der Umstand, dass dieses Berufungsverfahren ohne eine Prüfung in der Sache durchgeführt wurde, ist insoweit unerheblich.

 

3.

Art. 4a Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/584 in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung zur Umsetzung dieser Bestimmung, die es einer vollstreckenden Justizbehörde generell verwehrt, einen zur Vollstreckung einer Strafe ausgestellten Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken, wenn der Betroffene in der Verhandlung, die zu der betreffenden Entscheidung geführt hat, nicht persönlich erschienen ist, gegen die genannte Bestimmung verstößt. Ein nationales Gericht ist verpflichtet, diese nationale Regelung unter Berücksichtigung seines gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der nach diesem Recht anerkannten Auslegungsmethoden so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zwecks dieses Rahmenbeschlusses auszulegen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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