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Document 62019TJ0667

Urteil des Gerichts (Vierte erweiterte Kammer) vom 9. November 2022 (Auszüge).
Ferriere Nord SpA gegen Europäische Kommission.
Wettbewerb – Kartelle – Markt für Bewehrungsrundstahl – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS nach Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 festgestellt wird – Preisfestsetzung – Beschränkung und Kontrolle der Produktion und des Absatzes – Beschluss, der nach Nichtigerklärung früherer Entscheidungen ergangen ist – Durchführung einer neuen Anhörung in Anwesenheit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – Verteidigungsrechte – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Angemessene Verfahrensdauer – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Grundsatz ne bis in idem – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beweis für die Beteiligung am Kartell – Erschwerende Umstände – Wiederholungsfall – Mildernde Umstände – Gleichbehandlung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung.
Rechtssache T-667/19.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:T:2022:692

 URTEIL DES GERICHTS (Vierte erweiterte Kammer)

9. November 2022 ( *1 )

„Wettbewerb – Kartelle – Markt für Bewehrungsrundstahl – Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 KS nach Auslaufen des EGKS-Vertrags auf der Grundlage der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 festgestellt wird – Preisfestsetzung – Beschränkung und Kontrolle der Produktion und des Absatzes – Beschluss, der nach Nichtigerklärung früherer Entscheidungen ergangen ist – Durchführung einer neuen Anhörung in Anwesenheit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten – Verteidigungsrechte – Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung – Angemessene Verfahrensdauer – Begründungspflicht – Verhältnismäßigkeit – Grundsatz ne bis in idem – Einrede der Rechtswidrigkeit – Beweis für die Beteiligung am Kartell – Erschwerende Umstände – Wiederholungsfall – Mildernde Umstände – Gleichbehandlung – Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung“

In der Rechtssache T‑667/19,

Ferriere Nord SpA mit Sitz in Osoppo (Italien), Prozessbevollmächtigte: Rechtsanwälte W. Viscardini, G. Donà und B. Comparini,

Klägerin,

gegen

Europäische Kommission, vertreten durch P. Rossi, G. Conte und C. Sjödin als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt M. Moretto,

Beklagte,

unterstützt durch

Rat der Europäischen Union, vertreten durch O. Segnana und E. Ambrosini als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

betreffend eine Klage gemäß Art. 263 AEUV auf Nichtigerklärung des Beschlusses C(2019) 4969 final der Kommission vom 4. Juli 2019 betreffend einen Verstoß gegen Art. 65 des EGKS-Vertrags (Sache AT.37956 – Bewehrungsrundstahl) sowie hilfsweise auf Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße

erlässt

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

zum Zeitpunkt der Beratung unter Mitwirkung des Präsidenten S. Gervasoni, der Richter L. Madise und P. Nihoul (Berichterstatter), der Richterin R. Frendo und des Richters J. Martín y Pérez de Nanclares,

Kanzler: J. Palacio González, Hauptverwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Juni 2021

folgendes

Urteil ( 1 )

I. Vorgeschichte des Rechtsstreits

1

Die Klägerin, Ferriere Nord SpA, ist eine Gesellschaft italienischen Rechts, die seit April 1992 im Bewehrungsrundstahlsektor tätig ist.

A.   Erste Entscheidung der Kommission (2002)

2

Von Oktober bis Dezember 2000 nahm die Kommission der Europäischen Gemeinschaften nach Art. 47 KS bei italienischen Herstellern von Bewehrungsrundstahl, darunter die Klägerin, und einem Unternehmensverband, der Federazione Imprese Siderurgiche Italiane (Verband italienischer Stahlunternehmen, im Folgenden: Federacciai), Nachprüfungen vor. Sie richtete außerdem gemäß der genannten Bestimmung Auskunftsersuchen an diese Unternehmen und den Unternehmensverband.

3

Am 26. März 2002 eröffnete die Kommission ein Verfahren nach Art. 65 KS und formulierte Beschwerdepunkte nach Art. 36 KS (im Folgenden: Mitteilung der Beschwerdepunkte), die u. a. der Klägerin mitgeteilt wurden. Die Klägerin antwortete am 31. Mai 2002 auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte.

4

Eine Anhörung der Parteien des Verwaltungsverfahrens fand am 13. Juni 2002 statt.

5

Am 12. August 2002 übersandte die Kommission denselben Adressaten zusätzliche Beschwerdepunkte (im Folgenden: Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte) gemäß Art. 19 Abs. 1 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Art. [81] und [82 EG] (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204). Darin erläuterte sie ihren Standpunkt zur Fortsetzung des Verfahrens nach Auslaufen des EGKS-Vertrags am 23. Juli 2002. Die Klägerin antwortete am 20. September 2002 auf die Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte.

6

Am 30. September 2002 fand eine erneute Anhörung der Parteien des Verwaltungsverfahrens in Anwesenheit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten statt. Sie betraf den Gegenstand der Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte, d. h. die rechtlichen Auswirkungen des Auslaufens des EGKS-Vertrags auf die Fortsetzung des Verfahrens.

7

Im Anschluss an das Verwaltungsverfahren erließ die Kommission die Entscheidung C(2002) 5087 final vom 17. Dezember 2002 in einem Verfahren nach Art. 65 EGKS-Vertrag (COMP/37.956 – Bewehrungsrundstahl) (im Folgenden: Entscheidung von 2002), die sich an Federacciai und acht Unternehmen, darunter die Klägerin, richtete. Sie stellte darin fest, dass Federacciai und die acht Unternehmen zwischen Dezember 1989 und Juli 2000 ein gegen Art. 65 § 1 KS verstoßendes einheitliches, komplexes und fortgesetztes Kartell auf dem italienischen Markt für Bewehrungsrundstahl in Form von Stäben oder Ringen (im Folgenden: Bewehrungsrundstahl) umgesetzt hätten, das die Festsetzung von Preisen und die Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes bezweckt oder bewirkt habe.

8

Hinsichtlich der Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass sie sich vom 1. April 1993 bis zum 4. Juli 2000 erstreckt habe. Aus diesem Grund verhängte die Kommission gegen die Klägerin eine Geldbuße in Höhe von 3,57 Mio. Euro. Der Betrag beinhaltete eine niedrigere Festsetzung der Geldbuße um 20 % zugunsten der Klägerin gemäß Abschnitt D Nr. 1 der Mitteilung der Kommission über die Nichtfestsetzung oder die niedrigere Festsetzung von Geldbußen in Kartellsachen (ABl. 1996, C 207, S. 4, im Folgenden: Mitteilung über Zusammenarbeit), wonach die Möglichkeit besteht, den von Unternehmen zu entrichtenden Geldbußenbetrag niedriger festzusetzen, wenn die Unternehmen mit der Kommission zusammenarbeiten, indem sie der Kommission vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte Informationen, Unterlagen oder andere Beweismittel liefern, die zur Feststellung des Vorliegens eines Verstoßes beitragen.

9

Am 10. März 2003 erhob die Klägerin gegen die Entscheidung von 2002 Klage beim Gericht. Die Entscheidung wurde vom Gericht gegenüber der Klägerin (Urteil vom 25. Oktober 2007, Ferriere Nord/Kommission, T‑94/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:320) und den anderen Adressaten mit der Begründung für nichtig erklärt, dass ihre Rechtsgrundlage, d. h. Art. 65 §§ 4 und 5 KS, bei ihrem Erlass nicht mehr in Kraft gewesen sei. Die Kommission sei nach Auslaufen des EGKS-Vertrags nicht befugt gewesen, unter Berufung auf die genannten Bestimmungen eine Zuwiderhandlung gegen Art. 65 § 1 KS festzustellen und zu ahnden. Die übrigen Gesichtspunkte der Entscheidung wurden vom Gericht nicht geprüft.

10

Die Entscheidung von 2002 ist gegenüber Federacciai rechtskräftig geworden, da sie keine Klage beim Gericht erhoben hat.

B.   Zweite Entscheidung der Kommission (2009)

11

Mit Schreiben vom 30. Juni 2008 teilte die Kommission der Klägerin und den anderen betroffenen Unternehmen mit, dass sie beabsichtige, eine neue Entscheidung unter Berichtigung der verwendeten Rechtsgrundlage zu erlassen. Darüber hinaus stellte sie klar, dass diese Entscheidung auf die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und in der Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte vorgelegten Beweise gestützt werde. Auf Aufforderung des Gerichts reichte die Klägerin am 1. August 2008 eine schriftliche Stellungnahme ein.

12

Mit Telefax vom 24. Juli und 25. September 2008 sowie vom 13. März, 30. Juni und 27. August 2009 bat die Kommission die Klägerin um Informationen über die Aktionäre und die Vermögenslage des Unternehmens. Die Klägerin beantwortete diese Auskunftsverlangen mit E‑Mails vom 1. August und 1. Oktober 2008 sowie vom 18. März, 1. Juli und 8. September 2009.

13

Am 30. September 2009 erließ die Kommission die Entscheidung C(2009) 7492 final in einem Verfahren nach Art. 65 EGKS-Vertrag (Sache COMP/37.956 – Bewehrungsrundstahl, Neuentscheidung), die an die Adressaten der Entscheidung von 2002 gerichtet war, darunter die Klägerin. Grundlage der Entscheidung waren die Verfahrensbestimmungen des EG-Vertrags und der Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Artikeln [101] und [102 AEUV] niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. 2003, L 1, S. 1). Die Entscheidung stützte sich auf die Gesichtspunkte, die in der Mitteilung der Beschwerdepunkte und der Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte genannt waren, und übernahm im Wesentlichen den Inhalt und die Schlussfolgerungen der Entscheidung von 2002. Insbesondere blieb der Betrag der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße in Höhe von 3,57 Mio. Euro unverändert.

14

Am 8. Dezember 2009 erließ die Kommission eine Änderungsentscheidung, deren Anhang die in der Entscheidung vom 30. September 2009 fehlenden Tabellen zur Veranschaulichung der Preisabweichungen enthielt und mit der die nummerierten Verweise auf diese Tabellen in acht Fußnoten berichtigt wurden.

15

Am 19. Februar 2010 erhob die Klägerin beim Gericht Klage gegen die Entscheidung der Kommission vom 30. September 2009 in der geänderten Fassung (im Folgenden: Entscheidung von 2009). Das Gericht setzte am 9. Dezember 2014 die gegen die Klägerin verhängte Geldbuße auf 3,42144 Mio. Euro mit der Begründung herab, dass die Klägerin drei Jahre nicht an dem Teil des Kartells beteiligt gewesen sei, der die Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes betreffe, und wies die Klage im Übrigen ab (Urteil vom 9. Dezember 2014, Ferriere Nord/Kommission, T‑90/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:1035). Darüber hinaus erklärte das Gericht die Entscheidung von 2009 gegenüber einem anderen Adressaten der Entscheidung teilweise für nichtig, setzte den Betrag der gegen einen anderen Adressaten verhängten Geldbuße herab und wies die anderen Klagen ab.

16

Am 20. Februar 2015 legte die Klägerin ein Rechtsmittel gegen das Urteil vom 9. Dezember 2014, Ferriere Nord/Kommission (T‑90/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:1035), ein. Mit Urteil vom 21. September 2017, Ferriere Nord/Kommission (C‑88/15 P, EU:C:2017:716), hob der Gerichtshof das Urteil des Gerichts auf und erklärte die Entscheidung von 2009 u. a. hinsichtlich der Klägerin für nichtig.

17

In seinem Urteil vom 21. September 2017, Ferriere Nord/Kommission (C‑88/15 P, EU:C:2017:716), stellte der Gerichtshof fest, dass ein Verfahren, das zu einer auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1/2003 ergehenden Entscheidung führt, selbst dann mit den in dieser Verordnung sowie der Verordnung (EG) Nr. 773/2004 der Kommission vom 7. April 2004 über die Durchführung von Verfahren auf der Grundlage der Artikel [101] und [102 AEUV] durch die Kommission (ABl. 2004, L 123, S. 18) vorgesehenen Verfahrensvorschriften im Einklang stehen muss, wenn es vor ihrem Inkrafttreten eingeleitet wurde.

18

Der Gerichtshof kam zu dem Schluss, dass im vorliegenden Fall die einzige den Inhalt der Rechtssache betreffende Anhörung vom 13. Juni 2002 nicht den Anforderungen an das Verfahren zum Erlass einer Entscheidung auf der Grundlage der Verordnung Nr. 1/2003 genügte, da die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht beteiligt waren.

19

Sodann stellte der Gerichtshof fest, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hatte, als es entschieden hatte, dass die Kommission nicht verpflichtet gewesen sei, vor dem Erlass der Entscheidung von 2009 eine neue Anhörung durchzuführen, da die Unternehmen bereits in den Anhörungen vom 13. Juni und 30. September 2002 Gelegenheit gehabt hätten, sich mündlich zu äußern.

20

In seinem Urteil vom 21. September 2017, Ferriere Nord/Kommission (C‑88/15 P, EU:C:2017:716), wies der Gerichtshof auf die Bedeutung der auf Antrag der betreffenden Parteien durchzuführenden Anhörung hin, zu der die Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten einzuladen sind, und stellte fest, dass das Unterbleiben einer solchen Anhörung eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften darstellt.

21

Der Gerichtshof entschied, dass, wenn dieses in der Verordnung Nr. 773/2004 ausdrücklich genannte Recht nicht beachtet wird, es nicht erforderlich ist, dass das dadurch in seinem Recht verletzte Unternehmen dartut, dass diese Rechtsverletzung den Ablauf des Verfahrens und den Inhalt der streitigen Entscheidung zu seinen Lasten beeinflussen konnte.

22

Aus den gleichen Gründen hob der Gerichtshof andere Urteile des Gerichts vom 9. Dezember 2014 über die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von 2009 auf und erklärte diese Entscheidung gegenüber vier anderen Unternehmen für nichtig. Dagegen wurde die Entscheidung von 2009 gegenüber den Adressaten rechtskräftig, die kein Rechtsmittel gegen die genannten Urteile eingelegt hatten.

C.   Beschluss der Kommission (2019)

23

Mit Schreiben von 15. Dezember 2017 teilte die Kommission der Klägerin mit, dass sie beabsichtige, das Verwaltungsverfahren wieder aufzunehmen und in diesem Zusammenhang eine neue Anhörung der Verfahrensparteien in Anwesenheit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten durchzuführen.

24

Die Klägerin reichte mit Schreiben vom 1. Februar 2018 eine Stellungnahme ein, mit der sie die Befugnis der Kommission bestritt, das Verwaltungsverfahren wieder aufzunehmen, und die Kommission aufforderte, von der Wiederaufnahme abzusehen.

25

Am 23. April 2018 führte die Kommission eine neue Anhörung zum Inhalt der Rechtssache durch, an der in Anwesenheit der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten und des Anhörungsbeauftragten die Klägerin und drei weitere Adressaten der Entscheidung von 2009 teilnahmen.

26

Mit Schreiben vom 19. November 2018 sowie vom 17. Januar und 6. Mai 2019 richtete die Kommission drei Auskunftsverlangen an die Klägerin, die ihre Aktionäre und ihre Unternehmenslage betrafen. Die Klägerin beantwortete diese Auskunftsverlangen mit Schreiben vom 10. Dezember 2018 sowie vom 31. Januar und 9. Mai 2019.

27

Am 21. Juni 2019 nahm die Klägerin an einem Treffen mit den Dienststellen der Kommission teil, in dem Letztere erklärten, dass sie beschlossen hätten, dem Kollegium der Kommissare den Erlass eines neuen Sanktionsbeschlusses vorzuschlagen, jedoch angesichts der objektiv langen Dauer die Anwendung eines außergewöhnlichen, mildernden Umstands vorgeschlagen werde.

28

Am 4. Juli 2019 erließ die Kommission den Beschluss C(2019) 4969 final in einem Verfahren nach Art. 65 EGKS-Vertrag (Sache AT.37956 – Bewehrungsrundstahl) (im Folgenden: angefochtener Beschluss), der an die fünf Unternehmen gerichtet war, denen gegenüber die Entscheidung von 2009 für nichtig erklärt worden war, d. h. die Klägerin, Alfa Acciai SpA, Feralpi Holding SpA (vormals Feralpi Siderurgica SpA und Federalpi Siderurgica SRL), Partecipazioni Industriali SpA (vormals Riva Acciaio SpA, später Riva Fire SpA, im Folgenden: Riva) sowie Valsabbia Investimenti SpA und Ferriera Valsabbia SpA.

29

Mit dem angefochtenen Beschluss stellte die Kommission erneut die Zuwiderhandlung fest, die Gegenstand der Entscheidung von 2009 gewesen war, jedoch setzte sie die gegen die Adressaten verhängten Geldbußen aufgrund der Dauer des Verfahrens um 50 % herab. Darüber hinaus wurde der Klägerin eine zusätzliche Herabsetzung der Geldbuße um 6 % gewährt, da sie während eines bestimmten Zeitraums nicht an dem Teil des Kartells beteiligt gewesen sei, der die Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes betreffe. Insoweit verhängte die Kommission in Art. 2 des angefochtenen Beschlusses eine Geldbuße in Höhe von 2,237 Mio. Euro gegen die Klägerin.

30

Am 8. Juli 2019 wurde der Klägerin eine unvollständige Abschrift des angefochtenen Beschlusses zugestellt, die nur die ungeraden Seiten enthielt, was die Klägerin der Kommission mit Schreiben vom 9. Juli 2019 mitteilte.

31

Am 18. Juli 2019 wurde der Klägerin eine vollständige Fassung des angefochtenen Beschlusses zugestellt.

II. Verfahren und Anträge der Parteien

32

Mit Klageschrift, die am 30. September 2019 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat die Klägerin die vorliegende Klage erhoben.

33

Mit Schriftsatz, der am 13. Januar 2020 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat der Rat der Europäischen Union beantragt, als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen zu werden. Der Präsident der Vierten Kammer des Gerichts hat diesem Antrag mit Beschluss vom 11. Februar 2020 stattgegeben. Der Rat hat den Streithilfeschriftsatz und die Klägerin hat ihre Stellungnahme dazu fristgerecht eingereicht. Die Kommission hat keine Stellungnahme zum Streithilfeschriftsatz eingereicht.

34

Auf Vorschlag der Vierten Kammer hat das Gericht die Rechtssache gemäß Art. 28 seiner Verfahrensordnung an einen erweiterten Spruchkörper verwiesen.

35

Auf Vorschlag des Berichterstatters hat das Gericht (Vierte erweiterte Kammer) beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und den Parteien im Rahmen prozessleitender Maßnahmen nach Art. 89 der Verfahrensordnung schriftliche Fragen gestellt sowie sie zur Vorlage von Dokumenten aufgefordert. Die Parteien haben diese Fragen fristgemäß beantwortet und die angeforderten Dokumente vorgelegt.

36

In der Sitzung vom 4. Juni 2021 haben die Parteien mündlich verhandelt und die schriftlichen und mündlichen Fragen des Gerichts beantwortet. Auf eine Frage des Gerichts in der mündlichen Verhandlung hat sich die Klägerin damit einverstanden erklärt, dass die in der Klageschrift zur Stützung der vorliegenden Klage vorgebrachten Gründe für die Abfassung des Urteils neu nummeriert werden, was im Sitzungsprotokoll vermerkt worden ist.

37

Die Klägerin beantragt,

in erster Linie, den angefochtenen Beschluss für nichtig zu erklären, soweit er sie betrifft;

hilfsweise, den angefochtenen Beschluss teilweise für nichtig zu erklären und die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen;

der Kommission und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.

38

Die Kommission beantragt,

die Klage abzuweisen;

der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

39

Der Rat beantragt,

die Klage abzuweisen, soweit sie auf die Einrede der Rechtswidrigkeit von Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 gestützt ist;

der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.

III. Rechtliche Würdigung

40

Die Klägerin stützt ihre Klage auf neun Klagegründe, die sich in zwei Gruppen unterteilen lassen.

41

In der ersten Gruppe werden in erster Linie sechs Klagegründe geltend gemacht, die sich auf die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses richten:

Der erste Klagegrund betrifft eine Verletzung der Verteidigungsrechte und der Verfahrensbestimmungen im Rahmen der Anhörung vom 23. April 2018;

der zweite Klagegrund betrifft die Rechtswidrigkeit der Weigerung der Kommission, vor Erlass des angefochtenen Beschlusses seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zu prüfen;

mit dem dritten Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer geltend gemacht;

der vierte Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen die Begründungspflicht, eine Befugnisüberschreitung und einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit;

mit dem fünften Klagegrund wird ein Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem gerügt;

der sechste Klagegrund betrifft die Rechtswidrigkeit der in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 enthaltenen Verjährungsregelung.

42

In der zweiten Gruppe werden hilfsweise drei weitere Klagegründe erhoben, die auf eine teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses und eine entsprechende Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße gerichtet sind:

Der siebte Klagegrund betrifft eine Verletzung der Beweislastregeln und des Grundsatzes in dubio pro reo in Bezug auf die der Klägerin vorgeworfenen Verhaltensweisen;

der achte Klagegrund stützt sich auf die Rechtswidrigkeit der Erhöhung des Geldbußenbetrags wegen wiederholter Zuwiderhandlung;

der neunte Klagegrund betrifft eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes bei der Berücksichtigung mildernder Umstände und die verspätete Begründung der Herabsetzung der Geldbuße.

A.   Zum Nichtigkeitsantrag

[nicht wiedergegeben]

2. Zum zweiten Klagegrund: Rechtswidrigkeit der Weigerung der Kommission, vor Erlass des angefochtenen Beschlusses seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zu prüfen

[nicht wiedergegeben]

a) Zur ersten Rüge: Rechtsfehler

199

Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe gegen Art. 41 der Charta verstoßen, da sie sich geweigert habe, vor Erlass des angefochtenen Beschlusses seine Vereinbarkeit mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zu prüfen.

200

Wie die Klägerin zu Recht vorträgt, ist die Kommission verpflichtet, den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer zu beachten, der in Art. 41 der Charta verankert ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 179, und vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, EU:T:2012:275, Rn. 285).

201

Insoweit ist die Verfahrensdauer zu berücksichtigen, wenn die Kommission im Rahmen des Wertungsspielraums, den ihr das Unionsrecht einräumt, beurteilt, ob nach den Wettbewerbsregeln die Verfolgung einer Zuwiderhandlung einzuleiten und ein Beschluss zu erlassen ist.

202

Entgegen dem Vorbringen der Klägerin ist dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen, dass die Kommission bei der Beurteilung, ob die Verfolgung einer Zuwiderhandlung einzuleiten und ein Beschluss zu erlassen ist, nicht gegen die Verpflichtung verstieß, die Verfahrensdauer zu berücksichtigen. Aus dem angefochtenen Beschluss ergibt sich nämlich, dass die Kommission vor ihrer Entscheidung geprüft hat, ob im vorliegenden Fall das Verfahren wieder aufgenommen werden konnte und zum Erlass eines solchen Beschlusses über die Verhängung einer Geldbuße führen konnte.

[nicht wiedergegeben]

213

Insoweit ist dem angefochtenen Beschluss zu entnehmen, dass die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin vor Erlass des Beschlusses geprüft hat, ob der Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer eingehalten wurde, und in diesem Zusammenhang die Dauer des Verwaltungsverfahrens, einschließlich der administrativen Verfahrensabschnitte und der Unterbrechungen aufgrund der gerichtlichen Kontrolle, die möglichen Ursachen der Dauer des Verfahrens und die eventuell daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen untersucht hat.

214

Die Klägerin tritt diesem Ergebnis entgegen und macht geltend, die Kommission habe es im angefochtenen Beschluss abgelehnt, sich zur unangemessenen Länge des Verfahrens zu äußern, da diese Beurteilung dem Unionsrichter vorbehalten sei und die Kommission darüber nicht entscheiden könne.

215

Insoweit ist festzustellen, dass der Unionsrichter mit Fragen zur Verfahrensdauer befasst werden kann. In Haftungsstreitigkeiten muss er die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union verurteilen, wenn sie durch den Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer einen Schaden verursacht haben (Urteile vom 26. November 2013, Kendrion/Kommission, C‑50/12 P, EU:C:2013:771, Rn. 94, und vom 11. Juli 2019, Italmobiliare u. a./Kommission, T‑523/15, nicht veröffentlicht, EU:T:2019:499, Rn. 159). Bei Nichtigkeitsklagen kann die Dauer eines Verfahrens zur Nichtigerklärung eines angefochtenen Beschlusses führen, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ vorliegen: Erstens muss die Dauer des Verfahrens unangemessen erscheinen, und zweitens muss die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt haben (Urteile vom 21. September 2006, Technische Unie/Kommission, C‑113/04 P, EU:C:2006:593, Rn. 47 und 48, vom 8. Mai 2014, Bolloré/Kommission, C‑414/12 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2014:301, Rn. 84 und 85, und vom 9. Juni 2016, PROAS/Kommission, C‑616/13 P, EU:C:2016:415, Rn. 74 bis 76).

216

Wie die Klägerin zu Recht geltend macht, kann die dem Unionsrichter insoweit übertragene Befugnis nicht dazu führen, dass die Kommission von der Verpflichtung befreit wird, bei der Entscheidung über die sich aus einem Nichtigkeitsurteil ergebenden Maßnahmen gemäß Art. 266 AEUV eine Beurteilung durchzuführen.

217

Wie bereits dargelegt, muss die Kommission bei der Vornahme dieser Beurteilung sämtliche Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, und zwar u. a. ob es zweckmäßig ist, einen neuen Beschluss zu erlassen, eine Sanktion zu verhängen oder gegebenenfalls die in Aussicht genommene Sanktion herabzusetzen, insbesondere wenn die Verfahrensdauer, ohne selbst eine schuldhafte Pflichtverletzung darzustellen, aufgrund von administrativen Verfahrensabschnitten und gegebenenfalls auch Unterbrechungen infolge der gerichtlichen Kontrolle offensichtlich Auswirkungen auf die bei der Festsetzung des Betrags der Geldbuße zu berücksichtigenden Gesichtspunkte gehabt haben kann, insbesondere auf die etwaige abschreckende Wirkung der Geldbuße, wenn diese lange Zeit nach dem Sachverhalt der Zuwiderhandlung verhängt wird.

218

Diese Beurteilung, die u. a. die gesamte Dauer des Verfahrens einschließlich gerichtlicher Verfahrensabschnitte betrifft, wurde im Wesentlichen im 528. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses vorgenommen.

219

Somit hat die Kommission entgegen dem Vorbringen der Klägerin im angefochtenen Beschluss geprüft, ob die Verfahrensdauer einer Wiederaufnahme des Verfahrens entgegenstehen könnte, und gleichzeitig anerkannt, dass diese Beurteilung der Kontrolle des Unionsrichters für Streitigkeiten, die die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts betreffen, oder gegebenenfalls für Haftungsstreitigkeiten unterliegt.

[nicht wiedergegeben]

223

Die Rüge ist daher zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

3. Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer

229

Nach Auffassung der Klägerin ist der angefochtene Beschluss für nichtig zu erklären, da er nach Abschluss eines Verfahrens ergangen sei, das die angemessene Verfahrensdauer überschritten habe. Die überlange Dauer des Verfahrens habe zur Folge, dass die Kommission nicht mehr zur Verhängung von Sanktionen befugt gewesen sei und der Beschluss deshalb auch wegen Befugnisüberschreitung rechtswidrig sei. Die Klägerin erhebt im Wesentlichen drei Rügen, die die Dauer der administrativen Verfahrensabschnitte, die Gesamtdauer des Verfahrens und die Auswirkungen der Verfahrensdauer auf die Verteidigungsrechte betreffen und alle von der Kommission bestritten werden.

230

Vor der Prüfung dieser Rügen ist daran zu erinnern, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Dauer eines Verfahrens zur Nichtigerklärung eines angefochtenen Beschlusses führen kann, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ vorliegen: Erstens muss die Dauer des Verfahrens unangemessen erscheinen, und zweitens muss die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt haben (siehe oben, Rn. 215).

231

Folglich könnte ein Beschluss der Kommission nicht allein wegen der Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer für nichtig erklärt werden, wenn die Verteidigungsrechte der Klägerin durch die Überschreitung nicht beeinträchtigt wurden. Somit ist das Vorbringen der Klägerin, die Kommission sei allein wegen der Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer verpflichtet gewesen, auf den Erlass des angefochtenen Beschlusses zu verzichten, von vornherein zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

a) Zur ersten Rüge: Dauer der administrativen Verfahrensabschnitte

233

Die Klägerin ist der Auffassung, dass die Dauer der administrativen Verfahrensabschnitte, die sich über mehr als sechs Jahre hingezogen hätten, nicht mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer vereinbar sei. Sie beanstandet insbesondere die Verzögerung, mit der die Kommission auf die sukzessiven Nichtigerklärungen durch das Gericht und den Gerichtshof reagiert habe:

Zwischen der Verkündung des Urteils vom 25. Oktober 2007, Ferriere Nord/Kommission (T‑94/03, nicht veröffentlicht, EU:T:2007:320), und dem Erlass der Entscheidung von 2009, d. h. während eines Zeitraums von über zwei Jahren, habe sich die Kommission darauf beschränkt, das oben in Rn. 11 genannte Schreiben vom 30. Juni 2008, in dem die Wiederaufnahme des Verfahrens angekündigt worden sei, sowie Auskunftsverlangen zu versenden, und in diesem Zeitraum sei weder eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte übermittelt worden noch habe eine neue Anhörung stattgefunden, obwohl es für die Kommission nicht schwierig gewesen wäre, den Fehler zu berichtigen, der zur Ungültigkeit der für nichtig erklärten Entscheidung geführt habe, da das Gericht den Fehler klar benannt habe;

ebenso habe sich die Tätigkeit der Kommission zwischen dem Urteil vom 21. September 2017, Ferriere Nord/Kommission (C‑88/15 P, EU:C:2017:716), und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses, d. h. während eines Jahres und neun Monaten, darauf beschränkt, das Schreiben vom 15. Dezember 2017 zur Ankündigung der Wiederaufnahme des Verfahrens sowie Schreiben zur Ankündigung und Erläuterung der Anhörung vom 23. April 2018 und beschränkte Auskunftsverlangen zur Unternehmenslage der Klägerin zu versenden.

234

Die Klägerin macht außerdem geltend, die Kommission habe in den administrativen Verfahrensabschnitten mehrere Verwaltungsfehler begangen, die dazu beigetragen hätten, die Verfahrensdauer in ungerechtfertigter Weise zu verlängern.

235

Nach dem Unionsrecht sind die Organe verpflichtet, im Rahmen der von ihnen durchgeführten Verwaltungsverfahren Angelegenheiten innerhalb einer angemessenen Frist zu behandeln (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Juni 2012, Imperial Chemical Industries/Kommission, T‑214/06, EU:T:2012:275, Rn. 284).

236

Die Pflicht, Verwaltungsverfahren innerhalb einer angemessenen Frist durchzuführen, stellt nämlich einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, der u. a. von Art. 41 Abs. 1 der Charta übernommen wird (Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 167, vom 11. April 2006, Angeletti/Kommission, T‑394/03, EU:T:2006:111, Rn. 162, und vom 7. Juni 2013, Italien/Kommission, T‑267/07, EU:T:2013:305, Rn. 61).

237

Im vorliegenden Fall ist den Akten zu entnehmen, dass vier Verfahrensabschnitte, die insgesamt sechs Jahre und einen Monat dauerten, im Rahmen der Bearbeitung der Angelegenheit bei der Kommission durchlaufen wurden:

Ein erster Verfahrensabschnitt, der ein Jahr und fünf Monate dauerte, trennte die ersten Untersuchungsmaßnahmen von der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte an Federacciai und die anderen betroffenen Unternehmen;

die drei anschließenden Verfahrensabschnitte führten zum Erlass der Entscheidung von 2002 bzw. von 2009 sowie zum Erlass des angefochtenen Beschlusses und dauerten jeweils neun Monate, zwei Jahre und einen Monat bzw. ein Jahr und neun Monate.

238

Nach der Rechtsprechung ist die Angemessenheit der Verfahrensdauer anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, insbesondere anhand der Interessen, die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens des Klägers und der zuständigen Behörden, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 187 und 188).

239

Als Erstes ist in Bezug auf die Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen hervorzuheben, dass bei einem Rechtsstreit über eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht das grundlegende Gebot der für die Wirtschaftsteilnehmer unerlässlichen Rechtssicherheit und das Ziel, zu gewährleisten, dass der Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verfälscht wird, nicht nur für den Kläger und seine Konkurrenten, sondern wegen der großen Zahl betroffener Personen und der berührten finanziellen Interessen auch für Dritte von erheblichem Interesse sind (vgl. Urteil vom 1. Februar 2017, Aalberts Industries/Europäische Union, T‑725/14, EU:T:2017:47, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

240

Im vorliegenden Fall stellte die Kommission im angefochtenen Beschluss fest, dass die Klägerin dadurch gegen Art. 65 § 1 KS verstoßen habe, dass sie vom 1. April 1993 bis zum 4. Juli 2000 an einer fortdauernden Vereinbarung oder an verabredeten Praktiken hinsichtlich Bewehrungsrundstahl beteiligt gewesen sei, die eine Festlegung der Preise und die Beschränkung oder Kontrolle der Produktion oder des Absatzes im Binnenmarkt bezweckt oder bewirkt hätten.

241

Auf der Grundlage dieser Feststellung verhängte die Kommission eine Geldbuße in Höhe von 2,237 Mio. Euro gegen die Klägerin.

242

Angesichts dieser Umstände ist davon auszugehen, dass die Angelegenheit für die Klägerin von erheblicher Bedeutung war.

243

Als Zweites ist zur Komplexität der Rechtssache festzustellen, dass die von der Kommission begangenen Fehler die Konsequenzen betreffen, die aus dem Auslaufen des EGKS-Vertrags für das Verfahren zu ziehen waren.

244

Die Frage, welche Vorschriften auf den in Rede stehenden Sachverhalt sowohl in materiell-rechtlicher als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht anwendbar waren, war aufgrund des Auslaufens des EGKS-Vertrags einigermaßen komplex, wie die Kommission zu Recht geltend macht.

245

Zudem bestand das Kartell während eines relativ langen Zeitraums (zehn Jahre und sieben Monate), war eine erhebliche Anzahl von Akteuren involviert (acht Unternehmen, die insgesamt elf Gesellschaften umfassten, sowie ein Wirtschaftsverband) und wurde eine Vielzahl von Dokumenten im Rahmen der Prüfungen bereitgestellt oder herangezogen (etwa 20000 Seiten).

246

Angesichts dieser Umstände ist die Angelegenheit als komplex anzusehen.

247

Was als Drittes das Verhalten der Parteien betrifft, hat die Kommission aufgrund ihrer intensiven Beanspruchung durch die Parteien des Verwaltungsverfahrens eine fortlaufende Aktivität an den Tag gelegt.

248

Insoweit musste sich die Kommission im Zusammenhang mit dem Erlass des angefochtenen Beschlusses mit mehreren Schreiben befassen, gleichzeitig die Anhörung vom 23. April 2018 vorbereiten und eine Vergleichsausführung prüfen, die von einigen Parteien des Verwaltungsverfahrens am 4. Dezember 2018 vorgelegt worden war.

249

Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe zwei Verwaltungsfehler begangen, welche die Dauer des Verfahrens in ungerechtfertigter Weise verlängert hätten:

ein Fehler bei der Erstellung der CD-ROMs in der Anlage der Mitteilung der Beschwerdepunkte;

fehlerhafte Zustellung der Entscheidung von 2009 sowie des angefochtenen Beschlusses.

250

Zwar macht die Klägerin keine genauen Angaben zum zusätzlichen Zeitaufwand infolge der zwei oben genannten Fehler der Kommission, doch ist den vorstehenden Rn. 13 und 14 zu entnehmen, dass der zweite Fehler jedenfalls nur eine Verlängerung des Verfahrens um zwei Monate und eine Woche zur Folge hatte.

251

Somit hat die Klägerin keine Umstände dargetan, die den Schluss zulassen, dass die beanstandeten Fehler größere Auswirkungen auf die Verfahrensdauer hatten.

252

Aus diesem Gesamtbild ergibt sich, dass die Dauer der administrativen Verfahrensabschnitte angesichts der Umstände der Rechtssache und insbesondere ihrer Komplexität in einem Kontext, in dem der Kommission keine Phase unerklärlicher Untätigkeit im Lauf der einzelnen Etappen der administrativen Verfahrensabschnitte vorgeworfen werden kann, nicht unangemessen erscheint.

253

Die Rüge ist daher zurückzuweisen.

b) Zur zweiten Rüge: Gesamtdauer des Verfahrens

254

Die Klägerin beanstandet die Gesamtdauer der Bearbeitung des Vorgangs, angefangen von den ersten Ermittlungshandlungen bis zum Erlass des angefochtenen Beschlusses. Da die Gesamtdauer bei Erlass des angefochtenen Beschlusses fast 19 Jahre betragen habe und sich der Beschluss auf Verhaltensweisen beziehe, von denen einige vor über 30 Jahren stattgefunden hätten, liege ein Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer vor.

255

Insoweit ist festzustellen, dass die Pflicht zur Einhaltung einer angemessenen Verfahrensdauer für jeden Abschnitt eines Verfahrens sowie das Verfahren insgesamt gilt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 230 und 231, und Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Solvay/Kommission, C‑109/10 P, EU:C:2011:256, Nr. 239).

256

Im vorliegenden Fall war der Zeitraum, über den sich das gesamte Verwaltungsverfahren erstreckte, außergewöhnlich lang, was die Kommission im Übrigen veranlasste, die letztlich gegen die Klägerin verhängte Geldbuße herabzusetzen (siehe oben, Rn. 212).

257

Die lange Gesamtdauer des Verwaltungsverfahrens lässt sich im vorliegenden Fall jedoch durch die Komplexität des Vorgangs erklären, wobei diese Komplexität erstens in mehrerlei Hinsicht Umständen geschuldet ist, die in der Sache selbst begründet sind, und zweitens in anderer Hinsicht auf den Kontext zurückzuführen ist, in den der Vorgang eingebettet ist, nämlich das Auslaufen des EGKS-Vertrags (siehe oben, Rn. 243 bis 246).

258

Zwar beging die Kommission Fehler bei der Beurteilung der Konsequenzen, die aus dem Auslaufen des EGKS-Vertrags zu ziehen sind, und diese Fehler führten zu den Nichtigerklärungen durch das Gericht und anschließend den Gerichtshof.

259

Diese Fehler und die Auswirkungen, die sie auf die Dauer des Verwaltungsverfahrens haben konnten, sind jedoch unter Berücksichtigung der Komplexität der aufgeworfenen Fragen zu würdigen.

260

Überdies ist die Gesamtdauer des Verwaltungsverfahrens zum Teil den Unterbrechungen durch die gerichtliche Kontrolle geschuldet und folglich mit der Zahl der Klagen verbunden, die vor dem Unionsrichter zu verschiedenen Aspekten der Rechtssache erhoben worden sind.

261

Die Möglichkeit, dass die Fälle von Unternehmen, die sich in einer Situation wie die Klägerin befinden, mehr als einmal von den Verwaltungsbehörden und gegebenenfalls von den Gerichten der Union geprüft werden, ist inhärenter Bestandteil des bestehenden Systems, das von den Urhebern der Verträge für die Kontrolle der Verhaltensweisen und Transaktionen auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts konzipiert wurde.

262

Insoweit kann die Verpflichtung der Verwaltungsbehörde, eine Reihe von Formalitäten und Verfahrensschritten zu durchlaufen, bevor sie eine abschließende Entscheidung auf dem Gebiet des Wettbewerbsrechts erlassen kann, und die Möglichkeit, dass diese Formalitäten oder Verfahrensschritte Anlass zu einer Klage geben können, nicht von einem Unternehmen am Ende des Prozesses als Argument dafür verwendet werden, dass die angemessene Verfahrensdauer überschritten wurde (vgl. in diesem Sinne Schlussanträge des Generalanwalts Wahl in den Rechtssachen Feralpi u. a./Kommission, C‑85/15 P, C‑86/15 P und C‑87/15 P, C‑88/15 P und C‑89/15 P, EU:C:2016:940, Nr. 70).

263

Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Dauer des Verwaltungsverfahrens insgesamt betrachtet übermäßig lang war und somit dem Erlass eines neuen Beschlusses durch die Kommission zur Verhängung einer Geldbuße entgegenstehen konnte.

264

Die Rüge ist daher zurückzuweisen.

c) Zur dritten Rüge: Auswirkungen der Verfahrensdauer auf die Verteidigungsrechte

265

Die Klägerin macht geltend, dass die lange Dauer des Verwaltungsverfahrens ihre Verteidigungsrechte beeinträchtigt habe. Aufgrund der Dauer des Verfahrens habe die mündliche Anhörung vom 23. April 2018 den Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten nicht die Gelegenheit gegeben, alle Akteure anzuhören, deren Auffassungen einen Einfluss auf ihre Verteidigungsmöglichkeiten haben könnten. Außerdem trägt die Klägerin vor, dass das Gericht, wenn die Anhörung im Einklang mit der geltenden Regelung vor Erlass der Entscheidung von 2002 oder auch von 2009 durchgeführt worden wäre, nicht über das Vorliegen der beanstandeten Verhaltensweisen entschieden hätte und die Vertreter der Mitgliedstaaten folglich frei von Einflussnahme und Interessenkonflikten gewesen wären.

266

Insoweit ist festzustellen, dass, wie oben in Rn. 230 erwähnt, zwei Voraussetzungen vorliegen müssen, damit der Richter den von der Kommission erlassenen Beschluss wegen einer Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer für nichtig erklärt. Da die erste Voraussetzung (unangemessen lange Dauer des Verfahrens) nicht erfüllt ist, muss im Rahmen der dritten Rüge grundsätzlich nicht geprüft werden, ob die Länge des Verwaltungsverfahrens die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt hat. Die Prüfung ist dennoch ergänzend vorzunehmen, um die Bedenken der Klägerin vollständig auszuräumen.

267

Zum einen ist festzustellen, dass die Klägerin im Lauf des gesamten Verfahrens mindestens siebenmal Gelegenheit hatte, ihren Standpunkt zu äußern und ihre Argumente vorzutragen (siehe oben, Rn. 3 bis 6, 11, 24 und 25).

268

Insbesondere konnte die Klägerin ihre Auffassung im dritten Verfahrensabschnitt in ihrer Stellungnahme vom 1. Februar 2018 und in der Anhörung vom 23. April 2018 darlegen (siehe oben, Rn. 24 und 25).

269

Zum anderen hat die Prüfung des ersten Klagegrundes den Nachweis ermöglicht, dass die Verteidigungsrechte der Klägerin weder dadurch beeinträchtigt wurden, dass alle Akteure, die an den vorhergehenden Anhörungen beteiligt gewesen waren, bei der Anhörung vom 23. April 2018 nicht anwesend waren, noch dadurch, dass den Vertretern der Wettbewerbsbehörden der Mitgliedstaaten zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Standpunkt im Beratenden Ausschuss darlegten, bekannt war, dass zuvor zwei Entscheidungen, von denen eine vom Gericht bestätigt worden war, in Bezug auf die betroffenen Unternehmen erlassen worden waren, noch durch den Umstand, dass sich die Kommission bereits zweimal zu dem in Rede stehenden Sachverhalt geäußert hatte und ihre Auffassung insoweit vom Gericht bestätigt worden war (siehe oben, Rn. 59 bis 162).

270

Daraus ergibt sich, dass, selbst wenn man annimmt, dass die Dauer des Verwaltungsverfahrens nicht mit dem Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer vereinbar ist, die Voraussetzungen für die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses nicht vorliegen, da die Klägerin nicht nachweisen konnte, dass die Verfahrensdauer zu einer Beeinträchtigung ihrer Verteidigungsrechte geführt hat.

271

Somit ist keine der Anforderungen für eine Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses wegen Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer erfüllt.

272

Demnach sind die Rüge und damit der dritte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.

4. Zum vierten Klagegrund: Verstoß gegen die Begründungspflicht, Befugnisüberschreitung und Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

[nicht wiedergegeben]

a) Zur ersten Rüge: keine ausreichende Darlegung der Gründe, die die Kommission zum Erlass eines neuen Beschlusses veranlassten, mit dem eine Geldbuße verhängt wurde

274

Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe die Gründe, die sie zur Wiederaufnahme des Verfahrens veranlasst hätten, nicht ausreichend dargelegt und insofern das ihr auf diesem Gebiet zustehende Ermessen willkürlich ausgeübt. Die Kommission habe die Auffassung vertreten, dass der angefochtene Beschluss eine deutlich abschreckende Wirkung habe, ohne darzulegen, warum die Abschreckung für die Gegenwart und Zukunft habe wirken müssen, und ohne im angefochtenen Beschluss die Gründe darzulegen, aus denen die abschreckende Wirkung „auf einem Markt wie dem italienischen Markt für Bewehrungsrundstahl besonders wünschenswert“ sei.

275

Insoweit ist festzustellen, dass der Kommission nach Art. 105 Abs. 1 AEUV die Aufgabe übertragen ist, auf die Anwendung der Art. 101 und 102 AEUV zu achten.

276

Nach der Rechtsprechung muss sie die Wettbewerbspolitik der Union festlegen und durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2013, Vivendi/Kommission, T‑432/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:538, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).

277

In diesem Zusammenhang verfügt die Kommission über ein weites Ermessen, das durch die Verordnung Nr. 1/2003 belegt ist, wonach die Kommission, wenn sie eine Zuwiderhandlung feststellt, zum einen die beteiligten Unternehmen verpflichten „kann“, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen (Art. 7 Abs. 1), und zum anderen gegen die zuwiderhandelnden Unternehmen Geldbußen verhängen „kann“ (Art. 23 Abs. 2).

278

Im Bereich des Wettbewerbsrechts wurde der Kommission insoweit unabhängig davon, auf welchem Weg sie Kenntnis von einem Vorgang erlangt hat, u. a. im Rahmen einer Beschwerde oder von Amts wegen, die Befugnis übertragen, in Abhängigkeit von den Prioritäten, die sie im Rahmen ihrer Wettbewerbspolitik festlegt, zu entscheiden, ob Verhaltensweisen Gegenstand einer Verfolgung, eines Beschlusses und einer Geldbuße sein sollen.

279

Das Bestehen dieser Befugnis entbindet die Kommission jedoch nicht von der Begründungspflicht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2020, LL-Carpenter/Kommission, T‑531/18, nicht veröffentlicht, EU:T:2020:91, Rn. 90 und die dort angeführte Rechtsprechung).

280

In einem Sachverhalt, in dem – wie vorliegend – zum einen eine Entscheidung der Kommission zweimal für nichtig erklärt wurde und zum anderen außergewöhnlich viel Zeit zwischen den ersten Ermittlungshandlungen und dem Erlass des Beschlusses verstrichen ist, obliegt es diesem Organ im Rahmen des Grundsatzes der ordnungsgemäßen Verwaltung, die Verfahrensdauer und ihre etwaigen Auswirkungen auf die Entscheidung, die betroffenen Unternehmen zu verfolgen, zu berücksichtigen, und diese Beurteilung muss in der Begründung des Beschlusses zum Ausdruck gebracht werden.

281

Dem hat die Kommission jedoch Rechnung getragen, indem sie zum einen in den Erwägungsgründen 526 bis 529 des angefochtenen Beschlusses und zum anderen in den Erwägungsgründen 536 bis 573 des Beschlusses ausführlich begründete, warum sie der Auffassung war, dass ein neuer Beschluss erforderlich sei, um das Vorliegen der Zuwiderhandlung festzustellen und eine Geldbuße gegen die betroffenen Unternehmen zu verhängen.

282

Die Kommission wies insoweit zunächst darauf hin, dass die Dauer des Verfahrens keine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer darstelle (Erwägungsgründe 528 und 555 des angefochtenen Beschlusses) und die Verteidigungsrechte der Unternehmen nicht beeinträchtigt worden seien, da die Unternehmen zum einen ihre Stellungnahmen bei der Wiederaufnahme des Verfahrens hätten einreichen können und zum anderen auch in der Anhörung vom 23. April 2018 ihre Argumente vorgetragen hätten. Die Klägerin habe für ihr Vorbringen, sie sei nicht in der Lage gewesen, ihre Verteidigungsrechte vollumfänglich auszuüben, keinen konkreten Nachweis erbracht (Erwägungsgründe 556 und 557 des angefochtenen Beschlusses).

283

Die Kommission räumte allerdings Verfahrensfehler ein und erkannte an, dass diese Fehler zur Verlängerung der Verfahrensdauer beitragen konnten.

284

Der angefochtene Beschluss enthält an dieser Stelle eine Abwägung zwischen dem Allgemeininteresse an der Gewährleistung einer wirksamen Anwendung der Wettbewerbsregeln und dem Anliegen, etwaige Folgen der begangenen Verfahrensfehler abzumildern (559. Erwägungsgrund des angefochtenen Beschlusses).

285

Die Kommission wies insoweit darauf hin, dass die fraglichen Unternehmen elf Jahre lang an einer Zuwiderhandlung beteiligt gewesen seien, die zu den schwerwiegendsten Wettbewerbsbeschränkungen gerechnet werde. Werde in einem solchen Kontext eine Entscheidung zur Feststellung der Beteiligung von Unternehmen an der genannten Zuwiderhandlung nicht erneut erlassen, sei dies nicht mit dem Allgemeininteresse an der Gewährleistung einer wirksamen Anwendung der unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln vereinbar und liege eine Überschreitung des Interesses an der Abmilderung der Folgen einer etwaigen Verletzung der Grundrechte der Adressaten des angefochtenen Beschlusses vor (Erwägungsgründe 560 und 561 des angefochtenen Beschlusses).

286

Nach dieser Interessenabwägung kam die Kommission zu dem Ergebnis, dass sie, da eine Zuwiderhandlung begangen worden sei, nur durch Erlass des angefochtenen Beschlusses sicherstellen könne, dass die Urheber der Zuwiderhandlung nicht straflos blieben und tatsächlich davon abgeschreckt würden, in Zukunft ein ähnliches Verhalten an den Tag zu legen (Erwägungsgründe 563 bis 569 des angefochtenen Beschlusses).

287

Nach der Prüfung stellte die Kommission fest, zur Abmilderung der etwaigen negativen Folgen der langen Dauer des Verfahrens, das auf die Berichtigung der im Lauf der Untersuchung aufgetretenen und den fraglichen Unternehmen nicht zuzurechnenden Verfahrensfehler angelegt gewesen sei, habe sie beschlossen, den Betrag der verhängten Geldbußen um 50 % herabzusetzen (Erwägungsgründe 570 bis 573 des angefochtenen Beschlusses).

288

Somit lieferte die Kommission im angefochtenen Beschluss eine eingehende Begründung, in der die Überlegungen, mit denen sie den Erlass eines neuen Beschlusses trotz der bereits erfolgten zwei Nichtigerklärungen rechtfertigte, klar und eindeutig zum Ausdruck gebracht wurden.

[nicht wiedergegeben]

296

Nach alledem kann festgestellt werden, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss angegebene Begründung die Überlegungen, mit denen sie den Erlass eines neuen Beschlusses zur Verhängung einer Geldbuße rechtfertigte, klar und eindeutig zum Ausdruck brachte und die Rüge folglich zurückzuweisen ist.

[nicht wiedergegeben]

e) Zur fünften Rüge: Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit

316

Die Klägerin ist der Auffassung, die Kommission habe den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt, da die Verfolgung und Ahndung der im Rechtsstreit in Rede stehenden Verhaltensweisen angesichts des Zeitablaufs und des mittlerweile verblassten, wenn nicht gar inexistenten Schadens, der dem Wettbewerb angeblich zugefügt worden sei, nicht für verhältnismäßig angesehen werden könnten.

317

Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört, die Handlungen der Unionsorgane nicht über die Grenzen dessen hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 14. Juli 2005, Niederlande/Kommission, C‑180/00, EU:C:2005:451, Rn. 103).

318

Im vorliegenden Fall muss für eine Entscheidung über eine Verletzung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch die Kommission den folgenden Umständen Rechnung getragen werden.

319

Erstens kann, wenn ein Rechtsakt für nichtig erklärt wurde, wie dies für die Entscheidung von 2009 zutrifft, das Organ, das den Rechtsakt erlassen hat, das Verwaltungsverfahren in dem Stadium wieder aufnehmen, in dem die Rechtswidrigkeit eingetreten ist (siehe oben, Rn. 53 und 54).

320

Zweitens führt die Dauer eines Verfahrens für sich genommen nicht dazu, dass die von der Kommission vorgenommene Feststellung einer Zuwiderhandlung oder der Betrag der verhängten Geldbuße rechtswidrig wird. Dies kann nur dann in Frage kommen, wenn zum einen die Dauer des Verfahrens gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstößt und zum anderen die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt (siehe oben, Rn. 230). Im vorliegenden Fall ergibt die Prüfung des ersten und des dritten Klagegrundes jedoch, dass sich die Klägerin nicht auf solche Verstöße berufen kann.

321

Drittens erscheinen die folgenden Gründe, auf die sich die Kommission stützt, um den Erlass des angefochtenen Beschlusses trotz des Zeitablaufs zu rechtfertigen, relevant und stichhaltig:

Gewährleistung der wirksamen Anwendung der Wettbewerbsregeln und Vermeidung einer Straflosigkeit der fraglichen Unternehmen;

Abschreckung der beteiligten Unternehmen, damit sie keine erneute Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht begehen;

Ermöglichen von Schadensersatzklagen der eventuell durch das Kartell geschädigten Personen bzw. Unternehmen.

322

Viertens trug die Kommission dafür Sorge, die Folgen der langen Verfahrensdauer für die betroffenen Unternehmen abzumildern, indem sie ihnen eine Herabsetzung des Geldbußenbetrags um 50 % gewährte.

323

Demnach sind die Rüge und damit der vierte Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.

5. Zum fünften Klagegrund: Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem

324

Die Klägerin macht geltend, dass der Grundsatz ne bis in idem dem Erlass des angefochtenen Beschlusses entgegenstehe.

325

Die Kommission tritt dem Vorbringen der Klägerin entgegen.

326

Vorab ist festzustellen, dass die Klägerin einräumt, nicht von kumulierten Sanktionen betroffen zu sein, sondern nur von einer Kumulierung von Verfahren, wobei sie die Auffassung vertritt, dass eine solche Kumulierung ebenfalls durch den Grundsatz ne bis in idem untersagt sei.

327

Der Grundsatz ne bis in idem findet in den folgenden Vorschriften seinen Niederschlag:

zum einen in Art. 50 der Charta, wonach „[n]iemand … wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden“ darf;

zum anderen in Art. 4 Abs. 1 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK.

328

Als Folge des Grundsatzes res iudicata gewährleistet der Grundsatz ne bis in idem Rechtssicherheit und Gleichheit, indem er sicherstellt, dass ein Zuwiderhandelnder, der einmal verfolgt und gegebenenfalls mit einer Sanktion belegt worden ist, die Sicherheit hat, dass er für denselben Verstoß nicht noch einmal verfolgt wird (Urteil vom 3. April 2019, Powszechny Zakład Ubezpieczeń na Życie, C‑617/17, EU:C:2019:283, Rn. 33).

329

Insbesondere im Bereich des Wettbewerbsrechts verbietet der Grundsatz ne bis in idem im Prinzip, dass ein Unternehmen wegen eines wettbewerbswidrigen Verhaltens, in Bezug auf das es in einer früheren, nicht mehr anfechtbaren Entscheidung mit einer Sanktion belegt oder für nicht verantwortlich erklärt wurde, erneut verurteilt oder verfolgt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 59, und vom 1. Juli 2009, ThyssenKrupp Stainless/Kommission, T‑24/07, EU:T:2009:236, Rn. 178).

330

Die Anwendung des Grundsatzes ne bis in idem setzt u. a. voraus, dass über das Vorliegen der Zuwiderhandlung entschieden oder die Rechtmäßigkeit ihrer Würdigung geprüft wurde (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 60).

331

Ist diese Voraussetzung gegeben, verbietet der Grundsatz ne bis in idem eine neue sachliche Würdigung des Vorliegens der Zuwiderhandlung, wenn diese neue Würdigung dazu führen würde,

dass entweder – falls die Verantwortlichkeit erneut bejaht wird – eine zweite, zur ersten hinzukommende Sanktion verhängt wird

oder – falls die in der ersten Entscheidung verneinte Verantwortlichkeit in der zweiten Entscheidung bejaht wird – eine erste Sanktion verhängt wird (Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 61).

332

Dagegen steht der Grundsatz ne bis in idem einer Wiederaufnahme von Verfolgungsmaßnahmen, die das gleiche wettbewerbswidrige Verhalten betreffen, nicht entgegen, wenn eine erste Entscheidung aus formalen Gründen ohne materielle Beurteilung des zur Last gelegten Sachverhalts für nichtig erklärt wurde; die Nichtigerklärung stellt dann keinen „Freispruch“ im strafrechtlichen Sinne dar (Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 62, und vom 1. Juli 2009, ThyssenKrupp Stainless/Kommission, T‑24/07, EU:T:2009:236, Rn. 190).

333

In einem solchen Fall kommen die in der neuen Entscheidung verhängten Sanktionen nicht zu denen in der für nichtig erklärten Entscheidung hinzu, sondern ersetzen diese (Urteile vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 62, und vom 1. Juli 2009, ThyssenKrupp Stainless/Kommission, T‑24/07, EU:T:2009:236, Rn. 190).

334

Im vorliegenden Fall ist bis heute in keiner Entscheidung eine endgültige materielle Beurteilung der Rechtssache in Bezug auf die Beteiligung der Klägerin an den ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlungen vorgenommen worden. Die Entscheidung von 2002 wurde vom Gericht aufgrund der von der Kommission verwendeten Rechtsgrundlage für nichtig erklärt, und die Entscheidung von 2009 wurde wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig erklärt, ohne dass in einem der zwei Fälle ein endgültiger Standpunkt zu den von der Klägerin erhobenen materiellen Klagegründen in Bezug auf ihre Beteiligung an dem ihr zur Last gelegten Sachverhalt eingenommen wurde. Nur im Urteil vom 9. Dezember 2014, Ferriere Nord/Kommission (T‑90/10, nicht veröffentlicht, EU:T:2014:1035), wurde über diese Klagegründe entschieden, doch dieses Urteil wurde vom Gerichtshof vollständig aufgehoben. Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Kommission die Klägerin durch den Erlass des angefochtenen Beschlusses zweimal wegen desselben Sachverhalts mit Sanktionen belegt oder verfolgt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 63).

335

Was die Sanktion betrifft, die im angefochtenen Beschluss gegen die Klägerin verhängt wurde, ersetzt sie die Sanktion, die in der Entscheidung von 2009 festgesetzt wurde, welche wiederum die mit der Entscheidung von 2002 verhängte Sanktion ersetzt hatte. Die Beträge, die die Klägerin im Hinblick auf die in der Entscheidung von 2002 und später in der Entscheidung von 2009 verhängte Geldbuße gezahlt hatte, wurden ihr nach den Nichtigerklärungen dieser zwei Entscheidungen erstattet.

336

Nach alledem kann nicht festgestellt werden, dass gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen wurde.

[nicht wiedergegeben]

342

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass der Grundsatz ne bis in idem dem Erlass des angefochtenen Beschlusses nicht entgegenstand. Folglich ist der fünfte Klagegrund zurückzuweisen.

6. Zum sechsten Klagegrund: Rechtswidrigkeit der in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 enthaltenen Verjährungsregelung

343

Die Klägerin beantragt die Nichtanwendung der Verjährungsfrist nach Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 und begründet dies damit, dass die Frist zum einen gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer und zum anderen gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

344

Die Zulässigkeit und die Begründetheit dieses Klagegrundes werden bestritten.

345

Die Kommission macht, unterstützt durch den Rat, zur Zulässigkeit geltend, dass die Einrede der Rechtswidrigkeit nicht hinreichend substantiiert dargelegt und wirr vorgetragen worden sei.

346

Hierzu ist festzustellen, dass die Klägerin in ihren Schriftsätzen ausdrücklich die gegen Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 erhobenen Rügen dargelegt hat und hierzu zum einen deren rechtliche Grundlage, nämlich einen Verstoß gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, benannt hat und zum anderen die Argumentation erläutert hat, auf die sie ihre Auffassung stützt, d. h. im Wesentlichen, dass Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 insoweit rechtswidrig sei, als er der Kommission die Möglichkeit gebe, unter Missachtung dieser Grundsätze eine Sanktionsentscheidung zu erlassen.

347

Zudem ist den Schriftsätzen der Kommission und des Rates zu entnehmen, dass sie in der Lage waren, die von der Klägerin formulierten Beanstandungen zu verstehen.

348

Der vorliegende Klagegrund ist daher zulässig.

349

Zur Begründetheit macht die Klägerin zwei Argumente geltend.

350

Als Erstes trägt sie vor, der Unionsgesetzgeber habe gegen den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer verstoßen, als er in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 nicht dem Gedanken Rechnung getragen habe, dass die Kommission nach Ablauf der angemessenen Frist, unabhängig von der Fünf- bzw. Zehnjahresfrist und unabhängig von einem etwaigen Ruhen der Verjährung im Fall eines Gerichtsverfahrens, daran gehindert sei, einen Beschluss zur Feststellung einer Zuwiderhandlung zu erlassen und jedenfalls eine Geldbuße zu verhängen.

351

Insoweit ist festzustellen, dass im Bereich des Wettbewerbsrechts die Verjährung gemäß Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 wie folgt geregelt ist:

Die Verjährungsfrist beträgt fünf Jahre (Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 23 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung);

sie kann durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen werden (Abs. 3); in einem solchen Fall wird durch die Unterbrechung die bereits laufende Frist rückwirkend wieder beseitigt und der Beginn einer neuen Frist gesetzt; im Fall einer Unterbrechung tritt die Verjährung jedoch spätestens mit dem Tag ein, an dem eine Frist von zehn Jahren verstrichen ist, ohne dass die Kommission eine Geldbuße oder ein Zwangsgeld festgesetzt hat (Abs. 5);

die Verjährung ruht, solange wegen der Entscheidung der Kommission ein Verfahren vor dem Gerichtshof anhängig ist, und in einem solchen Fall verlängert sich die Verjährungsfrist um den Zeitraum, in dem die Verjährung ruht (Abs. 6).

352

Was den Grundsatz der angemessenen Verfahrensdauer betrifft, so wird diese nicht im Voraus abstrakt für sämtliche möglicherweise betroffenen Verfahren festgelegt oder bestimmt, sondern sie ist anhand der Umstände jeder einzelnen Rechtssache, insbesondere anhand der Interessen, die auf dem Spiel stehen, der Komplexität der Rechtssache sowie des Verhaltens der Klägerin und der zuständigen Behörden, zu beurteilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 187 und 188).

353

Die Klägerin beanstandet, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 keine maximale Frist festgelegt habe, nach deren Ablauf jegliche Maßnahme der Kommission ausgeschlossen sei, selbst wenn die Verjährung geruht habe.

354

Insoweit ist festzustellen, dass Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 einen Ausgleich wiederspiegelt, den der Unionsgesetzgeber in Ausübung der ihm übertragenen Befugnisse zwischen zwei Zielen vorgenommen hat, die gegenläufige Maßnahmen erfordern können, d. h. zum einen das Erfordernis, die Rechtssicherheit zu gewährleisten, indem verhindert wird, dass Lagen, die sich durch Zeitablauf verfestigt haben, auf Dauer in Frage gestellt werden können, und zum anderen die Notwendigkeit, die Einhaltung des Rechts sicherzustellen, indem Verstöße gegen Unionsrecht verfolgt, festgestellt und sanktioniert werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2005, Sumitomo Chemical und Sumika Fine Chemicals/Kommission, T‑22/02 und T‑23/02, EU:T:2005:349, Rn. 82).

355

Die Klägerin hat im vorliegenden Fall nicht nachgewiesen, dass der Unionsgesetzgeber beim Ausgleich dieser unterschiedlichen Zielsetzungen den Spielraum überschritten hat, der ihm in diesem Zusammenhang zuzuerkennen ist. Die Befugnis, Überprüfungen vorzunehmen und Sanktionen zu verhängen, unterliegt nämlich engen Grenzen. Zwar ruht die Verjährung, wenn eine Klage vor dem Unionsrichter erhoben wird. Dies setzt jedoch voraus, dass die Unternehmen selbst tätig werden. Dem Unionsgesetzgeber kann nicht vorgeworfen werden, dass infolge der Erhebung mehrerer Klagen, die jeweils von betroffenen Unternehmen erhoben wurden, der am Ende des Verfahrens ergehende Beschluss erst nach einer gewissen Zeit erlassen wird.

356

Der vom Unionsgesetzgeber vorgenommene Ausgleich erscheint umso angemessener, als Rechtssubjekte, die ein Verfahren für unangemessen lang halten, die Verfahrensdauer beanstanden können, indem sie die Nichtigerklärung des am Ende des Verfahrens erlassenen Beschlusses beantragen, wobei eine solche Nichtigerklärung Sachverhalten vorbehalten ist, in denen die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt hat, oder indem sie, falls die Überschreitung der angemessenen Dauer nicht zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte geführt hat, eine Schadensersatzklage vor dem Unionsrichter erheben (siehe oben, Rn. 215).

357

Das Argument ist daher zurückzuweisen.

358

Als Zweites macht die Klägerin geltend, dass Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße, da er zulasse, dass Unternehmen dadurch, dass die Kommission die Möglichkeit habe, sie nach Ablauf einer ruhenden oder unterbrochenen Verjährung zu verfolgen, während eines überlangen Zeitraums im Unklaren gelassen würden.

359

Wie oben in Rn. 317 dargelegt, dürfen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Handlungen der Unionsorgane nicht über die Grenzen dessen hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 14. Juli 2005, Niederlande/Kommission, C‑180/00, EU:C:2005:451, Rn. 103).

360

Wie oben in Rn. 351 erwähnt, beträgt die Verjährungsfrist fünf Jahre.

361

Sie wird durch jede auf Ermittlung oder Verfolgung der Zuwiderhandlung gerichtete Handlung der Kommission unterbrochen, wobei die Verjährung dann spätestens nach zehn Jahren eintritt. Durch Festlegung dieser Frist unterliegt das Tätigwerden der Kommission einer strengen zeitlichen Beschränkung.

362

Wie zudem ebenfalls oben in Rn. 351 erwähnt, verlängert sich die Verjährungsfrist um den Zeitraum, in dem die Verjährung wegen eines Rechtsbehelfs gegen die Entscheidung der Kommission ruht. Nach der Rechtsprechung verhindert das Ruhen der Verjährung, dass die Verfolgung von Zuwiderhandlungen durch die Einleitung von Verfahren beeinträchtigt wird, deren Ablauf die Kommission nicht steuern kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 144).

363

Somit betrifft Art. 25 Abs. 6 der Verordnung Nr. 1/2003 Fälle, in denen die Untätigkeit der Kommission nicht auf mangelnden Bemühungen ihrerseits beruht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Limburgse Vinyl Maatschappij u. a./Kommission, C‑238/99 P, C‑244/99 P, C‑245/99 P, C‑247/99 P, C‑250/99 P bis C‑252/99 P und C‑254/99 P, EU:C:2002:582, Rn. 144).

364

Zur Beantwortung der Frage, ob Art. 25 der Verordnung Nr. 1/2003 tatsächlich, wie von der Klägerin beanstandet, rechtswidrig ist, sei darauf hingewiesen, dass die Verjährung verhindert, dass Lagen, die sich durch Zeitablauf verfestigt haben, auf Dauer in Frage gestellt werden können, und damit einerseits der Rechtssicherheit dient, andererseits aber auch die Verfestigung von Lagen erlaubt, die zumindest ursprünglich rechtswidrig waren (Urteil vom 6. Oktober 2005, Sumitomo Chemical und Sumika Fine Chemicals/Kommission, T‑22/02 und T‑23/02, EU:T:2005:349, Rn. 82).

365

Um die Analyse zu vervollständigen, sei außerdem daran erinnert, dass Rechtssubjekte, die ein Verfahren für unangemessen lang halten, die Verfahrensdauer beanstanden können, indem sie die Nichtigerklärung des am Ende des Verfahrens erlassenen Beschlusses beantragen, wobei eine solche Nichtigerklärung Sachverhalten vorbehalten ist, in denen die Überschreitung der angemessenen Verfahrensdauer die Ausübung der Verteidigungsrechte beeinträchtigt hat, oder indem sie, falls die Überschreitung der angemessenen Dauer nicht zu einer Verletzung der Verteidigungsrechte geführt hat, eine Schadensersatzklage vor dem Unionsrichter erheben.

366

Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Unionsgesetzgeber, als er die mit der Verjährungsregelung zu verwirklichenden Ziele beurteilte, ein System einführte, das Maßnahmen enthält, die sich als nicht notwendig oder zweckmäßig erwiesen haben oder durch andere Maßnahmen ersetzt werden könnten, die ebenso wirksam sind, um potenziell betroffene Unternehmen zu schützen, ohne die Wirksamkeit der Untersuchungs- oder Verfolgungsmaßnahmen in einem inakzeptablen Ausmaß zu beeinträchtigen.

367

Deshalb sind der sechste Klagegrund und damit auch der erste Klageantrag auf Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses zurückzuweisen.

B.   Zum hilfsweise gestellten Antrag auf Herabsetzung der verhängten Geldbuße

[nicht wiedergegeben]

2. Zum achten Klagegrund: Rechtswidrigkeit der Erhöhung des Geldbußenbetrags wegen wiederholter Zuwiderhandlung

[nicht wiedergegeben]

a) Zur ersten Rüge: Verletzung der Verteidigungsrechte bei der Berücksichtigung des Wiederholungsfalls

535

Die Klägerin macht geltend, die von der Kommission mit einem Wiederholungsfall begründete Erhöhung der Geldbuße um 50 % sei rechtswidrig, da sie nicht die Möglichkeit gehabt habe, im Verwaltungsverfahren hierzu Stellung zu nehmen, so dass ihre Verteidigungsrechte verletzt seien.

536

Genauer gesagt habe die Kommission in der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht darauf hingewiesen, dass sie beabsichtige, diesen erschwerenden Umstand zu berücksichtigen, sondern die Mitteilung habe lediglich die folgenden Angaben enthalten:

eine allgemeine Aussage, die für alle Unternehmen gegolten habe und der zufolge die Kommission jegliche erschwerenden Umstände berücksichtigen werde;

einen Hinweis auf eine frühere Sanktionsentscheidung, nämlich die Entscheidung 89/515/EWG der Kommission vom 2. August 1989 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/31.553 – Betonstahlmatten) (ABl. 1989, L 260, S. 1), ohne Zusammenhang mit einer etwaigen Berücksichtigung des Wiederholungsfalls, da sich der Hinweis in einer Fußnote befunden habe, die der Bestimmung der in dieser Rechtssache betroffenen Erzeugnisse gedient habe.

537

In der Folgezeit sei kein zusätzlicher Hinweis gegeben worden, obwohl die Kommission mehrere Gelegenheiten gehabt habe, die betroffenen Unternehmen, darunter die Klägerin, zu diesem Gesichtspunkt zu informieren, u. a. in der Mitteilung der zusätzlichen Beschwerdepunkte, im Schreiben vom 15. Dezember 2017, das die Wiederaufnahme des Verfahrens ankündigte, in den darauffolgenden Auskunftsverlangen, in der Anhörung vom 23. April 2018 oder bei dem oben in Rn. 27 erwähnten Treffen am 21. Juni 2019 mit den Dienststellen der Kommission.

538

Beabsichtigt die Kommission, einer juristischen Person eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zuzurechnen und ihr in diesem Zusammenhang einen Wiederholungsfall als erschwerenden Umstand anzulasten, muss die an diese Person gerichtete Mitteilung der Beschwerdepunkte alle Angaben enthalten, die es ihr ermöglichen, sich zu verteidigen, insbesondere die Angaben, die beweisen, dass die Voraussetzungen eines Wiederholungsfalls erfüllt sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. März 2015, Kommission u. a./Versalis u. a., C‑93/13 P und C‑123/13 P, EU:C:2015:150, Rn. 96).

539

Die Kommission hat sich insoweit in Rn. 84 ihrer Bekanntmachung über bewährte Vorgehensweisen in Verfahren nach Artikel 101 und 102 des AEUV (ABl. 2011, C 308, S. 6) verpflichtet, in der Mitteilung der Beschwerdepunkte „deutlich genug“ darauf hinzuweisen, dass Sachverhalte als erschwerende Umstände angesehen werden könnten.

540

Nach ständiger Rechtsprechung ist der Wiederholungsfall jedoch als Umstand anzusehen, der als erschwerend herangezogen werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. März 1999, Thyssen Stahl/Kommission, T‑141/94, EU:T:1999:48, Rn. 618, und vom 11. März 1999, Unimétal/Kommission, T‑145/94, EU:T:1999:49, Rn. 585).

541

Die oben in den Rn. 538 bis 540 beschriebene Verpflichtung ergibt sich aus der Verpflichtung zur Wahrung der Verteidigungsrechte, aus der sich das Grundprinzip ableitet, dass in allen Verfahren, die zu Sanktionen, u. a. Geldbußen oder Zwangsgeldern, führen können, die betroffenen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen bereits während des Verwaltungsverfahrens in die Lage versetzt werden müssen, zum Vorliegen und zur Bedeutung der ihnen zur Last gelegten Tatsachen, Beschwerdepunkte und Umstände angemessen Stellung zu nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. März 2002, LR AF 1998/Kommission, T‑23/99, EU:T:2002:75, Rn. 189 und die dort angeführte Rechtsprechung).

542

Bei der Prüfung, ob die Verteidigungsrechte gewahrt wurden, muss der Unionsrichter alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigen, um sich davon zu überzeugen, dass die Absicht der Kommission, eine Zuwiderhandlung oder einen bestimmten Umstand festzustellen, aus Sicht des betroffenen Unternehmens hinreichend vorhersehbar war, um davon auszugehen, dass das Unternehmen in die Lage versetzt wurde, zu der betreffenden Frage Stellung zu nehmen.

543

Im vorliegenden Fall wurde in der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 26. März 2002 in der Fn. 2 darauf hingewiesen, dass bereits zuvor eine Entscheidung an die Klägerin gerichtet worden war, mit der festgestellt wurde, dass sie einen schweren Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln begangen hatte, und eine Sanktion gegen die Klägerin verhängt worden war.

544

Zudem enthielt die Mitteilung der Beschwerdepunkte den Hinweis, dass die Kommission beabsichtige, gegen die Adressaten der Mitteilung, darunter die Klägerin, unter Berücksichtigung verschiedener Umstände eine Geldbuße zu verhängen.

545

Insoweit heißt es im 314. Erwägungsgrund der Mitteilung der Beschwerdepunkte, dass die Kommission bei der Festsetzung des Betrags der Geldbußen die Umstände der vorliegenden Rechtssache und insbesondere die Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung berücksichtige und eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise wie ein Kartell zur Absprache von Preisen und Aufteilung von Märkten eine sehr schwere Zuwiderhandlung gegen das Unionsrecht darstelle.

546

Im 314. Erwägungsgrund der Mitteilung der Beschwerdepunkte kündigte die Kommission außerdem an, dass der Betrag der gegen jedes Unternehmen zu verhängenden Geldbuße den erschwerenden oder mildernden Umständen Rechnung tragen solle, die bezüglich des jeweiligen Unternehmens festgestellt werden könnten, und dass dieser Betrag in einer Höhe festgelegt werden müsse, die eine hinreichend abschreckende Wirkung gewährleiste.

547

Anschließend setzte die Kommission die Klägerin mit Schreiben vom 15. Dezember 2017, in dem die Wiederaufnahme des Verwaltungsverfahrens angekündigt wurde, davon in Kenntnis, dass sie sich in dem nach Abschluss des Verfahrens zu erlassenden Beschluss auf die Beschwerdepunkte stützen werde, die sich aus der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergäben, die den Entscheidungen von 2002 und 2009 zugrunde liege.

548

In diesen Entscheidungen war bei der Berechnung des Betrags der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße der Wiederholungsfall als erschwerender Umstand festgestellt worden.

549

Soweit erforderlich, ist hinzuzufügen, dass die Kommission im Schreiben vom 15. Dezember 2017 hervorhob, dass die betroffenen Unternehmen in der Anhörung ausführlich und uneingeschränkt alle Gesichtspunkte des vorliegenden Falls erörtern könnten, und damit der Klägerin als betroffenem Unternehmen die Möglichkeit eröffnete, gegebenenfalls darzulegen, inwieweit ihr der Wiederholungsfall ihrer Meinung nach nicht als erschwerender Umstand angelastet werden konnte.

550

Nach alledem ist am Ende einer Prüfung sämtlicher Umstände des Verfahrens festzustellen, dass in der vorliegenden Rechtssache die Voraussetzungen dafür gegeben waren, dass zum einen die Absicht der Kommission, die bereits zuvor an die Klägerin gerichtete Sanktionsentscheidung bei der Feststellung eines Wiederholungsfalls zu berücksichtigen, hinreichend vorhersehbar war und zum anderen die Klägerin Gelegenheit hatte, hierzu Stellung zu nehmen.

551

Die Rüge ist daher zurückzuweisen.

b) Zur zweiten Rüge: Zeitabstand zwischen den zwei berücksichtigten Zuwiderhandlungen

552

Die Klägerin macht geltend, der für die Beurteilung des Wiederholungsfalls zugrunde gelegte Zeitabstand, d. h. der Zeitabstand zwischen der Feststellung der ersten Zuwiderhandlung und dem Zeitpunkt, zu dem das betreffende Unternehmen den erneuten Verstoß beging, habe im vorliegenden Fall neun Jahre betragen, da sich ihre Beteiligung am Kartell bis 1998 zurückverfolgen lasse und nicht bis 1993, wie von der Kommission im angefochtenen Beschluss festgestellt. Dieser Zeitabstand sei jedoch für die Feststellung eines Wiederholungsfalls unangemessen lang.

553

Insoweit ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung der Wiederholungsfall unter dem Gesichtspunkt der Abschreckung ein Umstand ist, der eine erhebliche Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße rechtfertigt. Denn er beweist, dass die zuvor verhängte Sanktion nicht abschreckend genug war (vgl. Urteil vom 8. Juli 2008, BPB/Kommission, T‑53/03, EU:T:2008:254, Rn. 398 und die dort angeführte Rechtsprechung).

554

Was den Zeitabstand zwischen den zwei Zuwiderhandlungen betrifft, sehen weder die Verordnung Nr. 1/2003 noch die Leitlinien für das Verfahren zur Festsetzung von Geldbußen, die gemäß Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 und gemäß Artikel 65 Absatz 5 [KS] festgesetzt werden (ABl. 1998, C 9, S. 3, im Folgenden: Leitlinien von 1998), eine zeitliche Höchstgrenze für die Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls vor, und es ist entschieden worden, dass das Fehlen einer solchen Grenze für sich genommen nicht gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstößt (Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 66 und 67).

555

Allerdings darf die Kommission, auch wenn keine Verjährungsfrist der Feststellung eines Wiederholungsfalls entgegensteht, zur Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit frühere Sanktionsentscheidungen gegen ein Unternehmen nicht zeitlich unbeschränkt berücksichtigen (Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 70).

556

Insoweit obliegt es dem Unionsrichter, zu überprüfen, ob die Erhöhung des Betrags der Geldbuße wegen wiederholter Zuwiderhandlung angesichts der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt ist, insbesondere im Hinblick darauf, dass sie an eine Neigung des Unternehmens zu Verstößen gegen Wettbewerbsregeln anknüpft, unter Berücksichtigung des kurzen Zeitabstands zwischen dem früheren Verstoß gegen Wettbewerbsregeln und der fraglichen Zuwiderhandlung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 70).

557

Im vorliegenden Fall beträgt der Zeitabstand zwischen den zwei Zuwiderhandlungen drei Jahre und acht Monate und nicht – wie von der Klägerin behauptet – neun Jahre, da der siebte Klagegrund, mit dem die Klägerin die von der Kommission erhobenen Beweise für ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung seit dem 1. April 1993 beanstandet, zurückgewiesen worden ist.

558

Insoweit ist festzustellen, dass nach der Rechtsprechung eine Zeitspanne von etwas weniger als zehn Jahren, die zwischen zwei Zuwiderhandlungen liegt, als verhältnismäßig kurz angesehen werden kann und von der Neigung eines Unternehmens zeugt, aus der Feststellung einer von ihm begangenen Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln nicht die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen (Urteil vom 8. Februar 2007, Groupe Danone/Kommission, C‑3/06 P, EU:C:2007:88, Rn. 40).

559

Unter diesen Umständen konnte die Kommission zu Recht feststellen, dass aufgrund der Neigung der Klägerin zu Wettbewerbsverstößen, die durch den kurzen Zeitabstand, nämlich drei Jahre und acht Monate, zwischen den zwei fraglichen Zuwiderhandlungen belegt ist, eine Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße wegen wiederholter Zuwiderhandlung im vorliegenden Fall gerechtfertigt war.

[nicht wiedergegeben]

564

Die Rüge ist daher zurückzuweisen.

c) Zur dritten Rüge: Zeitabstand zwischen den berücksichtigten Zuwiderhandlungen und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses

565

Vorab ist festzustellen, dass sich das Gericht bei der Prüfung der vorigen Rüge veranlasst gesehen hat, den Zeitraum zu bemessen, der zwischen den zwei Zuwiderhandlungen verstrichen ist, die von der Kommission bei der Feststellung des Wiederholungsfalls berücksichtigt wurden.

566

Mit der dritten Rüge ersucht die Klägerin den Unionsrichter, im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen anderen Zeitraum zu beurteilen, nämlich den Zeitabstand zwischen den Zuwiderhandlungen, die bei der Feststellung des Wiederholungsfalls berücksichtigt wurden, auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem Erlass des angefochtenen Beschlusses der Kommission, in dem sie den Grundbetrag der Geldbuße wegen wiederholter Zuwiderhandlung erhöhte.

567

Die Klägerin macht geltend, die Feststellung einer wiederholten Zuwiderhandlung sei im Fall eines überlangen Zeitabstands nicht geeignet, eine abschreckende Wirkung zu erzielen und somit ihren Zweck zu erfüllen, so dass die Kommission in einer solchen Fallkonstellation durch die Feststellung des Wiederholungsfalls gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoße.

568

Zur Stützung ihres Standpunkts verweist die Klägerin auf die besonderen Umstände des vorliegenden Falls, in dem die Kommission aufgrund der Nichtigerklärung der Entscheidungen von 2002 und 2009 im Rahmen der Feststellung des Wiederholungsfalls für die erste Zuwiderhandlung Verhaltensweisen berücksichtigt habe, die 1985, d. h. 34 Jahre zuvor, begonnen hätten und 1989, d. h. 30 Jahre zuvor, festgestellt worden seien, um ein Verhalten zu sanktionieren, das im Jahr 2000 geendet habe, d. h. 19 Jahre vor Erlass des angefochtenen Beschlusses.

569

Insoweit ist festzustellen, dass nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit die Handlungen der Organe nicht über die Grenzen dessen hinausgehen dürfen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die verursachten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. November 1990, Fedesa u. a., C‑331/88, EU:C:1990:391, Rn. 13, und vom 14. Juli 2005, Niederlande/Kommission, C‑180/00, EU:C:2005:451, Rn. 103).

570

Bei Wiederholungsfällen verlangt die Rechtsprechung, dass die Kommission bei der Bemessung der Geldbuße die abschreckende Wirkung ihres Vorgehens sicherstellt. Eine Möglichkeit, die abschreckende Wirkung zu gewährleisten, besteht darin, einen Wiederholungsfall festzustellen und den Betrag der Geldbuße anzuheben. Somit soll die Berücksichtigung eines Wiederholungsfalls Unternehmen, bei denen die Neigung offensichtlich wurde, sich über die Regeln des Wettbewerbsrechts hinwegzusetzen, zu einer Verhaltensänderung bewegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2011, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑38/07, EU:T:2011:355, Rn. 98 und die dort angeführte Rechtsprechung).

571

Nach der oben in Rn. 553 angeführten Rechtsprechung ist der Wiederholungsfall ein Umstand, der eine erhebliche Erhöhung des Grundbetrags der Geldbuße rechtfertigt, da er ein Beweis dafür ist, dass die zuvor verhängte Sanktion nicht abschreckend genug war.

572

Wie oben in Rn. 555 dargelegt, ist die Kommission für eine Feststellung des Wiederholungsfalls nicht an eine etwaige Verjährungsfrist gebunden. Sie darf jedoch frühere Sanktionsentscheidungen gegen ein Unternehmen nicht zeitlich unbeschränkt berücksichtigen.

573

Die Feststellung und die Beurteilung der besonderen Merkmale eines Wiederholungsfalls stehen im Ermessen der Kommission, die in jedem Einzelfall bei der Festlegung eines Multiplikators aufgrund der Tatwiederholung Indizien berücksichtigen kann, die die Neigung eines Unternehmens bestätigen, sich über die Regeln des Wettbewerbsrechts hinwegzusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. Juli 2011, Shell Petroleum u. a./Kommission, T‑38/07, EU:T:2011:355, Rn. 98).

574

Folglich kann im Hinblick auf den Zeitabstand zwischen der oder den ersten festgestellten Zuwiderhandlung(en) und der Zuwiderhandlung, die im angefochtenen Beschluss sanktioniert wurde, nicht beanstandet werden, dass die Kommission im vorliegenden Fall eine wiederholte Zuwiderhandlung feststellte. Die wiederholte Zuwiderhandlung bezeugt nämlich die Neigung des Unternehmens, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen, und rechtfertigt somit das Bestreben, das Unternehmen zur Einhaltung der Wettbewerbsregeln zu bewegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2005, Groupe Danone/Kommission, T‑38/02, EU:T:2005:367, Rn. 354, und vom 13. Dezember 2012, Versalis und Eni/Kommission, T‑103/08, nicht veröffentlicht, EU:T:2012:686, Rn. 266).

575

Wie oben in Rn. 557 dargelegt, war der maßgebliche zeitliche Abstand kurz und betrug drei Jahre und acht Monate. Da die Neigung der Klägerin, sich über die Wettbewerbsregeln hinwegzusetzen, feststand, kann der Kommission nicht wirksam vorgeworfen werden, dass sie den angefochtenen Beschluss mit einer abschreckenden Wirkung versah, und dies obwohl die Untersuchung aufgrund der damit verbundenen Gerichtsverfahren eine gewisse Zeit gedauert hatte.

576

Die Klägerin ist dennoch der Auffassung, dass der angefochtene Beschluss bei seinem Erlass aufgrund des großen zeitlichen Abstands zu den Zuwiderhandlungen keine abschreckende Wirkung mehr gehabt haben könne. Ferner trägt die Klägerin vor, sie habe seit 2000 keine Zuwiderhandlung mehr begangen.

577

Wie bereits oben in den Rn. 298 bis 300 dargelegt, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, dass die Androhung einer Sanktion, die während der gesamten Untersuchung auf der Klägerin lastete, und die zweimalige Verhängung einer Sanktion eine gewisse abschreckende Wirkung gehabt haben können, doch ändert dies nichts daran, dass es die Sanktion selbst ist, d. h. die tatsächliche Zahlung einer von der Kommission verhängten Geldbuße in Höhe des wegen Wiederholung angehobenen Betrags, die ein Unternehmen wirksam davon abschreckt, erneut einen Wettbewerbsverstoß zu begehen.

578

Unter diesen Umständen hat die Kommission den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht verletzt, als sie durch die Berücksichtigung des Wiederholungsfalls die ausreichend abschreckende Wirkung der im angefochtenen Beschluss gegen die Klägerin verhängten Geldbuße sicherstellte.

579

Nach alledem ist die Rüge zurückzuweisen.

[nicht wiedergegeben]

4. Ergebnis zum Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße

645

Da der angefochtene Beschluss keinen Rechtsverstoß bzw. keine Unregelmäßigkeit aufweist (siehe oben, Rn. 530, 606 und 643), kann dem Antrag auf Herabsetzung der Geldbuße nicht stattgegeben werden, soweit mit ihm vom Gericht verlangt wird, die Konsequenzen aus solchen Rechtsverstößen oder Unregelmäßigkeiten in Bezug auf den Betrag der Geldbuße zu ziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Orange Polska/Kommission, T‑486/11, EU:T:2015:1002, Rn. 226).

646

Im Rahmen seiner Befugnis zur unbeschränkten Nachprüfung gemäß Art. 261 AEUV und Art. 31 der Verordnung Nr. 1/2003 ist der Unionsrichter jedoch ermächtigt, über die reine Rechtmäßigkeitskontrolle hinaus, die nur die Zurückweisung der Nichtigkeitsklage oder die (vollständige oder teilweise) Nichtigerklärung des angefochtenen Rechtsakts ermöglicht, alle tatsächlichen Umstände zu berücksichtigen, um gegebenenfalls den Betrag der Geldbuße zu ändern (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. September 2009, Prym und Prym Consumer/Kommission, C‑534/07 P, EU:C:2009:505, Rn. 86 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 10. November 2021, Google und Alphabet/Kommission [Google Shopping], T‑612/17, Rechtsmittel anhängig, EU:T:2021:763, Rn. 605).

647

Im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung kann der Unionsrichter die verhängte Geldbuße aufheben, herabsetzen oder erhöhen (vgl. Urteil vom 19. Dezember 2013, Siemens u. a./Kommission, C‑239/11 P, C‑489/11 P und C‑498/11 P, nicht veröffentlicht, EU:C:2013:866, Rn. 334 und die dort angeführte Rechtsprechung).

648

In diesem Zusammenhang kann der Unionsrichter gegebenenfalls auch andere Beurteilungen als die Kommission bei der Festsetzung des Betrags der verhängten Geldbuße vornehmen (vgl. Urteil vom 21. Januar 2016, Galp Energía España u. a./Kommission, C‑603/13 P, EU:C:2016:38, Rn. 75).

649

Insoweit ist anhand des gesamten Akteninhalts, insbesondere der von der Klägerin hervorgehobenen Teile, zu prüfen, ob das Gericht aufgrund seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung den von der Kommission festgesetzten Betrag der Geldbuße mit der Begründung zu ersetzen hat, dass dieser nicht angemessen ist (Urteil vom 17. Dezember 2015, Orange Polska/Kommission, T‑486/11, EU:T:2015:1002, Rn. 227).

650

Die Klägerin hat jedoch im Rahmen ihres Vorbringens, der angefochtene Beschluss sei unverhältnismäßig, geltend gemacht, dass die Kommission angesichts der Umstände des vorliegenden Falls das Verfahren hätte einstellen müssen oder zumindest – im Fall eines Beschlusses – keine Geldbuße gegen sie hätte verhängen dürfen.

651

Hierzu ist festzustellen, dass die Kommission im angefochtenen Beschluss, ohne eine Verletzung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer oder der Verteidigungsrechte festzustellen, der Klägerin eine Herabsetzung der Geldbuße gewährte, die sie folgendermaßen begründete:

„Angesichts … der Unsicherheit, die durch den Übergang von dem einen Vertrag zum anderen entstanden ist, welcher einen außergewöhnlichen Umstand darstellt, der zum damaligen Zeitpunkt nicht ausdrücklich durch die Rechtsprechung geregelt war, … hält es die Kommission für angemessen, den Adressaten des vorliegenden Beschlusses eine Herabsetzung der Geldbuße zu gewähren“ (570. Erwägungsgrund);

die Herabsetzung wird gewährt, „um die negativen Auswirkungen abzumildern, die die lange Verfahrensdauer, welche notwendig [war], um mehrere Verfahrensfehler zu heilen, die den Adressaten des vorliegenden Beschlusses nicht zuzurechnen sind, möglicherweise für die Parteien hatte“ (570. Erwägungsgrund);

„die eigenständige Gewährung einer Herabsetzung der Geldbuße durch die Kommission … ist als ausreichend anzusehen, … um die etwaigen negativen Auswirkungen der langen Verfahrensdauer für die Adressaten abzumildern“ (572. Erwägungsgrund);

„den Adressaten wird … eine angemessene Herabsetzung der Geldbußen gewährt, … um die etwaigen negativen Auswirkungen der von der Kommission begangenen Verfahrensfehler abzumildern“ (573. Erwägungsgrund);

„die Kommission ist der Auffassung, … dass die von ihr beim Übergang vom EGKS-Vertrag zum EG-Vertrag begangenen Verfahrensfehler und die längere Verfahrensdauer, die sich aus diesen Fehlern ergeben haben kann, eine angemessene Wiedergutmachung für die Adressaten des vorliegenden Beschlusses rechtfertigen können“ (991. Erwägungsgrund);

„aufgrund des Ermessens, über das die Kommission bei der Festsetzung von Geldbußen verfügt, kann sie … den Adressaten des vorliegenden Beschlusses eine Herabsetzung der Geldbuße [gewähren], die einerseits verhältnismäßig sein sollte, damit die Adressaten nicht durch Verfahrensfehler benachteiligt werden, die sie nicht begangen haben, andererseits jedoch nicht von einem solchen Umfang, dass der Grundsatz, wonach Kartelle besonders schwere Zuwiderhandlungen gegen das Wettbewerbsrecht darstellen, in Frage gestellt werden könnte“ (992. Erwägungsgrund);

„[u]nter gebührender Berücksichtigung dieser Erwägungen gelangt die Kommission zu dem Schluss, dass angesichts der außergewöhnlichen mildernden Umstände eine Herabsetzung der Geldbuße um 50 % allen Adressaten des vorliegenden Beschlusses gewährt werden muss“ (994. Erwägungsgrund).

652

Somit stützte sich die Kommission bei der Gewährung der Herabsetzung der gegen die Klägerin verhängten Geldbuße im Wesentlichen auf die folgenden Gesichtspunkte:

Der Vorgang wurde während des Auslaufens des EGKS-Vertrags bearbeitet;

aus diesem Grund war es schwierig, die anwendbaren Vorschriften zu bestimmen;

diese Schwierigkeiten führten dazu, dass die Entscheidungen von 2002 und 2009 von den Unionsgerichten für nichtig erklärt wurden;

die Nichtigerklärungen führten zu einer Verlängerung des Verfahrens, und zwar in einem Ausmaß, das sich negativ auf die Situation der betroffenen Unternehmen auswirken konnte;

diese Umstände konnten bei der Bemessung der Geldbuße berücksichtigt werden.

653

In den oben in Rn. 651 angeführten Erwägungsgründen verwendet die Kommission mehrfach Formulierungen, die den Eindruck erwecken, dass sie durch die Gewährung der Herabsetzung der fraglichen Geldbuße die „negativen Auswirkungen“, d. h. einen Schaden, der durch die ihr zuzurechnenden „Fehler“ entstanden sein könnte, „abmildern“ oder „wiedergutmachen“ wollte.

654

Auch wenn diese Formulierungen im Allgemeinen mit Schadensersatzverfahren in Verbindung gebracht werden, ist dem angefochtenen Beschluss nicht zu entnehmen, dass die Kommission mit der Herabsetzung der fraglichen Geldbuße beabsichtigte, Ersatz für einen Schaden zu gewähren, der durch rechtswidriges Verhalten verursacht wurde. An keiner Stelle des angefochtenen Beschlusses erkennt die Kommission an, ein rechtswidriges Verhalten an den Tag gelegt zu haben, z. B. durch Überschreiten der angemessenen Verfahrensdauer oder Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin. Vielmehr verweist sie in einigen Abschnitten des Beschlusses auf die Rechtsprechung, wonach im Fall von Rügen, die die Verfahrensdauer betreffen, im Rahmen einer Schadensersatzklage Abhilfe zu suchen ist (Erwägungsgründe 568 und 578).

655

Angesichts dieser verschiedenen Umstände ist somit festzustellen, dass die von der Kommission gewährte Herabsetzung der fraglichen Geldbuße aus Sicht der Kommission nicht dazu diente, ein rechtswidriges Verhalten wiedergutzumachen, sondern lediglich dazu, den Umständen des vorliegenden Falls im Rahmen des weiten Ermessens, das der Kommission bei der Verhängung von Sanktionen u. a. durch das Urteil vom 19. März 2009, Archer Daniels Midland/Kommission (C‑510/06 P, EU:C:2009:166, Rn. 82), zuerkannt worden ist, Rechnung zu tragen (siehe oben, Rn. 651).

656

Im Rahmen der Ausübung seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung ist das Gericht der Ansicht, dass die Geldbuße im vorliegenden Fall nicht aufgehoben werden darf, insbesondere weil gewährleistet sein muss, dass das Wettbewerbsrecht auf eine der Klägerin anzulastende besonders schwerwiegende Zuwiderhandlung von erheblicher Dauer voll angewandt wird.

657

Dies vorausgeschickt, ist zu berücksichtigen, dass die Geldbuße nicht einige Jahre nach der Begehung der letzten, von der Kommission festgestellten Wettbewerbsverstöße verhängt wurde, sondern knapp 20 Jahre später.

658

Insoweit ist im vorliegenden Fall bei der Bestimmung der Höhe der Geldbuße im Rahmen aller relevanten Umstände ihrer Abschreckungswirkung Rechnung zu tragen.

659

Die Berücksichtigung der abschreckenden Wirkung soll nämlich sicherstellen, dass die Höhe der Geldbuße das betreffende Unternehmen und allgemein alle Wirtschaftsteilnehmer dazu veranlasst, die Wettbewerbsregeln des Unionsrechts einzuhalten (vgl. Urteil vom 17. Juni 2010, Lafarge/Kommission, C‑413/08 P, EU:C:2010:346, Rn. 102).

660

Im vorliegenden Fall wurde das Ziel der Abschreckung gegenüber der Klägerin bereits realisiert, jedenfalls teilweise, und zwar zum einen durch die Sanktion, die in der Entscheidung von 2002 und später in der Entscheidung von 2009 gegen sie verhängt wurde, sowie zum anderen durch die Aussicht, dass diese Sanktion am Ende des Verfahrens aufrechterhalten werden könnte, wenn die von der Klägerin gegen diese Entscheidungen eingelegten Rechtsbehelfe zurückgewiesen würden oder wenn im Fall einer Nichtigerklärung der genannten Entscheidungen ein neuer Beschluss unter Verhängung einer neuen Sanktion erlassen würde (siehe oben, Rn. 299).

661

Insoweit ist im Rahmen der Ausübung der Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung festzustellen, dass angesichts des Zeitabstands zwischen den letzten Wettbewerbsverstößen und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses die Festsetzung der Geldbuße auf einen niedrigeren Betrag als den Grundbetrag von 2,975 Mio. Euro, den die Kommission im angefochtenen Beschluss nach Maßgabe der Leitlinien von 1998 festsetzte, die den Unionsgerichten bei der Ausübung dieser Befugnis eine Richtschnur geben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Dezember 2012, Kommission/Verhuizingen Coppens, C‑441/11 P, EU:C:2012:778, Rn. 80), im vorliegenden Fall ausreicht, um die gewünschte Abschreckungswirkung zu erzielen.

662

Nach alledem ist eine Herabsetzung der Geldbuße um 50 % aufgrund des Zeitabstands zwischen den letzten Wettbewerbsverstößen und dem Erlass des angefochtenen Beschlusses angemessen.

663

Im Ergebnis ist

die Klage abzuweisen, soweit sie auf die vollständige oder teilweise Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses gerichtet ist;

der Antrag der Klägerin auf Herabsetzung der Geldbuße zurückzuweisen und festzustellen, dass die von der Kommission im angefochtenen Beschluss gewährte Herabsetzung der Geldbuße um 50 % im Hinblick auf die Abmilderung der erforderlichen Abschreckungswirkung der Sanktion aufgrund des Zeitabstands zwischen der Zuwiderhandlung und der Verhängung der Geldbuße angemessen war.

[nicht wiedergegeben]

 

Aus diesen Gründen hat

DAS GERICHT (Vierte erweiterte Kammer)

für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Die Klage wird abgewiesen.

 

2.

Ferriere Nord SpA trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.

 

3.

Der Rat der Europäischen Union trägt seine eigenen Kosten.

 

Gervasoni

Madise

Nihoul

Frendo

Martín y Pérez de Nanclares

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 9. November 2022.

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

( 1 ) Es werden nur die Randnummern des Urteils wiedergegeben, deren Veröffentlichung das Gericht für zweckdienlich erachtet.

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