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Document 62005CJ0119

Urteil des Gerichtshofes (Große Kammer) vom 18. Juli 2007.
Ministero dell'Industria, del Commercio e dell'Artigianato gegen Lucchini SpA.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Consiglio di Stato - Italien.
Staatliche Beihilfen - EGKS - Eisen- und Stahlindustrie - Für mit dem Gemeinamen Markt unvereinbar erklärte Beihilfe - Rückforderung - Rechtskraft eines Urteils eines innerstaatlichen Gerichts.
Rechtssache C-119/05.

Sammlung der Rechtsprechung 2007 I-06199

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2007:434

Parteien
Entscheidungsgründe
Tenor

Parteien

In der Rechtssache C‑119/05

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Consiglio di Stato (Italien) mit Entscheidung vom 22. Oktober 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 14. März 2005, in dem Verfahren

Ministero dell’Industria, del Commercio e dell’Artigianato

gegen

Lucchini SpA, vormals Lucchini Siderurgica SpA,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas und K. Lenaerts, des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), J. Makarczyk, G. Arestis, A. Borg Barthet, M. Ilešič und J. Malenovský,

Generalanwalt: L. A. Geelhoed,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 6. Juni 2006,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– der Lucchini SpA, vormals Lucchini Siderurgica SpA, zunächst vertreten durch F. Lemme, avvocato, später durch G. Lemme und A. Anselmo, avvocati,

– der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Boček als Bevollmächtigten,

– der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von P. Gentili, avvocato dello Stato,

– der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster, M. de Grave und C. ten Dam als Bevollmächtigte,

– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch V. Di Bucci und E. Righini als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. September 2006

folgendes

Urteil

Entscheidungsgründe

1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, die für den Widerruf eines nationalen Rechtsakts gelten, durch den mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Beihilfen gewährt werden und der in Umsetzung einer rechtskräftigen nationalen Gerichtsentscheidung ergangen ist.

2. Das Ersuchen ergeht im Rahmen einer Klage der Gesellschaft italienischen Rechts Lucchini SpA (vormals Siderpotenza SpA, später Lucchini Siderurgica SpA, im Folgenden: Lucchini) gegen die Entscheidung des Ministero dell’Industria, del Commercio e dell’Artigianato (Ministerium für Industrie, Handel und Handwerk, im Folgenden: MICA), mit der eine staatliche Beihilfe zurückgefordert wurde. Das MICA ist Rechtsnachfolger anderer zuvor mit der Verwaltung staatlicher Beihilfen in der Region betrauter Einrichtungen (im Folgenden für alle: zuständige Behörden).

Rechtlicher Rahmen

Gemeinschaftsrecht

3. Art. 4 Buchst. c EGKS‑Vertrag untersagte in der Kohle‑ und Stahlindustrie jegliche von den Mitgliedstaaten, in welcher Form auch immer, bewilligten Subventionen oder Beihilfen.

4. Von 1980 an erging angesichts der immer ernster werdenden und weiter um sich greifenden Krisensituation im Eisen- und Stahlsektor in Europa auf der Grundlage von Art. 95 Abs. 1 und 2 EGKS‑Vertrag eine Reihe von Entscheidungen über Ausnahmen von diesem absoluten und bedingungslosen Verbot.

5. Insbesondere wurde mit der Entscheidung Nr. 2320/81/EGKS der Kommission vom 7. August 1981 zur Einführung gemeinschaftlicher Regeln für Beihilfen zugunsten der Eisen- und Stahlindustrie (ABl. L 228, S. 14, im Folgenden: Zweiter Beihilfekodex) ein zweiter Kodex zur Regelung der staatlichen Beihilfen für die Eisen- und Stahlindustrie geschaffen. Ziel dieses Beihilfekodex war die Gewährung von Beihilfen zur Gesundung der Unternehmen der Eisen- und Stahlindustrie und zur Rückführung ihrer Produktionskapazitäten auf das Niveau der voraussichtlichen Nachfrage, wobei zugleich die schrittweise Abschaffung dieser Beihilfen innerhalb vorbestimmter Fristen sowohl hinsichtlich ihrer Meldung an die Kommission (bis zum 30. September 1982) und ihrer Genehmigung (bis zum 1. Juli 1983) als auch hinsichtlich ihrer Auszahlung (bis zum 31. Dezember 1984) vorgesehen wurde. Diese Fristen wurden mit der Entscheidung Nr. 1018/85/EGKS der Kommission vom 19. April 1985 zur Änderung der Entscheidung Nr. 2320/81 (ABl. L 110, S. 5) für die (nun als „Notifizierung“ bezeichnete) Meldung bis zum 31. Mai 1985, für die Genehmigung bis zum 1. August 1985 und für die Auszahlung bis zum 31. Dezember 1985 verlängert.

6. Der Zweite Beihilfekodex sieht ein verbindliches Verfahren der Zustimmung der Kommission zu allen vorgesehenen Beihilfen vor. Sein Art. 8 Abs. 1 lautet insbesondere:

„Die Kommission wird von allen Vorhaben zur Gewährung oder Änderung von Beihilfen … so rechtzeitig unterrichtet, dass sie sich hierzu äußern kann. … Der betreffende Mitgliedstaat darf die beabsichtigte Maßnahme erst durchführen, wenn die Kommission ihre Zustimmung erteilt hat und alle ihre Bedingungen erfüllt sind.“

7. Mit der Entscheidung Nr. 3484/85/EGKS der Kommission vom 27. November 1985 zur Einführung gemeinschaftlicher Vorschriften für die Beihilfen zugunsten der Eisen‑ und Stahlindustrie (ABl. L 340, S. 1) wurde der Zweite Beihilfekodex durch einen dritten Beihilfekodex für die staatlichen Beihilfen zugunsten der Eisen‑ und Stahlindustrie (im Folgenden: Dritter Beihilfekodex) ersetzt, um zwischen dem 1. Januar 1986 und dem 31. Dezember 1988 eine neue, weniger weitreichende Ausnahme von dem in Art. 4 Buchst. c EGKS‑Vertrag aufgestellten Verbot zu ermöglichen.

8. Nach Art. 3 des Dritten Beihilfekodex konnte die Kommission u. a. allgemeine Beihilfen für die Anpassung von Anlagen an neue gesetzliche Umweltschutznormen gestatten. Diese Beihilfen durften 15 % des Netto-Beihilfeäquivalents der Investitionskosten nicht übersteigen.

9. Art. 1 Abs. 3 des Dritten Beihilfekodex bestimmte, dass die Beihilfen nur nach den Verfahren des Art. 6 in Kraft gesetzt werden und keine Zahlung nach dem 31. Dezember 1988 zur Folge haben dürfen.

10. Art. 6 Abs. 1, 2 und 4 des Dritten Beihilfekodex lautete:

„(1) Die Kommission ist von allen Vorhaben zur Gewährung oder Umgestaltung von Beihilfen … so rechtzeitig zu unterrichten, dass sie sich hierzu äußern kann. Unter denselben Bedingungen ist sie über alle Vorhaben zur Anwendung jener Beihilferegelungen auf die Stahlindustrie zu unterrichten, zu denen sie bereits aufgrund des EWG‑Vertrags Stellung genommen hat. Die Anmeldungen der in diesem Artikel genannten Beihilfevorhaben sind bis spätestens 30. Juni 1988 bei der Kommission einzureichen.

(2) Die Kommission ist von allen geplanten Finanzierungsmaßnahmen (Beteiligungen, Kapitalausstattungen oder gleichwertige Maßnahmen), die die Mitgliedstaaten, nachgeordnete Gebietskörperschaften oder sonstige Organe, die hierbei öffentliche Mittel einsetzen, zugunsten von Stahlunternehmen vorzunehmen beabsichtigen, so rechtzeitig – spätestens aber bis zum 30. Juni 1988 – zu unterrichten, dass sie sich dazu äußern kann.

Die Kommission stellt fest, ob die betreffenden Maßnahmen Beihilfeelemente … enthalten, und beurteilt gegebenenfalls deren Vereinbarkeit mit den Artikeln 2 bis 5.

(4) Stellt die Kommission, nachdem sie die Beteiligten zur Stellungnahme aufgefordert hat, fest, dass eine Beihilfe nicht mit den Bestimmungen der vorliegenden Entscheidung vereinbar ist, so unterrichtet sie den betreffenden Mitgliedstaat von ihrer Entscheidung. Die Kommission trifft ihre Entscheidung spätestens drei Monate nach Eingang der zur Beurteilung der betreffenden Beihilfe erforderlichen Auskünfte. Kommt ein Mitgliedstaat der genannten Entscheidung nicht nach, so findet Artikel 88 des EGKS‑Vertrags Anwendung. Der betreffende Mitgliedstaat darf die in den Absätzen 1 und 2 genannten geplanten Maßnahmen nur mit Zustimmung der Kommission durchführen, wobei er sich an die von der Kommission festgesetzten Bedingungen zu halten hat.“

11. Der Dritte Beihilfekodex wurde für die Zeit vom 1. Januar 1989 bis 31. Dezember 1991 durch einen vierten Kodex ersetzt, der mit der Entscheidung Nr. 322/89/EGKS der Kommission vom 1. Februar 1989 zur Einführung gemeinschaftlicher Vorschriften über Beihilfen an die Eisen- und Stahlindustrie (ABl. L 38, S. 8, im Folgenden: Vierter Beihilfekodex) erlassen wurde und insbesondere Art. 3 des Dritten Beihilfekodex übernahm.

12. Seit dem Außerkrafttreten des EGKS‑Vertrags am 23. Juli 2002 gilt die Regelung des EG-Vertrags auch für die der Eisen‑ und Stahlindustrie gewährten Beihilfen.

Nationales Recht

13. Die Legge Nr. 183/1976 sulla disciplina dell’intervento straordinario nel Mezzogiorno (Gesetz über die Regelung außerordentlicher Interventionsmaßnahmen im Mezzogiorno) vom 2. Mai 1976 (GURI Nr. 121 vom 8. Mai 1976, im Folgenden: Gesetz Nr. 183/1976) sah u. a. die Möglichkeit vor, bis zur Höhe von 30 % des Investitionsbetrags finanzielle Unterstützung in Form von Kapitalzuschüssen oder Zinsvergütungen für Industrievorhaben im Mezzogiorno zu gewähren.

14. Art. 2909 des Codice civile sieht unter der Überschrift „Cosa giudicata“ (Rechtskraft) vor:

„Die in einem rechtskräftig gewordenen Urteil enthaltene Feststellung ist für die Parteien, ihre Erben oder Rechtsnachfolger in jeder Hinsicht bindend.“

15. Dem vorlegenden Gericht zufolge erfasst diese Bestimmung nicht nur das im Lauf des betreffenden Rechtszugs geltend Gemachte, sondern auch das, was hätte geltend gemacht werden können.

16. In prozessrechtlicher Hinsicht schließt diese Vorschrift jede Möglichkeit aus, einen Rechtsstreit bei einem Gericht anhängig zu machen, über den ein anderes Gericht bereits endgültig entschieden hat.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

Das Beihilfeersuchen von Lucchini

17. Am 6. November 1985 reichte Lucchini bei den zuständigen Behörden einen Antrag gemäß dem Gesetz Nr. 183/1976 auf finanzielle Unterstützung für die Modernisierung bestimmter Anlagen der Eisen‑ und Stahlindustrie ein. Für Gesamtinvestitionen in Höhe von 2 550 Mio. ITL beantragte sie eine Subvention von 765 Mio. ITL (was 30 % der Kosten entsprach) und ein Darlehen von 1 020 Mio. ITL zu einem verbilligten Zinssatz. Das Kreditinstitut, das mit der Prüfung des Antrags hinsichtlich der Kreditfinanzierung betraut war, zog ein Darlehen über die gewünschte Summe mit einer Laufzeit von zehn Jahren zu einem verbilligten Zinssatz von 4,25 % in Betracht.

18. Mit Schreiben vom 20. April 1988 meldeten die zuständigen Behörden das Vorhaben, Lucchini eine Beihilfe zu gewähren, bei der Kommission gemäß Art. 6 Abs. 1 des Dritten Beihilfekodex an. Der Anmeldung zufolge betraf diese Beihilfe eine Investition zur Verbesserung des Umweltschutzes. Die Zinsvergütung für das Darlehen von 1 020 Mio. ITL wurde mit 367 Mio. ITL angegeben.

19. Mit Schreiben vom 22. Juni 1988 ersuchte die Kommission um nähere Auskünfte über die Art der Investition, die mit der genannten Beihilfe gefördert werden sollte, und die genauen Konditionen (Prozentsatz, Dauer) des beantragten Darlehens. In diesem Schreiben wurde von den zuständigen Behörden auch verlangt, anzugeben, ob die Beihilfen in Anwendung einer allgemeinen Regelung des Umweltschutzes gewährt würden, um eine Anpassung der Anlagen an neue Normen auf diesem Gebiet zu ermöglichen, und diese Normen zu nennen. Die zuständigen Behörden reagierten auf dieses Schreiben nicht.

20. Am 16. November 1988, als der Ablauf der nach dem Dritten Beihilfekodex am 31. Dezember 1988 endenden Frist für die Gewährung von Beihilfen näher rückte, entschieden die zuständigen Behörden, Lucchini vorläufig 382,5 Mio. ITL, d. h. 15 % der Investitionskosten (anstelle von 30 %, wie im Gesetz Nr. 183/1976 vorgesehen), zur Auszahlung vor dem 31. Dezember 1988 entsprechend dem Erfordernis des Dritten Beihilfekodex zu gewähren. Die Gewährung einer Zinsvergütung wurde hingegen abgelehnt, weil andernfalls der Gesamtbetrag der gewährten Beihilfe die eingeräumte Grenze von 15 % nach dem Dritten Beihilfekodex überschritten hätte. Gemäß Art. 6 des Dritten Beihilfekodex wurde der Erlass der endgültigen Maßnahme zur Gewährung der Beihilfe von der Zustimmung der Kommission abhängig gemacht, und es wurde von den zuständigen Behörden nichts ausgezahlt.

21. Da die Kommission mangels Erläuterungen der zuständigen Behörden nicht in der Lage gewesen war, die Vereinbarkeit der beabsichtigten Beihilfemaßnahmen mit dem Gemeinsamen Markt vorab zu beurteilen, leitete sie gegen diese Behörden das Verfahren nach Art. 6 Abs. 4 des Dritten Beihilfekodex ein und setzte diese Behörden hiervon mit Schreiben vom 13. Januar 1989 in Kenntnis. Eine entsprechende Mitteilung wurde im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 23. März 1990 (ABl. C 73, S. 5) veröffentlicht.

22. Mit Fernschreiben vom 9. August 1989 erteilten die zuständigen Behörden nähere Auskünfte über die in Rede stehenden Beihilfen. Mit Schreiben vom 18. Oktober 1989 unterrichtete sie die Kommission darüber, dass ihre Antwort nicht zufriedenstellend sei, da noch immer bestimmte einzelne Punkte offen blieben. Sie führte außerdem aus, dass sie bei Ausbleiben einer angemessenen Antwort nach Ablauf einer Frist von 15 Werktagen berechtigt sei, allein auf der Grundlage der Informationen, über die sie verfüge, eine endgültige Entscheidung zu treffen. Dieses Schreiben blieb unbeantwortet.

Die Entscheidung Nr. 90/555/EGKS der Kommission

23. Mit ihrer Entscheidung Nr. 90/555/EGKS vom 20. Juni 1990 über von den italienischen Behörden zugunsten der Stahlwerke Tirreno und Siderpotenza geplante Beihilfen (ABl. L 314, S. 17) erklärte die Kommission sämtliche zugunsten von Lucchini vorgesehenen Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und vertrat die Auffassung, es sei nicht dargetan worden, dass die für die Ausnahme nach Art. 3 des Dritten Beihilfekodex erforderlichen Voraussetzungen erfüllt seien.

24. Am 20. Juli 1990 wurde die Entscheidung den zuständigen Behörden zugestellt und im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften vom 14. November 1990 veröffentlicht. Gegen diese Entscheidung erhob Lucchini in der nach Art. 33 Abs. 3 EGKS‑Vertrag vorgesehenen Frist keine Klage.

Das Verfahren vor dem Zivilgericht

25. Vor Erlass der Entscheidung Nr. 90/555 hatte Lucchini, da ihr die Beihilfe noch nicht ausgezahlt worden war, am 6. April 1989 die zuständigen Behörden vor dem Tribunale civile e penale di Roma verklagt, um ihren Anspruch auf Gewährung der anfänglich geforderten Beihilfe (nämlich einer Subvention in Höhe von 765 Mio. ITL und eine Zinsvergütung im Wert von 367 Mio. ITL) feststellen zu lassen.

26. Mit Entscheidung vom 24. Juli 1991, somit nach Erlass der Entscheidung Nr. 90/555, gelangte das Tribunale civile e penale di Roma zu dem Ergebnis, dass Lucchini einen Anspruch auf die fragliche Beihilfe habe, und verurteilte die zuständigen Behörden, die geforderten Beträge zu zahlen. Dieses Urteil war ausschließlich auf das Gesetz Nr. 183/1976 gestützt. Weder der EGKS‑Vertrag noch der Dritte oder der Vierte Beihilfekodex noch die Entscheidung Nr. 90/555 wurden vor dem Tribunale civile e penale di Roma von den Parteien angeführt, und das Gericht griff sie nicht von Amts wegen auf. Der Zweite Beihilfekodex war von den zuständigen Behörden geltend gemacht worden, aber das Gericht maß ihm keine Bedeutung bei, weil er zur maßgeblichen Zeit nicht mehr galt.

27. Die zuständigen Behörden legten gegen dieses Urteil bei der Corte d’appello di Roma Berufung ein. Sie stellten die Zuständigkeit der Zivilgerichte in Abrede, machten geltend, dass sie keine Verpflichtung zur Zahlung der Beihilfe treffe, und beriefen sich erstmals hilfsweise darauf, eine derartige Verpflichtung habe nach Art. 3 des Dritten Beihilfekodex nur bis zu dem Höchstwert von 15 % der Investitionen bestehen können.

28. Mit Urteil vom 6. Mai 1994 wies die Corte d’appello di Roma diese Berufung zurück und bestätigte die Entscheidung des Tribunale civile e penale di Roma.

29. In einer Stellungnahme vom 19. Januar 1995 prüfte die Avvocatura Generale dello Stato das Urteil der Corte d’appello di Roma und gelangte zu dem Schluss, dass es im Einklang mit den Vorschriften zur Begründung und rechtmäßig ergangen sei. Aufgrund dessen legten die zuständigen Behörden keine Kassationsbeschwerde ein. Da das fragliche Urteil nicht angefochten wurde, erwuchs es am 28. Februar 1995 in Rechtskraft.

30. Da die Beihilfe nicht ausgezahlt wurde, erließ der Präsident des Tribunale civile e penale di Roma am 20. November 1995 auf Antrag von Lucchini gegen die zuständigen Behörden eine Zahlungsaufforderung über die Lucchini geschuldeten Beträge. Diese Zahlungsaufforderung wurde für vorläufig vollstreckbar erklärt, und im Februar 1996 ließ Lucchini bestimmte Vermögenswerte des MICA, insbesondere Dienstwagen, wegen Nichtbefolgung dieser Aufforderung pfänden.

31. Durch das Dekret Nr. 17975 des Generaldirektors des MICA vom 8. März 1996 wurde Lucchini daher in Umsetzung des Urteils der Corte d’appello di Roma ein Kapitalzuschuss in Höhe von 765 Mio. ITL sowie eine Zinsvergütung im Wert von 367 Mio. ITL gewährt. In dem Dekret wurde festgestellt, dass diese Beihilfen insbesondere „im Fall negativer Gemeinschaftsentscheidungen über die Zulässigkeit der Bewilligung oder der Auszahlung dieser finanziellen Unterstützung“ ganz oder teilweise widerrufen würden. Am 22. März 1996 wurden die Beihilfen, die sich auf 1 132 Mio. ITL beliefen, ausgezahlt; hinzu kamen zum 16. April 1996 601,375 Mio. ITL gesetzlich vorgesehene Zinsen.

Briefwechsel der Kommission mit den italienischen Behörden

32. Mit Schreiben vom 15. Juli 1996 an die italienischen Behörden bemerkte die Kommission, dass der Entscheidung Nr. 90/555 zum Trotz

„… die [zuständigen Behörden], da sie es nicht für angebracht gehalten hatten, Kassationsbeschwerde einzulegen, aufgrund eines Urteils der Corte d’appello di Roma vom 6. Mai 1994, die unter Missachtung der elementarsten Grundsätze des Gemeinschaftsrechts einen Anspruch von [Lucchini] auf die bereits von der Kommission für rechtswidrig erklärten Beihilfen festgestellt hatte, im April 1994 die oben genannten, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbaren Beihilfen gewährt haben“.

33. Mit Schreiben vom 26. Juli 1996 antworteten die zuständigen Behörden und hoben hervor, dass die Beihilfen „unter Vorbehalt des Rechts auf Rückforderung“ gewährt worden seien.

34. Mit der Entscheidung Nr. 5259 vom 16. September 1996 brachte die Kommission die Auffassung zum Ausdruck, dass die zuständigen Behörden dadurch, dass sie Lucchini bereits durch die Entscheidung Nr. 90/555 für mit dem Gemeinsamen Markt für unvereinbar erklärte Beihilfen gewährt hätten, gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen hätten, und forderte die genannten Behörden auf, die fraglichen Beihilfen binnen einer Frist von 15 Tagen zurückzufordern und ihr innerhalb eines Monats mitzuteilen, welche konkreten Maßnahmen erlassen worden seien, um dieser Entscheidung nachzukommen. Für den Fall, dass die genannten Behörden dieser Aufforderung nicht nachkommen sollten, bekundete die Kommission ihre Absicht, nach Art. 88 EGKS‑Vertrag eine Vertragsverletzung festzustellen, und forderte die zuständigen Behörden auf, etwaige weitere Stellungnahmen nach Art. 88 Abs. 1 EGKS‑Vertrag binnen 10 Werktagen vorzulegen.

Der Widerruf der Beihilfe

35. Mit dem Dekret Nr. 20357 vom 20. September 1996 widerrief das MICA das Dekret Nr. 17975 vom 8. März 1996 und ordnete an, dass Lucchini 1 132 Mio. ITL zuzüglich Zinsen gemäß dem Referenzzinssatz und weitere inflationsbereinigte 601,375 Mio. ITL zu erstatten habe.

Das Verfahren vor dem vorlegenden Gericht

36. Mit Klage vom 16. November 1996 focht Lucchini das Dekret Nr. 20357 vor dem Tribunale amministrativo regionale del Lazio an. Dieses gab dem Antrag von Lucchini mit Urteil vom 1. April 1999 statt und vertrat die Auffassung, dass die Befugnisse, die es der öffentlichen Verwaltung erlaubten, ihre eigenen ungültigen Rechtsakte wegen Formfehlern oder materiell‑rechtlicher Mängel zurückzunehmen, im vorliegenden Fall im Anspruch auf Gewährung der Beihilfe ihre Grenze fänden, den ein rechtskräftiges Urteil der Corte d’Appello festgestellt habe.

37. Die Avvocatura Generale dello Stato legte am 2. November 1999 für das MICA Berufung beim Consiglio di Stato (Staatsrat) ein. Dabei berief sie sich insbesondere darauf, dass das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht, das sowohl den Dritten Beihilfekodex als auch die Entscheidung Nr. 90/555 umfasse, Vorrang vor der Rechtskraft des Urteils der Corte d’appello di Roma genieße.

38. Der Consiglio di Stato stellte fest, dass dieses Urteil und die Entscheidung Nr. 90/555 zueinander in Widerspruch stünden.

39. Der Auffassung des Consiglio di Stato zufolge hätten die zuständigen Behörden im Rechtsstreit vor der Corte d’appello di Roma rechtzeitig die Entscheidung Nr. 90/555 geltend machen können und müssen; in diesem Rechtsstreit sei u. a. erörtert worden, ob es rechtmäßig sei, die Beihilfe nicht auszuzahlen, weil die Zustimmung der Kommission abgewartet werden müsse. Daher stehe außer Zweifel, dass das Urteil der Corte d’appello di Roma in Rechtskraft erwachsen sei, da die zuständigen Behörden davon abgesehen hätten, es anzufechten, und dass diese sich auf die Frage der Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht zumindest hinsichtlich der vor Verkündung des Urteils ergangenen Gemeinschaftsentscheidungen erstrecke. Die Rechtskraft könne somit grundsätzlich auch gegenüber der Entscheidung Nr. 90/555 geltend gemacht werden, die vor dem Ende des Rechtsstreits ergangen sei.

40. Unter diesen Umständen hat der Consiglio di Stato beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende beiden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist es aufgrund des unmittelbar anwendbaren Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts – im vorliegenden Fall sind das der Dritte Beihilfekodex, die Entscheidung Nr. 90/555 und die Entscheidung Nr. 5259 mit der Anordnung zur Rückzahlung der Beihilfe, die alle im vorliegenden Fall als Grundlage für den Erlass der angefochtenen Maßnahme der Rückforderung (d. h. des Dekrets Nr. 20357) gedient haben – rechtlich möglich und geboten, dass die innerstaatliche Verwaltung die Beihilfe, die ein Einzelner erhalten hat, von diesem zurückfordert, obwohl ein rechtskräftiges Zivilurteil vorliegt, das die unbedingte Verpflichtung zur Zahlung dieser Beihilfe ausspricht?

2. Oder ist unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Grundsatzes, wonach die Entscheidung über die Rückforderung der Beihilfe durch das Gemeinschaftsrecht, ihre Durchführung und das entsprechende Rückforderungsverfahren jedoch mangels gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich durch das nationale Recht geregelt werden (zu diesem Grundsatz vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 21. September 1983, Deutsche Milchkontor GmbH, 205/82 bis 215/82, Slg. 1983, 2633), das Rückforderungsverfahren wegen einer konkreten, rechtskräftig gewordenen (Art. 2909 des Codice civile) Gerichtsentscheidung, die in einem Rechtsstreit zwischen einem Privaten und der Verwaltung ergangen ist und zu deren Durchführung die Verwaltung verpflichtet ist, nicht vielmehr rechtlich unmöglich?

Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs

41. Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof für die Entscheidung über Vorlagefragen zuständig bleibt, die die Auslegung und Anwendung des EGKS‑Vertrags und der auf dessen Grundlage erlassenen Rechtsakte betreffen, auch wenn diese Fragen ihm nach Außerkrafttreten des EGKS‑Vertrags unterbreitet werden. Obwohl Art. 41 EGKS‑Vertrag unter diesen Umständen nicht mehr zur Begründung der Zuständigkeit des Gerichtshofs herangezogen werden kann, liefe es dem Zweck und der Kohärenz der Verträge zuwider und wäre mit der Kontinuität der Gemeinschaftsrechtsordnung unvereinbar, wenn der Gerichtshof nicht dazu berufen wäre, eine einheitliche Auslegung der Normen sicherzustellen, die im Zusammenhang mit dem EGKS‑Vertrag stehen und weiterhin auch nach dessen Außerkrafttreten Wirkungen zeitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 1990, Busseni, C‑221/88, Slg. 1990, I‑495, Randnr. 16). Keiner der Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, hat im Übrigen insoweit die Zuständigkeit des Gerichtshofs in Zweifel gezogen.

42. Jedoch bezweifelt Lucchini aus anderen Gründen die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens. Die von ihr hierzu geltend gemachten Unzulässigkeitsgründe sind darauf gestützt, dass es an einer auszulegenden Gemeinschaftsvorschrift fehle, dass der Gerichtshof nicht zuständig sei, ein Urteil eines innerstaatlichen Gerichts oder Art. 2909 des Codice civile auszulegen, und dass die Fragen hypothetischer Natur seien.

43. Insoweit ist daran zu erinnern, dass in einem Verfahren nach Art. 234 EG, der auf einer klaren Aufgabentrennung zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof beruht, jede Beurteilung des Sachverhalts in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts fällt. Ebenso hat nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen (vgl. u. a. Urteile vom 25. Februar 2003, IKA, C‑326/00, Slg. 2003, I‑1703, Randnr. 27, vom 12. April 2005, Keller, C‑145/03, Slg. 2005, I‑2529, Randnr. 33, und vom 22. Juni 2006, Conseil général de la Vienne, C‑419/04, Slg. 2006, I‑5645, Randnr. 19).

44. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass es ihm unter außergewöhnlichen Umständen obliegt, zur Prüfung seiner eigenen Zuständigkeit die Umstände zu untersuchen, unter denen er von dem nationalen Gericht angerufen wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, Slg. 1981, 3045, Randnr. 21). Er kann die Entscheidung über eine Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn er nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine sachdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. u. a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C‑379/98, Slg. 2001, I‑2099, Randnr. 39, vom 22. Januar 2002, Canal Satélite Digital, C‑390/99, Slg. 2002, I‑607, Randnr. 19, und Conseil général de la Vienne, Randnr. 20).

45. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.

46. Offenkundig bezieht sich nämlich das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen auf Vorschriften des Gemeinschaftsrechts. Der Gerichtshof wird hier nicht zur Auslegung des nationalen Rechts oder eines Urteils eines innerstaatlichen Gerichts aufgerufen, sondern zur Klärung der Frage, inwieweit innerstaatliche Gerichte nach dem Gemeinschaftsrecht verpflichtet sind, nationales Recht unangewendet zu lassen. Demnach stehen die Vorlagefragen in einem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits, wie er vom vorlegenden Gericht definiert wird, und diesem kann die Beantwortung der Vorlagefragen dienlich sein, um es in die Lage zu versetzen, darüber zu entscheiden, ob die für die Rückforderung der fraglichen Beihilfen getroffenen Maßnahmen für nichtig zu erklären sind.

47. Der Gerichtshof ist somit zuständig, über das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zu befinden.

Zu den Vorlagefragen

48. Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegensteht, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission festgestellt worden ist.

49. In einem derartigen Zusammenhang ist eingangs daran zu erinnern, dass in der Gemeinschaftsrechtsordnung die Zuständigkeiten der innerstaatlichen Gerichte sowohl auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen als auch hinsichtlich der Feststellung der Ungültigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten begrenzt sind.

Zu den Zuständigkeiten der innerstaatlichen Gerichte auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen

50. Innerstaatliche Gerichte können auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen mit Rechtsstreitigkeiten befasst werden, in deren Rahmen sie den in Art. 87 Abs. 1 EG enthaltenen Begriff der Beihilfe auslegen und anwenden müssen, insbesondere um zu bestimmen, ob eine ohne Beachtung des in Art. 88 Abs. 3 EG vorgesehenen Vorprüfungsverfahrens eingeführte staatliche Maßnahme diesem Verfahren hätte unterworfen werden müssen (Urteile vom 22. März 1977, Steinike & Weinlig, 78/76, Slg. 1977, 595, Randnr. 14, und vom 21. November 1991, Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires und Syndicat national des négociants et transformateurs de saumon, C‑354/90, Slg. 1991, I‑5505, Randnr. 10). Auch um feststellen zu können, ob eine staatliche Maßnahme, die ohne Beachtung des in Art. 6 des Dritten Beihilfekodex geregelten Vorprüfungsverfahrens getroffen wurde, dieses Verfahren durchlaufen musste, kann sich ein nationales Gericht zur Auslegung des Beihilfebegriffs in Art. 4 Buchst. c EGKS‑Vertrag und Art. 1 des Dritten Beihilfekodex veranlasst sehen (vgl. entsprechend Urteil vom 20. September 2001, Banks, C‑390/98, Slg. 2001, I‑6117, Randnr. 71).

51. Dagegen sind innerstaatliche Gerichte nicht zuständig, darüber zu befinden, ob eine staatliche Beihilfe mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist.

52. Denn nach ständiger Rechtsprechung ist ausschließlich die Kommission, die dabei der Kontrolle des Gemeinschaftsrichters unterliegt, für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfenmaßnahmen oder einer Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt zuständig (vgl. Urteile Steinike & Weinlig, Randnr. 9, Fédération nationale du commerce extérieur des produits alimentaires und Syndicat national des négociants et transformateurs de saumon, Randnr. 14, und vom 11. Juli 1996, SFEI u. a., C‑39/94, Slg. 1996, I‑3547, Randnr. 42).

Zur Zuständigkeit der innerstaatlichen Gerichte hinsichtlich der Feststellung der Ungültigkeit von Gemeinschaftsrechtsakten

53. Zwar können die innerstaatlichen Gerichte grundsätzlich berufen sein, die Gültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts zu prüfen; sie sind jedoch nicht befugt, selbst die Ungültigkeit von Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane festzustellen (Urteil vom 22. Oktober 1987, Foto Frost, 314/85, Slg. 1987, 4199, Randnr. 20). Für die Feststellung der Ungültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts ist somit allein der Gerichtshof zuständig (Urteile vom 21. Februar 1991, Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest, C‑143/88 und C‑92/89, Slg. 1991, I‑415, Randnr. 17, und vom 10. Januar 2006, IATA und ELFAA, C‑344/04, Slg. 2006, I‑403, Randnr. 27). Diese ausschließliche Zuständigkeit ergab sich im Übrigen auch ausdrücklich aus Art. 41 EGKS‑Vertrag.

54. Nach ständiger Rechtsprechung werden außerdem Entscheidungen von Gemeinschaftsorganen, die von ihren Adressaten nicht innerhalb der in Art. 230 Abs. 5 EG vorgesehenen Frist angefochten worden sind, ihnen gegenüber bestandskräftig (vgl. u. a. Urteile vom 9. März 1994, TWD Textilwerke Deggendorf, C‑188/92, Slg. 1994, I‑833, Randnr. 13, und vom 22. Oktober 2002, National Farmers’ Union, C‑241/01, Slg. 2002, I‑9079, Randnr. 34).

55. Der Gerichtshof hat ferner entschieden, dass es ausgeschlossen ist, dass der Empfänger einer staatlichen Beihilfe, der eine nur an den Mitgliedstaat, dem er angehört, unmittelbar gerichtete Entscheidung der Kommission, die diese Beihilfe zum Gegenstand hatte, zweifellos hätte anfechten können und die hierfür in Art. 230 Abs. 5 EG vorgesehene Ausschlussfrist verstreichen ließ, vor den innerstaatlichen Gerichten anlässlich einer Klage gegen die von den nationalen Behörden getroffenen Maßnahmen zur Durchführung dieser Entscheidung deren Rechtmäßigkeit mit Erfolg in Frage stellt (Urteile TWD Textilwerke Deggendorf, Randnrn. 17 und 20, und National Farmers’ Union, Randnr. 35). Die gleichen Grundsätze gelten notwendigerweise sinngemäß auch im Rahmen des Anwendungsbereichs des EGKS‑Vertrags.

56. Folglich ist festzustellen, dass sich das vorlegende Gericht zu Recht geweigert hat, dem Gerichtshof eine Frage nach der Gültigkeit der Entscheidung Nr. 90/555 vorzulegen, die Lucchini gemäß Art. 33 EGKS‑Vertrag innerhalb eines Monats nach ihrer Veröffentlichung hätte anfechten können, aber nicht angefochten hat. Aus den gleichen Gründen ist auch die von Lucchini hilfsweise vorgebrachte Anregung zu verwerfen, eventuell von Amts wegen die Gültigkeit der genannten Entscheidung zu prüfen.

Zur Zuständigkeit der nationalen Gerichte im Ausgangsverfahren

57. Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass weder das Tribunale civile e penale di Roma noch die Corte d’appello di Roma dafür zuständig war, über die Vereinbarkeit der von Lucchini beantragten staatlichen Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt zu befinden, und dass keines dieser beiden Gerichte die Entscheidung Nr. 90/555, mit der diese Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden, hätte für ungültig erklären können.

58. In diesem Zusammenhang lässt sich weiter feststellen, dass das Urteil der Corte d’appello di Roma, dessen Rechtskraft geltend gemacht wird, ebenso wenig wie das Urteil des Tribunale civile e penale di Roma ausdrücklich zu der Vereinbarkeit der von Lucchini beantragten Beihilfen mit dem Gemeinschaftsrecht oder zur Gültigkeit der Entscheidung Nr. 90/555 Stellung nimmt.

Zur Anwendung von Art. 2909 des Codice civile

59. Nach Auffassung des innerstaatlichen Gerichts steht Art. 2909 des Codice civile nicht nur der Möglichkeit entgegen, Angriffs‑ oder Verteidigungsmittel, über die bereits ausdrücklich und rechtskräftig entschieden worden ist, in einem zweiten Rechtsstreit erneut geltend zu machen, sondern verbietet es auch, Fragen zu prüfen, die im Rahmen eines früheren Rechtsstreits hätten aufgeworfen werden können, dies aber nicht wurden. Eine solche Auslegung der genannten Vorschrift kann insbesondere zur Folge haben, dass einer Entscheidung eines innerstaatlichen Gerichts Wirkungen beigelegt werden, die über die Grenzen der Zuständigkeit des fraglichen Gerichts, wie sie sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, hinausgehen. Wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, würde die Anwendung dieser Vorschrift, wird sie so ausgelegt, offenkundig im vorliegenden Fall die Anwendung des Gemeinschaftsrechts vereiteln, weil sie die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten Beihilfe unmöglich machen würde.

60. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es Sache der innerstaatlichen Gerichte ist, die Vorschriften des nationalen Rechts so weit wie möglich derart auszulegen, dass sie in einer zur Verwi rklichung des Gemeinschaftsrechts beitragenden Art und Weise angewandt werden können.

61. Außerdem ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung, dass das innerstaatliche Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts anzuwenden hat, gehalten ist, für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt (vgl. u. a. Urteile vom 9. März 1978, Simmenthal, 106/77, Slg. 1978, 629, Randnrn. 21 bis 24, vom 8. März 1979, Salumificio di Cornuda, 130/78, Slg. 1979, 867, Randnrn. 23 bis 27, und vom 19. Juni 1990, Factortame u. a., C‑213/89, Slg. 1990, I‑2433, Randnrn. 19 bis 21).

62. Wie in Randnr. 52 des vorliegenden Urteils festgestellt, ist ausschließlich die Kommission, die dabei der Kontrolle des Gemeinschaftsrichters unterliegt, für die Beurteilung der Vereinbarkeit von Beihilfemaßnahmen oder einer Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt zuständig. Infolge des Grundsatzes des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gilt diese Regel in der innerstaatlichen Rechtsordnung.

63. Folglich ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegensteht, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten staatlichen Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission festgestellt worden ist.

Kosten

64. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Tenor

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

Das Gemeinschaftsrecht steht der Anwendung einer auf die Verankerung des Grundsatzes der Rechtskraft abzielenden Vorschrift des nationalen Rechts wie Art. 2909 des Codice civile entgegen, soweit ihre Anwendung die Rückforderung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gewährten staatlichen Beihilfe behindert, deren Unvereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt durch eine bestandskräftig gewordene Entscheidung der Kommission der Europäischen Gemeinschaften festgestellt worden ist.

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