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Document 52018DC0034

    MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates

    COM/2018/034 final

    Brüssel, den 18.1.2018

    COM(2018) 34 final

    MITTEILUNG DER KOMMISSION AN DEN RAT

    gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates



    1.HINTERGRUND

    Gemäß Artikel 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (im Folgenden die „MwSt-Richtlinie“) kann der Rat auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von der genannten Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Mehrwertsteuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Da dieses Verfahren Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Mehrwertsteuer vorsieht, sollten solche Abweichungen nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verhältnismäßig und in ihrem Anwendungsbereich begrenzt sein.

    Lettland beantragte mit einem bei der Kommission am 8. August 2017 registrierten Schreiben die Ermächtigung, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Regelung anzuwenden. Gemäß Artikel 395 Absatz 2 der MwSt-Richtlinie unterrichtete die Kommission die übrigen Mitgliedstaaten mit Schreiben vom 3. November 2017 (Portugal mit Schreiben vom 6. November 2017) über den Antrag Lettlands. Mit Schreiben vom 7. November 2017 teilte die Kommission Lettland mit, dass sie über alle für die Beurteilung des Antrags erforderlichen Angaben verfügt.

    Nach Artikel 193 der MwSt-Richtlinie wird die Mehrwertsteuer generell von dem Steuerpflichtigen geschuldet, der Gegenstände liefert. Mit der von Lettland beantragten Ausnahmeregelung wird bezweckt, die Steuerschuldnerschaft bei bestimmten Waren, insbesondere bei Bauwaren, auf den Steuerpflichtigen zu verlagern, der die Lieferung empfängt (das sogenannte Reverse-Charge-Verfahren). Ziel der beantragten Ausnahmeregelung ist die Betrugsbekämpfung.

    2.DAS REVERSE-CHARGE-VERFAHREN

    Die Mehrwertsteuer schuldet gemäß Artikel 193 der MwSt-Richtlinie der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt. Mit dem Reverse-Charge-Verfahren wird die Steuerschuldnerschaft auf den Steuerpflichtigen verlagert, der die Lieferung oder die Dienstleistung erhält.

    Missing-Trader-Betrug liegt vor, wenn Unternehmen Gegenstände oder Dienstleistungen verkaufen, von ihren Kunden die Mehrwertsteuer einziehen und dann verschwinden, ohne die Mehrwertsteuer, die sie von ihren Kunden eingezogen haben, an die Steuerbehörden abzuführen. Bei den extremsten Formen dieser Steuerhinterziehung werden im sogenannten Karussellbetrug (bei Lieferungen oder Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten) dieselben Gegenstände mehrmals geliefert bzw. wird dieselbe Dienstleistung mehrmals erbracht, ohne dass die Mehrwertsteuer an die Steuerbehörden abgeführt wird, während der Kunde gleichzeitig die an den Lieferanten gezahlte Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzieht. Beim inländischen Reverse-Charge-Verfahren wird die Gelegenheit zu dieser Form der Steuerhinterziehung dadurch ausgeschaltet, dass die Steuer von der Person geschuldet wird, an die die Gegenstände geliefert werden oder die die Dienstleistung erhält.

    3.DER ANTRAG

    Lettland beantragt gemäß Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, dass der Rat Lettland auf Vorschlag der Kommission ermächtigt, eine von Artikel 193 der MwSt-Richtlinie abweichende Sondermaßnahme zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens auf inländische Lieferungen von Bauwaren anzuwenden.

    Da es zu Betrugsfällen gekommen ist, hat Lettland bei Bauleistungen das Reverse-Charge-Verfahren gemäß Artikel 199 Absatz 1 Buchstabe a der MwSt-Richtlinie eingeführt, wodurch den Angaben Lettlands zufolge der Mehrwertsteuerbetrug im Sektor Bauleistungen zurückgegangen ist. Lettland erklärt jedoch, dass nach Einführung des Reverse-Charge-Verfahrens im Sektor Bauleistungen ein Anstieg der Mehrwertsteuererstattungen an Steuerschuldner verzeichnet wurde, der sich zum Teil durch einen Anstieg der Betrugsfälle bei der Lieferung von Bauwaren erklären lässt. Lettland zufolge gibt es Grund zu der Annahme, dass ein Teil der registrierten Mehrwertsteuerpflichtigen im Baugewerbe bösgläubig handelt und das tatsächliche Volumen der bei der Erbringung von Bauleistungen verwendeten Bauwaren nicht angibt.

    Nach den von Lettland vorgelegten Informationen wenden Steuerpflichtige im Baugewerbe die gleichen Methoden der Mehrwertsteuerhinterziehung an wie Steuerpflichtige in anderen Sektoren, und zwar: a) Die Vorsteuer wird zu Unrecht erhöht, b) die Lieferanten von Bauwaren sind zweifelhafte Unternehmen („Missing Trader“), weshalb der Ursprung der Waren nicht bestimmt werden kann, und c) die Waren werden von „Pufferunternehmen“ erworben, und die Vorsteuer wird angemeldet.

    Lettland erklärt, dass die Baubranche den größten Anteil an Schattenwirtschaft aufweist, in der gewerbliche Einkünfte nicht gemeldet und Löhne in bar gezahlt werden.

    Lettland möchte diesen Betrug im Sektor Bauwaren dadurch bekämpfen, dass die Person, der Bauwaren geliefert werden oder für die Bauleistungen erbracht werden, als Steuerschuldner für die Mehrwertsteuer bestimmt wird. Aus dem Antrag geht hervor, dass Lettland das Reverse-Charge-Verfahren ab dem 1. Januar 2018 auf Lieferungen dieser Waren anwenden will. Dies wird auch in einem Schreiben an die Kommission vom 12. Oktober 2017 bestätigt.

    4.STANDPUNKT DER KOMMISSION

    Erhält die Kommission einen Antrag nach Artikel 395 der MwSt-Richtlinie, so prüft sie, ob die Grundvoraussetzungen für eine Ermächtigung erfüllt sind, d. h. ob die beantragte Sondermaßnahme die Verfahren für die Steuerpflichtigen und/oder die Steuerverwaltung vereinfacht oder bestimmte Arten der Steuerhinterziehung bzw. umgehung verhindert. Die Kommission geht dabei stets mit Bedacht vor und legt strenge Maßstäbe an, um sicherzustellen, dass die Ausnahmeregelungen notwendig, verhältnismäßig und in ihrem Anwendungsbereich begrenzt sind und das allgemeine MwSt-System nicht untergraben.

    Jede Abweichung vom System der fraktionierten Zahlung kann daher nicht mehr als ein letztes Mittel und eine Notmaßnahme in erwiesenen Betrugsfällen sein und muss Garantien im Hinblick auf die Notwendigkeit und den Ausnahmecharakter der Regelung enthalten.

    Vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission Sonderregelungen zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens grundsätzlich nur dann ins Auge fasst, wenn die fraglichen Waren den Endverbraucher ansonsten nicht erreichen können, wenn dadurch ein verlässlicherer Steuerschuldner an die Stelle eines unsicheren Steuerschuldners tritt und wenn außerdem keine Betrugsgefahr im Einzelhandel oder in einem anderen Mitgliedstaat besteht, der keine solche Regelung anwendet.

    Zunächst ist festzuhalten, dass die betreffenden Waren für private Zwecke verwendet werden können, was das Risiko birgt, dass sich der Betrug auf nachgelagerte Stufen der Lieferkette verlagert, die noch schwerer zu kontrollieren wären. Eine Verlagerung der gesamten Mehrwertsteuerschuld auf das letzte Glied in der Kette würde daher die Risiken erhöhen. Ferner besteht die Gefahr, dass der Betrug in andere Mitgliedstaaten verlagert wird.

    Eine Ausnahmeregelung ist in jedem Fall keine langfristige Lösung und ersetzt auch keine angemessenen Kontrollmaßnahmen für die Branche und die Steuerpflichtigen. Lettland hat in seinem Antrag zwar angegeben, dass es ein umfassendes Spektrum an Kontrollmaßnahmen gibt, die zurzeit umgesetzt werden, um gegen Mehrwertsteuerbetrüger vorzugehen, doch es hat nicht nachgewiesen, warum diese Kontrollmaßnahmen nicht ausreichen, um den Steuerbetrug bei Bauwaren zu bekämpfen. Lettland hat auch nicht konkret angegeben, welche Maßnahmen zur Bekämpfung von Betrug im Sektor Bauwaren ergriffen wurden oder in Zukunft ergriffen werden sollen.

    Aus den Angaben Lettlands geht hervor, dass im Sektor Bauwaren verschiedene Betrugsformen auftreten. Das inländische Reverse-Charge-Verfahren hat sich zwar als wirksames Instrument zur Bekämpfung des Missing-Trader-Betrugs erwiesen, scheint aber kein geeignetes Mittel für die Bekämpfung anderer Formen von Betrug zu sein, wie z. B. des Versäumnisses, die Mengen der gekauften Waren anzugeben. Die beantragte Maßnahme stellt folglich keine optimale Lösung für die Betrugsproblematik im Sektor Bauwaren dar.

    Schließlich lehnte die Kommission mehrere Anträge auf eine Ausnahmeregelung zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens aus den oben genannten Gründen ab. In diesem Zusammenhang wird auf die Mitteilungen der Kommission in Bezug auf Schweinezucht und Futtermittelindustrie ((COM(2013) 148 vom 19.3.2013 – auf Antrag Ungarns), den Zuckersektor (COM(2014) 229 vom 22.4.2014 – auf Antrag Ungarns), Edelsteine (COM(2014) 623 vom 10.10.2014 – auf Antrag Estlands) und den Fleischsektor (COM(2017) 24 final vom 19.1.2017 – auf Antrag der Slowakei) verwiesen.

    Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausführungen ist die Kommission zu dem Schluss gelangt, dass eine Ausnahmeregelung zur Anwendung des Reverse-Charge-Verfahrens im Sektor Bauwaren negative Auswirkungen auf der Ebene des Einzelhandels sowie auf andere Mitgliedstaaten hätte. Die beantragte Maßnahme scheint auch nicht optimal geeignet, um der komplexen Betrugsproblematik in diesem Sektor zu begegnen.

    Stattdessen sollte eine umfassendere Lösung mit geeigneten Kontrollmaßnahmen gefunden werden. Die Kommission ist nach wie vor bereit, Lettland bei der Bekämpfung der Probleme im Zusammenhang mit Mehrwertsteuerbetrug zu unterstützen.

    5.SCHLUSSBEMERKUNGEN

    Aufgrund der vorstehenden Ausführungen spricht sich die Kommission gegen den Antrag Lettlands aus.

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