EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62009CC0016

Schlussanträge des Generalanwalts Mazák vom 15. April 2010.
Gudrun Schwemmer gegen Agentur für Arbeit Villingen-Schwenningen - Familienkasse.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Bundesfinanzhof - Deutschland.
Soziale Sicherheit - Verordnungen (EWG) Nrn. 1408/71 und 574/72 - Familienleistungen - Antikumulierungsvorschriften - Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 - Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 - Kinder, deren Mutter in dem Mitgliedstaat, in dem sie gemeinsam mit ihr wohnen, Anspruch auf Familienleistungen hat, und deren Vater, der in der Schweiz arbeitet und grundsätzlich Anspruch auf gleichartige Familienleistungen nach schweizerischem Recht hat, davon absieht, diese Leistungen zu beantragen.
Rechtssache C-16/09.

Sammlung der Rechtsprechung 2010 I-09717

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2010:195

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
JAN MAZÁK

vom 15. April 20101(1)

Rechtssache C-16/09

Gudrun Schwemmer

gegen

Agentur für Arbeit Villingen-Schwenningen – Familienkasse

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Soziale Sicherheit – Familienbeihilfen nach Scheidung – Fehlen eines Antrags des früheren Ehegatten auf Gewährung von Kindergeld im Beschäftigungsstaat – Aussetzung der Kindergeldzahlung im Wohnstaat – Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates – Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates“





I –    Einleitung

1.        Der Bundesfinanzhof (Deutschland) hat dem Gerichtshof mit Beschluss vom 30. Oktober 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 15. Januar 2009, Fragen nach der Auslegung von Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996(2) geänderten und aktualisierten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71)(3) und von Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung Nr. 1408/71, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005(4) (im Folgenden: Verordnung Nr. 574/72)(5), zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2.        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines von Gudrun Schwemmer, einer in Deutschland wohnhaften geschiedenen deutschen Staatsangehörigen, deren früherer Ehegatte in der Schweiz arbeitet, anhängig gemachten Rechtsstreits zwischen ihr und der Agentur für Arbeit Villingen-Schwennigen – Familienkasse (im Folgenden: Familienkasse) über deren Weigerung, ihr für zwei ihrer Kinder Familienleistungen in voller Höhe zu gewähren.

3.        Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob der Wohnmitgliedstaat der Mutter dann, wenn der Vater der Kinder nach einer Scheidung bewusst davon absieht, im zuständigen Beschäftigungsstaat Kindergeld zu beantragen, Kindergeld nur insoweit zahlen muss, als der in diesem Staat zu zahlende Betrag den Betrag des Kindergelds übersteigt, den der Vater in seinem Beschäftigungsstaat erhalten könnte.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

1.      Das Abkommen zwischen der Gemeinschaft und der Schweiz

4.        Nach Anhang II des am 21. Juni 1999 in Luxemburg unterzeichneten Abkommens zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit(6) finden die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien dieses Abkommens Anwendung.

2.      Die Verordnung Nr. 1408/71

5.        Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sieht, soweit hier von Bedeutung, in Bezug auf die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften Folgendes vor:

„(1)      Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2) Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)       Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat;

…“

6.        Art. 73 („Arbeitnehmer oder Selbständige, deren Familienangehörige in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen Staat wohnen“) der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„Ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, hat … für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten.“

7.        Art. 75 Abs. 2 dieser Verordnung bestimmt:

„Der zuständige Träger zahlt … auf Antrag des Trägers des Wohnorts der Familienangehörigen, des von der zuständigen Behörde des Wohnlands hierfür bezeichneten Trägers oder der von dieser Behörde hierfür bestimmten Stelle die Familienleistungen mit befreiender Wirkung über diesen Träger bzw. über diese Stelle an die natürliche oder juristische Person, die tatsächlich für die Familienangehörigen sorgt, wenn die Person, der die Familienleistungen zu gewähren sind, diese nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen verwendet.“

8.        Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71, der Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen gemäß den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates und den Rechtsvorschriften des Staates, in dem die Familienangehörigen wohnen, festlegt, sieht vor:

„(1)      Sind für ein und denselben Zeitraum, für ein und denselben Familienangehörigen in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit vorgesehen, so ruht der Anspruch auf die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats gegebenenfalls gemäß Artikel 73 bzw. 74 geschuldeten Familienleistungen bis zu dem in den Rechtsvorschriften des ersten Mitgliedstaats vorgesehenen Betrag.

(2)      Wird in dem Mitgliedstaat, in dessen Gebiet die Familienangehörigen wohnen, kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt, so kann der zuständige Träger des anderen Mitgliedstaats Absatz 1 anwenden, als ob Leistungen in dem ersten Mitgliedstaat gewährt würden.“

3.      Die Verordnung Nr. 574/72

9.        Art. 10 Abs. 1 („Vorschriften für das Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen oder -beihilfen für Arbeitnehmer und Selbständige“) der Verordnung Nr. 574/72 sieht vor:

„a)      Der Anspruch auf Familienleistungen oder -beihilfen, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats geschuldet werden, nach denen der Erwerb des Anspruchs auf diese Leistungen oder Beihilfen nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbständigen Tätigkeit abhängig ist, ruht, wenn während desselben Zeitraums für dasselbe Familienmitglied Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73, 74, 77 oder 78 der Verordnung [Nr. 1408/71] geschuldet werden, bis zur Höhe dieser geschuldeten Leistungen.

b)      Wird jedoch

i)      in dem Fall, in dem Leistungen allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats oder nach Artikel 73 oder 74 der Verordnung [Nr. 1408/71] geschuldet werden, von der Person, die Anspruch auf die Familienleistungen hat, oder von der Person, an die sie zu zahlen sind, in dem unter Buchstabe a) erstgenannten Mitgliedstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt, so ruht der Anspruch auf die allein aufgrund der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats oder nach den genannten Artikeln geschuldeten Familienleistungen, und zwar bis zur Höhe der Familienleistungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist. Leistungen, die der Mitgliedstaat zahlt, in dessen Gebiet das Familienmitglied wohnhaft ist, gehen zu Lasten dieses Staates;

…“.

B –    Nationales Recht

10.      Der Anspruch auf deutsches Kindergeld ist in den §§ 62 und 63 Einkommensteuergesetz (EStG) geregelt.

11.      § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG lautet:

„Für Kinder im Sinne des § 63 hat Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer … im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat …“.

12.      § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG sieht vor:

„Als Kinder werden berücksichtigt … Kinder im Sinne des § 32 Absatz 1.“

13.      § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG lautet:

„Kinder sind … im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandte Kinder.“

14.      Gemäß § 65 Abs. 1 EStG wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das Kindergeld im Ausland bezogen wird oder bei entsprechender Antragstellung zu beziehen wäre.

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

15.      Der Vorlageentscheidung zufolge wohnt Frau Schwemmer mit zwei ihrer Kinder, die 1992 und 1995 geboren sind, in Deutschland. Im Jahr 2005 nahm sie eine selbständige Tätigkeit im Bereich Hausverwaltungen, Hausmeister- und Reinigungsdienste auf. Ab Mai 2006 war sie geringfügig bei einer Firma beschäftigt. Frau Schwemmer entrichtete im streitigen Zeitraum freiwillig Beiträge zur Deutschen Rentenversicherung (DRV) sowie Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung bei der Deutschen Angestelltenkrankenkasse (DAK).

16.      Der Vater der Kinder, von dem Frau Schwemmer seit 1997 geschieden ist, arbeitet in der Schweiz. Er hat dort keinen Antrag auf die ihm nach Schweizer Recht zustehenden Familienleistungen in Höhe von 109,75 Euro je Kind gestellt.

17.      Durch Bescheid vom 21. März 2006 setzte die Familienkasse ab Januar 2006 Kindergeld in Höhe eines Teilbetrags von 44,25 Euro je Kind fest, soweit das deutsche Kindergeld von 154 Euro die in der Schweiz dem Vater zustehende Familienleistung von 109,75 Euro je Kind überstieg.

18.      Die Familienkasse war der im Klageverfahren vor dem Finanzgericht weiter vertretenen Ansicht, maßgebend für den Kindergeldanspruch von Frau Schwemmer seien die Kumulierungsregeln der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72. Da Frau Schwemmer keine Berufstätigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 ausgeübt habe, sei gemäß Art. 10 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung der Anspruch auf Familienleistungen in der Schweiz gegenüber dem deutschen Kindergeldanspruch vorrangig. Darauf, ob die Familienleistungen in der Schweiz tatsächlich in Anspruch genommen würden, kommt es nach Auffassung des Finanzgerichts und der Familienkasse gemäß dem entsprechend anwendbaren Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht an. Das nach dieser Vorschrift eingeräumte Ermessen könne nur so ausgelegt werden, dass lediglich in begründeten Ausnahmefällen anzunehmen sei, dass im Beschäftigungsland keine Familienleistungen gewährt würden, so dass das Wohnsitzland verpflichtet sei, die Familienleistungen in voller Höhe zu zahlen.

19.      Frau Schwemmer wendet sich im Ausgangsverfahren gegen diese Auffassung, da sie aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit in Deutschland dort bereits Anspruch auf das volle Kindergeld habe. Geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer seien versicherungspflichtigen Arbeitnehmern gleichzustellen. Jedenfalls habe der Vater der Kinder in der Schweiz, dem zuständigen Beschäftigungsland, bewusst keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt, um ihr zu schaden. Dieser Fall sei in Art. 10 Abs. 1 der Verordnung Nr. 574/72 nicht geregelt.

20.      Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ist die Konkurrenz der Ansprüche auf Familienleistungen im vorliegenden Fall nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 zu lösen, da Frau Schwemmer in Deutschland keine Berufstätigkeit im Sinne des Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung ausgeübt habe. Es weist hierzu darauf hin, dass nach dem Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 der Anspruch auf Kindergeld im Wohnland nur ruhe, soweit im Beschäftigungsland Familienleistungen geschuldet würden. Im vorliegenden Fall schulde das Beschäftigungsland aber keine Familienleistungen: In der Schweiz könnten Familienleistungen nur auf Antrag gewährt werden, und der Vater der Kinder habe trotz seines Anspruchs auf die fraglichen Leistungen keinen solchen Antrag gestellt.

21.      Zudem hält es das vorlegende Gericht für zweifelhaft, ob, wie Frau Schwemmer vorträgt, Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Fall entsprechend anzuwenden ist.

22.      Unter diesen Umständen hat der Bundesfinanzhof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Ist die Regelung in Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechend auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 anzuwenden in Fällen, in denen der anspruchsberechtigte Elternteil die ihm im Beschäftigungsland zustehenden Familienleistungen nicht beantragt?

2.      Für den Fall, dass Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 entsprechend anwendbar ist: Aufgrund welcher Ermessenserwägungen kann der für Familienleistungen zuständige Träger des Wohnlands Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 anwenden, als ob Leistungen im Beschäftigungsland gewährt würden? Kann das Ermessen, den Erhalt von Familienleistungen im Beschäftigungsland zu unterstellen, eingeschränkt sein, wenn der Anspruchsberechtigte im Beschäftigungsland die ihm zustehenden Familienleistungen bewusst nicht beantragt, um der Kindergeldberechtigten im Wohnland zu schaden?

IV – Rechtliche Würdigung

A –    Wesentliches Vorbringen der Parteien

23.      Im vorliegenden Verfahren haben die litauische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 10. Februar 2010 waren Frau Schwemmer, die deutsche Regierung und die Kommission vertreten.

24.      Frau Schwemmer hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass sie ungeachtet der Tatsache, dass sie nur geringfügig beschäftigt und nicht, wie nach Anhang I Teil I Buchst. E dieser Verordnung erforderlich, für den Fall der Arbeitslosigkeit pflichtversichert war, als eine Person im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 anzusehen sei. Dieser Anhang sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Darüber hinaus sei Art. 75 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 auf einen Fall wie diesen entsprechend anzuwenden, in dem eine in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigte Person die für den Unterhalt der Angehörigen der betreffenden Familie bestimmten Familienleistungen nicht beantragt und erhalten habe.

25.      Die deutsche Regierung weist darauf hin, dass nach § 65 EStG in Deutschland kein Anspruch auf Familienleistungen gegeben sei, wenn in einem anderen Mitgliedstaat ein Anspruch auf vergleichbare Leistungen bestehe. Darüber hinaus ergebe sich im Fall von Frau Schwemmer ein solcher Anspruch auch nicht aus der Verordnung Nr. 1408/71, da – gemäß Anhang I Teil I Buchst. E dieser Verordnung – Titel III Kapitel 7 der Verordnung Nr. 1408/71 nicht anwendbar sei. Demgegenüber sei Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 auf den Fall von Frau Schlemmer grundsätzlich anwendbar, abgesehen davon, dass sie keine Berufstätigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i dieser Verordnung ausgeübt habe. Demnach sei in erster Linie die Schweiz für die Zahlung von Familienleistungen zuständig.

26.      In Bezug auf Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 vertritt die deutsche Regierung die Ansicht, dass diese Bestimmung entsprechend angewendet werden sollte, so dass die betreffenden Leistungen als in der Schweiz gewährt gelten könnten. Sie schlägt jedoch vor, zur Lösung derartiger Fälle, in denen ein Elternteil keine Familienleistungen beantrage, Art. 75 Abs. 2 dieser Verordnung zur Anwendung zu bringen.

27.      Auch die litauische Regierung ist der Ansicht, dass Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 unter den im Ausgangsverfahren gegebenen Umständen anwendbar sei, für die Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 gelte, und dass es daher nicht darauf ankomme, ob ein Antrag auf Gewährung der betreffenden Leistungen gestellt worden sei oder nicht. Dass dies zutreffend sei, ergebe sich aus dem Hauptzweck des durch die Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 eingeführten Systems, einer Kumulierung von Leistungen vorzubeugen. Eine andere Auslegung würde zudem dem Grundsatz zuwiderlaufen, dass es auf dem Gebiet der Sozialleistungen eine angemessene Lastenteilung zwischen den Mitgliedstaaten geben müsse(7), und wäre angesichts der nach wie vor bestehenden Beschränkungen beim Austausch der erforderlichen Informationen zwischen den Mitgliedstaaten auch in der Praxis schwer umzusetzen.

28.      In Bezug auf die zweite Frage schlägt die litauische Regierung vor, dass im Hinblick auf das den Mitgliedstaaten durch Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 offenbar eingeräumte Ermessen die zuständigen Behörden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden hätten, ob diese Bestimmung anzuwenden sei und ob somit die betreffenden Leistungen als in dem anderen Mitgliedstaat gewährt gelten könnten.

29.      Nach Ansicht der österreichischen Regierung kann auf der Basis der Angaben des vorlegenden Gerichts Frau Schwemmer weder als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit deren Anhang I Teil I Buchst. E noch als Person, die eine Berufstätigkeit ausübt, im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 angesehen werden.

30.      Die österreichische Regierung geht jedoch davon aus, dass auf einen solchen Fall grundsätzlich Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 anzuwenden sein könnte, da diese Bestimmung generell Verschiebungen von Zuständigkeiten zulasten des nur nachrangig zuständigen Mitgliedstaats allein dadurch, dass Leistungen bewusst nicht beantragt würden, verhindern solle. Daher komme es weder darauf an, ob der frühere Ehegatte von Frau Schwemmer es bewusst unterlassen habe, Kindergeld zu beantragen, noch darauf, ob er ihr dadurch habe schaden wollen.

31.      Da diese Auslegung jedoch, wie einzuräumen sei, zu einem letztlich unbefriedigenden Ergebnis führen würde, wäre zu bedenken, ob die Regeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen ohne Einschränkung auf geschiedene oder getrennt lebende Eltern anzuwenden seien. Im Ausgangsverfahren ließe sich vertretbar argumentieren, dass die Verordnung Nr. 1408/71 überhaupt nicht anwendbar sei, da der Vater als von den Kindern getrennt und dementsprechend nicht mehr als Familienangehöriger im Sinne der Verordnung angesehen werden könne. Folglich wäre der Anspruch auf Kindergeld nur unter Berücksichtigung der Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats zu beurteilen.

32.      Die Kommission trägt vor, dass Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 nur anwendbar sei, wenn die in Art. 76 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehene Bedingung erfüllt sei, d. h. nur dann, wenn im Wohnmitgliedstaat Familienleistungen aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit zustünden. Da Frau Schwemmer keine Arbeitnehmerin im Sinne von Anhang I Teil I Buchst. E der Verordnung Nr. 1408/71 sei und daher nicht in den sachlichen Geltungsbereich dieser Verordnung falle, sei Art. 76 Abs. 2 dieser Verordnung auf sie grundsätzlich nicht anwendbar.

33.      Auf jeden Fall liege keine Regelungslücke vor, die eine entsprechende Anwendung von Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 rechtfertigte. Die Kommission weist in diesem Zusammenhang zudem darauf hin, dass es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht zum Ruhen von auf Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 gegründeten Leistungsansprüchen kommen könne, falls Beihilfen in dem betreffenden Mitgliedstaat deshalb nicht zu zahlen seien, weil nicht alle in den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats für den tatsächlichen Erhalt solcher Beihilfen festgelegten Voraussetzungen erfüllt seien, wie z. B. die, dass hierfür zunächst ein Antrag zu stellen sei(8). Auch wenn dieser Grundsatz in Fällen aufgestellt worden sei, in denen im Wohnmitgliedstaat kein Antrag gestellt worden sei, sollte er auch in dem Fall Anwendung finden, in dem die Beantragung von Leistungen im Beschäftigungsstaat unterbleibe.

34.      Ferner ruhe der Kindergeldanspruch nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 nur dann, wenn im Beschäftigungsland Familienleistungen geschuldet würden. Da der Vater die ihm in der Schweiz zustehenden Familienleistungen nicht beantragt habe und folglich nicht alle Voraussetzungen für die Zahlung dieser Leistungen erfüllt gewesen seien, würden ihm im Beschäftigungsland keine Familienleistungen im Sinne dieser Bestimmung „geschuldet“. Daher könne auch keine Kumulierung von Ansprüchen vorliegen.

35.      Darüber hinaus scheine Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 574/72 nicht relevant zu sein, da Frau Schwemmer in Deutschland keine Berufstätigkeit ausübe.

36.      Schließlich könnten die deutschen Behörden nach Ansicht der Kommission vermeiden, die Kosten des Kindergelds alleine zu tragen, indem sie von Art. 75 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 Gebrauch machten.

B –    Würdigung

37.      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Anspruch auf Kindergeld, das nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu zahlen ist, in dem ein Elternteil mit den betreffenden Kindern wohnt, nach den in Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und in Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 festgelegten Antikumulierungsvorschriften in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens (teilweise) ausgesetzt werden darf, in dem dem früheren Ehegatten, dem anderen Elternteil dieser Kinder, nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats Familienleistungen zustünden, er diese Leistungen tatsächlich aber nicht erhält, weil sie bewusst nicht beantragt wurden.

38.      Vorab ist erstens festzustellen, dass das in Rede stehende deutsche Kindergeld unstreitig die Voraussetzungen erfüllt, um als „Familienleistungen“ im Sinne von Art. 4 Abs. 1 Buchst. h der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen zu werden(9). Daher ist diese Verordnung auf den vorliegenden Fall ratione materiae anwendbar.

39.      Was zweitens die Anwendbarkeit der Verordnung Nr. 1408/71 ratione personae betrifft, steht jedenfalls fest, dass der frühere Ehegatte von Frau Schwemmer in der Schweiz, seinem Wohnland, einer Beschäftigung als „Arbeitnehmer“ im Sinne von Art. 1 Buchst. a dieser Verordnung nachgeht.

40.      Demnach bedarf es in diesem Zusammenhang nicht der Feststellung, ob auch Frau Schwemmer als Arbeitnehmerin im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit ihrem Anhang I Teil I Buchst. E angesehen werden kann, da diese Verordnung nach ihrem Art. 2 und der Rechtsprechung des Gerichtshofs grundsätzlich auch für Sachverhalte gilt, die Familienangehörige oder – wie hier – frühere Ehegatten von Arbeitnehmern oder Selbständigen betreffen(10).

41.      Da die Verordnung Nr. 1408/71 auch für Familiensituationen nach einer Scheidung gilt(11), lässt sich insoweit – entgegen dem Vorbringen der österreichischen Regierung – nicht vertreten, dass der Fall von Frau Schwemmer deshalb als rein innerstaatliche und gänzlich außerhalb des Geltungsbereichs dieser Verordnung liegende Angelegenheit zu betrachten sei, weil der Vater der betreffenden Kinder von Frau Schwemmer geschieden und von ihren gemeinsamen Kindern getrennt ist.

42.      Daher ist festzustellen, dass die Verordnung Nr. 1408/71 ratione materiae und ratione personae auf einen Fall wie den von Frau Schwemmer anwendbar ist, den ich nun anhand der maßgebenden Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 prüfen werde.

43.      In Bezug auf Familienleistungen sieht Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 vor, dass ein Arbeitnehmer oder ein Selbständiger, der den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats A unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet des Mitgliedstaats B wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Staates A hat, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates A wohnten. Der konkrete Zweck dieser Bestimmung besteht darin, zugunsten der Familienangehörigen, die in einem anderen als dem Mitgliedstaat A wohnen, die Gewährung der nach den anwendbaren Rechtsvorschriften vorgesehenen Familienleistungen sicherzustellen(12).

44.      Demnach entsteht, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat und im Ausgangsverfahren zu keinem Zeitpunkt bestritten worden ist, der Anspruch auf Familienleistungen für die Kinder von Frau Schwemmer nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 grundsätzlich nach den Rechtsvorschriften der Schweiz, dem Beschäftigungsstaat ihres früheren Ehegatten.

45.      Auf der anderen Seite ist darauf hinzuweisen, dass Frau Schwemmer in Deutschland, wo sie mit den beiden Kindern wohnt, für ihre Kinder deutsches Kindergeld zusteht, da diese Leistung nach deutschem Recht auf der Grundlage dessen gezahlt wird, dass beide, der betreffende Elternteil und die in Rede stehenden Kinder, ihren Wohnsitz in Deutschland haben(13).

46.      Da somit sowohl nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaats von Frau Schwemmer als auch nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungs- und Wohnstaats ihres früheren Ehegatten ein Anspruch auf Familienleistungen bestehen kann, ist dieser Konflikt im Licht der in Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und in Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 festgelegten Antikumulierungsvorschriften zu beurteilen.

47.      Insoweit ist zunächst festzustellen, dass Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 Fälle regeln soll, in denen wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit des Familienangehörigen ein Anspruch auf Familienleistungen nach Art. 73 dieser Verordnung mit einem Anspruch nach den Rechtsvorschriften des Wohnstaats der Familienangehörigen zusammentrifft(14).

48.      Da jedoch das in Rede stehende deutsche Kindergeld allein davon abhängig ist, dass ein Wohnsitz in Deutschland besteht, und es nicht aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gewährt wird, ist Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

49.      Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 betrifft dagegen Fälle, in denen das Risiko einer Kumulierung des Anspruchs auf Familienleistungen nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 und des Anspruchs auf Familienleistungen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Wohnstaats besteht, der nicht von einer solchen Voraussetzung in Bezug auf die Berufstätigkeit abhängt(15).

50.      Daraus ergibt sich, dass Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 die im vorliegenden Fall anwendbare Antikumulierungsvorschrift ist.

51.      Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 sieht u. a. vor, dass, wenn die Familienleistungen im Wohnstaat unabhängig von Versicherungs- oder Beschäftigungsvoraussetzungen geschuldet werden, diese Ansprüche dann ruhen, wenn Leistungen nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 geschuldet werden.

52.      Daher gehen nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 die vom Beschäftigungsstaat gezahlten Leistungen den vom Wohnstaat gezahlten Leistungen vor, die deshalb ausgesetzt werden(16).

53.      Übt jedoch die Person, der die fraglichen Familienleistungen zustehen, oder die Person, der sie gezahlt werden, im Wohnmitgliedstaat auch eine Berufstätigkeit aus, führt Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 dadurch zu einer Prioritätenumkehr zugunsten der Zuständigkeit dieses Staates, dass er das Ruhen des Leistungsanspruchs im Beschäftigungsstaat gemäß Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 vorsieht(17).

54.      Würde, wie Frau Schwemmer im Ausgangsverfahren tatsächlich vorgetragen hat, festgestellt, dass sie in Deutschland, dem Wohnstaat, eine Berufstätigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 ausübte, stünde ihr das deutsche Kindergeld daher auf jeden Fall in voller Höhe zu.

55.      Nach den Feststellungen des vorlegenden Gerichts ist dies jedoch nicht der Fall, wobei der Hauptgrund dafür ist, dass Frau Schwemmer nicht als „Arbeitnehmerin“ oder „Selbständige“ im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit deren Anhang I Teil I Buchst. E angesehen werden kann, weil sie nicht pflichtversichert war und daher den in diesem Anhang für Deutschland aufgestellten Anforderungen nicht genügt.

56.      In diesem Zusammenhang wurde in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof die Frage aufgeworfen, ob Frau Schwemmer, anders als das vorlegende Gericht angenommen zu haben scheint – im Hinblick auf ihre selbständige Tätigkeit im Bereich Hausverwaltungen, Hausmeister- und Reinigungsdienste im Jahr 2005 und ihre geringfügige Beschäftigung vom Jahr 2006 an –, als Person anzusehen sein könnte, die eine Berufstätigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 ausübt, gleichzeitig aber nicht als „Arbeitnehmerin“ oder „Selbständige“ im Sinne von Art. 1 der Verordnung Nr. 1408/71 in Verbindung mit deren Anhang I Teil I Buchst. E einzustufen wäre.

57.      Meiner Meinung nach kann jedoch der Gerichtshof die durch diesen Fall aufgeworfenen Fragen nicht einfach auf der Grundlage dieser Annahme lösen. Selbst wenn das vorlegende Gericht seine Auslegung des Begriffs „Berufstätigkeit“, wie er in Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 verwendet wird, überdenken würde, müsste es immer noch feststellen, ob diese Voraussetzungen im Fall von Frau Schwemmer tatsächlich erfüllt sind. Außerdem scheint es mir vor dem Hintergrund der Antwort, die meines Erachtens auf die Vorlagefragen zu geben ist, nicht erforderlich zu sein, dieser Frage nachzugehen(18).

58.      Demnach ist aufgrund der Annahme, dass Frau Schwemmer keine Berufstätigkeit im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 574/72 ausübte, zu prüfen, ob im Wohnstaat geschuldetes Kindergeld unter den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens, in dem dem früheren Ehegatten nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 in seinem Beschäftigungsstaat vergleichbare Familienleistungen zustehen, diese Leistungen aber tatsächlich nicht gezahlt werden, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde, nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. a dieser Verordnung auszusetzen ist.

59.      Hierzu ist daran zu erinnern, dass der Gerichtshof in den Urteilen Salzano(19), Ferraioli(20) und Kracht(21) bereits den umgekehrten Fall zu prüfen hatte, nämlich die Frage, ob im Beschäftigungsstaat nach Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 geschuldete Beihilfen auszusetzen sind, wenn im Wohnstaat zu zahlende vergleichbare Beihilfen nicht beantragt und dementsprechend tatsächlich nicht gezahlt wurden. Der Gerichtshof hat entschieden, dass die Zahlung von Beihilfen im zuständigen Mitgliedstaat – in diesen Fällen der Beschäftigungsstaat – nicht ausgesetzt wird, wenn Beihilfen in dem anderen betroffenen Mitgliedstaat nur deshalb nicht gezahlt wurden, weil nicht alle Voraussetzungen des Rechts dieses Mitgliedstaats für die tatsächliche Auszahlung der Beihilfen, einschließlich der Voraussetzung einer vorherigen Antragstellung, erfüllt sind(22).

60.      Somit hat der Gerichtshof in diesen Fällen den Grundsatz angewandt, dass die Aussetzung der aus Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 folgenden Ansprüche nur erfolgt, wenn die Beihilfen tatsächlich im Wohnstaat gezahlt werden(23). Auch wenn dieser Ansatz in Bezug auf das Zusammentreffen von Leistungen gewählt wurde, die unter Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 fallen, sehe ich keinen Grund, warum er nicht auch im vorliegenden Fall Anwendung finden sollte, für den Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 gilt und in dem ein Anspruch auf Beihilfen im Beschäftigungsstaat besteht, diese Beihilfen jedoch tatsächlich nicht gezahlt wurden, weil kein entsprechender Antrag gestellt worden war.

61.      Zugegebenermaßen wurde Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 nach der für die oben genannten Rechtssachen maßgebenden Zeit geändert und ein neuer Abs. 2 aufgenommen, mit der Wirkung, dass der Beschäftigungsmitgliedstaat den Anspruch auf Familienleistungen ruhen lassen darf, falls im Wohnmitgliedstaat kein Antrag auf Leistungsgewährung gestellt wird und dieser Mitgliedstaat folglich keine Zahlung leistet.

62.      Im Fall von Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 wurde jedoch keine solche Regelung getroffen. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Gerichtshof im Urteil Kracht davon abgesehen hat, die vorgenannte Rechtsprechung im Licht der Neufassung von Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 zu überdenken, obwohl der neue Abs. 2 (wenn auch noch nicht anwendbar) bereits erlassen worden war. Der Gerichtshof hat u. a. ausgeführt, dass seine frühere Auslegung von Art. 76 dieser Verordnung mit dem Ziel des Vertrags, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen, in Einklang stehe(24). In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof darüber hinaus Argumente, wie sie in ähnlicher Weise auch in der vorliegenden Rechtssache vorgebracht worden sind, zurückgewiesen, wonach jedes Wahlrecht des Leistungsberechtigten – oder eine Verschiebung der Verteilung der finanziellen Belastung zwischen den betroffenen Mitgliedstaaten – ausgeschlossen werden müsse(25).

63.      Unter diesen Umständen erscheint es nicht angemessen, die Regelung in Art. 76 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 auf Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72, die hier in Rede stehende Vorschrift, entsprechend anzuwenden(26).

64.      Schließlich ist ein Ansatz, bei dem in einem Fall wie diesem der Leistungsanspruch im Wohnmitgliedstaat nicht ausgesetzt wird, insoweit im Einklang mit der gefestigten Rechtsprechung, als eine Rgelung, die die Kumulierung von Familienbeihilfen ausschließen soll – wie z. B. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 574/72 –, nicht so angewendet werden sollte, dass sie dem Betroffenen grundlos einen nach dem Recht eines Mitgliedstaats bestehenden Leistungsanspruch nimmt(27).

65.      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass auf die Fragen des vorlegenden Gerichts geantwortet werden sollte, dass Art. 76 der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 10 der Verordnung Nr. 574/72 dahin auszulegen sind, dass der Anspruch auf Kindergeld, das nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu zahlen ist, in dem ein Elternteil mit den betreffenden Kindern wohnt, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der dem früheren Ehegatten, dem anderen Elternteil dieser Kinder, gemäß Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats Familienleistungen zustehen, er diese Leistungen aber tatsächlich nicht erhält, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde, nicht ausgesetzt wird.

V –    Ergebnis

66.      Aus den oben dargelegten Gründen schlage ich vor, die vom Bundesfinanzhof vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 76 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten Fassung und Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005, sind dahin auszulegen, dass der Anspruch auf Kindergeld, das nach den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats zu zahlen ist, in dem ein Elternteil mit den betreffenden Kindern wohnt, in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, in der dem früheren Ehegatten, dem anderen Elternteil dieser Kinder, gemäß Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaats Familienleistungen zustehen, er diese Leistungen aber tatsächlich nicht erhält, weil kein entsprechender Antrag gestellt wurde, nicht ausgesetzt wird.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. 1997, L 28, S. 1.


3 – ABl. 1971, L 149, S. 2.


4 – Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, und der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 des Rates über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 (ABl. L 117, S. 1).


5 – ABl. 1972, L 74, S. 1.


6 – ABl. 2002, L 114, S. 6.


7 – Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk (C-184/99, Slg. 2001, I-6193, Randnr. 44), und vom 15. März 2005, Bidar (C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnrn. 56 ff.).


8 – Urteile des Gerichtshofs vom 13. November 1984, Salzano (191/83, Slg. 1984, 3741, Randnr. 10), vom 23. Apri1 1986, Ferraioli (153/84, Slg. 1986, 1401, Randnr. 15), und vom 4. Juli 1990, Kracht (C-117/89, Slg. 1990, I-2781, Randnr. 18).


9 – Vgl. in diesem Zusammenhang Urteil des Gerichtshofs vom 20. Mai 2008, Bosmann (C-352/06, Slg. 2008, I‑3827), in dem es gleichfalls um deutsches Kindergeld ging.


10 – Vgl. hierzu u. a. Urteile des Gerichtshofs vom 3. Februar 1983, Robards (149/82, Slg. 1983, 171, Randnr. 15), vom 5. März 1998, Kulzer, (C‑194/96, Slg. 1998, I‑895, Randnr. 32), und vom 5. Februar 2002, Humer (C‑255/99, Slg. 2002, I‑1205, Randnr. 42).


11 – Vgl. hierzu auch Urteil des Gerichtshofs vom 26. November 2009, Slanina (C‑363/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 30).


12 – Urteile des Gerichtshofs vom 10. Oktober 1996, Hoever und Zachow (C-245/94 und C-312/94, Slg. 1996, I-4895, Randnr. 32), und Humer (in Fn. 10 angeführt, Randnr. 39).


13 – Meines Erachtens spielt es insoweit keine Rolle, dass, wie die deutsche Regierung in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, § 65 EStG einen Kindergeldanspruch in Deutschland ausschließt, falls in einem anderen Mitgliedstaat eine vergleichbare Leistung geschuldet wird. Mit dieser Vorschrift sollen offensichtlich Kompetenzkonflikte gelöst oder, spezieller, die Kumulierung von Ansprüchen auf Familienbeihilfen vermieden werden. Damit bildet sie im innerstaatlichen Recht das Gegenstück zu den Verordnungen Nrn. 1408/71 und 574/72 und ist – in Anbetracht des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts – im Einklang mit diesen Verordnungen auszulegen. Würde man der von der deutschen Regierung vertretenen Argumentationslinie folgen und § 65 EStG für die Feststellung heranziehen, ob Frau  Schwemmer nach deutschem Recht Kindergeld grundsätzlich zusteht, würde man dieses Verhältnis zwischen den Verordnungen und dem innerstaatlichen Recht in gewisser Weise auf den Kopf stellen.


14 – Vgl. Urteile des Gerichtshofs vom 7. Juni 2005, Dodl und Oberhollenzer (C‑543/03, Slg. 2005, I-5049, Randnr. 53), und Slanina (in Fn. 11 angeführt, Randnr. 36).


15 – Vgl. Urteil Dodl und Oberhollenzer (in Fn. 14 angeführt, Randnr. 54).


16 – Vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 9. Dezember 1992, McMenamin (C-119/91, Slg. 1992, I-6393 Randnr. 17).


17 – Vgl. u. a. Urteile McMenamin (in Fn. 16 angeführt, Randnr. 17) und Bosmann (in Fn. 9 angeführt, Randnr. 22).


18 – Vgl. unten, Nr. 65.


19 – In Fn. 8 angeführt.


20 – In Fn. 8 angeführt.


21 – In Fn. 8 angeführt.


22 – Vgl. hierzu Urteile Salzano (in Fn. 8 angeführt), Ferraioli (in Fn. 8 angeführt, Randnr. 14) und Kracht (in Fn. 8 angeführt, Randnrn. 11 und 18).


23 – Vgl. auch Urteil McMenamin (in Fn. 16 angeführt, Randnr. 26).


24 – Vgl. Urteil Kracht (in Fn. 8 angeführt, Randnrn. 12 bis 14).


25 – Vgl. Urteil Kracht (in Fn. 8 angeführt, Randnrn. 12 und 13).


26 – Ebenso wenig bin ich der Überzeugung, dass Art. 75 Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, der auf eine Situation Bezug nimmt, in der Familienleistungen von der Person, die nicht tatsächlich für die betreffenden Familienangehörigen sorgt, „nicht“ für den Unterhalt dieser Familienangehörigen „verwendet“ werden, unter Umständen wie denen der vorliegenden Rechtssache entsprechend angewendet werden kann, unter denen die in Rede stehenden Familienleistungen nicht beantragt und dementsprechend auch nicht bezogen wurden.


27 – Vgl. hierzu u. a. Urteil des Gerichtshofs vom 19. Februar 1981, Beeck (104/80, Slg. 1981, 503, Randnr. 12).

Top