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Document 61994CC0120

Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 6. April 1995.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland.
Streichung.
Rechtssache C-120/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 I-01513

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1995:109

SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS

FRANCIS G. JACOBS

vom 6. April 1995 ( *1 )

1. 

Die Kommission hat am 22. April 1994 beim Gerichtshof Klage mit dem Antrag erhoben, gemäß Artikel 225 Absatz 2 EG-Vertrag festzustellen, daß Griechenland die in Artikel 224 vorgesehenen Befugnisse mißbraucht habe, um die am 16. Februar 1994 getroffenen einseitigen Maßnahmen zu rechtfertigen, mit denen der — insbesondere über den Hafen von Saloniki laufende — Handel mit aus der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien (EJRM) stammenden, von dort kommenden oder für sie bestimmten Erzeugnissen sowie die Einfuhr von Erzeugnissen mit Ursprung in oder Herkunft aus der EJRM nach Griechenland verboten wurde, und daß es hierdurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 113 EG-Vertrag, aus der in der Verordnung (EWG) Nr. 2603/69 des Rates vom 20. Dezember 1969 ( 1 ) niedergelegten gemeinsamen Ausfuhrregelung, aus der in der Verordnung (EWG) Nr. 288/82 des Rates vom 5. Februar 1982 ( 2 ) festgelegten gemeinsamen Einfuhrregelung, aus den Bestimmungen der Verordnung (EWG) Nr. 3698/93 des Rates vom 22. Dezember 1993 ( 3 ) niedergelegten Einfuhrregelung für Waren mit Ursprung in der Repubik Bosnien-Herzegovina, der Republik Kroatien, der Republik Slowenien sowie der ehemaligen Republik Mazedonien sowie aus den Vorschriften der Verordnung (EWG) Nr. 2726/90 des Rates vom 17. September 1990 ( 4 ) über das gemeinschaftliche Versandverfahren verstoßen hat.

Wesentlicher Sachverhalt

2.

Im Laufe des Jahres 1991 begann die Sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien in fünf Teile zu zerfallen. Am 25. Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien für unabhängig. Am 17. September 1991 tat die EJRM das gleiche. Am 16. Oktober 1991 gab Bosnien-Herzegowina eine Erklärung über seine Souveränität ab. Somit blieb Serbien zusammen mit Montenegro und Kosovo als Einheit übrig. In Kroatien und später in Bosnien-Herzegowina brach ein Bürgerkrieg aus; er dauert bis heute an.

3.

Wichtig für den vorliegenden Fall sind die Artikel 3 und 49 der Verfassung der EJRM, die vor ihrer Änderung wie folgt lauteten:

„Artikel 3

Das Gebiet der Republik Mazedonien ist unteilbar und unveräußerlich.

Die bestehenden Grenzen der Republik Mazedonien sind unverletzlich.

Sie können nur in Einklang mit der Verfassung geändert werden.“

„Artikel 49

Die Republik schützt die rechtliche Stellung und die Rechte der Bürger benachbarter Staaten, die mazedonischen Ursprungs sind, sowie der im Ausland lebenden Mazedonier, unterstützt ihre kulturelle Entwicklung und fördert die Beziehungen zu ihnen.

Die Republik schützt die kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte ihrer im Ausland lebenden Bürger.“

4.

Am 17. November 1991 wurden die Artikel 3 und 49 der Verfassung der EJRM wie folgt ergänzt:

„Zusatz I

1.

Die Republik Mazedonien erhebt keine Gebietsansprüche gegen Nachbarländer.

2.

Die Grenzen der Republik Mazedonien können nur in Einklang mit der Verfassung, dem Grundsatz des guten Willens und den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts geändert werden.

3.

Punkt 1 dieses Zusatzes ergänzt Artikel 3; Punkt 2 ersetzt Artikel 3 Absatz 3 der Verfassung der Republik Mazedonien.“

„Zusatz II

1.

Die Republik wird sich hierbei nicht in die souveränen Rechte oder die inneren Angelegenheiten anderer Staaten einmischen.

2.

Dieser Zusatz ergänzt Artikel 49 Absatz 1 der Verfassung der Republik Mazedonien.“

5.

Griechenland beldagte sich über bestimmte von der EJRM seit Beginn ihrer Unabhängigkeit vorgenommene Handlungen. Nach Auffassung Griechenlands hat die EJRM den Gedanken eines einheitlichen Mazedonien gefördert, das in Griechenland gelegene Gebiete einschließlich der Stadt Saloniki umfassen würde. Namentlich wehrt sich Griechenland gegen den Gebrauch bestimmter mazedonischer Symbole sowie des Namens „Mazedonien“, den Griechenland als Bestandteil seines eigenen kulturellen Erbes ansieht.

6.

Am 16. Dezember 1991 verabschiedete der Rat der Europäischen Gemeinschaften auf einem im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit anberaumten Außerordentlichen Ministertreffen zwei Erklärungen, nämlich eine über Jugoslawien und eine über „Leitlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion“. In der ersten Erklärung heißt es:

„Die Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten fordern von einer Jugoslawischen Republik weiterhin, daß sie sich vor ihrer Anerkennung verpflichtet, verfassungsrechtlich und politisch zu gewährleisten, daß sie keinerlei Gebietsansprüche gegen einen zur Gemeinschaft gehörenden Nachbarstaat erhebt und keine feindselige Propaganda gegen einen zur Gemeinschaft gehörenden Nachbarstaat betreiben wird, dies einschließlich des Gebrauchs einer Bezeichnung, die Gebietsansprüche impliziert.“

7.

Im September 1991 war in Zusammenhang mit der Konferenz über Jugoslawien die Schiedskommission der Konferenz für den Frieden in Jugoslawien gegründet worden, die sich aus fünf Präsidenten von Verfassungsgerichten (oder gleichartigen Einrichtungen) der Mitgliedstaaten als Richtern zusammensetzte und als deren Präsident Robert Badinter, Präsident des französischen Conseil Constitutionnel, bestimmt wurde.

8.

Am 11. Januar 1992 erließ die Schiedskommission der Konferenz für den Frieden in Jugoslawien die Stellungnahme Nr. 6 „über die Anerkennung der Sozialistischen Republik Mazedonien durch die Europäische Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten“, die zu folgendem Ergebnis gelangte:

„Die Republik Mazedonien erfüllt die Voraussetzungen, die der Rat in seinen am 16. Dezember 1991 erlassenen Leitlinien für die Anerkennung neuer Staaten in Osteuropa und der Sowjetunion sowie in der von ihm am gleichen Tat verabschiedeten Erklärung über Jugoslawien aufgestellt hat;

— die Republik Mazedonien hat überdies in unzweideutigen, völkerrechtlich bindenden Erklärungen auf jegliche Gebietsansprüche verzichtet;

— der Gebrauch des Namens ‚Mazedonien‘ kann daher keine Gebietsansprüche gegen einen anderen Staat implizieren;

— die Republik Mazedonien hat sich förmlich nach Völkerrecht verpflichtet, sich sowohl allgemein als auch gemäß Artikel 49 ihrer Verfassung jeglicher feindseligen Propaganda gegen einen anderen Staat zu enthalten; dies ergibt sich aus einer Erklärung, die der Außenminister der Republik am 11. Januar 1992 gegenüber der Schiedskommission in Beantwortung des Ersuchens dieser Kommission um Erläuterung des Verfassungszusatzes II vom 6. Januar 1992 abgegeben hat“.

9.

Am 15. Januar 1992 kündigte die Präsidentschaft des Rates an, daß Slowenien und Kroatien anerkannt werden würden; sie gab weiter folgende offizielle Erklärung ab:

„Was die beiden anderen Republiken betrifft, die den Wunsch bekundet haben, unabhängig zu werden (Bosnien-Herzegowina und EJRM), so bleibt noch eine Reihe wichtiger Probleme zu lösen, bevor die Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten zu einer solchen Entscheidung gelangen können.“

10.

Am 2. Mai 1992 gab der Rat der Europäischen Gemeinschaften öffentlich bekannt, daß die Gemeinschaft und deren Mitgliedstaaten bereit seien, die EJRM „innerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen unter einem Namen, der für alle beteiligten Partner annehmbar ist, als souveränen und unabhängigen Staat“ anzuerkennen.

11.

Am 27. Juni 1992 erklärte der Europäische Rat in Lissabon, die Gemeinschaft sei bereit, die EJRM innerhalb ihrer gegenwärtigen Grenzen unter einer Bezeichnung anzuerkennen, die nicht das Wort „Mazedonien“ enthalte.

12.

Die Präsidentschaft des Rates entsandte hieraufhin einen „Sonderbevollmächtigten der Präsidentschaft“ nach Skopje, der Hauptstadt der EJRM, sowie nach Athen, um die Basis für eine Vereinbarung zwischen beiden Parteien zu schaffen, die als Grundlage für die Anerkennung der EJRM durch die Gemeinschaft dienen könne und in Einklang mit der Lissabonner Erklärung vom 27. Juni 1992 stehen würde.

13.

Im August 1992 wählte die EJRM als Emblem der Nationalflagge die „Sonne von Vergina“, ein in sechzehn Spitzen auslaufendes Motiv der Sonne und ihrer Strahlen, mit dem der goldene Sarkophag geschmückt war, der die 1977 in der alten mazedonischen Hauptstadt Aigai — heute das in Griechisch-Mazedonien gelegene Vergina — gefundenen Gebeine Philips IL enthält. Griechenland betrachtete dieses Symbol als seinem ganzen Wesen nach griechisch, forderte die EJRM deshalb auf, es nicht in ihrer Flagge zu verwenden, und wiederholte seine Forderung, auf Gebietsansprüche gegen Griechenland zu verzichten und jegliche feindselige Propaganda einzustellen.

14.

Der Sonderbevollmächtigte der Präsidentschaft legte seinen Bericht dem Europäischen Rat auf dessen Treffen in Edinburgh am 11. und 12. Dezember 1992 vor. Er bemerkte, die EJRM sei bereit, für alle internationalen Zwecke die Bezeichnung „Republik Mazedonien (Skopje)“ anzunehmen, mit Griechenland einen Vertrag über die Unverletzlichkeit der gemeinsamen Grenzen abzuschließen, aus Artikel 49 ihrer Verfassung alle Hinweise auf den Schutz zu entfernen, den sie der „rechtlichen Stellung“ und den „Rechten der Bürger benachbarter Staaten, die mazedonischen Ursprungs sind“ gewähren würde, und mit Griechenland einen Vertrag über gute Nachbarschaft zu schließen.

15.

Bei dem Treffen des Europäischen Rats in Edinburgh wurde keine Einigung erzielt.

16.

Am 7. April 1993 empfahl der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in seiner Resolution 817, die EJRM „bis zu einer Regelung der über ihren Namen entstandenen Meinungsverschiedenheiten“ unter dem Namen „ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien“ zu den Vereinten Nationen zuzulassen. Die Bemühungen der Co-Präsidenten des Lenkungsausschusses der internationalen Konferenz über das ehemalige Jugoslawien, Vance und Lord Owen, um Vermittlung führten zu einem Vertragsentwurf über die „Bestätigung der bestehenden Grenzen und das Ergreifen von Maßnahmen mit dem Ziel der Vertrauensbildung, der Freundschaft und der nachbarlichen Zusammenarbeit“. Keine der beteiligten Parteien hat den Entwurf unterzeichnet.

17.

Im Dezember 1993 erkannten sechs Mitgliedstaaten der Europäischen Union die EJRM an und nahmen diplomatische Beziehungen zu ihr auf. Die Vereinigten Staaten von Amerika erkannten die EJRM am 8. Februar 1994 an.

18.

Am 16. Februar 1994 traf Griechenland die Maßnahmen, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sind und auf alle Waren außer denjenigen angewendet werden, die, wie Nahrungsmittel und pharmazeutische Erzeugnisse, für humanitäre Zwecke lebenswichtig sind; am gleichen Tag schloß es sein Konsulat in Skopje.

19.

Die griechische Regierung unterrichtete den Rat und die anderen Mitgliedstaaten von den getroffenen Maßnahmen. Die Präsidentschaft des Rates setzte die Mitgliedstaaten am 21. Februar 1994 formell über die Art der getroffenen Maßnahmen und die hierfür gegebene Begründung in Kenntnis. Mit Schreiben vom 23. Februar 1994 erläuterte der Ständige Vertreter Griechenlands dem Generalsekretär der Kommission die genannten Maßnahmen. Der Präsident der Kommission hatte die griechische Regierung bereits am 22. Februar 1994 brieflich aufgefordert, die Maßnahmen im Lichte der Verträge zu rechtfertigen, und festgestellt, daß die Kommission ernsthaft an deren Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht zweifele.

20.

In seinem Antwortschreiben vom 25. Februar 1994 beschrieb der griechische Premierminister den Hintergrund der Maßnahmen und führte aus, diese seien angesichts der starren Haltung der EJRM und der sich hieraus für Griechenland ergebenden Risiken unvermeidlich geworden. Am 26. Februar 1994 sandte die griechische Regierung der Kommission ein Memorandum, in dem sie darlegte, weshalb die am 16. Februar 1994 getroffenen Maßnahmen nach Völkerrecht wie nach Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt seien. In dem Memorandum hieß es, die näheren Umstände, unter denen Sanktionen gegen Südrhodesien, Südafrika und Argentinien verhängt worden seien, zeigten, daß in derartigen Angelegenheiten die Mitgliedstaaten zuständig seien und nicht die Gemeinschaft. Das Memorandum bezog sich auf das Urteil des Gerichtshofes vom 26. Mai 1987 in der Rechtssache 45/86 ( 5 ), aus dem die griechische Regierung ableitete, daß der Sachverhalt nicht unter Artikel 113 EG-Vertrag falle, auch wenn die Maßnahmen Rückwirkungen auf den Handelsverkehr hätten. Schließlich stützte sich die griechische Regierung auf Artikel 224 EG-Vertrag und führte aus, dieser Artikel enthalte eine allgemeine Sicherungsklausel, die die Mitgliedstaaten ermächtige, einseitige Maßnahmen zu ergreifen, wenn, wie vorliegend, eine „ernste, eine Kriegsgefahr darstellende internationale Spannung“ vorliege. Die griechische Regierung bemerkte, in diesem Artikel gehe es lediglich um das Sich-ins-Benehmen-Setzen zu dem Zweck, Probleme zu lösen, die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes beträfen, nicht aber um irgendwelche Folgen, die die in Rede stehenden Maßnahmen für dritte Länder haben könnten.

21.

Die Kommission wiederholte ihre Vorbehalte in einem an den griechischen Außenminister gerichteten Schreiben vom 3. März 1994. Sie führte erneut aus, die Maßnahmen verstießen gegen die gemeinsamen Regeln über die Einfuhr von Waren aus Nichtmitgliedstaaten in die Gemeinschaft, die Regeln über die Ausfuhr in Nichtmitgliedstaaten und die Vorschriften über das gemeinschaftliche Versandverfahren. Die Kommission wies ferner auf die Schädigung der rechtmäßigen Interessen zahlreicher in der Gemeinschaft ansässiger Exporteure hin, deren Lastwagen und Waren in Griechenland blockiert worden seien; schließlich erwähnte sie die systematische Überprüfung einer Reihe von Containern, die Nahrungsmittel enthielten, die im Rahmen der Nahrungsmittelhilfe der Gemeinschaft aufgrund von Entscheidungen des Europäischen Rates von nichtstaatlichen Organisationen geliefert worden waren.

22.

In seinem Antwortschreiben vom 15. März 1994 bekräftigte der griechische Generalsekretär für Angelegenheiten der Gemeinschaft die Haltung der griechischen Regierung und fügte hinzu:

„Wenn die Kommission beweisen kann, daß die von den griechischen Behörden getroffenen Maßnahmen zu einer Verfälschung des Wettbewerbs auf dem Gemeinsamen Markt führen, so ist die griechische Regierung bereit, zu prüfen, wie diese Maßnahmen gemäß Artikel 225 Absatz 1 den Vorschriften des Vertrages angepaßt werden können.“

23.

In einem Schreiben vom 21. März 1994 an den griechischen Premierminister führte die Kommission aus, da Griechenland die Maßnahmen mit politischen Erwägungen rechtfertige, sollte die Angelegenheit von den Ministern in Zusammenhang mit der Außenpolitik und der gemeinsamen Sicherheit als Eilsache geprüft werden. Nur eine solche Stellungnahme der Minister, so die Kommission, ermögliche es ihr, die Art und Weise, in der Griechenland von Artikel 224 EG-Vertrag Gebrauch gemacht habe, sowie die Rückwirkungen auf das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beurteilen.

24.

Die Frage wurde am 27. März 1994 bei einem informellen Treffen des Rates in loannina diskutiert. Zufolge der griechischen Regierung wurde auf diesem Treffen keine Einigung erzielt und keine Entscheidung getroffen. Die Kommission ist jedoch der Meinung, die Diskussion habe gezeigt, daß es Griechenland nicht gelungen sei, zu beweisen, daß eine Kriegsgefahr oder eine schwerwiegende innerstaatliche Störung der öffentlichen Ordnung gegeben sei.

25.

Am 22. April 1994 erhob die Kommission die Klage, die dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegt, und beantragte die oben erwähnten Feststellungen. Am gleichen Tag stellte die Kommission den Antrag, den Vollzug der griechischen Maßnahmen im Wege einer einstweiligen Anordnung auszusetzen. Mit Beschluß vom 29. Juni 1994 ( 6 ) wies der Gerichtshof diesen Antrag ab.

Die Rechtsfragen

26.

Die Kommission beantragt die Feststellung, daß Griechenland, indem es den Handelsverkehr mit der EJRM mit einem Embargo belegt hat, von seinen Befugnissen nach Artikel 224 EG-Vertrag in unzulässiger Weise Gebrauch gemacht und hierdurch gegen seine Verpflichtungen aus Artikel 113 EG-Vertrag sowie aus den Verordnungen Nrn. 2603/69, 288/82, 3698/93 und 2726/90 des Rates verstoßen hat.

27.

Artikel 224 EG-Vertrag lautet:

„Die Mitgliedstaaten setzen sich miteinander ins Benehmen, um durch gemeinsames Vorgehen zu verhindern, daß das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes durch Maßnahmen beeinträchtigt wird, die ein Mitgliedstaat bei einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, im Kriegsfall, bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder in Erfüllung der Verpflichtungen trifft, die er im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat.“

28.

Artikel 225 EG-Vertrag lautet:

„Werden auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen durch Maßnahmen aufgrund der Artikel 223 und 224 verfälscht, so prüft die Kommission gemeinsam mit dem beteiligten Staat, wie diese Maßnahmen den Vorschriften dieses Vertrages angepaßt werden können.

In Abweichung von dem in den Artikeln 169 und 170 vorgesehenen Verfahren kann die Kommission oder ein Mitgliedstaat den Gerichtshof unmittelbar anrufen, wenn die Kommission oder der Staat der Auffassung ist, daß ein anderer Mitgliedstaat die in den Artikeln 223 und 224 vorgesehenen Befugnisse mißbraucht. Der Gerichtshof entscheidet unter Ausschluß der Öffentlichkeit.“

29.

Um feststellen zu können, ob der Klage stattzugeben ist, müssen eine Reihe von Punkten geprüft werden.

30.

Zunächst muß darüber entschieden werden, ob die von Griechenland getroffenen Maßnahmen ohne die Sicherungsklausel des Artikels 224 in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht, insbesondere zu dessen in der Klageschrift aufgeführten Bestimmungen, stehen würden.

31.

Sollte sich herausstellen, daß die griechischen Maßnahmen in Widerspruch zu diesen Bestimmungen stehen, so ist zweitens zu prüfen, ob sich Griechenland zur Rechtfertigung seiner Maßnahmen mit der Begründung auf Artikel 224 berufen kann, diese Maßnahmen seien dazu bestimmt, „einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung“ oder „einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellen internationalen Spannung“ entgegenzuwirken.

32.

Sollte Griechenland sich auf Artikel 224 berufen können, so müßte gemäß Artikel 225 Absatz 2 festgestellt werden, ob es die in Artikel 224 vorgesehenen Befugnisse mißbraucht hat.

Zur Frage, ob die griechischen Maßnahmen ohne die Sicherungsklausel von Artikel 224 EG-Vertrag in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehen würden

33.

Die Kommission führt aus, die in Artikel 113 vorgesehene gemeinsame Handelspolitik falle in die ausschließliche Zuständigkeit der Gemeinschaft. Sie zitiert das Gutachten 1/75 vom 11. November 1975 ( 7 ), das Urteil vom 15. Dezember 1976 in der Rechtssache 41/76 ( 8 ) und das Gutachten 2/91 vom 19. März 1993 ( 9 ). Die Kommission leitet aus dieser Rechtsprechung ab, daß das Vorliegen einer ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft den Mitgliedstaaten jede Parallelzuständigkeit auf dem Gebiet der Handelspolitik nehme.

34.

Auf der Grundlage dieser ausschließlichen Zuständigkeit hat die Gemeinschaft gemeinsame Regeln für Einfuhren aus Nichtmitgliedstaaten aufgestellt. Im Zeitpunkt der Klageerhebung waren diese Regeln in der Verordnung (EWG) Nr. 518/94 des Rates vom 7. März 1994 ( 10 ) (für andere Erzeugnisse als Textilien) sowie in der Verordnung (EWG) Nr. 517/94 des Rates vom 7. März 1994 ( 11 ) (für Textilerzeugnisse) enthalten. Diese Verordnungen traten an die Stelle der Verordnung Nr. 288/82 des Rates, auf die die Kommission in ihrer Klageschrift Bezug nimmt ( 12 ). Die Verordnung Nr. 518/94 wurde ihrerseits durch die Verordnung (EWG) Nr. 3285/94 des Rates vom 22. Dezember 1994 ( 13 ) ersetzt.

35.

Gemäß Artikel 1 Absatz 2 der Verordnung Nr. 3285/94 sind Einfuhren aus Nichtmitgliedstaaten in die Gemeinschaft grundsätzlich frei und unterliegen keinen mengenmäßigen Beschränkungen. Artikel 24 Absatz 2 ermächtigt die Mitgliedstaaten jedoch, Verbote und Beschränkungen unter ähnlichen Bedingungen wie denjenigen zu verhängen, die gemäß Artikel 36 EG-Vertrag für den Handel zwischen den Mitgliedstaaten gelten. Die Artikel 2 Absatz 1 und 26 Absatz 2 der Verordnung Nr. 517/94 enthalten entsprechende Bestimmungen für Textilerzeugnisse. Ähnliche Bestimmungen waren in den Artikeln 1 Absatz 2 und 21 der Verordnung Nr. 288/82 sowie in den Artikeln 1 Absatz 2 und 18 Absatz 2 der Verordnung Nr. 518/94 enthalten.

36.

Für Einfuhren aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slowenien und der EJRM gelten die besonderen Bestimmungen der Verordnung Nr. 3698/93 des Rates vom 22. Dezember 1993 ( 14 ). Artikel 1 dieser Verordnung bestimmt:

„Vorbehaltlich der besonderen Bestimmungen in den Artikeln 2 bis 8 werden Waren, die nicht in Anhang II des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und Anhang A dieser Verordnung aufgeführt sind, und ihren Ursprung in den Republiken Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien sowie der ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien haben, ohne mengenmäßige Beschränkungen oder Maßnahmen gleicher Wirkung und unter Befreiungen von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung zur Einfuhr in die Gemeinschaft zugelassen.

...“

37.

Artikel 2 lautet:

„Für die Einfuhr der Waren des Anhangs Β in die Gemeinschaft gelten die in diesem Anhang jeweils angegebenen Einfuhrabgaben, das heißt Zölle und Abschöpfungen (bewegliche Teilbeträge).“

38.

Gemeinsame Regeln über Ausfuhren in Nichtmitgliedstaaten finden sich in der Verordnung Nr. 2603/69 des Rates vom 20. Dezember 1969 ( 15 ), derzufolge Ausfuhren vorbehaltlich der Möglichkeit, im Falle der Knappheit lebenswichtiger Güter Sicherungsmaßnahmen zu treffen, grundsätzlich frei sind. Artikel 11 der Verordnung enthält wiederum ähnliche Vorschriften wie Artikel 36 EG-Vertrag.

39.

Gemeinsame Regeln über den Transit von Waren einschließlich solcher aus Nichtmitgliedstaaten durch das Gebiet eines Mitgliedstaats enthält die Verordnung Nr. 2726/90 des Rates vom 17. Dezember 1990 ( 16 ).

Diese Regeln sind im wesentlichen technischer Art und befassen sich insbesondere mit den Dokumenten, die den Waren während ihrer Durchfuhr durch das Gebiet der Mitgliedstaaten beigegeben werden müssen. Diese Regeln enthalten stillschweigend den Grundsatz, daß aus Ländern außerhalb der Gemeinschaft eingeführte Waren das Gebiet eines Mitgliedstaats (ζ. B. Griechenlands) auf dem Weg zu ihrem endgültigen Bestimmungsort in einem anderen Mitgliedstaat durchqueren dürfen. Artikel 5 Absatz 3 der Verordnung bestimmt: „Diese Verordnung dient unbeschadet der Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchfuhrverbote oder-beschränkungen der Mitgliedstaaten, sofern sie mit den drei Verträgen zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften vereinbar sind.“

40.

Meines Erachtens kann nicht zweifelhaft sein, daß das von Griechenland gegen den Handel mit der EJRM verhängte Embargo grundsätzlich mit den von der Kommission angeführten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist, sofern es nicht unter die Sicherungsklausel von Artikel 224 EG-Vertrag fällt. Die gemeinsame Handelspolitik nach Artikel 113 EG-Vertrag beruht auf dem Grundprinzip, daß das Gebiet der Mitgliedstaaten ein einziges Zollgebiet bildet, für das einheitliche Regeln über die Einfuhr von Waren aus oder die Ausfuhr von Waren in nicht zur Gemeinschaft gehörende Länder gelten. Die Außengrenze der Gemeinschaft ist in zollrechtlicher Hinsicht grundsätzlich unteilbar. Dadurch, daß sie der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Handelspolitik die ausschließliche Zuständigkeit verliehen haben, haben die Mitgliedstaaten, abgesehen von bestimmten im Gemeinschaftsrecht festgelegten Fällen, auf die Befugnis verzichtet, den Handel mit der Außenwelt einseitig zu beschränken

41.

Die Verhängung eines einseitigen Embargos über den Handel mit einem Nichtmitgliedstaat steht überdies in Widerspruch zu den allgemeinen Bestimmungen der (oben in Nrn. 34 bis 39) genannten Ratsverordnungen über den Handel mit Nichtmitgliedstaaten. Es trifft zwar zu, daß einige dieser Verordnungen (Verordnungen Nrn. 288/82, 517/94, 518/94, 3285/94 und 2603/69) Bestimmungen enthalten, die aus Gründen, die den in Artikel 36 EG-Vertrag genannten ähneln, Abweichungen gestatten. Griechenland hat sich jedoch nicht auf diese Bestimmungen berufen, und es ist zudem zweifelhaft, ob sie geeignet sind, Maßnahmen der in Rede stehenden Art zu decken. Überdies enthält die Verordnung Nr. 3698/93, die sich speziell mit Einfuhren aus der EJRM und den übrigen als Folge des Zerfalls von Jugoslawien gegründeten Staaten befassen, keine Artikel 36 EG-Vertrag entsprechende Bestimmung.

42.

Griechenland macht geltend, das über den Handel mit der EJRM verhängte Embargo falle nicht unter Artikel 113, da es nicht als Instrument der Handelspolitik gedacht, sondern dazu bestimmt gewesen sei, politischen Druck auf die EJRM auszuüben. Dieses Vorbringen vermag mich nicht zu überzeugen. Nach meiner Auffassung ist der entscheidende Aspekt nicht der Zweck, sondern die Wirkung des Embargos. Maßnahmen, die sich als unmittelbare Unterbindung oder Beschränkung des Handels mit einem Nichtmitgliedstaat auswirken, fallen ohne Rücksicht auf ihren Zweck unter Artikel 113. Wie die Kommission ausgeführt hat, wird dies im übrigen durch die Praxis der Gemeinschaft bestätigt. Der Rat hat sich mehrfach auf Artikel 113 als Rechtsgrundlage für Verordnungen gestützt, die eher aus außen- als aus handelspolitischen Gründen wirtschaftliche Sanktionen gegen Nichtmitgliedstaaten verhängten ( 17 ).

43.

Obwohl Griechenland geltend macht, das gegen die EJRM verhängte Handelsembargo falle nicht unter Artikel 113 EG-Vertrag, hat es doch von vornherein die Notwendigkeit anerkannt, sich auf Artikel 224 EG-Vertrag zu stützen, um die Vereinbarkeit des Embargos mit dem Gemeinschaftsrecht darzutun. In dem an die Kommission gerichteten Memorandum der griechischen Regierung vom 26. Februar 1994 über die am 16. Februar 1994 gegen die EJRM ergriffenen Maßnahmen war Artikel 224 ausdrücklich angeführt (siehe die Anlage 12 zur Klageschrift). In diesem Memorandum trug die griechische Regierung vor, das Verhalten der EJRM gegenüber Griechenland habe eine internationale Spannung geschaffen, die eine Kriegsgefahr darstelle; Artikel 224 sei die einzige Vertragsbestimmung, auf deren Grundlage im Wege der dort vorgesehenen Konsultationen eine Lösung für die das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes betreffenden Probleme gefunden werden könne.

Zur Frage, ob sich Griechenland auf Artikel 224 EG-Vertrag berufen kann, um das Embargo mit der Begründung zu rechtfertigen, dieses sei dazu bestimmt gewesen, „einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung“ oder „einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung“ entgegenzuwirken

44.

In seinem Urteil vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84 ( 18 ) hat der Gerichtshof festgestellt, daß Artikel 224 EG-Vertrag „einen ganz besonderen Ausnahmefall“ regelt. Tatsächlich faßt Artikel 224 drei Ausnahmesituationen ins Auge, in denen ein Mitgliedstaat Maßnahmen ergreifen kann, die geeignet sind, daß Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen. Er kann solche Maßnahmen treffen: a) bei einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung der öffentlichen Ordnung, b) im Kriegsfall oder bei einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung oder c) in Erfüllung der Verpflichtungen, die der Staat im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Friedens und der internationalen Sicherheit übernommen hat. Der dritte dieser Fälle kommt selbstverständlich vorwiegend nicht in Betracht. Griechenland macht das Vorliegen der beiden ersten Tatbestände geltend. Ich werde zunächst prüfen, ob Griechenland mit den allgemeinen Vorschriften des EG-Vertrags unvereinbare Maßnahmen gegen die EJRM ergreifen durfte, um eine schwerwiegende innerstaatliche Störung der öffentlichen Ordnung zu verhindern.

45.

Ein Problem, das in diesem Zusammenhang gelöst werden muß, betrifft das Verhältnis zwischen der Bezugnahme auf die öffentliche Sicherheit in Artikel 36 und die Bezugnahme auf schwerwiegende innerstaatliche Störungen der öffentlichen Ordnung in Artikel 224 EG-Vertrag. Die Kommission ist der Ansicht, zwischen den beiden Bestimmungen bestehe eine Analogie, weshalb die Rechtsprechung des Gerichtshofes über die einschränkende Auslegung von Artikel 36 auch für Artikel 224 gelte.

46.

Meines Erachtens darf die Analogie zwischen den Artikeln 36 und 224 nicht übertrieben werden. Sicherlich hat der Gerichtshof im Fall Johnston ( 19 ) die Artikel 36 und 224 mit anderen Artikeln des Vertrages, die im Hinblick auf die öffentliche Sicherheit Ausnahmen vorsehen (insbesondere den Artikeln 48 Absatz 3, 56 Absatz 1 und 223), in Zusammenhang gebracht. Der Gerichtshof stellte zunächst fest, daß alle diese Bestimmungen „begrenzte außergewöhnliche Tatbestände regeln“, und führte dann in Randnummer 26 seines Urteils aus, daß diese Artikel sich „wegen ihres begrenzten Charakters ... nicht für eine extensive Auslegung [eignen]“. Sicherlich sind sowohl Artikel 36 als auch Artikel 224 eng auszulegen, da sie von den allgemeinen Vorschriften des EG-Vertrags abweichen. Insoweit ähneln sich die beiden Bestimmungen. Es bestehen jedoch wesentliche Unterschiede. Zum einen lassen sich die von Artikel 36 (sowie von den Artikeln 48 Absatz 3 und 56 Absatz 1) erfaßten Sachverhalte als Ausnahmefälle bezeichnen, während die unter Artikel 224 fallenden, wie der Gerichtshof in Randnummer 27 seines Urteils in der Rechtssache Johnston anerkannt hat, einen ġanz besonderen Ausnahmefall darstellen. Das wird dadurch bestätigt, daß Artikel 224 sehr selten in Anspruch genommen wird, während die Berufung auf Artikel 36 relativ häufig ist. Ein zweiter Unterschied betrifft den Umfang der Abweichungen, die die beiden Artikel jeweils zulassen. Artikel 36 gestattet Abweichungen von einem (zugegebenermaßen grundlegenden) Merkmal des Gemeinsamen Marktes; Artikel 224 erlaubt demgegenüber ganz allgemein Abweichungen von den Regeln des Gemeinsamen Marktes.

47.

Wenn in Artikel 224 von „schwerwiegenden innerstaatlichen Störungen der öffentlichen Ordnung“ die Rede ist, so ist diese Bestimmung meines Erachtens dahin zu verstehen, daß sie auf einen Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung abzielt, der viel weiter reicht als die Art ziviler Unruhen, die einen Rückgriff auf Artikel 36 rechtfertigen können. Offensichtlich ist an eine Situation gedacht, die an einen Kollaps der inneren Sicherheit grenzt, denn anderenfalls ließe sich schwerlich ein Rückgriff auf eine einschneidende Ausnahmevorschrift rechtfertigen, der dazu führen kann, daß alle für den Gemeinsamen Markt geltenden allgemeinen Regeln außer Kraft gesetzt werden.

48.

Im vorliegenden Fall hat Griechenland offensichtlich nicht nachgewiesen, daß es ohne das gegen die EJRM verhängte Handelsembargo zu inneren Unruhen in einem solchen Ausmaß käme, daß die diesem Staat für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zur Verfügung stehenden Mittel nicht ausreichten. Griechenland macht in seiner Klagebeantwortung geltend, praktisch die gesamte griechische Bevölkerung protestiere gegen den Versuch der EJRM, Griechenlands nationale Identität zu untergraben; die Organisation von Kundgebungen, an denen die Mehrheit der Bevölkerung teilnehme, wobei die Schließung der Grenze gefordert werde und Furcht vor einem Krieg mit der EJRM bestehe, schaffe naturgemäß die Gefahr einer schwerwiegenden Störung der öffentlichen Ordnung, einer Störung, die der Staat angesichts des Umfangs der Kundgebungen und ihres Beweggrundes, nämlich des Schutzes der nationalen Identität Griechenlands, nicht zu dämpfen in der Lage sei.

49.

Diese Behauptungen sind nicht geeignet, den Nachweis dafür zu erbringen, daß die griechischen Behörden sich tatsächlich schwerwiegenden inneren Störungen gegenüber gesehen hätten, gegen die sie ohne die Verhängung wirtschaftlicher Sanktionen gegen die EJRM keine wirksamen Maßnahmen hätten treffen können. Das Vorbringen Griechenlands zur Veranstaltung massiver Kundgebungen ist verschwommen und unsubstantiiert. Einzelheiten über spezielle Störungen der öffentlichen Ordnung sind nicht vorgetragen worden. Tatsächlich hat Griechenland auch nicht annähernd den Nachweis eines massiven Zusammenbruchs der öffentlichen Ordnung erbracht, wie er erforderlich ist, um den Rückgriff auf Artikel 224 wegen einer schwerwiegenden innerstaatlichen Störung dieser Ordnung zu rechtfertigen. Ich komme daher zu dem Ergebnis, daß Griechenland nicht berechtigt war, sich aus diesem Grund auf Artikel 224 zu berufen.

50.

Die nächste Frage, ob Griechenland berechtigt war, sich wegen eines Kriegsfalls oder ernsten eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung auf Artikel 224 zu berufen. Dieses Problem ist weit komplexer und wirft die grundlegende Frage nach dem Umfang der Befugnis des Gerichtshofes auf, in derartigen Fällen eine richterliche Überprüfung vorzunehmen. Es läßt sich offensichtlich nicht behaupten — und Griechenland behauptet dies auch nicht —, die Angelegenheit sei nicht justitiabel. Aus dem Wortlaut von Artikel 225 EG-Vertrag geht eindeutig hervor, daß der Gerichtshof befugt ist, die Rechtmäßigkeit von Maßnahmen zu überprüfen, die ein Mitgliedstaat auf der Grundlage von Artikel 224 getroffen hat; dies schließt zwangsläufig die Befugnis ein, festzustellen, ob die Voraussetzungen für eine Berufung auf Artikel 224 gegeben sind. Umfang und Intensität der Kontrolle, die der Gerichtshof ausüben kann, sind jedoch wegen der Art der aufgeworfenen Fragen eng begrenzt. Es mangelt an gerichtlich anwendbaren Kriterien, die dem Gerichtshof oder einem anderen Gericht die Feststellung ermöglichen würden, ob eine schwerwiegende internationale Spannung besteht und ob diese eine Kriegsgefahr darstellt. Eine Zusammenfassung des Wesens der Problematik findet sich in den Überlegungen, die ein englischer Richter in einem ganz anderen Zusammenhang angestellt hat: „there are ... no judicial or manageable standards by which to judge these issues, or to adopt another phrase ... the court would be in a judicial no-man's land.“ ( 20 )

51.

Interessant ist auch die Feststellung, daß selbst die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland, die der Vorstellung, eine von der Exekutive getroffene Maßnahme sei der richterlichen Kontrolle entzogen, äußerst reserviert gegenüberstehen, einräumen, daß die Intensität dieser Kontrolle auf außen-und sicherheitspolitischem Gebiet infolge des Fehlens geeigneter, der richterlichen Anwendung zugänglicher Kriterien in starkem Maße beschränkt sein kann ( 21 ).

52.

Krieg ist seiner Natur nach ein unberechenbares Ereignis. Der Übergang vom Säbelrasseln zum bewaffneten Konflikt kann schnell und dramaţisch erfolgen, wie schon ein höchst oberflächlicher Blick auf die jüngsten Ereignisse zeigt. Wohl nur wenige würden im Frühjahr 1982, als eine Gruppe argentinischer Schrotthändler damit begann, eine nicht mehr in Betrieb befindliche Walfangstation auf der Insel Südgeorgien abzubauen, vorausgesehen haben, daß das Vereinigte Königreich und Argentinien sich bald wegen der Falkland-Inseln im Krieg befinden würden. Nicht viele konnten im Sommer 1990, als der Irak damit begann, Truppen in Richtung der kuwaitischen Grenze in Marsch zu setzen, vorhersehen, daß sich hieraus ein Konflikt vom Ausmaß des Golfkrieges ergeben würde. Und nur die Allerhellsichtigsten konnten Mitte der 80er Jahre argwöhnen, daß Jugoslawien innerhalb weniger Jahre in eine Reihe unerbittlicher Bürgerkriege gestürzt werden würde.

53.

Diese Überlegungen sind es, in deren Licht der Gerichtshof das Vorbringen der Parteien zur Kriegsgefahr zu beurteilen hat. Die Kommission erkennt an, daß auf dem Balkan Krieg herrscht und daß das Risiko einer Ausbreitung dieses Krieges auf andere Gebiete des Balkans besteht, die gegenwärtig relativ ruhig sind. Die Kommission erkennt an, daß zwischen Griechenland und der EJRM ein schwerwiegender politischer Konflikt besteht. Die Kommission bestreitet jedoch, daß bei vernünftiger Betrachtung angenommen werden könne, das Verhalten der EJRM gegenüber Griechenland stelle eine Kriegsgefahr dar. Sie macht geltend, die EJRM sei ein kleines Land mit geringen Währungsreserven in einer wirtschaftlichen Krise und mit gegenüber den griechischen äußerst bescheidenen Streitkräften; überdies komme Griechenland die Sicherheitsgarantie zugute, die sich aus seiner NATO-Mitgliedschaft ergebe.

54.

Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß es nicht Sache des Gerichtshofes ist, eine Entscheidung über den Kern des Streits zwischen Griechenland und der EJRM zu treffen. Es ist nicht Aufgabe des Gerichtshofes, darüber zu befinden, wer Ansprüche auf die Führung des Namens „Mazedonien“, die Sonne von Vergina und das Vermächtnis Alexanders des Großen erheben kann, ob die EJRM sich widerrechtlich einen Teil der nationalen Identität Griechenlands anzueignen versucht oder ob sie langfristige, griechisches Gebiet betreffende Pläne hegt beziehungsweise unmittelbar beabsichtigt, einen Krieg mit Griechenland zu beginnen. Der Gerichtshof hat nur zu entscheiden, ob Griechenland im Lichte all dieser Umstände einschließlich des geopolitischen und des historischen Hintergrundes von einem subjektiven Standpunkt aus einen vernünftigen Grund zu der Annahme haben konnte, die gespannten Beziehungen zur EJRM könnten in einen bewaffneten Konflikt ausarten. Ich betone, daß die Frage vom Standpunkt des betroffenen Mitgliedstaats aus beantwortet werden muß. Jeder Mitgliedstaat hat aufgrund der Besonderheiten seiner geographischen Lage und seiner Geschichte auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik seine eigenen spezifischen Probleme und Besorgnisse. Jeder Mitgliedstaat ist besser als die Gemeinschaftsorgane oder die anderen Mitgliedstaaten in der Lage, die Gefahren abzuwägen, die sich für ihn aus dem Verhalten eines Drittstaates ergeben. Überdies ist Sicherheit eher eine Sache der eigenen Empfindung als der nackten Tatsachen. Was ein Mitgliedstaat als unmittelbare Bedrohung seiner äußeren Sicherheit empfindet, mag einem anderen Mitgliedstaat verhältnismäßig harmlos erscheinen.

55.

Daß Fragen der nationalen Sicherheit in erster Linie der Beurteilung durch die öffentliche Gewalt des betroffenen Staates unterliegen, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Verbindung mit Artikel 15 der Europäischen Menschenrechtskonvention betont, der die vertragschließenden Staaten ermächtigt, von ihren Verpflichtungen aufgrund der Konvention „in Kriegszeiten oder anderen das Leben der Nation bedrohenden Notlagen“ abzuweichen. In der Rechtssache Irland gegen Vereinigtes Königreich ( 22 ) stellte der Straßburger Gerichtshof fest:

„Es ist in erster Linie Sache jedes vertragschließenden Staates, der die Verantwortung für ‚das Leben [seiner] Nation‘ trägt, zu bestimmen, ob dieses Leben durch eine ‚öffentliche Notlage‘ bedroht ist, und bejahendenfalls, wie weit bei den Bemühungen um Überwindung der Notlage gegangen werden muß. Wegen ihrer unmittelbaren und ständigen Berührung mit den dringenden Erfordernissen des Augenblicks sind die nationalen Stellen grundsätzlich besser befähigt als das internationale Gericht, sowohl über das Vorliegen einer solchen Notlage als auch über Art und Umfang der zu deren Abwendung erforderlichen Abweichungen [von den geltenden Verpflichtungen] zu befinden.“

56.

Die von der Kommission angeführten Umstände mögen einen Krieg zwischen Griechenland und der EJRM als unwahrscheinlich erscheinen lassen. Betrachtet man jedoch die Angelegenheit vom subjektiven Standpunkt Griechenlands aus und berücksichtigt man in gebührendem Maße das geo-politische Umfeld sowie die Geschichte der ethnischen Zwistigkeiten, der Grenzkonflikte und der allgemeinen Instabilität, die für den Balkan jahrhundertelang kennzeichnend waren — einschließlich, wie sich versteht, der Reihe bewaffneter Konflikte, von denen das frühere Jugoslawien in jüngster Zeit heimgesucht wurde —, so läßt sich wohl nicht behaupten, Griechenland handele wider jede Vernunft, wenn es sich auf den Standpunkt stellt, die Spannungen zwischen ihm selbst und der EJRM bärgen — sei es auch langfristig und entfernt — eine Kriegsgefahr in sich.

57.

Ich betone erneut, daß es nicht erforderlich ist, sich dazu zu äußern, wie sich Recht und Unrecht im Streit zwischen Griechenland und EJRM verteilen, oder zu der Frage Stellung zu nehmen, wer Anspruch auf den Namen „Mazedonien“ und die mazedonischen Symbole erheben kann. Aus den obengenannten Gründen ist es jedoch notwendig, die Angelegenheit unter dem Gesichtswinkel Griechenlands zu betrachten. Die Auffassung Griechenlands geht, wenn ich recht sehe, dahin, daß die EJRM als ein neu geschaffener, durch große ethnische Verschiedenheiten gekennzeichneter unabhängiger Staat bestrebt ist, ein Gefühl der nationalen Identität ins Leben zu rufen, um seine heterogene Bevölkerung zusammenzuschweißen, indem es unter seinen Bürgern ein mazedonisches Bewußtsein fördert und in ihnen den Glauben weckt, sie seien die Erben des antiken Königreichs von Philip und Alexander. Griechenland betrachtet dies zu Recht oder zu Unrecht als widerrechtliche Aneignung eines Teils seiner eigenen nationalen Identität. Überdies verweist Griechenland auf die Verwendung von Schulbüchern mit Plänen von Mazedonien, die über das gegenwärtige Gebiet der EJRM hinaus den bulgarischen Bezirk Pirin und einen Teil Griechenlands umfassen, der sich südlich bis nach Salonild und zum Olymp erstreckt. Griechenlands langfristige Befürchtungen sind in einer Broschüre dargelegt, die den Titel „Macedonia: more than a difference over a name“ trägt und im April 1994 vom griechischen Generalsekretariat für Presse und Information herausgegeben wurde (Anlage la zur Klagebeantwortung, S. 11 und 12):

„... a new generation is being educated in FYROM believing that territories belonging to neighbouring countries form part of their ‚fatherland‘ and have been unjustly detached from ist. Accordingly, it is not difficult to presume that the new generation — and the generations to come — will nurture feelings of aggressiveness, vindictiveness and revanchism towards ‚usurping‘ neighbours.“ ( 23 )

58.

Es kann sein, daß die Befürchtungen Griechenlands völlig unbegründet sind, wie dies die Kommission in der Tat u. a. daraus ableitet, daß die Verfassung der EJRM in ihrer gegenwärtigen Fassung eine Änderung der Grenzen der EJRM nur in Einklang mit dem Grundsatz des guten Willens und den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts zuläßt. Es kommt jedoch nicht so sehr darauf an, ob Griechenlands Befürchtungen unbegründet sind, sondern vielmehr, daß diese Befürchtungen offensichtlich von der griechischen Regierung und, wie es scheint, von der großen Mehrheit der griechischen Bevölkerung tatsächlich und in entschiedener Weise gehegt werden. Sind eine Regierung und ein Volk fest davon überzeugt, daß sich ein fremder Staat einen Teil ihres kulturellen Erbes widerrechtlich aneignet und langfristige Ansprüche auf einen Teil ihres Staatsgebiets erhebt, so läßt sich schwerlich behaupten, ein Krieg sei so unwahrscheinlich, daß sich jegliche Kriegsgefahr ausschließen ließe. Wären derartige Situationen ausschließlich danach zu beurteilen, was außenstehende Beobachter als vernünftiges Verhalten ansehen, so gäbe es wahrscheinlich niemals einen Krieg. Entscheidend ist jedoch oft die subjektive Beurteilung durch die streitenden Parteien.

59.

Weitere bedeutsame Faktoren sind die lange Geschichte der Grenzstreitigkeiten auf dem Balkan und die Instabilität auf dem Gebiet des früheren Jugoslawiens seit dem Zerfall dieses Staates. Man kann nicht darüber hinwegsehen, daß die ethnischen und religiösen Unterschiede, die die Bevölkerung dieses Gebietes spalten, dort zu einer Reihe von Bürgerkriegen geführt haben. Das geo-politische Umfeld, in dem Griechenland sich bewegen muß, ist nicht problemlos. Was das Vorbringen der Kommission betrifft, das Vorgehen Griechenlands sei geeignet, die Spannungen zu verstärken und hierdurch die innere und äußere Sicherheit Griechenlands nachteilig zu beeinflussen, so handelt es sich hier weitgehend um die politische Beurteilung einer hochpolitischen Frage. Für die Behandlung derartiger Probleme fehlt es einfach an juristischen Prüfungskriterien. Es gibt keine rechtlichen Kriterien für die Beantwortung der Frage, ob ein Mitgliedstaat, der einen Streit mit einem Drittstaat hat, diesen Streit mutmaßlich eher durch eine Politik des Dialogs und der freundschaftlichen Überredung als durch wirtschaftliche Sanktionen erfolgreich beenden kann.

60.

Angesichts der äußerst engen Grenzen, innerhalb derer eine gerichtliche Kontrolle auf diesem Gebiet durchgeführt werden kann, komme ich zu dem Ergebnis, daß es falsch wäre, zu entscheiden, daß Griechenland sich nicht auf Artikel 224 EG-Vertrag habe berufen können, weil keine ernste, eine Kriegsgefahr darstellende internationale Spannung vorgelegen habe.

Zur Frage, ob Griechenland die in Artikel 224 vorgesehenen Befugnisse mißbraucht hat

61.

Zunächst muß festgestellt werden, in welchem Umfang der Gerichtshof aufgrund von Artikel 225 eine gerichtliche Überprüfung vornehmen kann. Die Kommission räumt ein, daß angesichts des weiten Ermessensspielraums, den Artikel 224 den Mitgliedstaaten beläßt, das zulässige Ausmaß dieser Überprüfung möglicherweise begrenzt ist.

62.

Die Kommission vertritt jedoch die Auffassung, daß der Gerichtshof, abgesehen von dieser durch die Natur des Streitgegenstands bedingten Einschränkung, in Fällen, in denen er aufgrund von Artikel 225 angerufen wird, über seine generellen Befugnisse zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Handelns eines Mitgliedstaats verfüge. Er könne nicht nur prüfen, ob eine Handlung einen Befugnismißbrauch (détournement de pouvoir) darstelle, sondern auch, ob sie mit einem offensichtlichen Beurteilungsirrtum behaftet sei oder in Widerspruch zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie den Grundsätzen der Gleichbehandlung oder der Rechtmäßigkeit stehe. Griechenland ist demgegenüber der Auffassung, der Ausdruck „Befugnisse mißbraucht“ in Artikel 225 EG-Vertrag meine das gleiche wie der Ausdruck „Ermessensmißbrauch“ in Artikel 173. Die griechische, die deutsche und die niederländische Fassung des Vertrages gebrauchten tatsächlich in beiden Artikeln denselben Ausdruck. Daher sei die Prüfungsbefugnis des Gerichtshofes nach Artikel 225 äußerst begrenzt; einem Mitgliedstaat, der sich auf Artikel 224 berufe, könne nur dann ein Mißbrauch seiner Befugnisse nach diesem Artikel vorgeworfen werden, wenn er behaupte, sein Vorgehen diene einem von Artikel 224 erfaßten Ziel, während er in Wahrheit ein anderes Ziel verfolge.

63.

Unabhängig davon, ob der Begriff „Befugnisse mißbrauchen“ („usage abusif“) in Artikel 225 mit dem Begriff „Ermessensmißbrauch“ („détournement de pouvoir“) in Artikel 173 übereinstimmt, liegt auf der Hand, daß der Umfang der gerichtlichen Kontrolle aufgrund von Artikel 225 äußerst begrenzt ist — nicht nur wegen des Wortlautes dieses und des vorhergehenden Artikels, sondern auch wegen ihres Inhalts.

64.

Artikel 224 erkennt an, daß die Außenpolitik im wesentlichen Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist, zumindest nach der Urfassung des EWG-Vertrages. Die Mitgliedstaaten sind letztlich für ihre Beziehungen zu Drittländern verantwortlich. Ungeachtet der Zusammenarbeit im Rahmen der durch die Einheitliche Europäische Akte und den Vertrag über die Europäische Union eingeführten Bestimmungen kommt es nach wie vor jedem Mitgliedstaat zu, im Lichte seiner eigenen Interessen zu entscheiden, ob er einen Drittstaat anerkennen und auf welche Grundlage er seine Beziehungen zu diesem Staat stellen soll.

65.

Ist ein Mitgliedstaat zu Recht oder zu Unrecht der Auffassung, daß die Haltung eines Drittstaats seine lebenswichtigen Interessen, die Unversehrtheit seines Hoheitsgebiets oder seine Existenz bedroht, so ist es Sache dieses Mitgliedstaats, darüber zu befinden, wie er auf die von ihm empfundene Bedrohung reagieren soll: z. B. durch diplomatischen Druck, durch das Abbrechen sportlicher und kultureller Beziehungen, durch wirtschaftliche Sanktionen oder sogar durch militärisches Vorgehen. Es steht dem Gerichtshof nicht zu, sich kritisch zur Angemessenheit der Reaktion des Mitgliedstaats zu äußern und festzustellen, die Maßnahmen, für die sich dieser entschieden habe, seien zur Erreichung des angestrebten Ziels ungeeignet, oder der betroffene Mitgliedstaat könne seine Interessen mit besserer Aussicht auf Erfolg vertreten, wenn er zu anderen Mitteln griffe. Es fehlt, um es noch einmal zu sagen, an rechtlichen Kriterien, die in derartigen Angelegenheiten als Maßstab dienen könnten. Es läßt sich schwerlich ein präziser rechtlicher Gesichtspunkt finden, aufgrund dessen festgestellt werden könnte, ob ein Handelsembargo ein geeignetes Mittel in einem Streit zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat ist. Die Entscheidung über eine solche Maßnahme ist wesentlich politischer Natur.

66.

Die Artikel 224 und 225 erkennen an, daß wirtschaftliche Maßnahmen, für die sich ein Mitgliedstaat entscheidet, um auf einen Drittstaat Druck auszuüben, Rückwirkungen auf Sachgebiete haben können, die einer rechtlich bindenden Gemeinschaftspolitik wie der gemeinsamen Handelspolitik und dem Gemeinsamen Markt selbst unterworfen sind. Diese Artikel gehen davon aus, daß die den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Außenpolitik belassene Selbständigkeit in direktem Gegensatz zur Integration der Wirtschafts- und Handelspolitik steht. Sie versuchen, die Grenzen der dem Mitgliedstaat auf dem Gebiet der Außenpolitik belassenen Selbständigkeit festzulegen, wobei berücksichtigt wird, daß diese Selbständigkeit „das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes beeinträchtigen“ (Artikel 224) und „auf dem Gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen verfälschen“ (Artikel 225) kann.

67.

Die einzige Grenze für die Autonomie der Mitgliedstaaten liegt darin, daß diese ihre Befugnisse nicht „mißbrauchen“ dürfen. Es ist klar, daß ein Mitgliedstaat seine Befugnisse mißbrauchen würde, wenn er ein Handelsembargo gegen einen Drittstaat in Wirklichkeit nicht zu dem Zweck verhängte, einen politischen Streit mit dem Drittstaat weiterzuführen, sondern um seine eigene Wirtschaft oder die Interessen einheimischer Wirtschaftsteilnehmer zu schützen. Es Hegen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß Griechenland bei der Verhängung des Handelsembargos gegen die EJRM einen solchen Zweck verfolgt hätte.

68.

Darüber hinaus ist schwer zu sehen, wie einem Mitgliedstaat vorgeworfen werden könnte, er mißbrauche seine Befugnisse aus Artikel 224, wenn er wirtschaftliche Sanktionen gegen einen Drittstaat verhängt, mit dem er im Streit liegt. Die Kommission macht geltend, Griechenland mißbrauche seine Befugnisse, weil das Embargo nicht bezwecke, eine von der EJRM ausgehende Kriegsdrohung zu beseitigen, sondern lediglich, in dem zwischen den Ländern bestehenden Streit Druck auf die EJRM auszuüben. Dieses Vorbringen liegt neben der Sache; mit ihm soll nicht bewiesen werden, daß Griechenland seine Befugnisse aus Artikel 224 mißbrauche, sondern daß es sich überhaupt nicht auf diesen Artikel berufen könne, weil die Bedingung einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung nicht erfüllt sei. Geht man einmal davon aus, daß diese Bedingung erfüllt ist, so kann nicht vorgebracht werden, Griechenland mißbrauche seine Befugnisse einfach deswegen, weil es versuche, Druck auf den Drittstaat auszuüben, mit dem es in Streit liege. Im Gegenteil ist es gerade ein Zweck dieser Art, den Artikel 224 ins Auge faßt, wenn er es den Mitgliedstaaten gestattet, Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes zu beeinträchtigen, um einer ernsten, eine Kriegsgefahr darstellenden internationalen Spannung entgegenzuwirken.

69.

Die Kommission bezieht sich auch auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Verhältnismäßigkeit. Ein Verstoß gegen diese Grundsätze könnte sicherlich eine anderenfalls rechtmäßige Ausübung der in Artikel 224 vorgesehenen Befugnisse mißbräuchlich machen. Würde Griechenland z. B. den Handel mit der EJRM mit einem diskriminierenden Verbot belegen, indem es die Ausfuhr griechischer Erzeugnisse gestattete, diejenige von Erzeugnissen aus anderen Mitgliedstaaten dagegen untersagte, oder indem es willkürlich zwischen verschiedenen Gruppen von Waren oder Wirtschaftsteilnehmern diskriminierte, so könnte dies sehr wohl einen Mißbrauch der genannten Befugnisse darstellen. Niemand hat jedoch vorgetragen, daß dies der Fall sei.

70.

Was den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angeht, so gibt es, wenn überhaupt, wenige Bereiche des Gemeinschaftsrechts, in denen er keine Bedeutung hat. Die Kommission meint, das Embargo verstoße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil es im Vergleich mit der Bedeutung der Bedrohung der griechischen Interessen, die von der EJRM ausgehe und über die sich Griechenland beklage, überzogen sei. Sie macht geltend, das von Griechenland verhängte Embargo sei in jedem Fall überzogen, weil es, insbesondere durch die Unterbrechung der Öllieferungen, sogar die Existenz der EJRM bedrohe. Sie ist der Auffassung, ein auf Kriegsmaterial und strategisch wichtige Güter beschränktes Teilembargo würde genügen. Griechenland macht demgegenüber geltend, sein Vorbringen sei verhältnismäßig, da Lebensmittel und Medikamente nicht unter das Embargo fielen.

71.

Ohne Zweifel würden viele gutunterrichtete Kommentatoren der Kommission darin zustimmen, daß das griechische Verhalten als Überreaktion anzusehen sei und Griechenland seine Interessen mit diplomatischen Methoden besser schützen könnte. Aber diese Auffassung beruht auf einer politischen Analyse, für deren Durchführung der Gerichtshof schlecht gerüstet ist.

72.

Was die Frage angeht, ob eine solche Auffassung auf den Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit (im Gegensatz zu einer politischen Beurteilung der Angemessenheit des griechischen Vorgehens) gestützt werden könnte, so muß zunächst festgestellt werden, welche Interessen bei der durch das Kriterium der Verhältnismäßigkeit gebotenen Abwägung zu berücksichtigen sind. Meines Erachtens ergibt sich klar aus dem Aufbau der Artikel 224 und 225, daß die Interessen, die abgewogen werden müssen, um bestimmen zu können, ob das griechische Vorgehen unverhältnismäßig ist, diejenigen Interessen — d. h. solche der Gemeinschaft — sind, die in diesen Artikeln angeführt sind, nämlich das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes und die Aufrechterhaltung eines unverfälschten Wettbewerbs. Unbestritten ist der Schaden, den diese Interessen infolge der streitigen Maßnahmen erlitten haben, gering. Das Embargo berührt einen winzigen Prozentsatz des Gesamtvolumens des Handels der Gemeinschaft, und es ist unwahrscheinlich, daß es fühlbare Auswirkungen auf die Wettbewerbssituation in der Gemeinschaft hat. Daher läßt sich nicht sagen, daß Griechenland seine Befugnisse aus Artikel 224 im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mißbraucht hätte.

Antrag

73.

Dementsprechend beantrage ich, wobei ich betone, daß es unter den Umständen des vorliegenden Falles dem Gerichtshof nicht zukommt, sich zu der materiellen Seite des Streites zwischen Griechenland und der EJRM zu äußern,

1)

die Klage abzuweisen;

2)

der Kommission die Kosten einschließlich der Kosten des Verfahrens wegen Erlasses einer einstweiligen Anordnung aufzuerlegen.


( *1 ) Originalsprache: Englisch.

( 1 ) ABl. L 324, S. 25.

( 2 ) ABl. L 35, S. 1.

( 3 ) ABl. L 344, S. 1.

( 4 ) ABl. L 262, S. 1.

( 5 ) Kommission/Rat (Slg. 1987, 1493).

( 6 ) Rechtssache C-120/94 R (Kommission/Griechenland, Slg. 1994, I-3037).

( 7 ) Slg. 1975, 1355, 1363.

( 8 ) Donckerwolcke und Schou (Slg. 1976, 1921, Randnr. 32).

( 9 ) Slg. 1993, I-1061, Randnr. 8.

( 10 ) ABl. L 67, S. 77.

( 11 ) ABl. L 67, S. 1.

( 12 ) Siehe oben, Punkt 1.

( 13 ) ABl. L 349, S. 53.

( 14 ) Siehe oben, Punkt 1.

( 15 ) Siehe oben, Punkt 1.

( 16 ) Siehe oben, Punkt 1.

( 17 ) Ratsverordnungen (EWG) Nr. 596/82 vom 15. März 1982 zur Änderung der Einruhrregelung für bestimmte Waren mit Ursprung in der UdSSR (ABl. L 72, S. 15), Nr. 877/82 vom 16. April 1982 zur Aussetzung der Einfuhr aller Erzeugnisse mit Ursprung in Argentinien (ABĪ. L 102, S. 1), Nr. 2340/90 vom 8. August 1990 zur Verhinderung des Irak und Kuweit betreffenden Handelsverkehrs der Gemeinschaft (ABl. L 304, S. 1), Nr. 945/92 vom 14. April 1992 zur Verhinderung der Versorgung Libyens mit bestimmten Waren und Dienstleistungen (ABl. L 101, S. 53) und Nr. 1432/92 vom 1. Juni 1992 zur Untersagung des Handels zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und den Republiken Serbien und Montenegro (ABl. L 151, S. 4). Siehe auch die Ausführungen von Generalanwalt Lenz in der (oben in Fußnote 5 erwähnten) Rechtssache 45/86 (Kommission/Rat), Nr. 62 der Schlußanträge.

( 18 ) Johnston (Slg. 1986, 1651, Randnr.27).

( 19 ) Siehe oben, Fußnote 18.

( 20 ) Lord Wilbcrforcc in der Rechtssache Buttes Gas and Oil Company ν Hammer [1982] AC 888, S. 938. Siehe allgemein die Schlußanträge von Gencralanwalt Darmon in der Rechtssache C-241/87, Maclaine Watson/Rat und Kommission (Slg. 1990, I-1798, Nrn. 66 ff.).

( 21 ) Siehe Franck, Political Questions/Judicial Answers: Does the Rule of Law Apply to Foreign Affairs?, Kapitel 7, und Gencralanwalt Darmon in seinen Schlußanträgen in der Rechtssache Maclaine Watson, Nrn. 71 bis 73.

( 22 ) Urteil vom 18. Januar 1978, ECHR, Serie A, Band 25 (1978), S. 78 und 79.

( 23 ) In der EJRM wird eine neue Generation herangebildet, die glaubt, Nachbarländern gehörende Gebiete bildeten Bestandteile ihres „Vaterlands“ und seien von diesem zu Unrecht getrennt worden. Es ¡st infolgedessen leicht vorstellbar, daß die neue Generation —und künftige Generationen — aggressive, rachsüchtige und revanchistische Gefühle gegen benachbarte „Usupartoren“ hegen wird.

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