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Document 61991CC0210

Schlussanträge des Generalanwalts Gulmann vom 15. September 1992.
Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Republik Griechenland.
Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Vorübergehende Verwendung der persönlichen Habe der Reisenden.
Rechtssache C-210/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 I-06735

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1992:345

61991C0210

Schlussanträge des Generalanwalts Gulmann vom 15/09/1992. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN REPUBLIK GRIECHENLAND. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - REGELUNG UEBER DIE VORUEBERGEHENDE EINFUHR DER PERSOENLICHEN HABE DER REISENDEN. - RECHTSSACHE C-210/91.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-06735


Schlußanträge des Generalanwalts


++++

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Die Kommission hat gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag die vorliegende Klage gegen die Griechische Republik erhoben.

2. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften, die für das Verständnis des rechtlichen Zusammenhangs dieses Vertragsverletzungsverfahrens notwendig sind, sind enthalten in der Verordnung (EWG) Nr. 3599/82 des Rates vom 21. Dezember 1982 über die vorübergehende Verwendung(1) und in der Siebzehnten Mehrwertsteuerrichtlinie des Rates vom 16. Juli 1985(2). Die einschlägigen Vorschriften sind im Sitzungsbericht wiedergegeben. Aus ihnen ergibt sich,

° daß persönliche Habe unter Befreiung von Zöllen und sonstigen Abgaben vorübergehend eingeführt werden kann, wenn ihre Wiederausfuhr beabsichtigt ist, und

° daß die nationalen Behörden zwar keine schriftliche Anmeldung der betreffenden Gegenstände verlangen können, aber dem Reisenden Fragen stellen können, um zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Befreiung erfuellt sind.

3. In der Klageschrift hat die Kommission den Sachverhalt, der zur Einleitung des Verfahrens geführt hat, folgendermassen beschrieben:

"Die Aufmerksamkeit der Kommission wurde im Anschluß an eine an das Europäische Parlament gerichtete Petition auf folgenden Sachverhalt gelenkt:

Am 22. März 1988 überquerte ein deutscher Staatsangehöriger mit seinem Kraftfahrzeug an der Zollstelle Evzoni die Grenze zwischen Jugoslawien und Griechenland. Bei seiner Einreise nach Griechenland fragte ihn ein Zollbeamter in englischer und in deutscher Sprache, ob er etwas anzumelden habe, insbesondere elektronische Geräte, Videogeräte oder Bildaufnahmegeräte. Der Reisende verneinte die Frage. Der Beamte kontrollierte jedoch das Fahrzeug und die darin befindlichen Gegenstände. Er entdeckte dabei eine Videokamera, deren zollrechtlicher Status (Drittstaats- oder Gemeinschaftserzeugnis) nicht geklärt werden konnte. Der deutsche Tourist behauptet, die Kamera habe sichtbar im Rückteil des Wagens gelegen, während sie nach Auffassung des Zollbeamten "sorgfältig versteckt" war.

Nach Auffassung des griechischen Zolls stellte das Verhalten des Touristen eine Zollzuwiderhandlung dar (falsche Anmeldung). Unter Zugrundelegung des Wertes der Kamera veranschlagte sie die zu entrichtenden Zölle und Abgaben mit 197 070 DR. Sie setzte demgemäß gegen den Touristen eine Geldbusse in Höhe des Doppelten dieses Betrages fest. Die Verdoppelung der zu entrichtenden Zölle und Abgaben stellt nach griechischem Recht die Mindeststrafe bei falscher Anmeldung dar. Der deutsche Tourist musste insgesamt 404 800 DR ° die Geldbusse zuzueglich einer Stempelgebühr ° entrichten. Er hat sich an das Europäische Parlament gewendet, weil er die gegen ihn verhängte Sanktion nicht als gerechtfertigt ansah."

4. Die Kommission beantragt unter diesen Umständen,

° festzustellen, daß die Griechische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß sie gegen einen Touristen, der bezueglich der persönlichen Habe, die er in seinem Kraftfahrzeug mit sich führte, unter die gemeinschaftsrechtliche Regelung über die vorübergehende Verwendung fallen konnte, eine Geldbusse verhängt hat, die auf der Grundlage der auf einen Gegenstand, den er nicht angemeldet hatte, anwendbaren Zölle und Abgaben berechnet wurde, obwohl dem Staat durch die falsche Anmeldung, deren sich der Tourist schuldig gemacht hatte, keine Einnahmen aus der Erhebung von Zöllen und Abgaben entgehen konnten, da die fragliche Videokamera zur persönlichen Habe des Touristen gehörte.

5. Die Kommission macht geltend, dem vorliegenden Fall liege eine Verwaltungspraxis zugrunde. Diese Rüge ist jedoch zurückzuweisen, da sie erst in der Klageschrift angeführt worden ist und nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes eine Rüge, die im Vorverfahren nicht angeführt wurde, nicht berücksichtigt werden darf(3). Hinzu kommt, daß sich die Anträge der Kommission offensichtlich auf die Frage beziehen, ob eine konkrete Maßnahme nach dem Gemeinschaftsrecht rechtmässig ist, und daß die Kommission im übrigen nicht versucht hat, die Rüge durch Beweise zu stützen.

6. Der Gerichtshof braucht folglich nur darüber zu entscheiden, ob das Verhalten der griechischen Behörden im vorliegenden Fall einen Verstoß gegen ihre Verpflichtungen aus dem Gemeinschaftsrecht darstellt.

Die Kommission geht davon aus, daß die Videokamera zur persönlichen Habe des Touristen gehörte und folglich ohne die Entrichtung von Zöllen und Abgaben eingeführt werden konnte, so daß mit der fehlerhaften Anmeldung nicht das Ziel verfolgt worden sei, sich der Zahlung dieser Zölle zu entziehen. Folglich handele es sich nur um eine "rein formale Zuwiderhandlung" gegen die geltende griechische Regelung. Unter diesen Umständen verstosse die verhängte Geldbusse gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz, der nach dem Gemeinschaftsrecht anzuwenden sei, wenn die nationalen Behörden die Kontroll- und Sanktionsbefugnisse ausübten, die ihnen im Rahmen der Durchführung der anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Regelung übertragen seien.

Auf den ersten Blick erscheint es zutreffend, daß die griechischen Zollbehörden gegen den Verhältnismässigkeitsgrundsatz verstossen hätten, wenn sie sich in der von der Kommission in der Klageschrift beschriebenen Weise verhalten hätten(4).

Fraglich ist jedoch, ob die Kommission bewiesen hat, daß es sich bei der Zuwiderhandlung nur um einen "rein formalen Verstoß" gegen die dem Touristen obliegende Anmeldungspflicht handelte.

7. Die griechische Regierung macht geltend, die Folgerungen der Kommission beruhten auf einer falschen Würdigung des vorliegenden Sachverhalts, da die griechischen Behörden bei Verhängung der Geldbusse davon ausgegangen seien, daß der fragliche Tourist sich der Zahlung von Zöllen und Abgaben entziehen wolle.

8. Meines Erachtens ist der Kommission darin zuzustimmen, daß sich die nationalen Behörden bei Prüfung der Frage, ob die Reisenden die Voraussetzungen für die zollfreie vorübergehende Einfuhr von persönlicher Habe erfuellen, loyal verhalten müssen, um nicht das Ziel der Regelung zu verfehlen.

Es ist jedoch mit der griechischen Regierung festzustellen, daß die Kommission nicht bewiesen hat, daß die griechischen Zollbehörden im vorliegenden Fall die Absichten des fraglichen Touristen falsch beurteilt haben.

Die Kommission macht, gestützt auf einige allgemeine Erwägungen, geltend, es sei unwahrscheinlich, daß sich der fragliche Tourist der Zahlung der Zölle und Abgaben habe entziehen wollen.

Dies reicht nicht als Grundlage für die Feststellung, daß die Beurteilung durch die griechischen Zollbehörden fehlerhaft gewesen sei, aus(5). Eine derartige Schlußfolgerung setzt klarere Beweise voraus, als sie die Kommission vorgebracht hat. Bestimmte Informationen, die für die Beurteilung der subjektiven Situation des Betroffenen hätten hilfreich sein können, sind streitig, andere erhebliche Informationen fehlen völlig.

Im übrigen stellt sich die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, eine Klage gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag zuzulassen, wenn die Entscheidung darüber, ob ein Vertragsverstoß vorliegt, eine vorherige Würdigung der subjektiven Situation einer Person anhand von Beweisen voraussetzt. Meines Erachtens liefert jedoch der vorliegende Fall nicht den geeigneten Rahmen für die Entscheidung dieser Grundsatzfrage. Es genügt die Feststellung, daß die Kommission nicht der ihr in Verletzungsverfahren jedenfalls obliegenden Beweislast genügt hat.

9. Abschließend kann folglich festgestellt werden, daß beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens nicht bewiesen ist, daß es sich lediglich um eine "rein formale Zuwiderhandlung" gegen die fragliche griechische Regelung handelte, und daß demzufolge eine maßgebliche Voraussetzung dafür, daß dem Vorbringen der Kommission gefolgt werden kann, nicht erfuellt ist.

Anträge

10. Ich schlage dem Gerichtshof folglich vor, die Klage als unbegründet abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

(*) Originalsprache: Dänisch.

(1) ° ABl. L 376, S. 1.

(2) ° Richtlinie 85/362/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Mehrwertsteuerbefreiung der vorübergehenden Einfuhr anderer Gegenstände als Beförderungsmittel (ABl. L 192, S. 20).

(3) ° Vgl. z. B. Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-52/90 (Kommission/Dänemark, Slg. 1992, I-2187, Randnr. 23).

(4) ° Die verhängte Geldbusse, die etwa 2 000 ECU betrug und den Wert der Videokamera überstieg, hätte in diesem Fall ausser Verhältnis zur Schwere der Tat gestanden. Diese Auffassung hätte eine solide Grundlage in der Rechtsprechung des Gerichtshofes, z. B. im Urteil vom 11. November 1981 in der Rechtssache 203/80 (Casati, Slg. 1981, 2595), in dem der Gerichtshof in Randnr. 27 festgestellt hat: Die administrativen oder strafrechtlichen Maßnahmen dürfen nicht über den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen, die Kontrollmodalitäten dürfen nicht so beschaffen sein, daß sie die vom Vertrag gewollte Freiheit einschränken, und es darf daran keine Sanktion geknüpft sein, die so ausser Verhältnis zur Schwere der Tat steht, daß sie sich als eine Behinderung der Freiheit erweist. Siehe auch das Urteil vom 31. Januar 1984 in den Rechtssachen 286/82 und 26/83 (Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377).

(5) ° Die konkrete Beurteilung mag falsch gewesen sein, und der Betroffene muß selbstverständlich die Möglichkeit haben, die Frage durch die Gerichte überprüfen zu lassen, indem er die zuständigen Rechtspflegeorgane des fraglichen Mitgliedstaats damit befasst, die unter Zugrundelegung aller ihnen zur Verfügung stehenden Informationen, insbesondere gegebenenfalls unter Anhörung der Beteiligten, darüber zu entscheiden haben, ob die Entscheidung frei von Rechtsfehlern war. Ausweislich der Akten hat der Betroffene von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht.

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