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Document 61970CC0079

Schlussanträge des Generalanwalts Dutheillet de Lamothe vom 24. Juni 1971.
Helmut Müllers gegen Wirtschafts- und Sozialausschuss der EWG und der EAG.
Rechtssache 79-70.

Sammlung der Rechtsprechung 1971 -00689

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1971:73

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

ALAIN DUTHEILLET DE LAMOTHE

VOM 24. JUNI 1971 ( 1 )

Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Der vorliegende Rechtsstreit betrifft die Berechnung der Zulage, auf die Herr Müllers, ein Beamter des Wirtschafts- und Sozialausschusses, nach seiner Auffassung für das Jahr 1969 Anspruch hat, und zwar als Erstattung der Fahrkosten für seinen 6jährigen Sohn, der die Europäische Schule in Brüssel besucht.

Die Unzulässigkeit der Klage scheint mir offensichtlich zu sein.

Der Kläger hatte seinen Anspruch schon in einem Antrag auf Erziehungszulage vom 8. Dezember 1969 geltend gemacht, dieser Anspruch ist aber durch Verfügung vom 15. Dezember 1969 zurückgewiesen worden.

Am 19. Februar 1970 hat sich der Kläger in einem Schreiben, auf dessen Natur ich gleich noch zurückkommen werde, gegen diese Ablehnung gewandt.

Gemäß Artikel 91 Absatz 2 des Statuts hätte er seinen Protest am 20. oder 21. April 1970 als zurückgewiesen ansehen und gegen diese stillschweigende ablehnende Entscheidung spätestens am 21. oder 22. Juni 1970 vorgehen müssen.

Seine Klage ist aber erst am 11. Dezember 1970, also fast sechs Monate nach Ablauf der so berechneten Frist zur Geltendmachung seines Anspruchs, bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen. Allerdings bringt der Kläger gegen diese aus der Fristversäumnis hergeleitete Unzulässigkeit Argumente vor, von denen zumindest eines sehr ernst zu nehmen ist.

I

Um zu vermeiden, daß ihm eine prozeßhindernde Einrede entgegengesetzt werden kann, bringt der Kläger fünf Argumente vor.

1.

An erster Stelle weist er darauf hin, daß die. ausdrückliche seinen Protest vom 19. Februar zurückweisende Entscheidung erst am 10. September 1970 ergangen sei.

Es ist aber ständige Rechtsprechung, daß der Erlaß einer ausdrücklichen Entscheidung, die nur eine stillschweigende Entscheidung bestätigt, nicht erneut die Rechtsmittelfrist gegen die stillschweigend ergangene Entscheidung in Lauf setzt und daß dem Kläger kein schutzwürdiges Interesse daran zuerkannt wird, gegen die ausschließlich zur Bestätigung der stillschweigenden Entscheidung ergangene ausdrückliche Entscheidung vorzugehen.

2.

Der Kläger meint ferner, das Schriftstück vom 15. Dezember 1969 sei bezüglich der Höhe der Fahrkosten, die er für sein Kind geltend machen kann, keine Entscheidung über seinen Anspruch.

Das Studium der Akten führt aber, so meine ich, zur Zurückweisung dieser Ansicht.

In einem Anhang zu seinem ordnungsgemäßen Antrag auf Erziehungszulage hatte der Kläger ausdrücklich beantragt, daß der Teil „Fahrkosten“ dieser Zulage in einer bestimmten Weise berechnet werden sollte.

Durch Verfügung vom 15. Dezember 1969, die von der zuständigen Behörde, also vom Anweisungsbefugten, erlassen wurde, wurde dieser Antrag zurückgewiesen, wobei der Anweisungsbefugte kurz, aber klar darauf hinwies, daß er die Fahrkosten nicht auf der vom Kläger gewünschten, sondern auf einer anderen Grundlage berechnet.

3.

Der Kläger macht drittens geltend, sein Schreiben vom 19. Februar 1970 sei keine Beschwerde im Sinne von Artikel 91 Absatz 2 des Statuts.

Unglücklicherweise kehrt sich dieses Vorbringen aber meines Erachtens gerade gegen die These, die sie stützen soll. Wenn das Schreiben des Klägers vom 19. Februar 1970 tatsächlich nicht den Charakter einer Beschwerde im Sinne von Artikel 91 Absatz 2 des Statuts hat, kann es auch nicht nach Maßgabe dieses Texts die Frist für die Klage gegen die Entscheidung vom 15. Dezember 1969 gewahrt haben.

Daraus ergibt sich nur noch klarer, daß die Klage verspätet eingereicht ist, denn die Verfügung vom 15. Dezember 1969 wäre dann schon seit dem 15. oder 16. März 1970 bestandskräftig und unanfechtbar geworden.

In Wahrheit glaube ich aber, daß das Schreiben des Klägers vom 19. Februar 1970 doch eine Beschwerde im Sinne von Artikel 91 Absatz 2 darstellt.

Der Kläger bestreitet dies mit dem Bemerken, daß, nach der Fassung der Adresse zu urteilen, dieses Schreiben nicht an die Anstellungsbehörde, sondern an den Leiter des Verwaltungsdienstes seines Organs gerichtet gewesen sei. Aber, meine Herren, es ist nicht das erstemal, daß Sie über den Versuch von Beamten zu befinden haben, die recht wenig glückliche Fassung von Artikel 91 Absatz 2 des Statuts auszunutzen, um die Vorschriften über die Klagefristen zu Fall zu bringen (vgl. zum Beispiel das Urteil Kschwendt vom 17. März 1971). Sie haben stets entschieden, daß der auf dem Dienstweg zu erhebende Protest eines Beamten bei dem Organ, dem er untersteht, gegen eine seine Rechte berührende Entscheidung unabhängig von der Fassung der Adresse die einzige Beschwerde ist, welche die in Artikel 91 Absatz 2 des Statuts vorgesehene Klagefrist offenhalten kann.

4.

Der Kläger behauptet, und dies ist sein gewichtigstes Argument, daß er durch ein Schreiben einer von seinem Organ abhängigen Stelle vom 31. März 1970 in einen Irrtum versetzt worden ist. Mit diesem Schreiben war ihm mitgeteilt worden, daß eine im Sinne seiner Auffassung günstige Änderung der Vorschriften ins Auge gefaßt war. Das Schreiben schloß mit folgendem Satz: „Ich bitte Sie deshalb in Erwartung einer endgültigen Regelung dieser Frage noch um ein wenig Geduld. Nach der Stellungnahme der Verwaltungsleiter werden Sie eine offizielle Benachrichtigung erhalten.“

bicher war dieses Schreiben, wie der Kläger vorbringt, durchaus dazu angetan, in ihm einen Irrtum hinsichtlich des Ausgangspunktes der Klagefrist zu erzeugen. Erlaubt Ihnen aber dieser Umstand, den Kläger in den vorigen Stand wiedereinzusetzen?

Ich glaube es nicht.

Ich war überrascht, neulich vom Vertreter des Herrn Müllers zu hören, daß die französische Rechtsprechung es erlaube, den Kläger in einem solchen Fall in den vorigen Stand wiedereinzusetzen.

Tatsächlich geht die gesamte französische Rechtsprechung in die entgegengesetzte Richtung.

Namentlich der französische Conseil d'État ist der Meinung, daß er wegen des zwingenden Charakters der Klagefrist nicht das Recht hat, den Kläger in den vorigen Stand wiedereinzusetzen und daß der Verwaltungsrichter im Gegenteil sogar verpflichtet ist, diese Präklusion von Amts wegen zu beachten.

Das neulich in der mündlichen Verhandlung angeführte Urteil — französischer Conseil d'État, 7. Mai 1954, Societe Chocolaterie fine du Rhône, Rechtsprechungssammlung des französischen Conseil d'État, S. 260 — ist eines der zahlreichen Urteile, die diese Rechtsprechung anwenden.

Und der Abschnitt aus dem Lehrbuch von Aubry und Drago, auf das der Kläger anspielt, richtet sich gegen die Auffassung des Klägers.

Diese Autoren legen dar, daß der französische Conseil d'État seine Rechtsprechung selbst in den Fällen beibehalten hat, in denen sie unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit Gegenstand schärfster Kritik war, und daß diese Sachlage den Gesetzgeber veranlaßt hat, in einigen ganz besonders gelagerten Fällen einzuschreiten.

Einem dieser Sonderfälle neueren Datums kommt ganz besondere Bedeutung zu. Die Entscheidungen des Ministers der Kriegsteilnehmer bezüglich des Pensionsanspruchs von Franzosen, die während des Krieges nach Deutschland deportiert worden waren, enthielten eine falsche, gedruckte Angabe über die Klagefrist, innerhalb deren die Betroffenen vor dem Verwaltungsrichter gegen die ihre Ansprüche feststellenden Entscheidungen vorgehen konnten.

Trotz des ungeheuerlichen Fehlers der Verwaltung und trotz der äußerst ernsten Folgen, die daraus für Tausende von Kriegsopfern entstehen konnten, hat der französische Conseil d'État im Streitverfahren den Klagen der Betroffenen die sich aus dem Gesetz ergebende Präklusion entgegengehalten.

Da ihm |edoch, wie allen, die Unbilligkeit dieser Lösung bewußt war, hat er, nun aber in seiner Eigenschaft als Verwaltungsgremium, der Regierung empfohlen, beim Parlament ein Sondergesetz einzubringen, das dem Richter in diesem besonderen Fall ermöglichen sollte, die Kläger gegen die ungewollte Fristversäumnis in den vorigen Stand wiedereinzusetzen, und das geschah auch.

Dürren nun derartige Losungen auf Streitigkeiten des europäischen öffentlichen Dienstes angewandt werden?

Ich hätte sicher Bedenken gehabt, Ihnen eine solche Lösung vorzuschlagen, aber der Gerichtshof hat diese Frage, den Schlußanträgen des Generalanwalts Gand folgend, schon mit seinem Urteil Pfloeschner, Slg. 1965, 1213, vom 14. Dezember 1965 entschieden.

Aus mehreren Gründen sollten Sie, glaube ich, an dieser Rechtsprechung festhalten:

a)

Die Klagefristen sind zwingendes Recht, das haben Sie schon bei anderer Gelegenheit festgestellt.

b)

Im Gegensatz zu bestimmten nationalen Rechtsordnungen sieht kein Text für den Gerichtshof eine allgemeine Möglichkeit vor, die Kläger bei versäumten Klagefristen in den vorigen Stand wiedereinzusetzen.

Diese Möglichkeit wird dem Gerichtshof durch Artikel 42 seiner Satzung nur in zwei bestimmten, klar umschriebenen Fällen eröffnet: bei Zufall oder höherer Gewalt.

Ich glaube nicht, daß man diese allgemeinen Rechtsbegriffe, um sie auf das Verfahren anwenden zu können, in einer Weise ausdehnend auslegen darf, die mit ihrem Anwendungsbereich auf anderen Gebieten unvereinbar wäre.

Meines Erachtens kann daher das Schreiben vom 31. März 1970, so bedauerlich es auch ist, Ihnen die Wiedereinsetzung des Klägers in den vorigen Stand nicht ermöglichen.

5.

Das letzte vom Kläger im Zusammenhang mit der Zulässigkeit der Klage vorgebrachte Argument wird uns nicht lange in Anspruch nehmen.

Herr Müllers macht geltend, daß seine Klage zulässig wäre, wenn er sie als Antrag auf Schadensersatz in Höhe der ihm angeblich zustehenden zusätzlichen Zulage gefaßt hätte.

Das trifft jedoch nicht zu, denn Sie haben schon entschieden, daß ein Beamter nicht mit einer vermögensrechtlichen Klage die Rechtmäßigkeit einer Entscheidung über seinen Anspruch auf ein Gehalt oder eine Zulage bestreiten kann, wenn er nicht fristgerecht Anfechtungsklage gegen die Entscheidung erhoben hat, mit der sein Anspruch auf dieses Gehalt oder diese Zulage festgestellt worden war. (So das Urteil Schreckenberg gg. Kommission vom 15. Dezember 1966, Slg. 1966, 826.)

II

Da zur Hauptsache verhandelt worden ist, sollte ich, so will es der Brauch, eigentlich hilfsweise Schlußanträge bezüglich der Sachentscheidung stellen.

Mit Ihrer Erlaubnis will ich aber heute aus folgendem Grund von diesem Brauch abgehen: Neulich in der mündlichen Verhandlung wurde Ihnen gesagt, daß Herr Müllers im Falle der Unzulässigkeit der vorliegenden, seinen Zulageanspruch für 1969 betreffenden Klage die entsprechenden, seine Ansprüche für 1970 und 1971 feststellenden Entscheidungen anfechten werde, diesmal allerdings, hoffentlich, fristgemäß.

Unter diesen Umständen mochte ich nicht Gefahr laufen, durch den Vortrag von Schlußanträgen zur Hauptsache Wasser auf die Mühle der einen oder anderen Partei eines künftigen Rechtsstreits zu gießen.

Aus diesem Grund will ich Sie nur bitten, in dem Fall, daß Sie entgegen meinem Antrag die Klage für zulässig erklären, dies durch Zwischenurteil auszusprechen, sofern Sie wollen, daß ich Schlußanträge zur Sache stelle.

Unbeschadet dieser Bemerkungen beantrage ich:

1.

Die Klage des Herrn Müllers als unzulässig abzuweisen,

2.

jeder Partei die eigenen Kosten aufzuerlegen.


( 1 ) Aus dem Französisdien übersetzt.

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