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Dokuments 62024CC0480

Schlussanträge des Generalanwalts R. Norkus vom 4. September 2025.


Eiropas judikatūras identifikators (ECLI): ECLI:EU:C:2025:672

Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

RIMVYDAS NORKUS

vom 4. September 2025(1)

Rechtssache C480/24

Ģenerālprokuratūra,

Beteiligte:

„ČIEKURI-SHISHKI“ SIA,

„COUNTRY HELI“ SIA

(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht, Lettland])

„ Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik – Restriktive Maßnahmen angesichts der Lage in der Ukraine – Verordnung (EU) Nr. 269/2014 – Art. 2 – Begriff einer juristischen Person, die mit einer in Anhang I der Verordnung Nr. 269/2014 aufgeführten natürlichen Person ‚in Verbindung steht‘ – Begriff der Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die von einer solchen natürlichen Person ‚gehalten oder kontrolliert‘ werden – Art. 11 – Verpflichtung, Forderungen nicht stattzugeben, sofern sie von den in Art. 11 Abs. 1 aufgeführten Personen geltend gemacht werden – Anwendungsbereich – Rechtswirkungen – Im Hinblick auf die Art. 2 und 11 von Amts wegen vorzunehmende Überprüfung der Identität der Parteien durch ein nationales Gericht – DSGVO – Art. 5 und 6 – In einem Urteil erfolgende Offenlegung und Veröffentlichung personenbezogener Daten einer in Anhang I der Verordnung Nr. 269/2014 aufgeführten natürlichen Person “






I.      Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht, Lettland) nach Art. 267 AEUV betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen(2), in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2023/1765 des Rates vom 13. September 2023(3) geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 269/2014).

2.        Das Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen einer Person lettischen Rechts, der „ČIEKURI-SHISHKI“ SIA, und einer anderen Person lettischen Rechts, der „COUNTRY HELI“ SIA, wegen der Einziehung einer Forderung, die die erstere dieser Gesellschaften gegenüber der letzteren geltend macht. Ein lettisches Gericht verurteilte Letztere rechtskräftig zur Rückzahlung des streitigen Darlehens. Das Kapital von „COUNTRY HELI“ wird zu jeweils 50 % von „ČIEKURI-SHISHKI“ sowie von einer juristischen Person zyprischen Rechts, der Gesellschaft „ABACUS (CYPRUS) LIMITED“, gehalten, die im wirtschaftlichen Eigentum einer natürlichen Person steht, der gegenüber restriktive Maßnahmen der Union wegen der russischen Invasion in der Ukraine ergriffen worden waren. Das vorlegende Gericht hat im Rahmen eines Kassationsverfahrens darüber zu entscheiden, ob in einer solchen Konstellation das Urteil des lettischen Gerichts vollstreckt werden darf oder aufzuheben ist.

3.        Dieser Fall wirft mehrere Fragen zur Auslegung der Verordnung Nr. 269/2014 auf, die der Gerichtshof klären muss, um die Wirksamkeit restriktiver Maßnahmen zu gewährleisten. Sie beziehen sich u. a. auf die Befugnis der nationalen Gerichte, aufgrund des Unionsrechts festzustellen, ob die in dieser Verordnung vorgesehenen Maßnahmen für eine juristische Person gelten, sowie auf die Kriterien, anhand deren die Gerichte ihre Beurteilung vorzunehmen haben. Ihre Prüfung erfordert eine Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen der Unionsrechtsordnung und dem nationalen Recht, was insbesondere die Rolle der nationalen Gerichte und den Einfluss restriktiver Maßnahmen auf das Privatrecht angeht. Die Bedeutung dieser Auslegungsfragen geht weit über den Rahmen des Ausgangsrechtsstreits hinaus.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

1.      Verordnung Nr. 269/2014

4.        Art. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)      ‚Anspruch‘ jede vor oder nach dem 17. März 2014 erhobene Forderung, die mit der Durchführung eines Vertrags oder einer Transaktion im Zusammenhang steht, unabhängig davon, ob sie gerichtlich geltend gemacht wird oder wurde, und umfasst insbesondere

i)      Forderungen auf Erfüllung einer Verpflichtung aus oder in Verbindung mit einem Vertrag oder einer Transaktion,

ii)      Forderungen auf Verlängerung oder Zahlung einer Obligation, einer finanziellen Garantie oder Gegengarantie in jeglicher Form,

iii)      Forderungen nach Schadensersatz in Verbindung mit einem Vertrag oder einer Transaktion,

iv)      Gegenforderungen,

v)      Forderungen auf Anerkennung oder Vollstreckung – auch im Wege der Zwangsvollstreckung – von Gerichtsurteilen, Schiedssprüchen oder gleichwertigen Entscheidungen, ungeachtet des Ortes, an dem sie ergangen sind;

c)      ‚zuständige Behörden‘ die auf den in Anhang II aufgeführten Websites angegebenen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten;

…“

5.        Art. 2 dieser Verordnung lautet:

„(1)      Sämtliche Gelder und wirtschaftlichen Ressourcen, die Eigentum oder Besitz der in Anhang I aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen oder der dort aufgeführten mit diesen in Verbindung stehenden natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen sind oder von diesen gehalten oder kontrolliert werden, werden eingefroren.

(2)      Den in Anhang I aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen oder den dort aufgeführten mit diesen in Verbindung stehenden natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen dürfen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden oder zugutekommen.“

6.        Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Verordnung umfasst deren Anhang I verschiedene Kategorien von natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen „und mit diesen verbundene natürliche oder juristische Personen, Einrichtungen oder Organisationen“.

7.        Art. 9 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Es ist verboten, wissentlich und vorsätzlich an Tätigkeiten teilzunehmen, mit denen die Umgehung der Maßnahmen nach Artikel 2 bezweckt oder bewirkt wird.“

8.        Art. 11 der Verordnung Nr. 269/2014 lautet:

„(1)      Forderungen im Zusammenhang mit Verträgen und Transaktionen, deren Erfüllung bzw. Durchführung von den mit dieser Verordnung verhängten Maßnahmen unmittelbar oder mittelbar, ganz oder teilweise berührt wird, einschließlich Schadensersatzansprüchen und ähnlichen Ansprüchen, wie etwa Entschädigungsansprüche oder Garantieansprüche, vor allem Ansprüche auf Verlängerung oder Zahlung einer Obligation, einer Garantie oder eines Schadensersatzanspruchs, insbesondere einer finanziellen Garantie oder eines finanziellen Schadensersatzanspruchs in jeglicher Form, wird nicht stattgegeben, sofern sie von einer der folgenden Personen, Einrichtungen oder Organisationen geltend gemacht werden:

a)      den benannten, in Anhang I aufgeführten natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen,

b)      sonstigen Personen, Einrichtungen oder Organisationen, die über eine der in Buchstabe a genannten Personen, Einrichtungen oder Organisationen oder in deren Namen handeln.

(2)      In Verfahren zur Durchsetzung eines Anspruchs trägt die natürliche oder juristische Person, Einrichtung oder Organisation, die den Anspruch geltend macht, die Beweislast dafür, dass die Erfüllung des Anspruchs nicht nach Absatz 1 verboten ist.

(3)      Dieser Artikel berührt nicht das Recht der in Absatz 1 genannten natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Nichterfüllung vertraglicher Pflichten nach dieser Verordnung.“

9.        Art. 14 dieser Verordnung lautet:

„(1)      Beschließt der Rat, dass eine natürliche oder juristische Person, Einrichtung oder Organisation den in Artikel 2 genannten Maßnahmen unterliegt, so ändert er Anhang I entsprechend.

(2)      Der Rat setzt die in Absatz 1 genannten natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen über seinen Beschluss, einschließlich der Gründe für die Aufnahme in die Liste entweder unmittelbar, wenn deren Anschrift bekannt ist, oder durch Veröffentlichung einer Bekanntmachung in Kenntnis, um diesen natürlichen oder juristischen Personen, Einrichtungen oder Organisationen Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

(3)      Wird eine Stellungnahme abgegeben oder werden stichhaltige neue Beweise vorgelegt, so überprüft der Rat seinen Beschluss und unterrichtet die natürliche oder juristische Person, Einrichtung oder Organisation entsprechend.

(4)      Die Liste in Anhang I wird regelmäßig, mindestens jedoch alle 12 Monate, überprüft.“

10.      Art. 17 der Verordnung sieht vor:

„Diese Verordnung gilt

d)      für nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete oder eingetragene juristische Personen, Einrichtungen oder Organisationen innerhalb und außerhalb des Gebiets der Union,

…“

2.      Durchführungsverordnung (EU) 2022/336

11.      In den Erwägungsgründen 10 bis 13 der Durchführungsverordnung (EU) 2022/336 des Rates vom 28. Februar 2022 zur Durchführung der Verordnung Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen(4) heißt es:

„(10)      Am 24. Februar 2022 hat der Hohe Vertreter eine Erklärung im Namen der Union abgegeben, in der er die unbegründete Invasion der Ukraine durch Streitkräfte der Russischen Föderation und die Beteiligung von Belarus an dieser Aggression gegen die Ukraine aufs Schärfste verurteilte. Die Reaktion der Union werde sowohl sektorspezifische als auch individuelle restriktive Maßnahmen umfassen.

(11)      Am 24. Februar 2022 verurteilte der Europäische Rat die grundlose und ungerechtfertigte militärische Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine aufs Schärfste. Mit seinen rechtswidrigen militärischen Handlungen verstößt Russland massiv gegen das Völkerrecht und die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen und gefährdet die Sicherheit und Stabilität Europas und der Welt. Der Europäische Rat vereinbarte weitere restriktive Maßnahmen, die eng mit unseren Partnern und Verbündeten abgestimmt sind und für Russland massive und schwerwiegende Konsequenzen für seine Handlungen nach sich ziehen werden.

(12)      Angesichts der sehr ernsten Lage ist der Rat der Ansicht, dass 26 Personen und eine Organisation in die in Anhang I der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 enthaltene Liste der Personen, Organisationen und Einrichtungen, gegen die restriktive Maßnahmen verhängt wurden, aufgenommen werden sollten.

(13)      Anhang I der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 sollte daher entsprechend geändert werden[.]“

B.      Lettisches Recht

12.      Nach den Art. 483 und 484 des Civilprocesa likums (Zivilprozessordnung) kann der Generalstaatsanwalt unter gewissen Voraussetzungen beim Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht) Kassationswiderspruch gegen bestimmte gerichtliche Entscheidungen, die Rechtskraft erlangt haben, einlegen.

III. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13.      Am 19. Mai 2015 wurde ein Darlehensvertrag über 3 407 347,10 Euro zwischen „ČIEKURI-SHISHKI“ als Darlehensgeberin und „COUNTRY HELI“ als Darlehensnehmerin geschlossen.

14.      Am 19. Januar 2023 klagte „ČIEKURI-SHISHKI“ (im Folgenden: Klägerin) gegen „COUNTRY HELI“ (im Folgenden: Beklagte) auf Rückzahlung des Darlehensbetrags zuzüglich Zinsen. Nach den Angaben in der Klageschrift werden die Anteile am Kapital der Beklagten zu jeweils 50 % von der Klägerin und von einer in der Republik Zypern registrierten Gesellschaft gehalten, der „ABACUS (CYPRUS) LIMITED“, die im wirtschaftlichen Eigentum einer natürlichen Person – D – steht.

15.      Mit Urteil vom 13. September 2023 stellte die Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga, Lettland) fest, dass die Beklagte weder den Darlehensbetrag zurückgezahlt noch die Zinsen entrichtet habe. Das Gericht gab daher der Klage statt und verurteilte die Beklagte, der Klägerin die geltend gemachte Verbindlichkeit zu begleichen. In seinem Urteil prüfte es jedoch nicht, ob auf die Klägerin oder die Beklagte restriktive Maßnahmen anwendbar waren, die die Union angesichts von die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergrabenden oder bedrohenden Handlungen insbesondere gemäß oder aufgrund der Verordnung Nr. 269/2014 erlassen hatte.

16.      Dieses Urteil wurde nicht angefochten und erlangte am 4. Oktober 2023 Rechtskraft.

17.      Am 12. Oktober 2023 wurde ein Vollstreckungstitel erlassen und dem Vollstreckungsregister übermittelt.

18.      In Ausübung seiner Befugnisse aufgrund der Art. 483 und 484 der Zivilprozessordnung legte der zuständige Generalstaatsanwalt gegen das Urteil der Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga) vom 13. September 2023 Kassationswiderspruch ein und beantragte, das Urteil aufzuheben und seine Vollstreckung bis zur Entscheidung über diesen Widerspruch auszusetzen. Der Generalstaatsanwalt macht geltend, da D mit der Durchführungsverordnung 2022/336 zur Durchführung der Verordnung Nr. 269/2014 in die Liste der von restriktiven Maßnahmen gemäß deren Anhang I betroffenen Personen aufgenommen worden sei, fänden die Bestimmungen dieser Verordnung in einer Konstellation wie der des Ausgangsverfahrens auf die Beklagte Anwendung. Da die Klägerin ihre Klage nach der Aufnahme von D in diese Liste erhoben habe, hätte die Rīgas rajona tiesa (Bezirksgericht Riga) prüfen müssen, ob mit dieser Klage nicht in Wirklichkeit bezweckt worden sei, die gegen D erlassenen restriktiven Maßnahmen zu umgehen.

19.      Mit Beschluss vom 8. Februar 2024 eröffnete der Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht), das vorlegende Gericht, das Verfahren aufgrund des Kassationswiderspruchs des Generalstaatsanwalts und setzte die Vollstreckung des erstinstanzlichen Urteils aus.

20.      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass aus Art. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 nicht klar hervorgehe, wie zu ermitteln sei, ob eine juristische Person wie die Beklagte als eine mit einer in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten natürlichen Person „in Verbindung stehende“ juristische Person anzusehen sei, wenn ihr Kapital von mehreren Gesellschaften gehalten werde und der wirtschaftliche Eigentümer einer dieser Gesellschaften eine solche natürliche Person sei. Im vorliegenden Fall bestünden nämlich gute Gründe für die Annahme, dass die Beklagte im Eigentum von D als dem wirtschaftlichen Eigentümer stehe oder möglicherweise von ihm kontrolliert werde. Es frage sich auch, ob die Klägerin als juristische Person, die 50 % des Kapitals der Beklagten halte, nicht ebenfalls als „in Verbindung stehende“ juristische Person einzustufen sei, weil andernfalls die Wirksamkeit der gegenüber D ergriffenen restriktiven Maßnahmen beeinträchtigt sein könnte.

21.      Das vorlegende Gericht möchte außerdem Klarheit über den persönlichen Anwendungsbereich und die Rechtswirkungen von Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 erhalten. Insbesondere erscheint es ihm nicht gerechtfertigt, nationalen Gerichten die Möglichkeit zu nehmen, über Forderungen im Sinne dieser Bestimmung zu entscheiden und ihnen stattzugeben, sofern im Urteilstenor ausdrücklich erklärt werde, dass das Urteil erst dann freiwillig erfüllt oder vollstreckt werden könne, wenn die restriktiven Maßnahmen gegenüber der betroffenen Person aufgehoben würden. Zu klären sei auch, inwieweit nationale Gerichte nach der Verordnung Nr. 269/2014 aus eigener Initiative prüfen müssten, ob einer der Verfahrensbeteiligten in einem Zivilverfahren zu den in Art. 2 oder Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung genannten Personen gehöre.

22.      Unter diesen Umständen hat der Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Welche Umstände deuten darauf hin, dass eine Person als eine in Verbindung stehende Person im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 anzusehen ist? Ist eine juristische Person, deren Anteile zu 50 % von einer juristischen Person gehalten werden, die im wirtschaftlichen Eigentum einer auf der Liste im Anhang der Durchführungsverordnung 2022/336 zu findenden natürlichen Person steht, als eine in Verbindung stehende juristische Person anzusehen?

2.      Falls der zweite Teil der ersten Vorlagefrage bejaht wird: Ist auch eine juristische Person, die 50 % der Anteile an der im zweiten Teil der ersten Vorlagefrage beschriebenen juristischen Person hält, als in Verbindung stehende juristische Person im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 anzusehen?

3.      Gehören zu den in Art. 11 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 269/2014 genannten Personen, Einrichtungen und Organisationen auch die in Verbindung stehenden juristischen Personen im Sinne von Art. 2 der Verordnung Nr. 269/2014?

4.      Muss das Gericht bei der Prüfung eines Anspruchs aus eigener Initiative klären, ob sich unter den Verfahrensbeteiligten eine der in Art. 2 oder in Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 269/2014 genannten Personen befindet?

5.      Welche rechtlichen Wirkungen ergeben sich aus der Vorschrift in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014, wonach Forderungen der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b genannten Personen „nicht stattgegeben“ wird? Kann über diese Forderungen in der Sache entschieden werden, wenn im Tenor des Gerichtsurteils festgestellt wird, dass das Urteil nicht vollstreckt werden darf, solange diese Personen auf der entsprechenden Liste stehen?

6.      Erzeugt Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 rechtliche Wirkungen, wenn die Klägerin nicht zu den in Buchst. a oder b dieses Absatzes genannten Personen gehört, aber die Beklagte eine der in Buchst. a oder b dieses Absatzes genannten Personen ist?

7.      Sollten die Daten der von den Sanktionen betroffenen natürlichen Person (Vor- und Familienname) in den Gründen der Entscheidung des Gerichts offengelegt werden? Und sollten diese personenbezogenen Daten bei der Veröffentlichung der Entscheidung des Gerichts durch ein Pseudonym ersetzt werden?

IV.    Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Die Vorlageentscheidung vom 4. Juli 2024 ist am 9. Juli 2024 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.

24.      Der Generalstaatsanwalt, die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die lettische, die niederländische und die finnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben innerhalb der in Art. 23 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union genannten Frist schriftliche Erklärungen eingereicht.

25.      Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hat der Gerichtshof gemäß Art. 76 Abs. 2 seiner Verfahrensordnung abgesehen.

V.      Rechtliche Würdigung

A.      Vorbemerkungen

26.      Die Verordnung Nr. 269/2014 wurde von der Europäischen Union am 17. März 2014 als Reaktion auf die Lage in der Ukraine, insbesondere auf die rechtswidrige Annexion der Krim durch Russland, erlassen. Nach dem Ausbruch des Angriffskriegs der Russischen Föderation gegen die Ukraine im Jahr 2022 gewann diese Verordnung verstärkt an Bedeutung. Sie ist eines der wichtigsten Instrumente für gezielte Sanktionen gegen Russland. Sie sieht vor, dass die Vermögenswerte von Personen und Organisationen, die für Handlungen verantwortlich sind, mit denen die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine beeinträchtigt werden, sowie die Vermögenswerte anderer, in Art. 2 des Beschlusses 2014/145/GASP(5) aufgeführter Personen eingefroren werden. Außerdem verbietet sie, ihnen unmittelbar oder mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die Liste in ihrem Anhang wird regelmäßig aktualisiert und umfasst politische Entscheidungsträger, Oligarchen, Angehörige des Militärs, Unternehmen und Demagogen mit Verbindungen zum Kreml. Diese Maßnahmen sind Teil einer breit angelegten Reaktion der Union, die auch wirtschaftliche sowie handelspolitische Sanktionen beinhaltet und mit der Russland dazu bewegt werden soll, seine Militäraktionen zu beenden und das Völkerrecht zu achten.

27.      Im Unionsrecht werden „restriktive Maßnahmen“ durch Beschlüsse des Rates erlassen, in denen „der Standpunkt der Union zu einer bestimmten Frage geografischer oder thematischer Art“ im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) nach Art. 29 EUV bestimmt wird. Da im Rahmen der GASP erlassene Beschlüsse keine unmittelbare Wirkung in der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten entfalten, können sie allein keine Verpflichtungen für natürliche oder juristische Personen begründen. Zu ihrer Umsetzung müssen daher gemäß Art. 215 AEUV „erforderliche Maßnahmen“ in Form von Sekundärrechtsakten erlassen werden, die „die Aussetzung, Einschränkung oder vollständige Einstellung der Wirtschafts- und Finanzbeziehungen zu einem oder mehreren Drittländern“ (Abs. 1) oder „restriktive Maßnahmen gegen natürliche oder juristische Personen sowie Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten“ (Abs. 2) zum Gegenstand haben(6).

28.      Bei der Ausübung der ihm durch Art. 215 AEUV als Rechtsgrundlage übertragenen Befugnisse entscheidet sich der Rat in der Regel für den Erlass von Verordnungen. Die Verordnung Nr. 269/2014, um die es vorliegend geht, fällt genau unter diese Kategorie von Rechtsakten. Die Rechtsnatur der „restriktiven Maßnahmen“ ist einer der vielfältigen bei der Prüfung der Vorlagefragen zu behandelnden Aspekte. Es wird auch zu erörtern sein, welche konkreten Maßnahmen die zuständigen Einrichtungen der Mitgliedstaaten, einschließlich ihrer Gerichte, ergreifen müssen, um in ihrer jeweiligen Rechtsordnung dieser Verordnung volle Wirkung zu verleihen. Von der Kohärenz und der wirksamen Umsetzung dieser Maßnahmen hängt es nämlich entscheidend ab, dass die mit der GASP verfolgten Ziele innerhalb der Union verwirklicht werden.

29.      Dem Wunsch des Gerichtshofs entsprechend werde ich die vorliegenden Schlussanträge auf die Prüfung der vierten, der fünften und der sechsten Vorlagefrage konzentrieren, die sich in zwei verschiedene Themenbereiche unterteilen lassen. Die vierte Frage bezieht sich auf die etwaige Pflicht der nationalen Gerichte, von Amts wegen zu prüfen, ob einer der Verfahrensbeteiligten zu den in den Art. 2 und 11 der Verordnung Nr. 269/2014 aufgeführten Personen gehört. Die fünfte und die sechste Frage betreffen den Anwendungsbereich und die Rechtswirkungen von Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung. Ich werde diese Fragen getrennt behandeln.

30.      Nach den Zuständigkeitsregeln im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit ist es zum einen Sache des Gerichtshofs, die Bestimmungen des Unionsrechts auszulegen, die die nationale Gerichte in alleiniger Verantwortung und unter Berücksichtigung aller tatsächlichen und rechtlichen Umstände des jeweiligen Ausgangsrechtsstreits als für dessen Entscheidung maßgeblich angesehen haben(7). Zum anderen haben die nationalen Gerichte bei der Anwendung dieser Bestimmungen im Einzelfall die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung zu berücksichtigen. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort auf die Vorlagefragen zu geben, werde ich meine Prüfung auf eine Reihe von Bestimmungen erstrecken, die – vorbehaltlich der Beurteilung der Umstände durch dieses nationale Gericht – einschlägig sein könnten(8).

B.      Zur vierten Vorlagefrage

31.      Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 269/2014 dahin auszulegen sind, dass die nationalen Gerichte von Amts wegen prüfen müssen, ob einer der Verfahrensbeteiligten zu den in diesen Bestimmungen aufgeführten Personen gehört.

32.      Wie ich in meinen Vorbemerkungen dargelegt habe, greift die Union in der Regel auf das Rechtsinstrument der Verordnung zurück, um die Umsetzung der vom Rat im Rahmen der GASP beschlossenen restriktiven Maßnahmen sicherzustellen(9). Ausweislich des zehnten Erwägungsgrundes der Verordnung Nr. 269/2014 wurde deren sofortiges Inkrafttreten vorgesehen, um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu gewährleisten. Nach Art. 288 AEUV hat die Verordnung allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Der Einsatz dieses Rechtsinstruments gewährleistet somit eine einheitliche Anwendung der restriktiven Maßnahmen(10). Darüber hinaus gilt die Verordnung Nr. 269/2014 nach ihrem Art. 17 für alle dort genannten Personen, Organisationen und Einrichtungen. Die Umsetzung und Anwendung dieser restriktiven Maßnahmen ist Aufgabe der Mitgliedstaaten und erfolgt durch ihre zuständigen Behörden.

33.      Verordnungen binden grundsätzlich alle Einrichtungen der Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten, einschließlich der Justiz. Letztere spielt eine zentrale Rolle, indem sie für die Einhaltung des Unionsrechts sorgt und gegebenenfalls die Rechtmäßigkeit der staatlichen Maßnahmen kontrolliert. Das bedeutet, dass die Gerichte der Mitgliedstaaten über die Rechtmäßigkeit von Rechtsakten entscheiden können, mit denen restriktive Maßnahmen wie Sanktionen oder Handelsbeschränkungen auf nationaler Ebene umgesetzt werden(11). Auf diese Weise trägt die Justiz dazu bei, Rechtssicherheit zu gewährleisten und sicherzustellen, dass die Maßnahmen dem geltenden Recht entsprechen. Wird eine Maßnahme für rechtswidrig befunden, kann das zuständige Gericht sie aufheben oder ändern. Die Justiz leistet somit einen Beitrag dazu, Machtmissbrauch zu verhindern und die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Union zu wahren.

34.      Eine Verordnung, die restriktive Maßnahmen vorsieht, wird hauptsächlich von staatlichen Einrichtungen mit besonderer Fachkompetenz im Bereich der Finanzaufsicht umgesetzt. Diese Einrichtungen verfügen über die erforderlichen Mittel und dürfen daher die vorgesehenen finanziellen Sanktionen wie etwa das Einfrieren von Vermögenswerten oder das Verbot, bestimmten Personen oder Organisationen Kredite zu gewähren oder Zahlungen an sie zu leisten, umsetzen. Sie haben konkrete Maßnahmen gegenüber den in der Verordnung gelisteten Personen und Organisationen anzuordnen. Diese für die Anwendung der Verordnung und gegebenenfalls der nationalen Umsetzungsmaßnahmen zuständigen Einrichtungen gehören in der Regel – aber nicht immer – der Verwaltung an.

35.      In diesem Kontext ist festzuhalten, dass zwar Anhang II der Verordnung Nr. 269/2014 Websites mit Informationen über die zuständigen Behörden und Anschriften für Notifikationen an die Kommission enthält, in der Verordnung selbst jedoch Angaben zu den nationalen Behörden und ihrer konkreten Rolle bei der Umsetzung und Anwendung der restriktiven Maßnahmen fehlen. In der Tatsache, dass die benannten Einrichtungen oder Ministerien von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich sind, kommt die Anerkennung einer weitreichenden institutionellen Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Durchführung restriktiver Maßnahmen zum Ausdruck. Dabei zeigt sich allerdings, dass bestimmte Ministerien wie das Wirtschafts- und das Finanzministerium aufgrund ihrer besonderen Fachkompetenz im Bereich des internationalen Handels und der Kapitalverkehrskontrolle häufig eine besondere Rolle spielen(12).

36.      Zu beachten ist ferner, dass die Verordnung Nr. 269/2014 auch keine näheren Bestimmungen darüber enthält, wie die Mitgliedstaaten restriktive Maßnahmen konkret umsetzen sollen. Eine Harmonisierung der nationalen Verfahrensvorschriften ist nicht vorgesehen. Die Verordnung beschränkt sich vielmehr darauf, ein konkretes Ziel festzulegen, wie z. B. das Einfrieren bestimmter Vermögenswerte oder wirtschaftlicher Ressourcen. Manche Ziele sind zudem relativ weit gefasst oder hängen von einer Beurteilung der konkreten Umstände ab, wie etwa die Anordnung, dass die in Anhang I genannten natürlichen Personen oder die mit ihnen in Verbindung stehenden natürlichen oder juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen weder unmittelbar noch mittelbar Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen erhalten oder nutzen dürfen. Das erlaubt den Schluss, dass die Mitgliedstaaten über einen weiten Handlungsspielraum hinsichtlich der Art und Weise verfügen, wie sie die festgelegten Ziele erreichenwollen(13).

37.      Diese Form der dezentralen Anwendung und Umsetzung restriktiver Maßnahmen trägt der Struktur der Union und dem im EU-Vertrag verankerten Subsidiaritätsprinzip Rechnung(14). Sie spiegelt auch die Komplexität der Aufgabe wider, vor der die Union und ihre Mitgliedstaaten vor allem angesichts zahlreicher Fälle stehen, in denen Personen oder Organisationen die Sanktionsregelung zu umgehen versuchen. Vor diesem Hintergrund erscheint es in der Tat sinnvoll, die konkrete Anwendung der Verordnung Nr. 269/2014 sowie den Erlass etwaiger nationaler Durchführungsmaßnahmen den nationalen Behörden zu überantworten, die eine größere Nähe zu dem Geschehen aufweisen und zudem über besondere Fachkenntnisse verfügen.

38.      Trotz der dezentralen Umsetzung und Durchführung der restriktiven Maßnahmen müssen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass restriktive Maßnahmen der Union nicht umgangen werden. Nach Art. 29 EUV haben sie dafür Sorge zu tragen, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht. Die Mitgliedstaaten müssen daher ihre Bemühungen auf nationaler und supranationaler Ebene koordinieren, um Umgehungen zu verhindern und letztlich die Wirksamkeit der Sanktionen der Union zu gewährleisten(15). Wie in anderen vergleichbaren Bereichen, insbesondere bei der Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedstaaten, darf nämlich die Dezentralisierung der Umsetzung und Anwendung restriktiver Maßnahmen die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen.

39.      Aus diesem Grund weist der Gerichtshof, wenn er mangels entgegenstehender unionsrechtlicher Vorschriften den Mitgliedstaaten Verfahrensautonomie zuerkennt, darauf hin, dass die Anwendung des Unionsrechts nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert werden darf. Eine weitere Grenze dieser Verfahrensautonomie ergibt sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs aus dem Äquivalenzgrundsatz, wonach die Anwendung des Unionsrechts nicht ungünstiger sein darf als die Anwendung des vergleichbare Sachverhalte regelnden nationalen Rechts(16). Die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität sind somit maßgebliche rechtliche Kriterien für die Beurteilung der Vereinbarkeit einer konkreten nationalen Maßnahme mit den Vorgaben der Verordnung Nr. 269/2014.

40.      In der Tat scheint mir die vierte Frage des vorlegenden Gerichts durch eine Auslegung dieser Grundsätze beantwortet werden zu können. Wie ich in den vorliegenden Schlussanträgen bereits ausgeführt habe, wird eine Verordnung mit restriktiven Maßnahmen hauptsächlich von staatlichen Einrichtungen umgesetzt, die im Bereich der Finanzaufsicht tätig sind und über die für die Anordnung konkreter Maßnahmen erforderliche Fachkompetenz verfügen(17). Wenngleich die zentrale Rolle nationaler Gerichte bei der Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes unbestritten i(18), kann von einem Justizorgan kaum verlangt werden, dass es in jedem Fall über die erforderlichen Fachkenntnisse verfügt, um in entscheidenden Situationen, insbesondere in Bezug auf die Vermögenswerte einer in Anhang I der Verordnung Nr. 269/2014 aufgeführten Person, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Außerdem ist zu bedenken, dass sich seine Funktion grundlegend von jener der Verwaltung unterscheidet und dass es nach dem in den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatz der Gewaltenteilung problematisch wäre, ihm Aufgaben zu übertragen, die normalerweise der Verwaltung obliegen.

41.      Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass auch die Justiz an die Verordnung Nr. 269/2014 gebunden ist und im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für deren Anwendung zu sorgen hat. Anders ausgedrückt: Auch das Handeln der nationalen Gerichte ist ebenso wie das der anderen staatlichen Einrichtungen anhand des Effektivitätsgrundsatzes bei der Anwendung des Unionsrechts zu beurteilen(19). Allerdings sind die besonderen Voraussetzungen zu berücksichtigen, unter denen die Justiz tätig wird, insbesondere der Umstand, dass die nationalen Gerichte nur die Befugnisse ausüben können, die ihnen nach dem nationalen Verfahrensrecht zustehen. Diese Beschränkung folgt aus dem die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten der Union prägenden Rechtsstaatsprinzip.

42.      In diesem Zusammenhang ist vor allem zu berücksichtigen, dass der Zivilprozess in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten hauptsächlich durch den Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens gekennzeichnet ist, wonach das Gericht seine Überzeugung auf das Parteivorbringen stützt. Darüber hinaus ermöglicht der Dispositionsgrundsatz den Parteien im Zivilprozess(20), über die Einleitung eines Verfahrens, über dessen Gegenstand und über dessen Beendigung frei zu entscheiden. Mit anderen Worten: Das Zivilgericht ist grundsätzlich nur verpflichtet, das Vorbringen der Prozessparteien zu berücksichtigen. Die Parteien verfügen somit über den Streitgegenstand, während das Gericht grundsätzlich eine passive Haltung einnimmt(21). Eine Ausnahme hiervon bilden sogenannte „offenkundige“ Tatsachen, die allgemein bekannt oder dem Gericht zumindest vertraut sind, das sie wegen seiner besonderen Fachkenntnisse in einem bestimmten Bereich daher in seine Urteilsfindung einbeziehen kann. Diese Merkmale unterscheiden das Zivilgericht grundlegend von anderen staatlichen Organen wie etwa der Staatsanwaltschaft im Strafprozess, die von Amts wegen Ermittlungen einleiten können.

43.      Insoweit ist die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten, wonach das Unionsrecht vom nationalen Gericht grundsätzlich nicht verlangt, die Frage eines Verstoßes gegen Unionsvorschriften von Amts wegen zu prüfen, wenn es für die Prüfung dieser Frage die Grenzen des Rechtsstreits zwischen den Parteien überschreiten müsste. Diese Beschränkung der Befugnisse des nationalen Gerichts ist durch den Grundsatz gerechtfertigt, dass die Initiative in einem Prozess den Parteien zusteht. Nach dieser Rechtsprechung darf das nationale Gericht folglich nur in Ausnahmefällen von Amts wegen tätig werden, wenn sein Einschreiten im Interesse der öffentlichen Ordnung erforderlich ist(22). Dies bedarf näherer Erläuterungen.

44.      Der Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung eine Reihe von Fällen aufgezeigt, in denen er anerkannt hat, dass nationale Gerichte einen Verstoß gegen das Unionsrecht von Amts wegen feststellen müssen(23). Diesen Fällen ist gemeinsam, dass die einschlägige Rechtsnorm bindend ist und den Rechtsunterworfenen Rechte verleiht. Dem Gerichtshof zufolge muss das nationale Gericht im allgemeinen Interesse am Schutz der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte einen solchen Verstoß von Amts wegen feststellen und somit die von den Parteien gezogenen Grenzen überschreiten, wenn einer der Parteien ein Schaden entstünde und dieser Schutz auf keine andere Weise gewährt werden könnte, insbesondere weil die Partei ihn nach nationalem Recht nicht geltend machen konnte oder sofern das nationale Recht keine andere Form des Schutzes vorsieht.

45.      Obwohl die in der vorstehenden Nummer angeführte Rechtsprechung auf Erwägungen im Zusammenhang mit dem Schutz der den Rechtsunterworfenen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte beruht, halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass ein solcher Ansatz auch für Fälle in Betracht kommen kann, bei denen es nicht um die Wahrung eines öffentlichen Interesses am Schutz subjektiver Rechte von Einzelnen, sondern vielmehr darum geht, die Verwirklichung eines eigenständigen öffentlichen Interesses zu gewährleisten, das der Union als supranationaler Organisation und Völkerrechtssubjekt mit der Fähigkeit zu einem auf die Achtung der regelbasierten internationalen Ordnung gerichteten auswärtigen Handelneigen ist(24). Die Charta der Vereinten Nationen, Eckpfeiler dieser Rechtsordnung, hat die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit zum Ziel. Die Union hat sich feierlich verpflichtet, ihren Beitrag zur Verwirklichung dieses Ziels zu leisten(25).

46.      Im vorliegenden Fall besteht offensichtlich ein öffentliches Interesse an einer wirksamen Anwendung der Verordnung Nr. 269/2014, das meiner Ansicht nach eine Justierung der Grenzen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten rechtfertigt, um den Erfordernissen einer Verwirklichung der Ziele der GASP innerhalb der Union gerecht zu werden(26). Die Unterschiede in den Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten dürfen hierfür kein Hindernis darstellen und somit nicht die Möglichkeit bieten, die Sanktionsregelung der Union zu umgehen. Das wäre jedoch der Fall, wenn die in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten Personen in Mitgliedstaaten mit eher großzügigen nationalen Rechtsvorschriften Transaktionen durchführen könnten. Außerdem muss vermieden werden, dass Rechtsstreitigkeiten vor Gerichte gebracht würden, die davon absähen, restriktive Maßnahmen der Union mit der gebotenen Strenge anzuwenden.

47.      Dem Urteil Bank Melli Iran(27) kommt für die Prüfung der Vorlagefragen besondere Bedeutung zu, weil darin bekräftigt wird, dass es den nationalen Gerichten obliegt, die volle Wirkung des Unionsrechts zu gewährleisten. Diese Verpflichtung gilt dem Gerichtshof zufolge in allen Rechtsstreitigkeiten, mit denen sie befasst sind, auch im Rahmen von Zivilprozessen(28). Zu beachten ist auch, dass dieses Urteil auf dem Grundsatz beruht, dass die nationalen Gerichte tätig werden müssen, wenn Beweise darauf hindeuten, dass eine Person gegen das Unionsrecht verstoßen hat(29). Obwohl dieses Urteil nicht unmittelbar die Regelung über restriktive Maßnahmen der Union betrifft, sondern den Schutz vor den Wirkungen der extraterritorialen Geltung einer von einem Drittstaat erlassenen Regelung – in jenem Fall der von den Vereinigten Staaten von Amerika gegen Iran verhängten restriktiven Maßnahmen –, ist es doch in einem damit verbundenen Bereich des internationalen Sanktionsrechts ergangen, was seine Heranziehung im Rahmen der rechtlichen Würdigung rechtfertigt. Angesichts dieser Rechtsprechung erscheint es legitim, von den Gerichten der Mitgliedstaaten zu verlangen, dass sie im Rahmen von Zivilprozessen aktiv dazu beitragen, jede Umgehung der mit der Verordnung Nr. 269/2014 verhängten Sanktionen der Union zu verhindern.

48.      Schließlich ist bei der Prüfung auch der Begriff „Umgehung“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu beachten. Im Urteil Afrasiabi u. a.(30) hat der Gerichtshof klargestellt, dass dieser Begriff Aktivitäten bezeichnet, mit denen unmittelbar oder mittelbar bezweckt oder bewirkt wird, den Handelnden den von der Union erlassenen Verboten zu entziehen, d. h. Aktivitäten, die unmittelbar oder mittelbar bezwecken oder bewirken, die Verbote der Union auszuhebeln(31). Die vom Gerichtshof vorgegebene Definition ist ausgesprochen extensiv und unterstreicht die Bedeutung des Zwecks der Umgehungshandlungen – also ihrer potenziellen Auswirkungen – zusätzlich zu ihrer tatsächlichen Wirkung, also ihren konkreten Folgen. Unter „Umgehung“ sind deshalb nicht nur Aktivitäten zu verstehen, die die Ziele der restriktiven Maßnahmen tatsächlich vereiteln, sondern auch solche, die darauf abzielen, sie zu vereiteln, unabhängig von ihrem tatsächlichen Ergebnis(32). Angesichts der Herausforderungen für die Union und ihre Mitgliedstaaten erscheinen drastische Gegenmaßnahmen geboten.

49.      Der Gerichtshof hat sich bei seiner Argumentation auf die Auslegung einer Bestimmung(33) gestützt, die im Wesentlichen Art. 9 der Verordnung Nr. 269/2014 entspricht und die das nationale Gericht im Ausgangsverfahren gegebenenfalls anzuwenden hat, wenn es ihre Voraussetzungen für erfüllt hält. Es handelt sich um eine zentrale Bestimmung, mit der die Umgehung von Sanktionen verhindert werden soll. Während andere Bestimmungen konkrete Handlungen verbieten – wie die Bereitstellung wirtschaftlicher Ressourcen für in der Liste aufgeführte Personen(34) –, zielt Art. 9 dieser Verordnung auf mittelbare oder verdeckte Formen von Tätigkeiten ab, mit denen solche Verbote umgangen werden können. Ihr normatives Ziel ist es, Lücken zu schließen, die bei der Umgehung von Sanktionen durch mittelbare Aktionen entstehen könnten. Diese Bestimmung fungiert somit als Schutzklausel, die sicherstellen soll, dass auch die kreativsten oder verstecktesten Umgehungsstrategien erfasst werden.

50.      Aus den von mir soeben dargelegten Gründen sollte das nationale Gericht meines Erachtens von Amts wegen eingreifen, wenn sich aus dem Vorbringen der Parteien, aus den ihm bekannten Tatsachen oder aus den Umständen des Falles Anhaltspunkte dafür ergeben, dass eine der Streitparteien unter Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 269/2014 fällt. Nur so kann vermieden werden, dass das nationale Gericht untätig bleiben und gegen seine eigene Überzeugung einer in Anhang I aufgeführten Person ermöglichen muss, sich der Anwendung der vorgesehenen restriktiven Maßnahmen zu entziehen. Das Gericht darf weder vorsätzlich noch fahrlässig an einer Umgehung von Sanktionen mitwirken.

51.      Um das nationale Gericht in der Praxis nicht zu überfordern, dürfen ihm keine unverhältnismäßigen Pflichten auferlegt werden. Der Grundsatz der Effektivität wäre bereits gewahrt, wenn das Gericht bei Vorliegen von Hinweisen im Rahmen seiner Befugnisse die zuständigen Behörden um zusätzliche Auskünfte über die Identität der betreffenden Person und den Grad ihrer Beteiligung ersuchen würde. Diese Fachbehörden müssten auf das gerichtliche Ersuchen im Geist loyaler Zusammenarbeit zur Durchsetzung des Unionsrechts gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV unverzüglich reagieren. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass eine der Streitparteien restriktiven Maßnahmen unterliegt, müsste das Gericht die geeigneten Maßnahmen im Sinne der Verordnung Nr. 269/2014 und des nationalen Rechts ergreifen.

52.      Anhaltspunkte für eine mögliche Beteiligung von in der Sanktionsliste der Union aufgeführten Personen können insbesondere die Staatsangehörigkeit bestimmter Gesellschafter sowie etwaige grenzüberschreitende Finanzgeschäfte über Russland oder Staaten mit engen wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland sein. Es ist aber naturgemäß nicht möglich, eine erschöpfende Liste relevanter Kriterien aufzustellen. Die Praxis muss daher flexibel bleiben und jeweils an die konkreten und aktuellen Umstände angepasst werden(35). Zu diesem Zweck bieten Soft-LawInstrumente wie die von den Organen der Union und den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten veröffentlichten Leitlinien eine sachdienliche Orientierungshilfe(36). Diese Leitlinien sollen einen Beitrag zu der schwierigen Aufgabe einer Harmonisierung der nationalen Praktiken bei der Umsetzung von Sanktionen leisten(37).

53.      Das Gericht sollte daher schon im Erkenntnisverfahren tätig werden, um zu verhindern, dass Handlungen vorgenommen werden, die den Zielen der Verordnung Nr. 269/2014 zuwiderlaufen könnten, wie beispielsweise die Vollstreckung von Forderungen aus Verträgen, an denen in Anhang I dieser Verordnung aufgeführte natürliche Personen beteiligt sind. Es darf vom Gericht erwartet werden, dass es in der Lage ist, im Rahmen eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits komplexe zivilrechtliche Zusammenhänge zu erfassen und Situationen zu erkennen, in denen bestimmte Vorgänge darauf abzielen könnten, die Sanktionsregelung der Union zu umgehen.

54.      Das Gericht verfügt auch über die prozessualen Möglichkeiten, um erforderliche Sicherungs- oder Abhilfemaßnahmen zu ergreifen, wie etwa die Weigerung, einen Titel für vollstreckbar zu erklären, der auf einem unter die Verordnung Nr. 269/2014 fallenden Vertrag beruht. Hingegen halte ich es im Hinblick auf die Interessen der Union nicht für ausreichend, die Anwendung restriktiver Maßnahmen auf das Stadium der Vollstreckung zu verschieben. Dies würde bedeuten, dass der Staat erst in einem sehr späten Stadium des Zivilverfahrens eingreifen würde, wobei die Gefahr bestünde, dass der Gerichtsvollzieher nicht beurteilen könnte, ob die Vollstreckung eines Titels gegen die Verordnung Nr. 269/2014 verstößt.

55.      Sofern keine offensichtlichen gegenteiligen Anhaltspunkte vorliegen, gilt ein vollstreckbarer gerichtlicher Titel nämlich nach nationalem Recht als rechtmäßig. Die Rechtssicherheit verlangt, dass materiell-rechtliche Einwände gegen einen solchen vollstreckbaren Titel grundsätzlich als unzulässig zurückgewiesen werden. Außerdem wäre in einem solchen Fall nur die vom Gerichtsvollzieher zu vollstreckende Forderung auf ihre Vereinbarkeit mit der Verordnung Nr. 269/2014 zu prüfen, nicht aber etwaige andere, damit zusammenhängende Forderungen aus demselben Rechtsstreit.

56.      Wenn also die Beurteilung der Anwendbarkeit restriktiver Maßnahmen dem Gerichtsvollzieher im Stadium der Vollstreckung eines gerichtlichen Titels, nicht aber dem Gericht im Erkenntnisverfahren übertragen würde, wie es die lettische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen anscheinend vorschlägt, bestünde meines Erachtens die nicht unerhebliche Gefahr, dass die Verordnung Nr. 269/2014 nicht mit der gebotenen Strenge angewandt würde. Daher ist ein solcher Vorschlag abzulehnen.

57.      Im Interesse der Wirksamkeit des Unionsrechts erscheint es somit angebracht, dass das nationale Gericht von Amts wegen, gegebenenfalls unter Hinzuziehung der zuständigen Dienststellen, die Anwendbarkeit von Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 Buchst. a und b der Verordnung Nr. 269/2014 prüfen muss, jedoch nur in den vorerwähnten Fallkonstellationen, d. h., wenn die Parteien dies ausdrücklich geltend machen oder wenn die dem Gericht zur Kenntnis gebrachten Tatsachen oder die Umstände des Falles die Annahme zulassen, dass diese Bestimmungen anwendbar sind(38).

58.      Im vorliegenden Fall verweist das vorlegende Gericht auf den vom Generalstaatsanwalt eingelegten Kassationswiderspruch, dem zufolge die Verordnung Nr. 269/2014 ausweislich der Akten des Zivilverfahrens offenbar auf die Beklagte anwendbar sei(39). Im Übrigen erklärt das vorlegende Gericht, die Klägerin, die einen Teil des Kapitals der Beklagten halte, sei auch eine mit der Beklagten und deren Gesellschafterin „ABACUS (CYPRUS) LIMITED“ in Verbindung stehende Person. Hierzu enthält die Vorlageentscheidung keine näheren Angaben.

59.      Insoweit genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Art. 267 AEUV allein das nationale Gericht für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits zuständig ist(40). Daher ist es Sache der lettischen Gerichte, die Umstände des Ausgangsverfahrens zu prüfen, insbesondere die vom Generalstaatsanwalt vorgelegten Beweise zu würdigen, und festzustellen, ob die Verordnung Nr. 269/2014 anwendbar ist.

60.      Infolgedessen ist die vierte Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass das angerufene Gericht bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte von Amts wegen prüfen muss, ob einer der Verfahrensbeteiligten zu den in Art. 2 oder Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 269/2014 aufgeführten Personen gehört, und zu diesem Zweck alle ihm zustehenden Ermittlungsbefugnisse wahrzunehmen hat. Insbesondere ist es verpflichtet, bei den zuständigen Fachbehörden die erforderlichen Auskünfte einzuholen, um diese Prüfung vornehmen zu können. Diese Prüfungspflicht erstreckt sich auch auf natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die mit den Verfahrensbeteiligten in Verbindung stehen.

C.      Zur fünften Vorlagefrage

61.      Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, welche rechtlichen Wirkungen sich aus Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 ergeben, wonach Forderungen der in Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b genannten Personen „nicht stattgegeben“ wird, und ob über diese Forderungen dennoch in der Sache entschieden werden kann, wenn im Tenor des Gerichtsurteils festgestellt wird, dass das Urteil nicht vollstreckt werden darf, solange diese Personen auf der entsprechenden Liste stehen.

62.      Vor einer Prüfung des normativen Inhalts von Art. 11 der Verordnung Nr. 269/2014 erscheint es aus Gründen der Klarheit angebracht, kurz auf die Zielsetzung von Art. 2 dieser Verordnung hinzuweisen, da diese beiden Bestimmungen eng miteinander zusammenhängen und sich ergänzen. Nur im Licht des mit diesem Art. 2 – der zentralen Bestimmung der Sanktionsregelung – verfolgten Ziels lässt sich die Funktion dieses Art. 11 vollständig erfassen.

63.      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die in Art. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgesehenen restriktiven Maßnahmen finanzieller Art zum einen das Einfrieren von Geldern und wirtschaftlichen Ressourcen der benannten natürlichen oder juristischen Personen und zum anderen das Verbot umfassen, diesen Personen Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen.

64.      Wie aus den Leitlinien des Rates zur Umsetzung restriktiver Maßnahmen im Rahmen der GASP(41) hervorgeht, lassen diese Maßnahmen das Eigentumsrecht der betroffenen Personen an den eingefrorenen Vermögenswerten unberührt. Insbesondere bewirken sie keine Übertragung des Eigentums an den Geldern und Ressourcen. Der Gerichtshof hat nämlich bereits entschieden, dass die Maßnahme des Einfrierens eine Sicherungsmaßnahme ist, die nicht darauf abzielt, die Personen, gegen die sich die Maßnahme richtet, zu enteignen, da sie befristeter und reversibler Natur ist(42). Weder steht die Verordnung Nr. 269/2014 der Gültigkeit von Verträgen mit in Anhang I aufgeführten Personen entgegen noch verbietet sie den Abschluss derartiger Verträge. Mit anderen Worten: Die Gültigkeit zivilrechtlicher Verträge bleibt grundsätzlich unberührt.

65.      Nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung Nr. 269/2014 dürfen jedoch keine Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, wenn dadurch einer benannten Person unmittelbar oder mittelbar ein Vorteil verschafft würde. Ein Vertrag darf also nicht erfüllt werden, wenn seine Erfüllung eine Zahlung oder einen sonstigen wirtschaftlichen Vorteil für eine solche Person bewirkt. Dieses Verbot erstreckt sich auf alle vertraglich vorgesehenen Leistungen, Lieferungen oder Dienste zugunsten einer benannten Person.

66.      Nach dieser Bestimmung ist es verboten, Gelder oder wirtschaftliche Ressourcen mittelbar zur Verfügung zu stellen, d. h., einen Vorteil nicht unmittelbar der benannten Person, sondern einem Dritten zu verschaffen, wenn der Vorteil mittelbar dieser Person zugutekommt. Das Verbot der mittelbaren Zurverfügungstellung von Geldern oder wirtschaftlichen Ressourcen gilt auch für nicht benannte Einrichtungen, wenn hinreichende Gründe für die Annahme bestehen, dass die Gelder oder wirtschaftlichen Ressourcen ganz oder teilweise an eine benannte Person weitergeleitet werden. Von einer solchen mittelbaren Zurverfügungstellung ist grundsätzlich dann auszugehen, wenn wirtschaftliche Ressourcen einer nicht benannten Person zur Verfügung gestellt werden, die unmittelbar oder mittelbar im Besitz oder unter der Kontrolle einer benannten Person steht(43).

67.      Wie der Gerichtshof in seinem Urteil Möllendorf und Möllendorf-Niehuus(44) ausgeführt hat, ist der Begriff „Zurverfügungstellung“ weit auszulegen und umfasst jede Handlung, die einer bestimmten Person den unmittelbaren oder mittelbaren Zugang zu einer wirtschaftlichen Ressource ermöglicht, einschließlich jeder aufgrund eines synallagmatischen Vertrags erbrachten Leistung(45). Unter Berufung auf diese Rechtsprechung hat der Rat in seinen Leitlinien erklärt, dass Verordnungen, die das Einfrieren von Vermögenswerten vorschreiben, „Handlungen zur Erfüllung von vor Inkrafttreten [dieser] Verordnungen geschlossenen Verträgen [untersagen]“(46).

68.      Der Vorrang des Unionsrechts bewirkt also für die Geltungsdauer der Sanktionsregelung eine faktische Aussetzung der mit dieser Regelung unvereinbaren Vertragspflichten. In diesem Sinne ist auch die Formulierung in den Leitlinien des Rates zu verstehen, wonach mit Inkrafttreten der Verordnungen, die das Einfrieren von Vermögenswerten vorschreiben, „alle vertraglichen Regelungen, die mit ihnen nicht vereinbar sind, außer Kraft [treten]“(47). Obwohl die in diesen Leitlinien verwendete Terminologie rechtlich wenig präzise ist, sollen offensichtlich die Vertragspflichten vorübergehend ruhen, wenn ihre Erfüllung die mit der Verordnung Nr. 269/2014 verfolgten Ziele beeinträchtigen würde. Diese Feststellung gilt für alle geprüften Sprachfassungen(48), was wohl darauf zurückzuführen ist, dass es dem nationalen Recht überlassen bleiben soll, die genauen Modalitäten für die Umsetzung dieser aufschiebenden Wirkung festzulegen.

69.      Dagegen dient Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014, der Gegenstand der fünften und der sechsten Vorlagefrage ist, dem Zweck, verfahrensrechtlich die Wirksamkeit von Art. 2 dieser Verordnung dadurch sicherzustellen, dass eine benannte Person daran gehindert ist, vor Gericht eine Forderung geltend zu machen, deren Erfüllung den restriktiven Maßnahmen zuwiderlaufen würde. Selbst wenn also vor einem nationalen Gericht ein obsiegendes Urteil erwirkt wurde, bleibt dessen Vollstreckung so lange ausgesetzt, wie die betreffende Person den Sanktionen der Union unterliegt.

70.      Diese Bestimmung soll auch den Vertragspartner, der den Verpflichtungen aus der Verordnung Nr. 269/2014 nachkommt, vor Haftungsansprüchen der benannten Partei, etwa vor Entschädigungs- oder vertraglichen Garantieansprüchen, schützen(49). Ohne einen solchen Verfahrensmechanismus käme der Vertragspartner in eine unhaltbare Lage, da er gezwungen wäre, zwischen drohenden strafrechtlichen Sanktionen bei Erfüllung des Vertrags(50) und einer drohenden zivilrechtlichen Verurteilung bei dessen Nichterfüllung zu wählen. Als verfahrensrechtliche Bestimmung ist Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung in erster Linie von den nationalen Gerichten anzuwenden, sofern die darin vorgesehenen gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

71.      Wie die finnische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen zutreffend ausgeführt hat, soll mit Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 im Wesentlichen eine wirksame Durchsetzung der restriktiven Maßnahmen gewährleistet werden, ohne dass jedoch die Verfahrensvorschriften der Mitgliedstaaten harmonisiert würden; Letztere behalten insoweit ihre Autonomie, sofern sie die in diesen Schlussanträgen bereits erwähnten Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beachten(51). Die Voraussetzung in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung, wonach Forderungen im Sinne dieser Bestimmung „nicht stattgegeben wird“, muss daher im Rahmen der im nationalen Recht vorgesehenen Verfahren umgesetzt werden, so dass Forderungen dann nicht stattgegeben werden kann, wenn dadurch die in Art. 2 der Verordnung auferlegte Verpflichtung verletzt würde.

72.      Schließlich beeinträchtigt die Verordnung Nr. 269/2014 in keiner Weise die Achtung der Grundrechte und der Verfahrensgarantien. Denn in ihrem Art. 11 Abs. 3 ist ausdrücklich das Recht der in Abs. 1 genannten Personen auf gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Nichterfüllung vertraglicher Pflichten nach dieser Verordnung verankert. Außerdem trägt gemäß Art. 11 Abs. 2 jede natürliche oder juristische Person, Einrichtung oder Organisation, die in einem Verfahren einen Anspruch geltend macht, die Beweislast dafür, dass die Erfüllung des Anspruchs nicht nach Abs. 1 verboten ist.

73.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 11 der Verordnung Nr. 269/2014 im Licht von deren sechstem Erwägungsgrund auszulegen ist, in dem es u. a. heißt, dass diese Verordnung unter Achtung der mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannten Grundrechte und Grundsätze, insbesondere des durch Art. 47 der Grundrechtecharta garantierten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht, anzuwenden ist. Deshalb ist das zuständige nationale Gericht, das über die mögliche Anwendung von Art. 11 der Verordnung Nr. 269/2014 zu entscheiden hat, gemäß Art. 51 Abs. 1 der Grundrechtecharta gehalten, diese zu beachten(52).

74.      Aus den vorstehenden Erwägungen folgt: Hat ein Verfahren eine Forderung zum Gegenstand, die unmittelbar oder mittelbar, ganz oder teilweise einen Vertrag betrifft, dessen Erfüllung durch restriktive Maßnahmen berührt wird, ist das nationale Gericht nach seinem eigenen Verfahrensrecht verpflichtet, das in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 vorgeschriebene Ergebnis zu erreichen, nämlich „der Forderung nicht stattzugeben“. Es darf, anders gesagt, einer solchen Forderung keine Wirkung verleihen. Diese Auslegung wird durch die Prüfung aller untersuchten Sprachfassungen bestätigt(53).

75.      Diese Bestimmung schließt nicht die vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogene Vorgehensweise aus, wonach über eine solche Forderung in der Sache entschieden, im Urteilstenor jedoch festgestellt wird, dass das Urteil nicht vollstreckt werden darf, solange die betroffenen Personen unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 269/2014 fallen. Eine solche Verfahrensmodalität könnte das Risiko einer unzureichenden Wirksamkeit der restriktiven Maßnahmen für den Fall verringern, dass der staatliche Eingriff erst im Stadium der Vollstreckung durch den Gerichtsvollzieher erfolgenwürde(54). Außerdem stünde sie im Einklang mit Art. 11 Abs. 3 dieser Verordnung(55).

76.      Die Verpflichtung, die Wirksamkeit von der Union erlassener restriktiver Maßnahmen zu gewährleisten, rechtfertigt im Wesentlichen die vorübergehende Nichterfüllung der fraglichen Vertragspflichten. Hat das Verfahren hingegen eine Forderung zum Gegenstand, bei der nicht angenommen werden kann, dass sie ganz oder teilweise, unmittelbar oder mittelbar einen Vertrag betrifft, dessen Erfüllung durch restriktive Maßnahmen berührt wird, kann das nationale Gericht dieser Forderung stattgeben, auch wenn sie von einer benannten Person oder von einer über eine solche oder in deren Namen handelnden Person geltend gemacht wird.

77.      Das nationale Gericht kann also grundsätzlich über die Klage in der Sache entscheiden, sofern es der dem Verbot nach Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 unterliegenden Forderung nicht stattgibt. Es kann auch, sofern das nationale Verfahrensrecht dies zulässt, die Prüfung der Forderung so lange aussetzen, bis der Forderungsinhaber nicht mehr unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung fällt. Auf jeden Fall kann es Forderungen stattgeben, die nicht dem Verbot unterliegen. Darüber hinaus sind gemäß Art. 7 der Verordnung Zahlungen aufgrund von in einem Mitgliedstaat ergangenen oder in dem betreffenden Mitgliedstaat vollstreckbaren gerichtlichen, behördlichen oder schiedsgerichtlichen Entscheidungen nicht nach Art. 2 Abs. 2 der Verordnung verboten, sofern die diesbezüglichen Zinsen, Erträge und sonstigen Zahlungen nach Art. 2 Abs. 1 der Verordnung eingefroren werden. Folglich sind nicht alle zivilrechtlichen Forderungen automatisch ausgeschlossen. Vielmehr ist jede Forderung unter Berücksichtigung ihres Gegenstands, der Rechtsstellung der beteiligten Parteien und ihrer wirtschaftlichen Auswirkungen zu prüfen.

78.      Ein auf die nicht vollstreckbare Feststellung eines Anspruchs gerichteter Klageantrag kann somit unter bestimmten Umständen zulässig sein. Ein nationales Gericht darf über zivilrechtliche Forderungen nur entscheiden, wenn es gewährleisten kann, dass seine Entscheidung nicht deshalb gegen die Sanktionsbestimmungen der Verordnung Nr. 269/2014 verstößt, weil sie etwa der benannten Person unmittelbar oder mittelbar einen den Sanktionen zuwiderlaufenden wirtschaftlichen Vorteil verschafft. Schließlich können die zuständigen Behörden nach Art. 5 Abs. 1 sowie nach anderen Bestimmungen dieser Verordnung Ausnahmen gewähren. Durch diese Genehmigungen soll die Anwendung der Sanktionen mit den Geboten des Rechtsschutzes in Einklang gebracht werden.

79.      Aus den in den vorstehenden Nummern dargelegten Gründen schlage ich vor, auf die fünfte Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 dahin auszulegen ist, dass zwar über einen Rechtsstreit in der Sache entschieden werden darf, es aber verboten ist, einer Forderung ganz oder teilweise stattzugeben, die einen Vertrag betrifft, dessen Erfüllung ganz oder teilweise, unmittelbar oder mittelbar durch restriktive Maßnahmen berührt wird. Die Entscheidung eines nationalen Gerichts, in deren Tenor festgestellt wird, dass diese Entscheidung nicht vollstreckbar ist, solange der Forderungsinhaber unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 269/2014 fällt, entspricht grundsätzlich diesem Verbot.

D.      Zur sechsten Vorlagefrage

80.      Mit seiner sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 rechtliche Wirkungen entfaltet, wenn zwar nicht der Kläger, wohl aber der Beklagte zu den in Buchst. a oder b dieser Bestimmung aufgeführten Personen gehört.

81.      Zunächst ist zu beachten, dass mit dieser Bestimmung die zivilrechtliche Erfüllung bzw. Durchführung von Verträgen oder Forderungen verhindert werden soll, die den mit der Verordnung Nr. 269/2014 verhängten Sanktionen zuwiderlaufen könnten. Zu diesen Sanktionen gehören insbesondere das Einfrieren der Vermögenswerte bestimmter, in Anhang I dieser Verordnung abschließend aufgeführter natürlicher oder juristischer Personen(56) sowie das Verbot, ihnen wirtschaftliche Ressourcen oder Gelder zur Verfügung zu stellen.

82.      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof im Urteil Bank Sepah(57) festgestellt, dass es zur Erreichung dieser Ziele nicht nur legitim, sondern geradezu unerlässlich ist, die Begriffe „Einfrieren von Geldern“ und „Einfrieren von wirtschaftlichen Ressourcen“ weit auszulegen, da es darum geht, jede Verwendung der eingefrorenen Vermögenswerte zu verhindern, die es ermöglichen würde, die fraglichen Verordnungen zu umgehen und die Schwächen des Systems auszunutzen(58). Diese weite Auslegung bedeutet, dass alle Vermögenswerte einer benannten Person eingefroren werden müssen, was die von ihr stammenden und für sie bestimmten Gelder einschließt(59).

83.      Außerdem ist Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 nicht auf Zivilprozesse im engeren Sinne beschränkt, sondern gilt für Entscheidungen, deren Anerkennung, Vollstreckung oder Rechtswirkungen die Wirksamkeit der in der Verordnung vorgesehenen restriktiven Maßnahmen beeinträchtigen könnten. Diese Bestimmung richtet sich daher nicht unmittelbar an die Parteien des Rechtsstreits – den Kläger oder den Beklagten – als solche, sondern erlegt den Gerichten die allgemeine Verpflichtung auf, keine Entscheidungen zu erlassen, die den Zweck der Sanktionen vereiteln könnten.

84.      Wenn also ein Forderungsinhaber Ansprüche aus einem Vertrag geltend machen will, der unter Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 fällt – und insbesondere mit einer von Sanktionen betroffenen Person geschlossen wurde – oder durch den die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele unterlaufen werden sollen, ist das angerufene Gericht gehalten, der Forderung nicht stattzugeben. Art. 11 Abs. 1 der Verordnung soll auf diese Weise die Wirksamkeit der restriktiven Maßnahmen der Union gewährleisten und kann als solcher Rechtswirkungen gegenüber beiden Parteien des Rechtsstreits entfalten, je nachdem, wer durch den Vorgang begünstigt würde(60).

85.      Im Übrigen ist der Analyse der Kommission zuzustimmen, der zufolge sich Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 ausdrücklich auf eine „Forderung“(61) bezieht, wobei dieser Begriff wesentlich enger zu verstehen ist als der Begriff „Verfahren“. Eine in Anhang I dieser Verordnung aufgeführte Person kann nämlich in einem Verfahren als Beklagte wie auch als Klägerin, insbesondere im Rahmen einer Widerklage, auftreten. Eine solche Forderung kann grundsätzlich von jedem der Verfahrensbeteiligten geltend gemacht werden. Daher ist die Anwendbarkeit dieser Bestimmung stets unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Falles zu prüfen.

86.      Infolgedessen schlage ich vor, auf die sechste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 dahin auszulegen ist, dass unter diese Bestimmung fallenden Forderungen unabhängig davon, ob sie im Verfahren vom Kläger oder vom Beklagten geltend gemacht werden, nicht stattgegeben werden darf.

VI.    Ergebnis

87.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefragen des Augstākās tiesas Senāts (Oberstes Gericht, Lettland) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 2 und Art. 11 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 des Rates vom 17. März 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen, in der durch die Durchführungsverordnung (EU) 2023/1765 des Rates vom 13. September 2023 geänderten Fassung

sind dahin auszulegen, dass

das angerufene Gericht bei Vorliegen entsprechender Anhaltspunkte von Amts wegen prüfen muss, ob einer der Verfahrensbeteiligten zu den in Art. 2 oder Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b dieser Verordnung aufgeführten Personen gehört, und zu diesem Zweck alle ihm zustehenden Ermittlungsbefugnisse wahrzunehmen hat. Insbesondere ist es verpflichtet, bei den zuständigen Fachbehörden die erforderlichen Auskünfte einzuholen, um diese Prüfung vornehmen zu können. Diese Prüfungspflicht erstreckt sich auch auf natürliche oder juristische Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die mit den Verfahrensbeteiligten in Verbindung stehen.

2.      Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 269/2014 in der durch die Durchführungsverordnung 2023/1765 geänderten Fassung

ist dahin auszulegen, dass

–        zwar über einen Rechtsstreit in der Sache entschieden werden darf, es aber verboten ist, einer Forderung ganz oder teilweise stattzugeben, die einen Vertrag betrifft, dessen Erfüllung ganz oder teilweise, unmittelbar oder mittelbar durch restriktive Maßnahmen berührt wird. Die Entscheidung eines nationalen Gerichts, in deren Tenor festgestellt wird, dass diese Entscheidung nicht vollstreckbar ist, solange der Forderungsinhaber unter Art. 11 Abs. 1 Buchst. a oder b der Verordnung Nr. 269/2014 fällt, entspricht grundsätzlich diesem Verbot;

–        unter diese Bestimmung fallenden Forderungen unabhängig davon, ob sie im Verfahren vom Kläger oder vom Beklagten geltend gemacht werden, nicht stattgegeben werden darf.


1      Originalsprache: Französisch.


2      ABl. 2014, L 78, S. 6.


3      ABl. 2023, L 226, S. 3.


4      ABl. 2022, L 58, S. 1.


5      Beschluss des Rates vom 17. März 2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen (ABl. 2014, L 78, S. 16).


6      Der Gerichtshof sieht in Art. 215 AEUV ein Bindeglied zwischen den Zielen des EU-Vertrags im Bereich der GASP und dem mit restriktiven Maßnahmen verbundenen Handeln der Union gemäß dem AEU-Vertrag (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 89, und vom 10. September 2024, Neves 77 Solutions, C‑351/22, EU:C:2024:723, Rn. 45).


7      Vgl. Urteil vom 10. März 2011, Privater Rettungsdienst und Krankentransport Stadler (C‑274/09, EU:C:2011:130, Rn. 29 und 36).


8      Nach ständiger Rechtsprechung hat der Gerichtshof aus dem gesamten von dem einzelstaatlichen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. Urteil vom 9. März 2023, Registrų centras, C‑354/21, EU:C:2023:184, Rn. 35).


9      Siehe Nr. 28 der vorliegenden Schlussanträge.


10      Vgl. Urteile vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 89), und vom 10. September 2024, Neves 77 Solutions (C‑351/22, EU:C:2024:723, Rn. 56).


11      Die Unionsgerichte und die nationalen Gerichte üben eine gerichtliche Kontrolle im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten aus. Die Kontrolle von Unionsrechtsakten wie der Verordnung Nr. 269/2014 fällt in die Zuständigkeit der Unionsgerichte. Dagegen ist es Aufgabe der nationalen Gerichte, den gerichtlichen Rechtsschutz gegen staatliche Rechtsakte zu gewähren, die auf nationaler Ebene zur Umsetzung oder Anwendung dieser Unionsrechtsakte erlassen wurden.


12      Giumelli, F., Geelhoed, W., de Vries, M., und Molesini, A., „United in diversity? A study on the implementation of sanctions in the European Union, Beyond Foreign Policy?“, EU Sanctions at the Intersection of Development, Trade, and CFSP, Bd. 10, Nr. 1 (2022), S. 41.


13      Portela, C., Olsen, K., „Mise en œuvre et suivi des régimes de sanctions de l’UE, y compris des recommandations visant à renforcer les capacités de l’UE à mettre en œuvre et à surveiller les sanctions“, Studie des Europäischen Parlaments vom 10. Oktober 2023, S. 26.


14      Starski, P., „United in Sanctions? Some Observations on the EU Practice of ‚Restrictive Measures‘ in the Face of the Russian Aggression against Ukraine“, The EU Reexamined, 2024, S. 256.


15      Finelli, F., „Countering circumvention of restrictive measures: the EU response“, Common Market Law Review, Bd. 60, Nr. 3 (2023), S. 737.


16      Vgl. Urteile vom 26. Januar 2010, Transportes Urbanos y Servicios Generales (C‑118/08, EU:C:2010:39, Rn. 31), vom 7. April 2022, Caixabank (C‑385/20, EU:C:2022:278, Rn. 47), und vom 13. März 2025, Banco Santander (C‑230/24, EU:C:2025:177, Rn. 20).


17      Siehe Nr. 34 der vorliegenden Schlussanträge.


18      Siehe Nr. 33 der vorliegenden Schlussanträge.


19      Blair, W., „The legal effect of sanctions against Russia on financial and commercial transactions“, International sanctions: Monetary and financial law perspectives, Leiden 2024, S. 313. Nach Ansicht des Verfassers sind die staatlichen Gerichte nicht die Hauptinstrumente für die Umsetzung von Sanktionen. Soweit die von ihnen erlassenen Entscheidungen jedoch unmittelbar oder mittelbar zur Umsetzung und/oder Anerkennung solcher Sanktionen führten, sei diese Wirkung ein entscheidender Faktor für ihre Wirksamkeit als Ganzes.


20      Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer in der Rechtssache Vedial/HABM (C‑106/03 P, EU:C:2004:457, Nr. 28). Dem Generalanwalt zufolge ist der Dispositionsgrundsatz sehr nützlich, um auf bestimmte charakteristische Merkmale des – in aller Regel zivilrechtlichen – Verfahrens hinzuweisen, die die Anerkennung der Privatautonomie des Einzelnen widerspiegelten. Es sei Sache der Parteien als Herren des Verfahrens, dieses nicht nur einzuleiten oder zu beenden, sondern auch seinen Gegenstand zu bestimmen. Es handle sich letztlich um den verfahrensrechtlichen Reflex der Befugnis, über die eigenen Rechte zu verfügen, die sich materiell‑rechtlich im Vorrang des vertraglich geäußerten Willens manifestiere. Die mittelbare Rechtfertigung für diesen Grundsatz sei, dass der – auch potenzielle oder mutmaßliche – Inhaber von Rechten an einer Sache diese Verfügungsbefugnis behalten müsse, damit er sie auch im Prozess in Anspruch nehmen oder sie durch Verzicht oder Anerkenntnis ganz oder teilweise preisgeben könne, wodurch er letztlich den Rechtsstreit bestimme.


21      Vorausgesetzt, dass die Parteien materiell-rechtlich über den Streitgegenstand verfügen können.


22      Vgl. Urteile vom 17. Dezember 2009, Martín Martín (C‑227/08, EU:C:2009:792, Rn. 20), vom 26. April 2017, Farkas (C‑564/15, EU:C:2017:302, Rn. 33), und vom 14. September 2023, Tuk Tuk Travel (C‑83/22, EU:C:2023:664, Rn. 45).


23      Die Verpflichtung der nationalen Gerichte, von Amts wegen zu prüfen, ob das Unionsrecht beachtet wurde, gilt für bestimmte Vorschriften im Bereich des Verbraucherschutzes (vgl. Urteil vom 14. September 2023, Tuk Tuk Travel, C‑83/22, EU:C:2023:664, Rn. 45 bis 47 und die dort angeführte Rechtsprechung) und des internationalen Schutzes (vgl. Urteile vom 8. November 2022, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Von Amts wegen erfolgende Prüfung der Haft], C‑704/20 und C‑39/21, EU:C:2022:858, Rn. 94, und vom 17. Oktober 2024, Ararat, C‑156/23, EU:C:2024:892, Rn. 52).


24      Vgl. Urteil vom 4. Oktober 2024, Kommission und Rat/Front Polisario (C‑779/21 P und C‑799/21 P, EU:C:2024:835, Rn. 133).


25      Vgl. u. a. elfter Erwägungsgrund der Präambel, Art. 3 Abs. 5, Art. 21 Abs. 2 Buchst. c und Art. 42 Abs. 1 EUV. Vgl. Urteil vom 19. Juli 2012, Parlament/Rat (C‑130/10, EU:C:2012:472, Rn. 62).


26      Blair, W., „The legal effect of sanctions against Russia on financial and commercial transactions“, International sanctions: Monetary and financial law perspectives, Leiden 2024, S. 313. Der Verfasser scheint die Anwendung der Unionssanktionen als Teil der öffentlichen Ordnung zu betrachten.


27      Urteil vom 21. Dezember 2021 (C‑124/20, EU:C:2021:1035).


28      Urteil vom 21. Dezember 2021, Bank Melli Iran (C‑124/20, EU:C:2021:1035, Rn. 55, 59 und 60).


29      Urteil vom 21. Dezember 2021, Bank Melli Iran (C‑124/20, EU:C:2021:1035, Rn. 67 und 68).


30      Urteil vom 21. Dezember 2011 (C‑72/11, EU:C:2011:874).


31      Vgl. Urteil vom 21. Dezember 2011, Afrasiabi u. a. (C‑72/11, EU:C:2011:874, Rn. 60 und 62).


32      Finelli, F., „Countering circumvention of restrictive measures: the EU response“, Common Market Law Review, Bd. 60, Nr. 3 (2023), S. 734.


33      Art. 7 Abs. 4 der Verordnung (EG) Nr. 423/2007 des Rates vom 19. April 2007 über restriktive Maßnahmen gegen Iran (ABl. 2007, L 103, S. 1).


34      Siehe Nrn. 63 ff. der vorliegenden Schlussanträge.


35      Vilà Sánchez, E., „The European Union’s sanctions regime on the Russian Federation from 2014 to 2022“, Quaderns IEE: Revista de l’Institut d’Estudis Europeus, Bd. 2, Nr. 1 (2023), S. 55.


36      Die Orientierungshilfen in den Leitlinien der Kommission scheinen besonders nützlich zu sein (vgl. hierzu Circumvention red flags related to business partners and customers in dem Dokument „Guidance for EU operators: Implementing enhanced due diligence to shield against Russia sanctions circumvention“).


37      Giumelli, F., Geelhoed, W., de Vries, M., und Molesini, A., „United in diversity? A study on the implementation of sanctions in the European Union, Beyond Foreign Policy?“, a. a. O., S. 38.


38      Siehe Nr. 50 der vorliegenden Schlussanträge.


39      Vgl. Rn. 4 der Vorlageentscheidung.


40      Vgl. Urteil vom 28. Juli 2016, Kratzer (C‑423/15, EU:C:2016:604, Rn. 27).


41      Vgl. Rn. 32 des Dokuments mit dem Titel „Restriktive Maßnahmen (Sanktionen) – Aktualisierung der vorbildlichen Verfahren der EU für die wirksame Umsetzung restriktiver Maßnahmen“ vom 3. Juli 2024 (im Folgenden: Leitlinien) (Nr. Vordok.: 10572/22).


42      Vgl. Urteil vom 15. Dezember 2022, Instrubel u. a. (C‑753/21 und C‑754/21, EU:C:2022:987, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


43      Niestedt, M., EU-Außenwirtschafts- und Zollrecht, Krenzler, H. G., Herrmann, C., Niestedt, M., „V. Embargo- und Sanktionsmaßnahmen“, C. H. Beck, 2015, Rn. 50.


44      Urteil vom 11. Oktober 2007 (C‑117/06, EU:C:2007:596).


45      Vgl. Urteil vom 11. Oktober 2007, Möllendorf und Möllendorf-Niehuus (C‑117/06, EU:C:2007:596, Rn. 56).


46      Vgl. Rn. 33 der Leitlinien.


47      Vgl. Rn. 33 der Leitlinien.


48      Vgl. die folgenden Sprachfassungen: dänisch („vil de gælde forud for alle uforenelige aftalemæssige arrangementer“), englisch („override all incompatible contractual arrangements“), französisch („l’emportent sur toute disposition contractuelle incompatible“), italienisch („prevalgono su tutti gli accordi contrattuali incompatibili“), lettisch („tai ir prioritāte pār visiem neatbilstīgiem līgumiskiem noteikumiem“), litauisch („jie yra viršesni už visas su jais nesuderinamas sutartines priemones“), niederländisch („hebben zij voorrang boven alle daarmee onverenigbare contractuele regelingen“), polnisch („uchylają one wszystkie niezgodne porozumienia umowne“), portugiesisch („invalidam toda e qualquer disposição contratual que com eles seja incompatível“) und spanisch („prevalece sobre cualquier acuerdo contractual incompatible“).


49      Siadat, A., Schultess, A., „Russland-Embargo-VO und innerdeutsche Zahlungsaufträge“, Zeitschrift für Bank und Kapitalmarktrecht, 2024, Nr. 13, S. 591.


50      Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten, Verstöße gegen restriktive Maßnahmen der Union strafrechtlich zu ahnden. Vgl. hierzu Richtlinie (EU) 2024/1226 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. April 2024 zur Definition von Straftatbeständen und Sanktionen bei Verstoß gegen restriktive Maßnahmen der Union und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2018/1673 (ABl. L, 2024/1226)


51      Siehe Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge.


52      Vgl. entsprechend Urteil vom 12. Juni 2014, Peftiev (C‑314/13, EU:C:2014:1645, Rn. 24).


53      Vgl. die folgenden Sprachfassungen: dänisch („ingen fordringer må indfries“), englisch („no claims … shall be satisfied“), französisch („il n’est fait droit à aucune demande“), italienisch („non è concesso“), lettisch („neapmierina“), litauisch („netenkinami“), niederländisch („worden niet toegewezen“), polnisch („nie są zaspokajane“), portugiesisch („não há lugar ao pagamento“) und spanisch („no se satisfará“).


54      Siehe Nr. 54 der vorliegenden Schlussanträge.


55      Siehe Nr. 72 der vorliegenden Schlussanträge.


56      Vgl. Urteil vom 5. September 2024, Jemerak (C‑109/23, EU:C:2024:681, Rn. 48).


57      Urteil vom 11. November 2021, Bank Sepah (C‑340/20, EU:C:2021:903).


58      Urteil vom 11. November 2021, Bank Sepah (C‑340/20, EU:C:2021:903, Rn. 56).


59      Vgl. hierzu das Kommissionsdokument mit dem Titel „Consolidated FAQs on the implementation of Council Regulation No 833/2014 and Council Regulation No 269/2014“, Antwort auf Frage 19, S. 34.


60      Es ist denkbar, dass eine im Rahmen restriktiver Maßnahmen benannte Person in einem von ihrem Vertragspartner angestrengten Rechtsstreit eine Verbindlichkeit, die sie ihrem Vertragspartner gegenüber zu erfüllen hat, mit einer Forderung, die ihr gegen diesen zusteht, aufrechnet, und zwar ohne eine Widerklage zu erheben. Eine solche Aufrechnung hätte zur Folge, dass die benannte Person im Rahmen des von ihrem Vertragspartner eingeleiteten Verfahrens von ihrer Schuld befreit würde.


61      Vgl. die folgenden Sprachfassungen: dänisch („fordring“), englisch („claim“), französisch („demande“), italienisch („diritto“), lettisch („prasības“), litauisch („reikalavimai“), niederländisch („vordering“), polnisch („roszczenia“), portugiesisch („pedido“) und spanisch („reclamación“).

Augša