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Document 62023CJ0302

Urteil des Gerichtshofs (Zehnte Kammer) vom 17. Oktober 2024.
Marek Jarocki gegen C. J.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy Katowice – Wschód w Katowicach.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Binnenmarkt – Elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen – Verordnung (EU) Nr. 910/2014 – Art. 25 – Elektronische Signaturen – Rechtswirkung und Beweiskraft im Rahmen eines Gerichtsverfahrens – Nationale Rechtsvorschrift, nach der Schriftsätze mit elektronischer Signatur elektronisch bei den Gerichten eingereicht werden dürfen – Erfordernis, dass diese Gerichte über ein geeignetes Kommunikations- und Informationssystem verfügen.
Rechtssache C-302/23.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:905

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

17. Oktober 2024 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Binnenmarkt – Elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen – Verordnung (EU) Nr. 910/2014 – Art. 25 – Elektronische Signaturen – Rechtswirkung und Beweiskraft im Rahmen eines Gerichtsverfahrens – Nationale Rechtsvorschrift, nach der Schriftsätze mit elektronischer Signatur elektronisch bei den Gerichten eingereicht werden dürfen – Erfordernis, dass diese Gerichte über ein geeignetes Kommunikations- und Informationssystem verfügen“

In der Rechtssache C‑302/23

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Rejonowy Katowice – Wschód w Katowicach (Rayongericht Katowice-Wschód [Kattowitz-Ost], Polen) mit Entscheidung vom 28. April 2023, beim Gerichtshof eingegangen am 10. Mai 2023, in dem Verfahren

Marek Jarocki

gegen

C. J.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten D. Gratsias sowie des Präsidenten der Vierten Kammer I. Jarukaitis (Berichterstatter) und des Richters Z. Csehi,

Generalanwältin: T. Ćapeta,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn M. Jarocki,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der tschechischen Regierung, vertreten durch J. Očková, M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch R. Bénard, B. Fodda und E. Timmermans als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von M. La Greca und L. Reali, Avvocati dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Armati, O. Gariazzo und U. Małecka als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie von Art. 25 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (ABl. 2014, L 257, S. 73).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Marek Jarocki und C. J. wegen eines Antrags auf Erteilung einer Vollstreckungsklausel, um die Zwangsvollstreckung in eine zum gemeinsamen Vermögen von C. J. und seiner Ehefrau gehörende Immobilie durchzuführen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

In den Erwägungsgründen 2, 12, 13, 18, 21, 22 und 49 der Verordnung Nr. 910/2014 heißt es:

„(2)

Diese Verordnung dient der Stärkung des Vertrauens in elektronische Transaktionen im Binnenmarkt, indem eine gemeinsame Grundlage für eine sichere elektronische Interaktion zwischen Bürgern, Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen geschaffen wird, wodurch die Effektivität öffentlicher und privater Online-Dienstleistungen, des elektronischen Geschäftsverkehrs und des elektronischen Handels in der [Europäischen] Union erhöht wird.

(12)

Eines der Ziele dieser Verordnung ist die Beseitigung bestehender Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Verwendung elektronischer Identifizierungsmittel, die in den Mitgliedstaaten zumindest die Authentifizierung für öffentliche Dienste ermöglichen. Diese Verordnung bezweckt keinen Eingriff in die in den Mitgliedstaaten bestehenden elektronischen Identitätsmanagementsysteme und zugehörigen Infrastrukturen. Sie soll vielmehr sicherstellen, dass beim Zugang zu Online-Diensten, die von den Mitgliedstaaten grenzüberschreitend angeboten werden, eine sichere elektronische Identifizierung und Authentifizierung möglich ist.

(13)

Den Mitgliedstaaten sollte es freigestellt bleiben, zwecks elektronischer Identifizierung eigene Mittel für den Zugang zu Online-Diensten einzuführen oder zu verwenden. Sie sollten auch selbst entscheiden können, ob sie den Privatsektor in die Bereitstellung solcher Mittel einbeziehen. Die Mitgliedstaaten sollten nicht verpflichtet sein, ihre elektronischen Identifizierungssysteme der [Europäischen] Kommission zu notifizieren. Die Entscheidung, alle, einige oder keines der elektronischen Identifizierungssysteme der Kommission zu notifizieren, die auf nationaler Ebene zumindest für den Zugang zu öffentlichen Online-Diensten oder bestimmten Diensten verwendet werden, ist Sache der Mitgliedstaaten.

(18)

Diese Verordnung sollte die Haftung des notifizierenden Mitgliedstaats, des das elektronische Identifizierungsmittel ausstellenden Beteiligten und des das Authentifizierungsverfahren durchführenden Beteiligten für die Nichteinhaltung der einschlägigen Pflichten aus dieser Verordnung regeln. Sie sollte jedoch im Einklang mit den nationalen Vorschriften über die Haftung angewendet werden. Daher berührt sie diese nationalen Vorschriften nicht, soweit es etwa um den Schadensbegriff oder die einschlägigen geltenden Verfahrensvorschriften – einschließlich der Bestimmungen über die Beweislast – geht.

(21)

… Ferner sollte diese Verordnung keine Aspekte im Zusammenhang mit dem Abschluss und der Gültigkeit von Verträgen oder anderen rechtlichen Verpflichtungen behandeln, für die nach nationalem Recht oder Unionsrecht Formvorschriften zu erfüllen sind. Unberührt bleiben sollten ferner auch nationale Formvorschriften für öffentliche Register, insbesondere das Handelsregister und das Grundbuch.

(22)

Um ihre allgemeine grenzüberschreitende Verwendung zu fördern, sollte es in allen Mitgliedstaaten möglich sein, Vertrauensdienste in Gerichtsverfahren als Beweismittel zu verwenden. Die Rechtswirkung von Vertrauensdiensten ist jedoch durch nationales Recht festzulegen, sofern in dieser Verordnung nichts anderes bestimmt ist.

(49)

Diese Verordnung sollte den Grundsatz festlegen, dass einer elektronischen Signatur die Rechtswirkung nicht deshalb abgesprochen werden darf, weil sie in elektronischer Form vorliegt oder nicht alle Anforderungen einer qualifizierten elektronischen Signatur erfüllt. Die Rechtswirkung elektronischer Signaturen in den Mitgliedstaaten sollte jedoch durch nationales Recht festgelegt werden, außer hinsichtlich der in dieser Verordnung festgelegten [Anforderung], dass eine qualifizierte elektronische Signatur die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift haben sollte.“

4

Art. 2 („Anwendungsbereich“) der Verordnung Nr. 910/2014 bestimmt:

„(1)   Diese Verordnung gilt für von einem Mitgliedstaat notifizierte elektronische Identifizierungssysteme und für in der Union niedergelassene Vertrauensdiensteanbieter.

(3)   Diese Verordnung berührt nicht das nationale Recht oder das Unionsrecht in Bezug auf den Abschluss und die Gültigkeit von Verträgen oder andere rechtliche oder verfahrensmäßige Formvorschriften.“

5

Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Verordnung sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung gelten die folgenden Begriffsbestimmungen:

(10)

‚Elektronische Signatur‘ sind Daten in elektronischer Form, die anderen elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verbunden werden und die der Unterzeichner zum Unterzeichnen verwendet.

(12)

‚Qualifizierte elektronische Signatur‘ ist eine fortgeschrittene elektronische Signatur, die von einer qualifizierten elektronischen Signaturerstellungseinheit erstellt wurde und auf einem qualifizierten Zertifikat für elektronische Signaturen beruht.

…“

6

In Art. 9 („Notifizierung“) Abs. 1 Buchst. a der Verordnung Nr. 910/2014 heißt es:

„Der notifizierende Mitgliedstaat notifiziert der Kommission folgende Informationen und unverzüglich alle späteren Änderungen dieser Informationen:

a)

eine Beschreibung des elektronischen Identifizierungssystems einschließlich seiner Sicherheitsniveaus und des Ausstellers bzw. der Aussteller elektronischer Identifizierungsmittel im Rahmen des Systems“.

7

Art. 25 („Rechtswirkung elektronischer Signaturen“) dieser Verordnung sieht vor:

„(1)   Einer elektronischen Signatur darf die Rechtswirkung und die Zulässigkeit als Beweismittel in Gerichtsverfahren nicht allein deshalb abgesprochen werden, weil sie in elektronischer Form vorliegt oder weil sie die Anforderungen an qualifizierte elektronische Signaturen nicht erfüllt.

(2)   Eine qualifizierte elektronische Signatur hat die gleiche Rechtswirkung wie eine handschriftliche Unterschrift.

…“

Polnisches Recht

Zivilprozessordnung

8

Art. 125 §§ 21 und 21a der Ustawa – Kodeks postępowania cywilnego (Zivilprozessordnung) vom 17. November 1964 (Dz. U. Nr. 43, Position 296) in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Zivilprozessordnung) bestimmt:

„§ 21.   Wenn eine besondere Bestimmung dies vorsieht oder die Wahl getroffen wurde, die Schriftsätze über ein Kommunikations- und Informationssystem einzureichen, werden die Schriftsätze in der Rechtssache ausschließlich über das Kommunikations- und Informationssystem eingereicht. Schriftsätze, die nicht über das Kommunikations- und Informationssystem eingereicht werden, entfalten nicht die Rechtswirkungen, die das Gesetz der Einreichung eines Schriftsatzes bei Gericht zuschreibt, worauf das Gericht die einreichende Partei hinweist.

§ 21a.   Die Wahl, Schriftsätze über ein Kommunikations- und Informationssystem einzureichen, und die fortgesetzte Einreichung dieser Schreiben über dieses System sind zulässig, wenn dies aus technischen Gründen, die dem Gericht zuzurechnen sind, möglich ist.“

9

Art. 126 § 1 Nr. 6 der Zivilprozessordnung sieht vor:

„Jeder Schriftsatz muss Folgendes enthalten:

6.

die Unterschrift der Partei oder ihres gesetzlichen Vertreters oder Bevollmächtigten.“

10

Art. 126 § 5 der Zivilprozessordnung bestimmt:

„Ein über ein Kommunikations- und Informationssystem eingereichter Schriftsatz ist mit einer qualifizierten elektronischen Signatur, einer vertrauenswürdigen Signatur oder einer persönlichen Unterschrift zu versehen.“

Gesetz über die Informatisierung der Tätigkeiten von Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen

11

Art. 3 Nrn. 13 und 14a der Ustawa o informatyzacji działalności podmiotów realizujących zadania publiczne (Gesetz über die Informatisierung der Tätigkeiten von Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen) vom 17. Februar 2005 in ihrer auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (Dz. U. von 2023, Position 57) bestimmt:

„Im Sinne dieses Gesetzes bedeutet:

13.

,elektronische Plattform für Dienstleistungen der öffentlichen Verwaltung‘ ein Kommunikations- und Informationssystem, in dem öffentliche Einrichtungen Dienstleistungen über einen einzigen Zugangspunkt im Internet zur Verfügung stellen;

14a.

,vertrauenswürdige Signatur‘ eine elektronische Signatur, deren Authentizität und Integrität durch ein elektronisches Siegel des für die Informatisierung zuständigen Ministers gewährleistet wird …“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

12

Am 28. November 2022 beantragte der Antragsteller beim Sąd Rejonowy Katowice – Wschód w Katowicach (Rayongericht Katowice-Wschód, Polen), dem vorlegenden Gericht, die Erteilung einer Vollstreckungsklausel, um die Zwangsvollstreckung in eine zum gemeinsamen Vermögen seines Schuldners und dessen Ehefrau gehörende Immobilie betreiben zu können. Dieser Antrag, dem ein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe beigefügt war, wurde per E‑Mail über die elektronische Plattform des vorlegenden Gerichts gestellt. Er war elektronisch mit einer vertrauenswürdigen Signatur im Sinne von Art. 3 Nr. 14a des Gesetzes über die Informatisierung der Tätigkeiten von Einrichtungen, die öffentliche Aufgaben wahrnehmen, unterzeichnet.

13

Nachdem der mit der Prüfung des Antrags befasste Rechtspfleger den Antragsteller aufgefordert hatte, die Formfehler des Antrags u. a. dadurch zu beheben, dass er ein handschriftlich unterschriebenes amtliches Formular einreicht und dieses durch verschiedene Angaben ergänzt, schickte der Antragsteller am 21. Januar 2023 an dieselbe elektronische Plattform des vorlegenden Gerichts eine Erklärung mit den angeforderten Informationen, die erneut mit einer vertrauenswürdigen Signatur unterzeichnet war.

14

Der Rechtspfleger wies den Antrag auf Prozesskostenhilfe mit Verfügung vom 8. Februar 2023 zurück, da die Formfehler des Antrags nicht behoben worden seien und dieser nicht handschriftlich unterzeichnet worden sei.

15

Am 4. März 2023 bat der Antragsteller das vorlegende Gericht auf elektronischem Weg, diesen Rechtspfleger von der Bearbeitung des Verfahrens auszuschließen und gegen diesen ein Disziplinarverfahren einzuleiten, da ernsthafte Zweifel an dessen Unparteilichkeit bestünden, weil er sich weigere, ein Schreiben mit elektronischer Signatur anzunehmen, und damit gegen Unionsrecht verstoße.

16

Gemäß den Ausführungen des vorlegenden Gerichts verfügen die meisten polnischen Gericht nicht über ein Informations- und Kommunikationssystem, das die elektronische Einreichung von Schriftsätzen ermöglicht, und nehmen daher keine elektronisch signierten Schriftstücke an. Zumindest in ordentlichen Zivilverfahren werden danach nur handschriftlich unterzeichnete Schreiben akzeptiert.

17

Nach Meinung des Gerichts wird die Rechtswirkung der elektronischen Signatur grundsätzlich durch das nationale Recht bestimmt. Lediglich im Bereich der qualifizierten elektronischen Signatur sehe die Verordnung Nr. 910/2014 vor, dass deren Wirkung einer handschriftlichen Unterschrift gleichzusetzen sei. Zudem sei es nicht die Absicht des Unionsgesetzgebers gewesen, den Mitgliedstaaten konkrete Lösungen für die Verwendung elektronischer Signaturen im Rahmen von Gerichtsverfahren vorzuschreiben.

18

Daher ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass es nicht verpflichtet sei, ein per E‑Mail an seine E‑Mail-Adresse geschicktes Schriftstück mit elektronischer Signatur anzunehmen, da es nicht über ein Informations- und Kommunikationssystem verfüge, das nach nationalem Recht die Einreichung elektronisch signierter Schriftsätze ermögliche.

19

Das vorlegende Gericht möchte gleichwohl wissen, ob das im zweiten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 910/2014 genannte Ziel, nämlich die Stärkung des Vertrauens in elektronische Transaktionen im Binnenmarkt zwischen Bürgern, Unternehmen und öffentlichen Verwaltungen, zu berücksichtigen ist. Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 könne im Hinblick auf dieses Ziel dahin ausgelegt werden, dass die Mitgliedstaaten nach dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung verpflichtet seien, ein elektronisch signiertes Schriftstück anzunehmen. Eine solche Auslegung würde zu einer Vereinheitlichung der Modalitäten für die Einreichung von Schriftsätzen bei den Gerichten der Mitgliedstaaten führen.

20

Es möchte insoweit wissen, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 910/2014 zur elektronischen Signatur nur auf diejenigen Mitgliedstaaten anzuwenden sind, die der Kommission gemäß Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung ein elektronisches Identifizierungssystem notifiziert haben, was die Republik Polen jedoch nicht getan habe.

21

Unter diesen Umständen hat der Sąd Rejonowy Katowice – Wschód w Katowicach (Rayongericht Katowice-Wschód) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 12, 13, 18, 21, 22 und 49 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats verpflichtet ist, einen bei diesem Gericht eingereichten und mit einer elektronischen Signatur im Sinne von Art. 3 Nr. 10 der Verordnung signierten Schriftsatz anzunehmen, wenn die nationalen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats keine andere Möglichkeit vorsehen, Schriftsätze bei Gericht mittels einer elektronischen Signatur einzureichen, als über ein Kommunikations- und Informationssystem?

Zur Vorlagefrage

22

Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie Art. 25 Abs. 1 und 2 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, nach der ein Schriftsatz nur dann in elektronischer Form und mit elektronischer Signatur bei einem Gericht eingereicht werden darf, wenn dieses über ein geeignetes Informations- und Kommunikationssystem verfügt und die Einreichung über dieses System erfolgt.

23

Vorab ist erstens festzustellen, dass das vorlegende Gericht wissen möchte, ob die Verordnung Nr. 910/2014 in sachlicher Hinsicht auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist; diese Verordnung finde nur auf elektronische Identifizierungssysteme Anwendung, die der Kommission von den Mitgliedstaaten notifiziert worden seien. Das vom Antragsteller für die elektronische Einreichung seiner Schriftsätze verwendete elektronische Identifizierungsmittel falle nicht unter ein von der Republik Polen notifiziertes elektronisches Identifizierungssystem, die im Übrigen gar kein solches System notifiziert habe.

24

Die Kommission gibt insoweit an, dass die Republik Polen nach Art. 9 der Verordnung Nr. 910/2014 ein elektronisches Identifizierungssystem mitgeteilt habe.

25

Selbst wenn die Republik Polen der Kommission kein elektronisches Identifizierungssystem notifiziert hätte oder wenn es sich bei dem notifizierten elektronischen Identifizierungssystem nicht um dasjenige handeln sollte, durch das dem Antragsteller das elektronische Identifizierungsmittel ausgestellt wurde, das er bei der elektronischen Einreichung der Schriftstücke zur Authentifizierung gegenüber dem vorlegenden Gericht genutzt hat, wäre aber die Frage, ob überhaupt ein System notifiziert wurde, bei der Beurteilung, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 910/2014 zur elektronischen Signatur auf einen Sachverhalt wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anwendung finden, jedenfalls ohne Belang.

26

Art. 2 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 präzisiert nämlich, dass diese einen doppelten Anwendungsbereich hat. Zum einen gilt sie für von einem Mitgliedstaat notifizierte elektronische Identifizierungssysteme und zum anderen für sämtliche in der Union niedergelassenen Vertrauensdiensteanbieter.

27

Die elektronische Identifizierung für die Zwecke der grenzüberschreitenden Authentifizierung der Online-Dienste ist in Kapitel II dieser Verordnung geregelt, das deren Art. 6 bis 12 umfasst, während die Vertrauensdienste im Kapitel III dieser Verordnung geregelt sind, dass die Art. 13 bis 45 enthält.

28

Die Notifizierung der elektronischen Identifizierungssysteme an die Kommission ist in Art. 9 der Verordnung Nr. 910/2014 vorgesehen. Diese Notifizierung, die gemäß dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung freiwillig bleibt, stellt eine Vorbedingung für die gegenseitige Anerkennung der elektronischen Identifizierungsmittel im Hinblick auf deren grenzüberschreitende Nutzung dar.

29

Dagegen ist sie nicht Voraussetzung für die Anwendung der Bestimmungen von Abschnitt 4 („Elektronische Signaturen“) in Kapitel III der Verordnung Nr. 910/2014, zu dem deren Art. 25 gehört, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht.

30

Folglich hat der Umstand, dass ein Mitgliedstaat ein elektronisches Identifizierungssystem nicht nach Art. 9 der Verordnung Nr. 910/2014 notifiziert hat, keine Auswirkungen auf die Anwendbarkeit der die elektronischen Signaturen betreffenden Bestimmungen dieser Verordnung in diesem Mitgliedstaat.

31

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass es sich gemäß der Vorlageentscheidung bei der vom Antragsteller genutzten „vertrauenswürdigen Signatur“ nicht um eine „qualifizierte elektronische Signatur“ im Sinne der Definition von Art. 3 Nr. 12 der Verordnung Nr. 910/2014 handelt, sondern um eine einfache elektronische Signatur im Sinne von Art. 3 Nr. 10 dieser Verordnung. Folglich ist Art. 25 Abs. 2 der Verordnung, der die Rechtswirkung der qualifizierten elektronischen Signatur betrifft, für die Beantwortung der Vorlagefrage nicht relevant.

32

Nach diesen einleitenden Klarstellungen ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 einer elektronischen Signatur die Rechtswirkung und die Zulässigkeit als Beweismittel in Gerichtsverfahren nicht „allein deshalb“ abgesprochen werden darf, weil sie in elektronischer Form vorliegt oder weil sie die Anforderungen an qualifizierte elektronische Signaturen nicht erfüllt.

33

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, verbietet diese Bestimmung den nationalen Gerichten nicht, elektronische Signaturen für ungültig zu erklären, sondern sie stellt einen allgemeinen Grundsatz auf, der es diesen Gerichten verbietet, elektronischen Signaturen die Rechtswirkung und die Beweiskraft allein deshalb abzusprechen, weil sie in elektronischer Form vorliegen oder weil sie die Anforderungen, die diese Verordnung aufstellt, damit eine elektronische Signatur als eine „qualifizierte elektronische Signatur“ angesehen werden kann, nicht erfüllen (Urteile vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt,C‑362/21, EU:C:2022:815, Rn. 35, und vom 29. Februar 2024, V. B. Trade,C‑466/22, EU:C:2024:185, Rn. 34).

34

Weiter hat der Gerichtshof entschieden, dass die Verordnung Nr. 910/2014, wie aus ihrem Art. 2 Abs. 3 im Licht ihres 49. Erwägungsgrundes hervorgeht, zwar gewährleisten soll, dass einer elektronischen Signatur nicht allein deshalb ihre Rechtswirkung abgesprochen wird, weil sie in dieser Form vorliegt, dass sie aber die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, Vorgaben hinsichtlich der Form zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. Oktober 2022, Ekofrukt,C‑362/21, EU:C:2022:815, Rn. 39).

35

Daher wirkt sich die Verordnung Nr. 910/2014 nicht auf Verfahrensfragen wie die aus, die im nationalen Recht die Modalitäten für die Einreichung von Schriftsätzen bei den Gerichten festlegen.

36

Hier ergibt sich aus dem vom vorlegenden Gericht geschilderten nationalen rechtlichen Rahmen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die elektronische Einreichung eines elektronisch signierten Schriftstücks bei einem Gericht nicht deshalb untersagt, weil allein eine handschriftliche Unterzeichnung als Signatur im Sinne von Art. 126 § 1 Nr. 6 der Zivilprozessordnung angesehen werden könnte, sondern mit der Begründung, dass nach Art. 125 § 21a dieses Gesetzes die elektronische Einreichung von Schriftsätzen bei einem Gericht nur mittels eines geeigneten Informations- und Kommunikationssystems, über das dieses Gericht verfügen muss, erfolgen darf.

37

Im Übrigen ist dieser Regelung zu entnehmen, dass die Einreichung elektronisch signierter Schriftsätze über ein solches System, wenn das Gericht über ein solches verfügt, dieselben Rechtswirkungen wie die hat, die die polnischen Rechtsvorschriften für gewöhnlich der Einreichung eines Schriftsatzes bei einem Gericht zuschreiben.

38

In einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens, bei der ein Schriftsatz auf elektronischem Weg bei einem Gericht eingereicht wird, obwohl dieses über kein zur Einreichung von Schriftsätzen geeignetes Informations- und Kommunikationssystem verfügt, wird dieser Schriftsatz folglich nicht „allein deshalb“ abgelehnt, weil dieser elektronisch signiert wurde oder nicht den Anforderungen der qualifizierten elektronischen Signatur genügt.

39

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie Art. 25 Abs. 1 der Verordnung Nr. 910/2014 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der ein Schriftsatz nur dann in elektronischer Form und mit elektronischer Signatur bei einem Gericht eingereicht werden darf, wenn dieses über ein geeignetes Informations- und Kommunikationssystem verfügt und die Einreichung über dieses System erfolgt, nicht entgegenstehen.

Kosten

40

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 2 Abs. 1 und 3 sowie Art. 25 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG

 

sind dahin auszulegen, dass

 

sie einer nationalen Rechtsvorschrift, nach der ein Schriftsatz nur dann in elektronischer Form und mit elektronischer Signatur bei einem Gericht eingereicht werden darf, wenn dieses über ein geeignetes Informations- und Kommunikationssystem verfügt und die Einreichung über dieses System erfolgt, nicht entgegenstehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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