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Document 62021CJ0817

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. Mai 2023.
R. I. gegen Inspecţia Judiciară und N. L.
Vorabentscheidungsersuchen der Curtea de Apel Bucureşti.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Entscheidung 2006/928/EG – Richterliche Unabhängigkeit – Disziplinarverfahren – Justizinspektion – Chefinspekteur, der über Regelungs‑, Auswahl‑, Bewertungs‑, Ernennungs- und disziplinarische Untersuchungsbefugnisse verfügt.
Rechtssache C-817/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:391

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

11. Mai 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsstaatlichkeit – Unabhängigkeit der Justiz – Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV – Entscheidung 2006/928/EG – Richterliche Unabhängigkeit – Disziplinarverfahren – Justizinspektion – Chefinspekteur, der über Regelungs‑, Auswahl‑, Bewertungs‑, Ernennungs- und disziplinarische Untersuchungsbefugnisse verfügt“

In der Rechtssache C‑817/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Bucureşti (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) mit Entscheidung vom 10. Dezember 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2021, in dem Verfahren

R. I.

gegen

Inspecţia Judiciară,

N. L.

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter P. G. Xuereb und T. von Danwitz sowie der Richterin I. Ziemele,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von R. I., vertreten durch I. Roşca als Bevollmächtigte,

der Inspecţia Judiciară, vertreten durch L. Netejoru als Bevollmächtigten,

der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Herrmann, I. Rogalski und P. Van Nuffel als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und des Anhangs der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung (ABl. 2006, L 354, S. 56).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen R. I. auf der einen Seite und der Inspecţia Judiciară (Justizinspektion, Rumänien) sowie N. L. auf der anderen Seite über die Entscheidungen der Justizinspektion, eine von R. I. gegen N. L. eingereichte Beschwerde nicht weiter zu verfolgen und den gegen diese Verfahrenseinstellung eingelegten Einspruch zurückzuweisen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Art. 1 der Entscheidung 2006/928 sieht vor:

„Bis zum 31. März jedes Jahres und zum ersten Mal bis zum 31. März 2007 erstattet Rumänien der [Europäischen] Kommission Bericht über die Fortschritte bei der Erfüllung der im Anhang aufgeführten Vorgaben.

Die Kommission kann jederzeit mit verschiedenen Maßnahmen technische Hilfe leisten oder Informationen zu den Vorgaben sammeln und austauschen. Ferner kann die Kommission zu diesem Zweck jederzeit Fachleute nach Rumänien entsenden. Die rumänischen Behörden leisten in diesem Zusammenhang die erforderliche Unterstützung.“

Rumänisches Recht

4

Art. 44 Abs. 6 der Legea nr. 317/2004 privind Consiliul Superior al Magistraturii (Gesetz Nr. 317/2004 über den Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte) vom 1. Juli 2004 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 827 vom 13. September 2005) in geänderter und ergänzter Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 317/2004 in geänderter Fassung) bestimmt:

„Für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens ist die Durchführung einer Disziplinaruntersuchung durch die Justizinspektion zwingend erforderlich.“

5

Art. 45 Abs. 4 des Gesetzes lautet:

„Ergeben sich aus den Vorermittlungen keine Anhaltspunkte für ein disziplinarisches Fehlverhalten, wird die Beschwerde nicht weiter verfolgt; das Ergebnis ist dem Beschwerdeführer und der von der Beschwerde betroffenen Person unmittelbar mitzuteilen. Die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens bedarf der Bestätigung durch den Chefinspekteur. Die Entscheidung kann vom Chefinspekteur lediglich einmal aufgehoben werden; dieser kann durch schriftliche und begründete Entscheidung weitere Ermittlungen anordnen.“

6

Art. 451 Abs. 1 des Gesetzes lautet:

„Der Beschwerdeführer kann gegen die Entscheidung zur Einstellung des Verfahrens nach Art. 45 Abs. 4 innerhalb von 15 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung beim Chefinspekteur Einspruch einlegen. Über den Einspruch wird innerhalb von 20 Tagen nach dem Datum seines Eingangs bei der Justizinspektion entschieden.“

7

Art. 47 Abs. 7 des Gesetzes lautet:

„Die Disziplinarklage kann innerhalb von 30 Tagen nach Abschluss der Disziplinaruntersuchung erhoben werden, spätestens jedoch zwei Jahre nach dem Zeitpunkt der Begehung der Tat.“

8

Art. 65 Abs. 2 bis 4 des Gesetzes Nr. 317/2004 in geänderter Fassung lautet:

„(2)   Die Justizinspektion wird von einem die Funktion des Chefinspekteurs wahrnehmenden Richter geleitet, der aufgrund eines vom Consiliul Superior al Magistraturii [(Oberster Rat der Richter und Staatsanwälte, Rumänien)] durchgeführten Auswahlverfahrens ernannt wird; er wird von einem die Funktion des stellvertretenden Chefinspekteurs wahrnehmenden Staatsanwalt unterstützt, der vom Chefinspekteur ausgewählt wird.

(3)   Die Justizinspektion handelt im Einklang mit dem Grundsatz der operativen Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte, den Gerichten, den ihnen angeschlossenen Staatsanwaltschaften und den sonstigen Behörden und nimmt ihre Prüfungs‑, Ermittlungs- und Aufsichtsbefugnisse in bestimmten Tätigkeitsbereichen nach den gesetzlichen Bestimmungen und mit dem Ziel, ihre Einhaltung zu gewährleisten, wahr.

(4)   Die Regelungen für die Durchführung der Inspektionstätigkeit werden vom Chefinspekteur im Wege einer Verordnung genehmigt.“

9

Art. 66 Abs. 3 des Gesetzes sieht vor:

„Die Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion sowie die Organisationsstruktur und die Aufgaben ihrer Abteilungen werden durch eine Verordnung festgelegt, die durch Erlass des Chefinspekteurs genehmigt wird …“

10

Art. 69 Abs. 1 und 4 des Gesetzes lautet:

„(1)   Der Chefinspekteur hat folgende Hauptaufgaben:

a)

Er wählt aus dem Kreis der Justizinspekteure die Geschäftsleitung – den stellvertretenden Chefinspekteur, die Leiter der Direktionen – auf der Grundlage eines Verfahrens, das die Beurteilung der für jede Stelle spezifisch geltenden Geschäftsleitungspläne einschließt, in der Weise aus, dass der Zusammenhalt der Geschäftsleitung, die fachliche Kompetenz und eine effiziente Kommunikation gewährleistet sind. Ihre Amtszeit endet mit derjenigen des Chefinspekteurs.

a1)

Er nimmt die Aufgaben der Geschäftsleitung und Organisation der Tätigkeit der Justizinspektion wahr.

a2)

Er ergreift Maßnahmen zur Koordinierung der Tätigkeit der sonstigen Mitarbeiter der Justizinspektion, die keine Justizinspekteure sind.

g)

Er ernennt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Justizinspekteure und Mitarbeiter sonstiger Kategorien der Justizinspektion und ordnet die Änderung, Suspendierung oder Beendigung ihrer Beschäftigungs- oder Dienstverhältnisse an.

h)

Er legt die individuellen Pflichten und Aufgaben der ihm unterstellten Mitarbeiter durch Genehmigung ihrer Tätigkeitsbeschreibungen fest.

i)

Er nimmt nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen die Bewertung der ihm unterstellten Mitarbeiter vor.

(4)   Der stellvertretende Chefinspekteur vertritt den Chefinspekteur von Amts wegen; er unterstützt ihn bei der Überprüfung des Handelns und der Entscheidungen der Justizinspekteure und bei der Abgabe von Stellungnahmen hierzu und nimmt alle sonstigen vom Chefinspekteur festgelegten Aufgaben wahr.“

11

Art. 71 Abs. 2 des Gesetzes lautet:

„Die Bestimmungen über Sanktionen, disziplinarisches Fehlverhalten und Disziplinarverfahren finden auf die Justizinspekteure entsprechende Anwendung.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12

R. I. ist in mehreren Strafverfahren vor rumänischen Gerichten Partei. Sie hatte bei der Justizinspektion gegen diesen Gerichten zugewiesene Richter und Staatsanwälte mehrere Disziplinarbeschwerden eingelegt.

13

In Bezug auf diese Beschwerden erließ die Justizinspektion mehrere verfahrenseinstellende Entscheidungen. Eine dieser Entscheidungen, die auf den 2. Juli 2018 datiert und von N. L. in seiner Eigenschaft als Chefinspekteur bestätigt worden ist, hat R. I. bei der Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest, Rumänien) angefochten.

14

Mit Urteil vom 27. September 2019 hob dieses Gericht die genannte Entscheidung auf. Die Înalta Curte de Casație și Justiție (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) wies mit Urteil vom 29. September 2020 die von der Justizinspektion gegen dieses Urteil eingelegte Berufung zurück.

15

Im Anschluss an dieses Gerichtsverfahren erließ die Justizinspektion am 11. März 2021 in Bezug auf die betreffende Disziplinarbeschwerde erneut eine verfahrenseinstellende Entscheidung. Am 31. Mai 2021 wies N. L. den von R. I. gegen diese Entscheidung eingelegten Einspruch zurück. R. I. erhob gegen die von N. L. auf diese Weise getroffene Entscheidung Nichtigkeitsklage.

16

Mit Schriftsatz vom 29. November 2019 an das Ministerului Justiţiei (Justizministerium, Rumänien) beschwerte sich R. I. über die Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte und beanstandete das Handeln einer „Gruppe“ von Personen, darunter N. L., die an der Verletzung und den gegen R. I. gerichteten strafrechtlichen Ermittlungen mitgewirkt haben sollen. In dem Schriftsatz machte R. I. u. a. geltend, dass N. L. versucht habe, Missbräuche und Rechtsverstöße bestimmter Angehöriger des höheren Justizdienstes zu verschleiern.

17

Das Justizministerium verneinte seine Zuständigkeit für die Prüfung dieser Beschwerde und leitete sie infolgedessen an die Justizinspektion weiter. Des Weiteren trug R. I. mit einer am 16. Februar 2021 bei der Justizinspektion erhobenen Beschwerde gegenüber N. L. eine zusätzliche Rüge vor.

18

Im Rahmen des bei diesem Organ geführten Verfahrens legte R. I. ihre Rügen näher dar und machte u. a. geltend, dass es keine echte Disziplinaruntersuchung gegeben habe, dass das Urteil vom 27. September 2019 nicht durchgeführt worden sei und dass die Prüfung ihrer Einsprüche absichtlich hinausgezögert worden sei, um eine Verjährungsfrist ablaufen zu lassen.

19

In Bezug auf die N. L. betreffende Beschwerde wurde das Verfahren am 17. März 2021 durch Entscheidung eines gemäß den vom Chefinspekteur erlassenen allgemeinen Vorschriften ernannten Justizinspekteurs eingestellt. Der Einspruch von R. I. gegen diese Entscheidung wurde am 11. Mai 2021 durch Entscheidung des stellvertretenden Chefinspekteurs zurückgewiesen.

20

Am 31. Mai 2021 hat R. I. beim vorlegenden Gericht Klage u. a. auf Nichtigerklärung der Entscheidungen vom 17. März und 11. Mai 2021 sowie auf Ersatz des Schadens erhoben, der ihr durch diese Entscheidungen entstanden sein soll.

21

Zur Stützung dieser Klage hat sich R. I. u. a. auf mehrere Unregelmäßigkeiten in Bezug auf Befugnisse berufen, über die der Chefinspekteur bei der Auswahl der Justizinspekteure, der Ernennung des stellvertretenden Chefinspekteurs und dem Erlass der Vorschriften über die Organisation der Justizinspektion verfügt, sowie auf das Fehlen ausreichender Garantien gegen die mangelnde Unparteilichkeit der Personen, die bei einer den Chefinspekteur betreffenden Beschwerde mit den Ermittlungen betraut sind. R. I. meint, dass das Unionsrecht eine Konzentration der Befugnisse beim Chefinspekteur verbiete und diese Konzentration die Durchführung von Disziplinarverfahren gegen Angehörige des höheren Justizdienstes oder gegen den Chefinspekteur verhindere.

22

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass sich R. I. zwar auf das Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a. (C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393), berufen habe, das Urteil jedoch nur den Rechtsakt der Ernennung des Chefinspekteurs betreffe, der im Hinblick auf die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung gegen Richter geprüft worden sei. Im vorliegenden Fall beanstande R. I. dagegen, dass es wegen der Modalitäten der Organisation und der Arbeitsweise der Justizinspektion nicht möglich sei, eine Disziplinarklage zu erheben.

23

Das vorlegende Gericht betont insoweit, dass die Justizinspektion im Jahr 2012 reformiert worden sei, um ihre operative Unabhängigkeit gegenüber dem Obersten Rat der Richter und Staatsanwälte zu stärken und dadurch die Einhaltung der Entscheidung 2006/928 sicherzustellen. Verschiedene Modalitäten der Organisation und Arbeitsweise der Justizinspektion, die u. a. ihre Struktur, die Aufgaben ihres Personals, das Verfahren zur Bearbeitung der Beschwerden, die Ernennung der Justizinspekteure oder die Ernennung von Personen in Leitungsstellen beträfen, ergäben sich aus Vorschriften, die der Chefinspekteur in Ausübung der ihm vom rumänischen Gesetzgeber eingeräumten Regelungsbefugnisse erlassen habe. Auf der Grundlage dieser Gesichtspunkte stellen sich dem vorlegenden Gericht insbesondere Fragen hinsichtlich der Stabilität des sich aus den rumänischen Rechtsvorschriften ergebenden Systems von Garantien in Bezug auf die Kontrolle der Tätigkeit des Chefinspekteurs.

24

Unter diesen Umständen hat die Curtea de Apel București (Berufungsgericht Bukarest) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Sind Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV, die Entscheidung 2006/928 und die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die es dem Chefinspekteur der Justizinspektion gestattet, Verwaltungsmaßnahmen mit (untergesetzlichem) normativem Charakter und/oder mit individuellem Charakter zu erlassen, mit denen er über die Organisation des institutionellen Rahmens der Justizinspektion in Bezug auf die Auswahl der Justizinspekteure und die Beurteilung ihrer Tätigkeit, die Durchführung der Inspektionsmaßnahmen und die Ernennung des stellvertretenden Chefinspekteurs eigenständig in den Fällen entscheidet, in denen nach dem Organgesetz nur diese Personen disziplinarische Ermittlungsmaßnahmen gegen den Chefinspekteur durchführen, bestätigen oder ablehnen können?

Zum Antrag auf Anwendung des beschleunigten Verfahrens

25

Das vorlegende Gericht hat beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen einem beschleunigten Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

26

Zur Stützung seines Antrags weist das vorlegende Gericht zum einen darauf hin, dass sich R. I. über die überlange Dauer der Disziplinarverfahren beschwert habe und es daher wichtig sei, dass die Dauer des Vorabentscheidungsverfahrens nicht als ein Unsicherheitsfaktor in Bezug auf die Wirksamkeit ihres Rechtsbehelfs erscheine. Zum anderen betreffe die Vorlagefrage eine wichtige Rechtsfrage, da sie die Organisation und Arbeitsweise eines Organs der Justizinspektion betreffe.

27

Nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung kann der Präsident des Gerichtshofs auf Antrag des vorlegenden Gerichts oder ausnahmsweise von Amts wegen, nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts, entscheiden, eine Vorlage zur Vorabentscheidung einem beschleunigten Verfahren unter Abweichung von den Bestimmungen dieser Verfahrensordnung zu unterwerfen, wenn die Art der Rechtssache ihre rasche Erledigung erfordert.

28

Im vorliegenden Fall hat der Präsident des Gerichtshofs am 1. Februar 2022 nach Anhörung des Berichterstatters und des Generalanwalts entschieden, dem in Rn. 25 des vorliegenden Urteils genannten Antrag nicht stattzugeben.

29

Denn was erstens die Gefahr anbelangt, dass das Vorabentscheidungsverfahren die Dauer des Ausgangsverfahrens übermäßig verlängert, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass das bloße – wenn auch legitime – Interesse der Rechtsuchenden daran, den Umfang der ihnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte möglichst schnell zu klären, nicht geeignet ist, das Vorliegen eines außergewöhnlichen Umstands im Sinne von Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu belegen (Urteil vom 11. November 2021, Energieversorgungscenter Dresden-Wilschdorf, C‑938/19, EU:C:2021:908, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Ferner ist selbst unter der Annahme, dass das Ausgangsverfahren im Hinblick auf seinen Gegenstand nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine zügige Bearbeitung verlangt, der Umstand, dass das vorlegende Gericht alles für eine zügige Erledigung des Ausgangsverfahrens tun muss, für sich genommen nicht ausreichend, um den Rückgriff auf das beschleunigte Verfahren nach Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung zu rechtfertigen (Urteil vom 6. Oktober 2021, TOTO und Vianini Lavori, C‑581/20, EU:C:2021:808, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Was zweitens den Umstand anbelangt, dass die Vorlagefrage die Organisation und Arbeitsweise eines Organs der Justizinspektion betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass die Anwendung des beschleunigten Vorabentscheidungsverfahrens nicht von der Art des Rechtsstreits im Ausgangsverfahren als solcher abhängt, sondern von den der betreffenden Rechtssache eigenen besonderen Umständen, aus denen sich die außerordentliche Dringlichkeit der Entscheidung über diese Fragen ergeben muss (Urteil vom 31. Januar 2023, Puig Gordi u. a., C‑158/21, EU:C:2023:57, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Insbesondere stellt der Umstand, dass die Rechtssache einen wichtigen Aspekt der Gerichtsorganisation des betreffenden Mitgliedstaats betrifft, als solcher keinen Grund dar, aus dem sich eine außerordentliche Dringlichkeit ergibt, die erforderlich ist, um eine Behandlung im beschleunigten Verfahren zu rechtfertigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 22, und vom 21. Dezember 2021, Randstad Italia, C‑497/20, EU:C:2021:1037, Rn. 39).

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

33

Die Justizinspektion macht geltend, das Vorabentscheidungsersuchen sei unzulässig.

34

Zum einen seien zwar nur die nationalen Gerichte dafür zuständig, die Rechtmäßigkeit des Verfahrens zum Erlass von Verwaltungsakten zu beurteilen, doch betreffe das Vorabentscheidungsersuchen nicht die Auslegung von Bestimmungen des Unionsrechts, sondern die des Gesetzes Nr. 317/2004 in geänderter Fassung. Zum anderen seien die auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren rumänischen Bestimmungen mit den Vorschriften des Unionsrechts vereinbar, so dass in diesem Rechtsstreit die richterliche Unabhängigkeit in keiner Weise beeinträchtigt worden sein könne.

35

Insoweit trifft es zwar zu, dass der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren nicht befugt ist, das innerstaatliche Recht eines Mitgliedstaats auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. Januar 2021, Hessischer Rundfunk, C‑422/19 und C‑423/19, EU:C:2021:63, Rn. 31), doch ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorlagefrage klar, dass sie nicht die Auslegung rumänischen Rechts, sondern von Bestimmungen des Unionsrechts betrifft, nämlich die Auslegung von Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV und der Entscheidung 2006/928.

36

Außerdem macht die Justizinspektion zwar geltend, dass eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit dem Unionsrecht vereinbar sei, doch betrifft dieser Einwand gerade die Tragweite der Bestimmungen des Unionsrechts, auf die sich die Vorlagefrage bezieht, und damit die Auslegung dieser Bestimmungen. Ein solcher Einwand, der sich also auf die inhaltliche Prüfung dieser Frage bezieht, kann daher schon seinem Wesen nach nicht dazu führen, dass die Frage unzulässig wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 33).

37

Folglich ist die Vorlagefrage zulässig.

Zur Beantwortung der Vorlagefrage

38

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV sowie die Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Ermittlungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen, obgleich nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind.

39

Es ist darauf hinzuweisen, dass Art. 19 EUV, mit dem der in Art. 2 EUV proklamierte Wert der Rechtsstaatlichkeit konkretisiert wird, den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof die Aufgabe überträgt, die volle Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten und den gerichtlichen Schutz, der den Einzelnen aus diesem Recht erwächst, zu gewährleisten (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 188, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 37).

40

Schon das Vorhandensein einer wirksamen gerichtlichen Kontrolle, die der Gewährleistung der Einhaltung des Unionsrechts dient, ist einem Rechtsstaat inhärent. Insoweit ist es gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, das den Einzelnen die Wahrung ihres Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet. Der Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, von dem in Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV die Rede ist, ist ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt; er ist in den Art. 6 und 13 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und nun auch in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert (Urteil vom 21. Dezember 2021, Euro Box Promotion u. a., C‑357/19, C‑379/19, C‑547/19, C‑811/19 und C‑840/19, EU:C:2021:1034, Rn. 219 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Folglich hat jeder Mitgliedstaat dafür zu sorgen, dass Einrichtungen, die als „Gerichte“ im Sinne des Unionsrechts Bestandteil seines Rechtsbehelfssystems in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen sind, den Anforderungen an einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz gerecht werden (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 191, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 40).

42

Hinsichtlich der Anwendbarkeit von Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung in „den vom Unionsrecht erfassten Bereichen“ Anwendung findet, ohne dass es insoweit darauf ankäme, in welchem Kontext die Mitgliedstaaten Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta durchführen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 192 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Insoweit hat der Gerichtshof entschieden, dass eine nationale Regelung, die in den Anwendungsbereich der Entscheidung 2006/928 fällt, den Anforderungen genügen muss, die sich aus dem Unionsrecht und insbesondere aus Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44

Dies ist insbesondere der Fall bei einer Regelung über die Organisation und Arbeitsweise eines Organs, das – wie die Justizinspektion – für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen alle rumänischen Richter und damit gegen Richter der ordentlichen Gerichte zuständig ist, die über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts zu entscheiden haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 182, 185 und 193).

45

Um sicherzustellen, dass Einrichtungen, die zur Entscheidung über Fragen im Zusammenhang mit der Anwendung oder der Auslegung des Unionsrechts angerufen werden können, in der Lage sind, den nach dieser Bestimmung erforderlichen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz sicherzustellen, ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Unabhängigkeit der betreffenden Einrichtungen gewahrt ist, wie Art. 47 Abs. 2 der Charta bestätigt, wonach zu den Anforderungen im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf u. a. der Zugang zu einem „unabhängigen“ Gericht gehört (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Das Erfordernis der Unabhängigkeit der Gerichte, das sich aus Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV ergibt, umfasst zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt verlangt, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie auf diese Weise vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten. Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Der letztgenannte Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs setzen die nach dem Unionsrecht erforderlichen Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit voraus, dass es Regeln gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der betreffenden Einrichtung für äußere Faktoren und an ihrer Neutralität in Bezug auf die widerstreitenden Interessen auszuräumen (Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 196, und vom 22. Februar 2022, RS [Wirkung der Urteile eines Verfassungsgerichts], C‑430/21, EU:C:2022:99, Rn. 82).

48

Was insbesondere die Vorschriften über die Disziplinarregelung betrifft, so verlangt das Erfordernis der Unabhängigkeit nach ständiger Rechtsprechung, dass diese Regelung die erforderlichen Garantien aufweist, damit jegliche Gefahr verhindert wird, dass eine solche Regelung als System zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt wird. Insoweit bilden Regeln, die insbesondere festlegen, welche Verhaltensweisen Disziplinarvergehen begründen und welche Sanktionen konkret anwendbar sind, die die Einschaltung einer unabhängigen Instanz gemäß einem Verfahren vorsehen, das die in den Art. 47 und 48 der Charta niedergelegten Rechte, namentlich die Verteidigungsrechte, in vollem Umfang sicherstellt, und die die Möglichkeit festschreiben, die Entscheidungen der Disziplinarorgane vor Gericht anzufechten, eine Reihe von Garantien, die wesentlich sind, um die Unabhängigkeit der Justiz zu wahren (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 198 und die dort angeführte Rechtsprechung).

49

Da zudem die Aussicht auf die Einleitung einer Disziplinaruntersuchung als solche geeignet ist, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, zu entscheiden, ist es wesentlich, dass eine für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständige Einrichtung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben objektiv und unparteiisch handelt und zu diesem Zweck frei von jeder äußeren Beeinflussung ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 199, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 82).

50

Deshalb und weil die Personen, die die Leitungsstellen in einer solchen Einrichtung besetzen, einen entscheidenden Einfluss auf die Tätigkeit der Einrichtung ausüben können, müssen die Regeln für das Verfahren zu ihrer Ernennung auf diese Stellen so gestaltet sein, dass sie keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen können, dass die Befugnisse und Aufgaben dieser Einrichtung als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden (Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 200).

51

Diese Anforderung gilt nicht nur für Vorschriften über das Verfahren zur Ernennung auf die Leitungsstellen in einem Organ, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständig ist, sondern darüber hinaus für sämtliche Vorschriften zur Regelung der Organisation und Arbeitsweise dieses Organs.

52

Denn die zuletzt genannten Vorschriften können sich ganz allgemein direkt auf die Praxis dieses Organs auswirken und somit verhindern oder im Gegenteil fördern, dass Disziplinarklagen erhoben werden, mit denen bezweckt oder bewirkt wird, Druck auf diejenigen auszuüben, deren Aufgabe es ist, Recht zu sprechen, oder eine politische Kontrolle ihrer Tätigkeit sicherzustellen.

53

Insoweit ist die Konzentration von Befugnissen beim Direktor eines solchen Organs, die es ihm ermöglicht, dessen Organisation und Arbeitsweise zu regeln und in Bezug auf die Laufbahn der Bediensteten dieses Organs und die von ihnen bearbeiteten Rechtssachen individuelle Entscheidungen zu treffen, geeignet, dem Direktor eine wirksame Kontrolle über sämtliche Handlungen dieses Organs zu sichern, da der Direktor nicht nur die Auswahl der Bediensteten dieses Organs einschließlich der Mitglieder seiner Direktion, sondern auch die Entwicklung ihrer Laufbahn sowie die Ausrichtung und den Inhalt der Entscheidungen beeinflussen kann, die diese Bediensteten in gegen Richter erhobenen Disziplinarklagen konkret treffen.

54

Der Umstand, dass es eine derartige Kontrolle gibt, kann jedoch als solcher nicht als mit Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV unvereinbar angesehen werden.

55

Zwar kann eine vom Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs ausgeübte wirksame Kontrolle über sämtliche Handlungen dieses Organs geeignet sein, die Wirksamkeit und Einheitlichkeit der Praktiken dieses Organs zu fördern, doch kann eine solche Konzentration der Befugnisse ausschließlich beim Direktor als solche nicht die Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit beeinträchtigen, da die Bediensteten eines Organs wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nicht dazu berufen sind, als Richter über Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden, sondern dazu, Untersuchungen durchzuführen und Disziplinarverfahren einzuleiten, so dass sie nicht unbedingt alle der für Richter geltenden Erfordernisse der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erfüllen müssen.

56

Gleichwohl kann die Konzentration bedeutender Befugnisse beim Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs es dem Direktor vereinfachen, die Disziplinarordnung für Richter in Anspruch zu nehmen, um deren Tätigkeit zu beeinflussen, da ihm diese Konzentration in der Praxis bei der Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter ein weites Ermessen einräumt.

57

Daher könnte eine Regelung, die dem Direktor dieses Organs Befugnisse verleiht, wie sie dem Chefinspekteur durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung übertragen werden, bei den Rechtsunterworfenen den berechtigten Verdacht aufkommen lassen, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.

58

Die Entscheidung hierüber ist letztlich Sache des vorlegenden Gerichts, nachdem es die dafür erforderliche Würdigung vorgenommen hat. Art. 267 AEUV gibt dem Gerichtshof nämlich nicht die Befugnis, die Normen des Unionsrechts auf einen Einzelfall anzuwenden, sondern nur die, sich zur Auslegung der Verträge und der Rechtsakte der Organe der Europäischen Union zu äußern. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Gerichtshof das Unionsrecht im Rahmen der durch diesen Art. 267 AEUV begründeten Zusammenarbeit zwischen den Gerichten aber unter Berücksichtigung der Akte auslegen, soweit dies dem innerstaatlichen Gericht bei der Beurteilung der Wirkungen einer unionsrechtlichen Bestimmung dienlich sein könnte (vgl. entsprechend Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 201 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Insoweit wird das vorlegende Gericht die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung als solche und in ihrem nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext zu beurteilen haben. Denn mehrere Gesichtspunkte, die zu diesem Kontext gehören und sich aus der Vorlageentscheidung und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergeben, können für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Prüfung in gewisser Hinsicht von Bedeutung sein.

60

Was erstens die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung anbelangt, kommt den Garantien, die das Auftreten oder die Fortdauer von Befugnismissbrauch durch den Direktor eines für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen zuständigen Organs verhindern sollen und die diese Regelung möglicherweise vorsieht oder nicht vorsieht, besondere Bedeutung zu.

61

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass nach der genannten Regelung eine Disziplinarklage zur Ahndung von Fällen des Missbrauchs durch den Chefinspekteur nur von einem Inspektor eingeleitet werden könne, dessen Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen des Chefinspekteurs abhänge und der zwangsläufig im Rahmen der vom Chefinspekteur festgelegten Organisation tätig werden müsse.

62

Des Weiteren geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass den Chefinspekteur betreffende Entscheidungen vom stellvertretenden Chefinspekteur überprüft werden können, der vom Chefinspekteur benannt wurde und dessen Amtszeit mit derjenigen des Chefinspekteurs endet.

63

Eine solche Disziplinarregelung scheint vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen dazu geeignet zu sein, dass in der Praxis die tatsächliche Erhebung einer Disziplinarklage gegen den Chefinspekteur verhindert wird, selbst wenn gegen ihn glaubhaft substantiierte Beschwerden erhoben werden sollten.

64

Zwar kann – wie das im Ausgangsverfahren fragliche Verfahren zeigt – die Einstellung des eine Beschwerde gegen den Chefinspekteur betreffenden Verfahrens Gegenstand einer Klage sein, die gegebenenfalls zur Nichtigerklärung der das Verfahren einstellenden Entscheidung und zum Erlass von Anordnungen hinsichtlich der Behandlung dieser Beschwerde durch die Justizinspektion führen kann.

65

Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu beurteilen, inwieweit die Befugnisse, über die rumänische Gerichte insoweit verfügen, die tatsächliche Erhebung von Disziplinarklagen gegen den Chefinspekteur sowie eine wirksame und unparteiische Behandlung der gegen ihn gerichteten Beschwerden ermöglichen. Bei dieser Beurteilung wird das vorlegende Gericht u. a. die Abhängigkeit vom Chefinspekteur, der nach der Nichtigerklärung einer das Verfahren einstellenden Entscheidung erneut mit der Sache befasst wird, und die etwaige Gefahr zu berücksichtigen haben, dass Verjährungsfristen ablaufen, die der Durchführung eines Disziplinarverfahrens entgegenstehen können.

66

Sollte das vorlegende Gericht zu dem Ergebnis kommen, dass im Rahmen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung die Tätigkeit des Chefinspekteurs keiner tatsächlichen und wirksamen Kontrolle unterliegen kann, wäre anzunehmen, dass diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 142, vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 129, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 205).

67

Was zweitens den zu berücksichtigenden nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontext anbelangt, können drei Gesichtspunkte, die sich aus der Vorlageentscheidung und der dem Gerichtshof vorliegenden Akte ergeben, für die vom vorlegenden Gericht vorzunehmende Prüfung in gewisser Hinsicht von Bedeutung sein.

68

Zunächst zeigt sich vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen, dass die Befugnisse des Chefinspekteurs im allgemeineren Kontext von Reformen der Organisation der rumänischen Justiz gestärkt wurden, die eine Einschränkung der Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der rumänischen Richter bezwecken oder bewirken (vgl. entsprechend Urteile vom 2. März 2021, A. B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 133 bis 135, und vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 106 und 108).

69

Sodann kann den konkreten Modalitäten der Ernennung des Chefinspekteurs eine gewisse Bedeutung zukommen, wenn sie ein Indiz dafür sind, dass der Chefinspekteur eng mit der Exekutive oder der Legislative verbunden ist, was auf den ersten Blick hier der Fall zu sein scheint.

70

Schließlich ist auch die konkrete Praxis des Chefinspekteurs bei der Ausübung seiner Befugnisse zu berücksichtigen (vgl. entsprechend Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 144, und vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 219).

71

Im vorliegenden Fall führt die Kommission Beispiele an, die zeigen können, dass diese Befugnisse mehrfach zur politischen Kontrolle der Rechtsprechungstätigkeit genutzt wurden, wobei einige dieser Beispiele im Übrigen in den Berichten vom 22. Oktober 2019 und vom 8. Juni 2021 der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über Rumäniens Fortschritte im Rahmen des Kooperations- und Kontrollverfahrens (COM[2019] 499 final, S. 7 und 8, sowie COM[2021] 370, S. 18) angeführt werden, denen die rumänischen Behörden nach dem in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bei der Verwirklichung der mit der Entscheidung 2006/928 verfolgten Ziele gebührend Rechnung tragen müssen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Mai 2021, Asociaţia Forumul Judecătorilor din România u. a., C‑83/19, C‑127/19, C‑195/19, C‑291/19, C‑355/19 und C‑397/19, EU:C:2021:393, Rn. 178).

72

Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Verifikationen scheinen diese dem Gerichtshof zur Kenntnis gebrachten Gesichtspunkte des nationalen rechtlichen und tatsächlichen Kontexts daher eine etwaige Feststellung, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben der Justizinspektion als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Rechtsprechungstätigkeit oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden, eher zu bestätigen als zu entkräften.

73

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit der Entscheidung 2006/928 dahin auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen,

die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen,

obgleich erstens nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind, zweitens deren Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen dieses Direktors abhängt und drittens die Amtszeit des stellvertretenden Direktors mit derjenigen dieses Direktors endet,

wenn diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.

Kosten

74

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 2 und Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV in Verbindung mit der Entscheidung 2006/928/EG der Kommission vom 13. Dezember 2006 zur Einrichtung eines Verfahrens für die Zusammenarbeit und die Überprüfung der Fortschritte Rumäniens bei der Erfüllung bestimmter Vorgaben in den Bereichen Justizreform und Korruptionsbekämpfung

 

sind dahin auszulegen, dass

 

sie einer nationalen Regelung entgegenstehen,

 

die dem Direktor eines Organs, das für die Durchführung von Untersuchungen und die Erhebung von Disziplinarklagen gegen Richter und Staatsanwälte zuständig ist, die Befugnis verleiht, Regelungen und Einzelfallentscheidungen zu treffen, die u. a. die Organisation dieses Organs, die Auswahl seiner Bediensteten, deren Beurteilung, die Ausübung ihrer Tätigkeit oder die Ernennung eines stellvertretenden Direktors betreffen,

obgleich erstens nur diese Bediensteten und dieser stellvertretende Direktor zur Durchführung einer Disziplinaruntersuchung gegen diesen Direktor befugt sind, zweitens deren Laufbahn weitgehend von den Entscheidungen dieses Direktors abhängt und drittens die Amtszeit des stellvertretenden Direktors mit derjenigen dieses Direktors endet,

 

wenn diese Regelung nicht so gestaltet ist, dass sie bei den Rechtsunterworfenen keinen berechtigten Verdacht aufkommen lassen kann, dass die Befugnisse und Aufgaben dieses Organs als Instrument zur Ausübung von Druck auf die Tätigkeit dieser Richter und Staatsanwälte oder zur Ausübung politischer Kontrolle über diese Tätigkeit benutzt werden.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Rumänisch.

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