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Document 62021CJ0689

    Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 5. September 2023.
    X gegen Udlændinge- og Integrationsministeriet.
    Vorabentscheidungsersuchen des Østre Landsret.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist.
    Rechtssache C-689/21.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:626

     URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    5. September 2023 ( *1 )

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Bürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt – Verlust der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes wegen Fehlens einer echten Bindung zu dem Mitgliedstaat, wenn vor diesem Geburtstag kein Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gestellt wurde – Verlust des Unionsbürgerstatus – Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht – Ausschlussfrist“

    In der Rechtssache C‑689/21

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark) mit Entscheidung vom 11. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2021, in dem Verfahren

    X

    gegen

    Udlændinge- og Integrationsministeriet

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, des Vizepräsidenten L. Bay Larsen, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi, des Kammerpräsidenten D. Gratsias und der Kammerpräsidentin M. L. Arastey Sahún, der Richter S. Rodin, F. Biltgen, N. Piçarra und N. Wahl, der Richterin I. Ziemele und des Richters J. Passer,

    Generalanwalt: M. Szpunar,

    Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 4. Oktober 2022,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    von X, vertreten durch E. O. R. Khawaja, Advokat,

    der dänischen Regierung, vertreten durch V. Pasternak Jørgensen und M. Søndahl Wolff als Bevollmächtigte im Beistand von R. Holdgaard und A. K. Rasmussen, Advokater,

    der französischen Regierung, vertreten durch A. Daniel, A.‑L. Desjonquères und J. Illouz als Bevollmächtigte,

    der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Grønfeldt und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Januar 2023

    folgendes

    Urteil

    1

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 AEUV und Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

    2

    Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen X und dem Udlændinge- og Integrationsministerium (Ministerium für Ausländer und Integration, Dänemark) (im Folgenden: Ministerium) wegen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit von X.

    Rechtlicher Rahmen

    Unionsrecht

    3

    In Art. 20 AEUV heißt es:

    „(1)   Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

    (2)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

    a)

    das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;

    …“

    4

    Nach Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

    5

    In der Erklärung Nr. 2 zur Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, die die Mitgliedstaaten der Schlussakte des Vertrags über die Europäische Union beigefügt haben (ABl. 1992, C 191, S. 98, im Folgenden: Erklärung Nr. 2), heißt es:

    „Die Konferenz erklärt, dass bei Bezugnahmen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft auf die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die Frage, welchem Mitgliedstaat eine Person angehört, allein durch Bezug auf das innerstaatliche Recht des betreffenden Mitgliedstaats geregelt wird. …“

    6

    In Abschnitt A des Beschlusses der im Europäischen Rat von Edinburgh vom 11. und 12. Dezember 1992 vereinigten Staats- und Regierungschefs zu bestimmten von Dänemark aufgeworfenen Problemen betreffend den Vertrag über die Europäische Union (ABl. 1992, C 348, S. 1, im Folgenden: Beschluss von Edinburgh) heißt es:

    „Mit den im Zweiten Teil des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Bestimmungen über die Unionsbürgerschaft werden den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten die in diesem Teil aufgeführten zusätzlichen Rechte und der dort spezifizierte zusätzliche Schutz gewährt. Die betreffenden Bestimmungen treten in keiner Weise an die Stelle der nationalen Staatsbürgerschaft. Die Frage, ob eine Person die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, wird einzig und allein auf der Grundlage des innerstaatlichen Rechts des betreffenden Mitgliedstaats geregelt.“

    Dänisches Recht

    7

    § 8 Abs. 1 des Lov om dansk indfødsret (Gesetz über die dänische Staatsangehörigkeit) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Staatsangehörigkeitsgesetz) sieht vor:

    „Eine Person, die im Ausland geboren wurde und nie in Dänemark gewohnt hat und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten hat, die auf eine Bindung zu Dänemark schließen lassen, verliert die dänische Staatsangehörigkeit mit Vollendung des 22. Lebensjahrs, es sei denn, dass sie dadurch staatenlos wird. Der Minister für Flüchtlinge, Einwanderer und Integration oder der von ihm hierzu Ermächtigte kann jedoch auf vor diesem Zeitpunkt gestellten Antrag genehmigen, dass die Staatsangehörigkeit beibehalten wird.“

    8

    Nach dem Cirkulæreskrivelse om naturalisation nr. 10873 (Runderlass Nr. 10873 über die Einbürgerung) vom 13. Oktober 2015 in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Runderlass) müssen ehemalige dänische Staatsangehörige, die ihre dänische Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verloren haben, grundsätzlich die nach dem Gesetz erforderlichen allgemeinen Voraussetzungen für den Erwerb der dänischen Staatsangehörigkeit erfüllen, um diese wiedererlangen zu können. Nach § 5 Abs. 1 des Runderlasses muss der Antragsteller zum Zeitpunkt der Beantragung der Einbürgerung im Inland ansässig sein. Nach § 7 des Runderlasses wird vom Antragsteller ein neunjähriger ununterbrochener Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark verlangt.

    9

    Nach § 13 in Verbindung mit Anhang 1 Nr. 3 des Runderlasses können die allgemeinen Aufenthaltsanforderungen für Personen, die früher die dänische Staatsangehörigkeit besaßen oder dänischer Abstammung sind, gelockert werden.

    Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

    10

    X wurde am 5. Oktober 1992 in den Vereinigten Staaten von Amerika als Kind einer dänischen Mutter und eines amerikanischen Vaters geboren. Sie besaß seit ihrer Geburt die dänische und die amerikanische Staatsangehörigkeit. Sie hat einen Bruder und eine Schwester, die in den Vereinigten Staaten leben, wobei ein Geschwister die dänische Staatsangehörigkeit besitzt. Keiner der Elternteile und keines der Geschwister lebt in Dänemark.

    11

    Am 17. November 2014, d. h. nach Vollendung ihres 22. Lebensjahrs, beantragte sie beim Ministerium, die dänische Staatsangehörigkeit behalten zu dürfen.

    12

    Auf der Grundlage der in diesem Antrag enthaltenen Angaben stellte das Ministerium fest, dass X sich vor Vollendung des 22. Lebensjahrs höchstens 44 Wochen in Dänemark aufgehalten habe. Sie habe außerdem angegeben, dass sie sich nach Vollendung des 22. Lebensjahrs fünf Wochen in Dänemark aufgehalten habe und 2015 Mitglied der dänischen Frauennationalmannschaft im Basketball gewesen sei. Ferner habe sie sich 2005 ca. drei bis vier Wochen in Frankreich aufgehalten.

    13

    Mit Bescheid vom 31. Januar 2017 teilte das Ministerium X mit, dass sie gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs die dänische Staatsangehörigkeit verloren habe und dass es keine Möglichkeit gebe, die Ausnahmeregelung des § 8 Abs. 1 Satz 2 dieses Gesetzes anzuwenden, da der Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt worden sei.

    14

    In dem Bescheid heißt es insbesondere, dass dieser Verlust dadurch gerechtfertigt sei, dass X nie in Dänemark gewohnt habe und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten habe, die auf eine Bindung zu diesem Mitgliedstaat im Sinne von § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes hinwiesen, da sie sich vor Vollendung des 22. Lebensjahrs höchstens 44 Wochen in Dänemark aufgehalten habe.

    15

    Am 9. Februar 2018 erhob X eine Klage beim Københavns byret (Gericht Kopenhagen, Dänemark) und beantragte, den in Rn. 13 des vorliegenden Urteils genannten Bescheid vom 31. Januar 2017 aufzuheben und die Sache zur „erneuten Prüfung“ zurückzuverweisen. Diese Klage wurde mit Beschluss vom 3. April 2020 an das vorlegende Gericht, das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark, Dänemark), verwiesen.

    16

    Zur Stützung ihrer Klage macht X geltend, dass die Aufrechterhaltung einer echten Bindung und der Schutz des Verhältnisses besonderer Verbundenheit und Loyalität zu dem betreffenden Mitgliedstaat zwar ein legitimes Ziel darstellten, der automatische und ausnahmslose Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes jedoch im Hinblick auf dieses Ziel nicht verhältnismäßig sei und daher gegen Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta verstoße.

    17

    Die Vorschriften über den Verlust der Staatsangehörigkeit könnten nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die nationale Regelung gemäß dem Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), daneben einen besonders vereinfachten Zugang zur Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit erlaube. Ein solcher Zugang sei in der dänischen Regelung aber nicht vorgesehen. Außerdem erfolge nach dieser Regelung die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit nicht rückwirkend.

    18

    Das Ministerium macht geltend, dass die Prüfung der Rechtmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes in Bezug auf Personen, die zum Zeitpunkt des Antrags auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit das 22. Lebensjahr vollendet hätten, auf einer Gesamtbeurteilung der dänischen Regelung über den Verlust und die Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit beruhen müsse. Der dänische Gesetzgeber sei der Ansicht gewesen, dass bei im Ausland geborenen Personen, die nicht im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark gewohnt und sich dort auch nicht in nennenswertem Maße aufgehalten hätten, das Verhältnis von Verbundenheit und Solidarität und die Bindung zu Dänemark stetig schwächer würden und es daher verhältnismäßig sei, ihre Rechtsstellung vor und nach Vollendung des 22. Lebensjahrs zu unterscheiden. Die Verhältnismäßigkeit des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes für Personen, die das 22. Lebensjahr vollendet hätten, sei auch im Licht der nicht sehr strengen Vorschriften über die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit bis zu diesem Alter zu beurteilen.

    19

    Im Übrigen würden die Rechtmäßigkeit und die Verhältnismäßigkeit der nationalen Vorschriften über den Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit dadurch belegt, dass entschieden werden könne, dass diese Staatsangehörigkeit beibehalten werde, und zwar nach einer Einzelfallprüfung auf einen Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit hin, den der Betroffene möglichst kurz vor der Vollendung des 22. Lebensjahrs, dem in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes genannten Zeitpunkt, stelle.

    20

    In diesem Zusammenhang beschreibt das vorlegende Gericht zunächst die Verwaltungspraxis des Ministeriums in Bezug auf die Anwendung von Art. 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes. Zum einen werde bei der Beurteilung der Frage, ob eine „Bindung zu Dänemark“ im Sinne von Satz 1 dieser Bestimmung vorliege, danach unterschieden, ob sich der Betroffene vor Vollendung des 22. Lebensjahrs länger als ein Jahr in diesem Mitgliedstaat aufgehalten habe oder nicht. Habe die Dauer dieses Aufenthalts mindestens ein Jahr betragen, gingen die nationalen Behörden davon aus, dass eine ausreichende Bindung zum Königreich Dänemark bestehe, um die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zu rechtfertigen. Andernfalls seien die Anforderungen an diese Bindung insoweit strenger, als der Betroffene nachweisen müsse, dass in den kürzeren Aufenthalten gleichwohl eine „besondere Bindung zu Dänemark“ zum Ausdruck komme.

    21

    Was zum anderen die Möglichkeit angehe, die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu genehmigen, werde dabei auf eine Reihe weiterer Gesichtspunkte abgestellt, etwa darauf, wie lange sich der Antragsteller insgesamt im Hoheitsgebiet des Königreichs Dänemark aufgehalten habe, wie oft er sich dort aufgehalten habe, ob die Aufenthalte kurz vor Vollendung des 22. Lebensjahrs stattgefunden hätten oder länger zurücklägen, ob der Antragsteller fließend Dänisch spreche und im Übrigen einen Bezug zu Dänemark habe, z. B. aufgrund von Kontakten zu dänischen Verwandten oder über dänische Vereinigungen oder Ähnliches.

    22

    Sodann weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach der Verkündung des Urteils vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), klargestellt worden sei, wie § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu verstehen sei. Nunmehr stehe fest, dass das Ministerium, wenn der Betroffene vor Vollendung des 22. Lebensjahrs einen Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit stelle, im Rahmen der Einzelfallprüfung der unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit und damit der Unionsbürgerschaft eine Reihe zusätzlicher Gesichtspunkte berücksichtigen müsse. So habe das Ministerium zu beurteilen, ob die Folgen des Verlusts der Unionsbürgerschaft aus unionsrechtlicher Sicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem diesem Verlust zugrunde liegenden Ziel stünden, nämlich sicherzustellen, dass eine echte Bindung zum Königreich Dänemark bestehe.

    23

    In Anbetracht des Urteils vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), bestünden Zweifel an der Vereinbarkeit des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit und gegebenenfalls der Unionsbürgerschaft, die nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes kraft Gesetzes und ohne Ausnahme mit Vollendung des 22. Lebensjahrs eintrete, mit Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass nach Erreichen dieses Alters die Wiedererlangung der dänischen Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung schwierig sei. Nach einem Verlust dieser Staatsangehörigkeit müssten ehemalige dänische Staatsangehörige nämlich grundsätzlich die allgemeinen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllen, auch wenn insoweit gewisse Erleichterungen in Bezug auf die Dauer des Aufenthalts in Dänemark gewährt werden könnten.

    24

    Unter diesen Umständen hat das Østre Landsret (Landgericht für Ostdänemark) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Steht Art. 20 AEUV in Verbindung mit Art. 7 der Charta einer mitgliedstaatlichen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wonach Personen, die außerhalb des Mitgliedstaats geboren wurden, nie in dem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die auf eine Bindung zu dem Mitgliedstaat schließen lassen, die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats grundsätzlich kraft Gesetzes mit Vollendung des 22. Lebensjahrs verlieren, was für Personen, die nicht zugleich die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Status als Unionsbürger und der damit verbundenen Rechte bedeutet, entgegen, wenn man berücksichtigt, dass aus der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung folgt,

    a)

    dass von einer Bindung zum Mitgliedstaat insbesondere bei einem Aufenthalt von insgesamt einem Jahr in dem Mitgliedstaat ausgegangen wird,

    b)

    dass die Genehmigung für die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats unter weniger strengen Bedingungen erlangt werden kann und die zuständigen Behörden in diesem Zusammenhang die Folgen eines Verlusts der Staatsangehörigkeit prüfen, wenn der Antrag auf Beibehaltung der Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 22. Lebensjahrs gestellt wird,

    c)

    und dass die Wiedererlangung der verloren gegangenen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs ausschließlich durch Einbürgerung erfolgen kann, die einer Reihe von Voraussetzungen wie z. B. dem Erfordernis eines längeren ununterbrochenen Aufenthalts im Mitgliedstaat unterliegt, wobei es für ehemalige Staatsangehörige dieses Mitgliedstaats allerdings gewisse Erleichterungen in Bezug auf die erforderliche Aufenthaltsdauer geben kann?

    Zur Vorlagefrage

    25

    Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, und wonach die zuständigen Behörden im Fall eines von einem solchen Staatsangehörigen in dem Jahr vor Vollendung seines 22. Lebensjahrs gestellten Antrags auf Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeit aber die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung der Staatsangehörigkeit gewähren dürfen.

    26

    Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die dänische Regierung den Gerichtshof ersucht hat, bei der Beantwortung dieser Frage den Beschluss von Edinburgh zu berücksichtigen, aus dem hervorgehe, dass das Königreich Dänemark zum einen bei der Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit über ein weites Ermessen verfüge und zum anderen eine besondere Position in Bezug auf die Unionsbürgerschaft einnehme. Wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, haben die einschlägigen Passagen dieses Beschlusses, die die Unionsbürgerschaft betreffen, den gleichen Wortlaut wie die Erklärung Nr. 2.

    27

    Der Beschluss von Edinburgh und die Erklärung Nr. 2, mit denen die Frage der Abgrenzung des persönlichen Anwendungsbereichs der auf den Staatsangehörigenbegriff Bezug nehmenden Bestimmungen des Unionsrechts geklärt werden sollte, sind zwar als Instrumente zur Auslegung des EU‑Vertrags zu berücksichtigen, insbesondere um dessen persönlichen Anwendungsbereich zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 40).

    28

    Nach ständiger Rechtsprechung schließt jedoch, auch wenn die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, die Tatsache, dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht aus, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41, sowie vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 30).

    29

    Art. 20 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    30

    Die Situation von Unionsbürgern, die, wie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, fällt daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht und insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42 und 45, vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 32, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 51).

    31

    In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsangehörigen bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51, vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 33, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 52).

    32

    Bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit darf ein Mitgliedstaat auch davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zu ihm ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 35).

    33

    Im vorliegenden Fall verlieren nach § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes im Ausland geborene dänische Staatsangehörige, die nie in Dänemark gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die auf eine echte Bindung zu diesem Staat schließen lassen, im Alter von 22 Jahren die dänische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes, sofern sie nicht staatenlos werden.

    34

    Dem vorlegenden Gericht zufolge geht aus den Vorarbeiten zum Staatsangehörigkeitsgesetz hervor, dass mit § 8 dieses Gesetzes verhindert werden solle, dass die dänische Staatsbürgerschaft bei im Ausland lebenden Personen, die keinerlei Kenntnis vom Königreich Dänemark und keinerlei Bezug zu diesem Land hätten, von Generation zu Generation übertragen werde.

    35

    Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht einen Mitgliedstaat weder daran hindert, vorzusehen, dass bei der Beurteilung der Frage, ob eine echte Bindung zu ihm besteht, Kriterien wie die in § 8 Abs. 1 Satz 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes genannten zu berücksichtigen sind, die sich auf den Geburts- und Wohnort der betroffenen Person und die Bedingungen ihres Aufenthalts im nationalen Hoheitsgebiet beziehen, noch es ihm verwehrt, diese Beurteilung auf einen Zeitraum zu beschränken, der an dem Tag endet, an dem diese Person das 22. Lebensjahr vollendet.

    36

    Für die vorliegende Rechtssache ist die Rechtmäßigkeit solcher Kriterien nicht zu prüfen, da diese für die Zwecke der besagten Beurteilung nicht zwischen Geburt und Wohnsitz oder Aufenthalt der betroffenen Person in einem Mitgliedstaat und Geburt und Wohnsitz oder Aufenthalt dieser Person in einem Drittstaat unterscheiden. Wie sich nämlich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, hat X im vorliegenden Fall nichts vorgetragen, was belegen könnte, dass sie vor Vollendung ihres 22. Lebensjahrs in einem Mitgliedstaat gewohnt oder sich dort – außer für einige Wochen – aufgehalten hätte.

    37

    Unter diesen Umständen verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass ein Mitgliedstaat in Situationen wie den von § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes erfassten aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betroffene Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.

    38

    Gleichwohl ist es in Anbetracht der Bedeutung, die das Primärrecht der Union dem Unionsbürgerstatus beimisst, der, wie in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ausgeführt, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten ist, Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung der betroffenen Person und gegebenenfalls der ihrer Familienangehörigen der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (Urteile vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56, sowie vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 40).

    39

    Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten (Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 41).

    40

    Daraus folgt, dass die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes bei einem bestimmten Alter eintritt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, in der Lage sein müssen, die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und der betroffenen Person gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 42).

    41

    Für die Stellung eines Antrags auf eine solche Prüfung setzt das Unionsrecht keine bestimmte Frist. Es ist daher Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Verfahrensmodalitäten zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte, im vorliegenden Fall der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte, gewährleisten sollen. Dabei muss aber u. a. der Effektivitätsgrundsatz gewahrt werden, und zwar insoweit, als diese Modalitäten die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral, 33/76, EU:C:1976:188, Rn. 5, und vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 46).

    42

    In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof anerkannt, dass es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, im Interesse der Rechtssicherheit angemessene Ausschlussfristen festzusetzen. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (Urteile vom 12. Februar 2008, Kempter, C‑2/06, EU:C:2008:78, Rn. 58, und vom 9. September 2020, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides [Ablehnung eines Folgeantrags – Rechtsbehelfsfrist], C‑651/19, EU:C:2020:681, Rn. 53).

    43

    Folglich können die Mitgliedstaaten gestützt auf den Grundsatz der Rechtssicherheit verlangen, dass ein Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit bei den zuständigen Behörden innerhalb einer angemessenen Frist gestellt wird.

    44

    Im vorliegenden Fall kann die betroffene Person nach § 8 Abs. 1 Satz 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes die Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit beantragen, bevor sie das 22. Lebensjahr vollendet. Insoweit unterscheidet das Ministerium dem Vorabentscheidungsersuchen zufolge zwischen zwei Fallgestaltungen, nämlich danach, ob der Antragsteller zum Zeitpunkt der Antragstellung noch keine 21 Jahre oder zwischen 21 und 22 Jahre alt ist.

    45

    Im ersten Fall beschränkt sich das Ministerium darauf, dem Antragsteller eine Staatsbürgerschaftsbescheinigung auszustellen, ohne sich zur Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit nach Vollendung des 22. Lebensjahrs zu äußern. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass die Verwaltung damit erreichen wolle, dass die Prüfung der Anträge auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zu einem Zeitpunkt erfolge, der möglichst kurz vor dem 22. Geburtstag des Antragstellers liege.

    46

    Nur im zweiten Fall, also wenn der Antragsteller den Antrag auf Beibehaltung der dänischen Staatsangehörigkeit zwischen seinem 21. und 22. Geburtstag stellt, nimmt das Ministerium, wie sich aus den Angaben im Vorabentscheidungsersuchen ergibt, seit dem Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a. (C‑221/17, EU:C:2019:189), eine Einzelfallprüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit und damit des Unionsbürgerstatus aus unionsrechtlicher Sicht vor. In diesem Zusammenhang hat das Ministerium zu beurteilen, ob diese Folgen im Hinblick auf das mit § 8 des Staatsangehörigkeitsgesetzes verfolgte Ziel, nämlich sicherzustellen, dass eine echte Bindung der dänischen Staatsangehörigen zum Königreich Dänemark besteht, verhältnismäßig sind.

    47

    Es ist jedoch erstens darauf hinzuweisen, dass nach den Angaben, über die der Gerichtshof verfügt, diese Frist von einem Jahr zwischen dem 21. und dem 22. Geburtstag der betroffenen Person auch dann beginnt, wenn diese Person von den zuständigen Behörden nicht ordnungsgemäß darüber unterrichtet worden ist, dass sie dem unmittelbar bevorstehenden Verlust der dänischen Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes ausgesetzt ist und das Recht hat, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung dieser Staatsangehörigkeit zu beantragen.

    48

    In Anbetracht der schwerwiegenden Folgen, die sich aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, mit dem der Verlust des Unionsbürgerstatus verbunden ist, für die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte ergeben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass nationale Vorschriften oder Praktiken, die bewirken können, dass die dem Verlust der Staatsangehörigkeit ausgesetzte Person daran gehindert wird, zu beantragen, dass die Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts aus unionsrechtlicher Sicht geprüft wird, und zwar deshalb, weil die Frist für die Beantragung dieser Prüfung abgelaufen ist, mit dem Grundsatz der Effektivität im Einklang stehen, wenn diese Person nicht ordnungsgemäß über das Recht, eine solche Prüfung zu beantragen, und die für die Stellung des Antrags geltende Frist unterrichtet wurde.

    49

    Zweitens endet die in Rn. 47 des vorliegenden Urteils genannte Frist von einem Jahr mit der Vollendung des 22. Lebensjahrs der betroffenen Person, d. h. zu dem Zeitpunkt, zu dem nach dänischem Recht die Voraussetzungen erfüllt sein müssen, die es dieser Person ermöglichen, eine hinreichende Bindung zum Königreich Dänemark nachzuweisen, um ihre Staatsangehörigkeit zu behalten. Diese Person muss sich daher im Rahmen der von der zuständigen Behörde vorzunehmenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der dänischen Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht auf alle relevanten Gesichtspunkte berufen können, die bis zur Vollendung ihres 22. Lebensjahrs auftreten konnten. Daraus folgt zwangsläufig, dass ihr die Möglichkeit eingeräumt werden muss, solche Nachweise nach ihrem 22. Geburtstag vorzulegen.

    50

    Demnach muss diese Person in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in der die nationale Regelung bewirkt, dass sie mit Vollendung des 22. Lebensjahrs die Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats und damit den Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes verliert, über eine angemessene Frist verfügen, um bei den zuständigen Behörden eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen dieses Verlusts sowie gegebenenfalls die Beibehaltung oder rückwirkende Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit zu beantragen. Diese Frist muss dann einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen.

    51

    Um die wirksame Ausübung der dem Unionsbürger nach Art. 20 AEUV zustehenden Rechte zu ermöglichen, kann diese angemessene Frist für die Stellung eines solchen Antrags nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden die betroffene Person ordnungsgemäß vom Verlust oder vom unmittelbar kraft Gesetzes drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben.

    52

    Andernfalls müssen die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte nach der in Rn. 40 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs in der Lage sein, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit inzident zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Person rückwirkend wiederherzustellen, wenn diese ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt, selbst wenn ein solcher Antrag nach Ablauf einer angemessenen Frist in dem in Rn. 50 des vorliegenden Urteils erläuterten Sinne gestellt wurde.

    53

    Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, eine solche Prüfung vorzunehmen oder gegebenenfalls dafür zu sorgen, dass sie von den zuständigen Behörden auf den in Rn. 11 des vorliegenden Urteils erwähnten Antrag hin durchgeführt wird.

    54

    Bei dieser Prüfung ist die individuelle Situation der betroffenen Person sowie die ihrer Familie zu beurteilen, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln (Urteil vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 44).

    55

    Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist. Dieser Artikel ist gegebenenfalls in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. März 2019, Tjebbes u. a., C‑221/17, EU:C:2019:189, Rn. 45, und vom 18. Januar 2022, Wiener Landesregierung [Widerruf einer Einbürgerungszusicherung], C‑118/20, EU:C:2022:34, Rn. 61).

    56

    Der im vorliegenden Fall von den zuständigen Behörden bei einer solchen Prüfung zu berücksichtigende Zeitpunkt ist zwangsläufig der Tag, an dem die betroffene Person das 22. Lebensjahr vollendet, da dieser Zeitpunkt nach § 8 Abs. 1 des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu den von diesem Mitgliedstaat festgelegten legitimen Kriterien gehört, von denen die Beibehaltung bzw. der Verlust der Staatsangehörigkeit abhängt.

    57

    Was schließlich die vom vorlegenden Gericht und von der dänischen Regierung angesprochene Möglichkeit betrifft, dass ehemalige dänische Staatsangehörige, die die dänische Staatsangehörigkeit und damit ihren Unionsbürgerstatus verloren haben, diese Staatsangehörigkeit durch Einbürgerung wiedererlangen, und zwar unter bestimmten Voraussetzungen wie z. B. derjenigen eines längeren ununterbrochenen Aufenthalts in Dänemark, die allerdings etwas abgeschwächt werden kann, genügt der Hinweis, dass die fehlende Möglichkeit nach nationalem Recht, unter mit dem Unionsrecht, wie es in den Rn. 40 und 43 des vorliegenden Urteils ausgelegt worden ist, im Einklang stehenden Voraussetzungen bei den nationalen Behörden und eventuell den nationalen Gerichten eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats aus unionsrechtlicher Sicht zu erwirken, die gegebenenfalls zu einer rückwirkenden Wiedererlangung dieser Staatsangehörigkeit führen kann, nicht durch die Möglichkeit der Einbürgerung ausgeglichen werden kann, und zwar unabhängig von den – möglicherweise erleichterten – Voraussetzungen, unter denen diese Einbürgerung erlangt werden kann.

    58

    Andernfalls würde nämlich, wie der Generalanwalt in den Nrn. 93 und 94 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, zugelassen, dass einer Person, und sei es auch nur für einen begrenzten Zeitraum, die Möglichkeit genommen würde, alle ihr durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte in Anspruch zu nehmen, ohne dass eine Wiederherstellung dieser Rechte für den betreffenden Zeitraum möglich wäre.

    59

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 20 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Umständen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, dann nicht entgegensteht, wenn den betroffenen Personen die Möglichkeit eingeräumt wird, innerhalb einer angemessenen Frist einen Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu stellen, der es den zuständigen Behörden erlaubt, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu gewähren. Eine solche Frist muss einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen und kann nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden diese Person ordnungsgemäß vom Verlust oder vom unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben. Andernfalls müssen diese Behörden in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident vorzunehmen, wenn die betroffene Person ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt.

    Kosten

    60

    Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

     

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

     

    Art. 20 AEUV ist im Licht von Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

     

    dahin auszulegen, dass

     

    er der Regelung eines Mitgliedstaats, wonach seine im Ausland geborenen Staatsangehörigen, die nie in diesem Mitgliedstaat gewohnt und sich dort auch nicht unter Bedingungen aufgehalten haben, die eine echte Bindung zu ihm belegen, mit Vollendung des 22. Lebensjahrs kraft Gesetzes die Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats verlieren, was für Personen, die nicht auch Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats sind, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte zur Folge hat, dann nicht entgegensteht, wenn den betroffenen Personen die Möglichkeit eingeräumt wird, innerhalb einer angemessenen Frist einen Antrag auf Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu stellen, der es den zuständigen Behörden erlaubt, die Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts dieser Staatsangehörigkeit aus unionsrechtlicher Sicht zu prüfen und gegebenenfalls die Beibehaltung oder die rückwirkende Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu gewähren. Eine solche Frist muss einen angemessenen Zeitraum nach dem 22. Geburtstag der betroffenen Person umfassen und kann nur dann zu laufen beginnen, wenn die zuständigen Behörden diese Person ordnungsgemäß vom Verlust oder unmittelbar drohenden Verlust der Staatsangehörigkeit sowie von ihrem Recht, innerhalb dieser Frist die Beibehaltung oder Wiedererlangung der Staatsangehörigkeit zu beantragen, unterrichtet haben. Andernfalls müssen diese Behörden in der Lage sein, eine solche Prüfung inzident vorzunehmen, wenn die betroffene Person ein Reisedokument oder ein anderes Dokument zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit beantragt.

     

    Unterschriften


    ( *1 ) Verfahrenssprache: Dänisch.

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