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Document 62017CJ0221

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 12. März 2019.
M.G. Tjebbes u. a. gegen Minister van Buitenlandse Zaken.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande).
Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes – Folgen – Verhältnismäßigkeit.
Rechtssache C-221/17.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:189

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

12. März 2019 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 20 AEUV – Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und eines Drittstaats – Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats und der Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes – Folgen – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑221/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 19. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 27. April 2017, in dem Verfahren

M. G. Tjebbes,

G. J. M. Koopman,

E. Saleh Abady,

L. Duboux

gegen

Minister van Buitenlandse Zaken

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidentin A. Prechal, des Kammerpräsidenten M. Vilaras, der Kammerpräsidentin K. Jürimäe und des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter A. Rosas, E. Juhász, J. Malenovský, E. Levits, L. Bay Larsen und D. Šváby,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: M.‑A. Gaudissart, Hilfskanzler,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 24. April 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Frau Tjebbes, vertreten durch A. van Rosmalen,

von Frau Koopman und Frau Duboux, vertreten durch E. Derksen, advocaat,

von Frau Saleh Abady, vertreten durch N. van Bremen, advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman, H. S. Gijzen und J. Langer als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch M. Browne, L. Williams und A. Joyce als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Kranenborg und E. Montaguti als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 12. Juli 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 20 und 21 AEUV sowie des Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Damen M. G. Tjebbes, G. J. M. Koopman, E. Saleh Abady sowie L. Duboux und dem Minister van Buitenlandse Zaken (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Niederlande) (im Folgenden: Minister) wegen dessen Weigerung, ihren jeweiligen Antrag auf Erteilung eines nationalen Reisepasses zu prüfen.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit

3

Das am 30. August 1961 in New York angenommene und am 13. Dezember 1975 in Kraft getretene Übereinkommen der Vereinten Nationen zur Verminderung der Staatenlosigkeit (im Folgenden: Übereinkommen zur Verminderung der Staatenlosigkeit) ist im Königreich der Niederlande seit dem 11. August 1985 anwendbar. Art. 6 dieses Übereinkommens bestimmt:

„Erstreckt sich nach dem Recht eines Vertragsstaats der Verlust oder Entzug der Staatsangehörigkeit einer Person auf den Ehegatten oder die Kinder, so ist für diese der Verlust vom Besitz oder Erwerb einer anderen Staatsangehörigkeit abhängig.“

4

Art. 7 Abs. 3 bis 6 des Übereinkommens sieht vor:

„(3)   Vorbehaltlich der Absätze 4 und 5 verliert ein Staatsangehöriger eines Vertragsstaats weder wegen Verlassens des Landes, Auslandsaufenthaltes oder Verletzung einer Meldepflicht noch aus einem ähnlichen Grund seine Staatsangehörigkeit, wenn er dadurch staatenlos wird.

(4)   Eine eingebürgerte Person kann auf Grund eines Auslandsaufenthaltes nach einer im Recht des Vertragsstaats festgesetzten Dauer, die nicht weniger als sieben aufeinanderfolgende Jahre betragen darf, ihre Staatsangehörigkeit verlieren, wenn sie es unterlässt, der zuständigen Behörde ihre Absicht mitzuteilen, sich ihre Staatsangehörigkeit zu erhalten.

(5)   Für Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die außerhalb seines Hoheitsgebiets geboren sind, kann das Recht dieses Staates die Erhaltung der Staatsangehörigkeit über den Ablauf eines Jahres nach Erreichung der Volljährigkeit hinaus davon abhängig machen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Hoheitsgebiet aufhalten oder bei der zuständigen Behörde registriert sind.

(6)   Mit Ausnahme der in diesem Artikel vorgesehenen Fälle verliert niemand die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats, wenn er dadurch staatenlos würde, selbst wenn dieser Verlust durch keine andere Bestimmung dieses Übereinkommens ausdrücklich verboten ist.“

Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit

5

Das am 6. November 1997 im Rahmen des Europarats angenommene und am 1. März 2000 in Kraft getretene Europäische Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit (im Folgenden: Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit) ist seit dem 1. Juli 2001 im Königreich der Niederlande anwendbar. Art. 7 des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit bestimmt:

„1   Ein Vertragsstaat darf in seinem innerstaatlichen Recht nicht den Verlust der Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes oder auf seine Veranlassung vorsehen, außer in folgenden Fällen:

e)

Fehlen einer echten Bindung zwischen dem Vertragsstaat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland;

2   Ein Vertragsstaat kann – außer in den Fällen des Absatzes 1 Buchstaben c und d – den Verlust seiner Staatsangehörigkeit für Kinder vorsehen, deren Eltern diese Staatsangehörigkeit verlieren. Kinder verlieren jedoch diese Staatsangehörigkeit nicht, wenn einer ihrer Elternteile sie beibehält.

…“

Unionsrecht

6

Art. 20 AEUV sieht vor:

„(1)   Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht.

(2)   Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem

a)

das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten;

c)

im Hoheitsgebiet eines Drittlands, in dem der Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, nicht vertreten ist, Recht auf Schutz durch die diplomatischen und konsularischen Behörden eines jeden Mitgliedstaats unter denselben Bedingungen wie Staatsangehörige dieses Staates;

…“

7

Gemäß Art. 7 der Charta hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

8

Art. 24 Abs. 2 der Charta sieht vor:

„…

Bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen muss das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein.

…“

Niederländisches Recht

9

Art. 6 Abs. 1 Buchst. f der Rijkswet op het Nederlanderschap (Gesetz über die niederländische Staatsangehörigkeit, im Folgenden: RWN) sieht vor:

„Nach Abgabe einer entsprechenden schriftlichen Erklärung erwirbt durch eine Bestätigung im Sinne von Abs. 3 die niederländische Staatsangehörigkeit: … f. der volljährige Ausländer, der zu irgendeiner Zeit im Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit … war und seit mindestens einem Jahr einen unbefristeten Aufenthaltstitel sowie den gewöhnlichen Aufenthalt in … den Niederlanden … hat, sofern er die niederländische Staatsangehörigkeit nicht gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. d oder f verloren hat.“

10

Art. 15 RWN bestimmt:

„(1)   Ein Volljähriger verliert die niederländische Staatsangehörigkeit:

c)

wenn er zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während seiner Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren im Besitz beider Staatsangehörigkeiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Gebiete hat, auf die der [EU-Vertrag] Anwendung findet;

(3)   Die in Abs. 1 Buchst. c genannte Frist gilt als nicht unterbrochen, wenn die betreffende Person während eines Zeitraums, der kürzer als ein Jahr ist, ihren gewöhnlichen Aufenthalt in den Niederlanden … oder in den Gebieten hat, auf die der [EU-Vertrag] Anwendung findet.

(4)   Die in Abs. 1 Buchst. c genannte Frist wird durch die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit oder eines Reisedokuments oder eines niederländischen Personalausweises im Sinne der Paspoortwet [(Passgesetz)] unterbrochen. Ab dem Tag der Ausstellung beginnt eine neue Frist von zehn Jahren.“

11

Art. 16 RWN bestimmt:

„(1)   Ein Minderjähriger verliert die niederländische Staatsangehörigkeit,

d)

wenn sein Vater oder seine Mutter die niederländische Staatsbürgerschaft gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. b, c oder d … verliert;

(2)   Der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit nach Abs. 1 tritt nicht ein,

a)

wenn und solange einer der Elternteile im Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit ist;

e)

wenn der Minderjährige in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, geboren wurde und im Zeitpunkt des Erwerbs der Staatsangehörigkeit dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat …;

f)

wenn der Minderjährige während eines ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit er erworben hat, seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder gehabt hat …;

…“

12

Nach Art. IV der Rijkswet tot wijziging Rijkswet op het Nederlanderschap (verkrijging, verlening en verlies van het Nederlanderschap) (Gesetz zur Änderung des Gesetzes über die niederländische Staatsangehörigkeit [Erwerb, Verleihung und Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit]) vom 21. Dezember 2000 beginnt der Zehnjahreszeitraum im Sinne von Art. 15 Abs. 1 RWN erst am 1. April 2003.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

13

Frau Tjebbes wurde am 29. August 1984 in Vancouver (Kanada) geboren und besitzt seit ihrer Geburt die niederländische und die kanadische Staatsangehörigkeit. Am 9. Mai 2003 wurde ihr ein niederländischer Pass ausgestellt. Die Gültigkeit dieses Passes endete am 9. Mai 2008. Am 25. April 2014 beantragte Frau Tjebbes einen Pass beim niederländischen Konsulat in Calgary (Kanada).

14

Frau Koopman wurde am 23. März 1967 in Hoorn (Niederlande) geboren. Am 21. Mai 1985 nahm sie ihren Wohnsitz in der Schweiz und heiratete am 7. April 1988 Herrn P. Duboux, der die Schweizer Staatsangehörigkeit besaß. Durch die Heirat erwarb Frau Koopman auch die Schweizer Staatsangehörigkeit. Sie besaß einen am 10. Juli 2000 ausgestellten nationalen Pass, der bis zum 10. Juli 2005 gültig war. Am 8. September 2014 beantragte Frau Koopman einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Bern (Schweiz).

15

Frau Saleh Abady wurde am 25. März 1960 in Teheran (Iran) geboren. Sie besitzt die iranische Staatsangehörigkeit durch Geburt. Durch Koninklijk Besluit (königliche Verordnung) vom 3. September 1999 erwarb sie auch die niederländische Staatsangehörigkeit. Am 6. Oktober 1999 wurde ihr zuletzt ein niederländischer Pass ausgestellt, der bis zum 6. Oktober 2004 gültig war. Am 3. Dezember 2002 wurde ihre Eintragung im Melderegister nicht mehr weitergeführt, da sie ausgewandert war. Seit diesem Datum hatte Frau Saleh Abady ihren gewöhnlichen Aufenthalt offenbar ununterbrochen im Iran gehabt. Am 29. Oktober 2014 beantragte sie einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Teheran.

16

Frau Duboux wurde am 13. April 1995 in Lausanne (Schweiz) geboren. Sie erwarb die niederländische Staatsangehörigkeit aufgrund der doppelten Staatsbürgerschaft ihrer Mutter, Frau Koopman, durch Geburt sowie die Schweizer Staatsangehörigkeit aufgrund der Schweizer Staatsangehörigkeit ihres Vaters P. Duboux. Ihr wurde nie ein niederländischer Pass ausgestellt. Als Minderjährige war sie jedoch in dem am 10. Juli 2000 ausgestellten Pass ihrer Mutter eingetragen, der bis zum 10. Juli 2005 gültig war. Am 13. April 2013 wurde Frau Duboux volljährig. Am 8. September 2014 beantragte sie zugleich mit ihrer Mutter einen Pass bei der Botschaft des Königreichs der Niederlande in Bern.

17

Durch vier gesonderte Entscheidungen vom 2. Mai 2014, 16. September 2014, 20. Januar 2015 und 23. Februar 2015 hat der Minister die Behandlung der Anträge von Frau Tjebbes, Frau Koopman, Frau Saleh Abady und Frau Duboux auf einen nationalen Pass eingestellt. Der Minister hatte nämlich festgestellt, dass diese Personen die niederländische Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c oder Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN verloren hatten.

18

Nach der Zurückweisung der gegen diese Entscheidungen eingelegten Beschwerden durch den Minister erhoben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren vier gesonderte Klagen vor der Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag, Niederlande). Mit Urteilen vom 24. April 2015, 16. Juli 2015 bzw. 6. Oktober 2015 wies die Rechtbank Den Haag (Gericht Den Haag) die Klagen von Frau Tjebbes, Frau Koopman und Frau Saleh Abady als unbegründet ab. Mit Urteil vom 4. Februar 2016 erklärte dieses Gericht dagegen die Klage von Frau Duboux für begründet und hob die auf ihre Beschwerde hin ergangene Entscheidung des Ministers unter Aufrechterhaltung der Rechtswirkungen dieser Entscheidung auf.

19

Gegen diese Urteile haben die Klägerinnen der Ausgangsverfahren jeweils Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande) eingelegt.

20

Das vorlegende Gericht führt aus, es sei mit der Frage befasst, ob der kraft Gesetzes eintretende Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit mit dem Unionsrecht vereinbar sei, und zwar insbesondere mit den Art. 20 und 21 AEUV im Licht des Urteils vom 2. März 2010, Rottmann (C‑135/08, EU:C:2010:104). Seiner Auffassung nach finden diese Artikel in den Ausgangsverfahren Anwendung, obwohl der Verlust der Unionsbürgerschaft hier aus dem Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes folge und nicht auf einer ausdrücklichen Individualentscheidung über die Rücknahme der Staatsangehörigkeit beruhe, wie es in der Rechtssache der Fall gewesen sei, in der das genannte Urteil ergangen ist.

21

Der Raad van State (Staatsrat) fragt sich, ob es möglich sei, zu prüfen, ob eine nationale Regelung, die den Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsehe, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz vereinbar sei, auf den der Gerichtshof in Rn. 55 des in der vorstehenden Randnummer angeführten Urteils Bezug nimmt, und wie diese Prüfung vorzunehmen sei. Obwohl die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit für die betroffenen Personen aus unionsrechtlicher Sicht eine Einzelfallabwägung erfordern könnte, schließe das vorlegende Gericht nicht aus, dass diese Verhältnismäßigkeitsprüfung bereits in einer allgemeinen gesetzlichen Regelung selbst, im vorliegenden Fall der des RWN, enthalten sein könne, wie der Minister vorgetragen habe.

22

Der Raad van State (Staatsrat) meint in Bezug auf die Situation volljähriger Personen, dass es gute Gründe für die Annahme gebe, dass Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang stehe und mit den Art. 20 und 21 AEUV vereinbar sei. Die Vorschrift sehe eine großzügige Frist von zehn Jahren des Aufenthalts im Ausland vor, bevor die niederländische Staatsangehörigkeit verloren gehe; dann könne angenommen werden, dass die Betroffenen keine oder nur eine sehr schwache Bindung zu den Niederlanden und somit zur Europäischen Union hätten. Zudem könne die niederländische Staatsangehörigkeit relativ einfach beibehalten werden, denn dieser Zehnjahreszeitraum werde unterbrochen, wenn der Betroffene sich während dieses Zeitraums mindestens ein Jahr ununterbrochen in den Niederlanden oder der Union aufhalte oder ihm eine Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, ein niederländischer Personalausweis oder ein Reisedokument im Sinne des niederländischen Passgesetzes ausgestellt werde. Ferner weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass jeder, der die vorgeschriebenen Bedingungen für eine „Option“ im Sinne von Art. 6 RWN erfülle, Anspruch auf den Erwerb der zuvor besessenen niederländischen Staatsangehörigkeit im Wege der Bestätigung habe.

23

Außerdem äußert der Raad van State (Staatsrat) die vorläufige Auffassung, dass der niederländische Gesetzgeber mit dem Erlass von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN nicht willkürlich gehandelt habe und daher kein Verstoß gegen Art. 7 der Charta vorliege, der die Achtung des Privat- und Familienlebens betreffe.

24

Da nach Auffassung des Raad van State (Staatsrat) jedoch nicht ausgeschlossen ist, dass die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Folgen des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit für die Situation der betroffenen Personen eine Einzelfallabwägung erfordere, stehe nicht mit Sicherheit fest, ob eine allgemeine gesetzliche Regelung wie die in der RWN vorgesehene mit den Art. 20 und 21 AEUV in Einklang stehe.

25

In Bezug auf die Situation der Minderjährigen weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN die Bedeutung zum Ausdruck bringe, die der nationale Gesetzgeber der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie beigemessen habe. Insoweit sei es fraglich, ob es verhältnismäßig sei, einem Minderjährigen allein aus Gründen des Erhalts der Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie die Unionsbürgerschaft und die damit verbundenen Rechte zu entziehen, und welche Rolle das vorrangige Wohl des Kindes im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Charta insoweit spiele. Es sei zu beachten, dass ein Minderjähriger nur wenig Einfluss auf die Beibehaltung seiner niederländischen Staatsangehörigkeit habe und dass die Möglichkeiten der Fristunterbrechung oder der Ausstellung etwa einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsbürgerschaft für Minderjährige keine Ausnahmegründe bildeten. Mithin stehe nicht eindeutig fest, dass Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einklang stehe.

26

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind die Art. 20 und 21 AEUV u. a. im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen, dass sie, wegen des Fehlens einer Prüfung im Einzelfall am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – was die Folgen des Verlusts der Staatsangehörigkeit für die Situation des Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht angeht –, gesetzlichen Regelungen wie den im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden entgegenstehen, die vorsehen, dass

a)

ein Volljähriger, der zugleich die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats besitzt, die Staatsangehörigkeit seines Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verliert, weil er während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland und außerhalb der Union gehabt hat, obwohl Möglichkeiten bestehen, diese zehnjährige Frist zu unterbrechen,

b)

ein Minderjähriger aufgrund des Verlusts der Staatsangehörigkeit eines Elternteils im Sinne der Ausführungen unter Buchst. a unter bestimmten Umständen die Staatsangehörigkeit seines Mitgliedstaats und damit die Unionsbürgerschaft kraft Gesetzes verliert?

Zur Vorlagefrage

27

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 20 und 21 AEUV im Licht von Art. 7 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren entgegenstehen, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, den Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte nach sich zieht, ohne dass eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation dieser Personen aus unionsrechtlicher Sicht im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorgenommen wird.

28

Vorab ist festzustellen, dass auf die Frage nicht geantwortet zu werden braucht, soweit sie sich auf Art. 21 AEUV bezieht, da aus der Vorlageentscheidung nicht hervorgeht, dass die Klägerinnen der Ausgangsverfahren ihr Recht auf Freizügigkeit innerhalb der Union ausgeübt hätten.

29

Nach dieser Klarstellung ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN vorsieht, dass ein Volljähriger die niederländische Staatsangehörigkeit verliert, wenn er zugleich eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und während seiner Volljährigkeit während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren im Besitz beider Staatsangehörigkeiten seinen gewöhnlichen Aufenthalt außerhalb der Niederlande und der Gebiete hat, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet. Ferner verliert nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN eine minderjährige Person grundsätzlich die niederländische Staatsangehörigkeit, wenn ihr Vater oder ihre Mutter die niederländische Staatsangehörigkeit u. a. gemäß Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN verliert.

30

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass zwar die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit nach dem Völkerrecht in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, aber die Tatsache, dass für ein Rechtsgebiet die Mitgliedstaaten zuständig sind, nicht ausschließt, dass die betreffenden nationalen Vorschriften in Situationen, die unter das Unionsrecht fallen, dieses Recht beachten müssen (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 39 und 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Art. 20 AEUV verleiht aber jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers, der nach ständiger Rechtsprechung dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (Urteil vom 8. Mai 2018, K.A. u. a. [Familienzusammenführung in Belgien], C‑82/16, EU:C:2018:308, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

Die Situation von Unionsbürgerinnen, die, wie die Klägerinnen der Ausgangsverfahren, die Staatsangehörigkeit nur eines einzigen Mitgliedstaats besitzen und die durch den Verlust dieser Staatsangehörigkeit auch mit dem Verlust des durch Art. 20 AEUV verliehenen Status und der damit verbundenen Rechte konfrontiert werden, fällt daher ihrem Wesen und ihren Folgen nach unter das Unionsrecht. Infolgedessen haben die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit im Bereich der Staatsangehörigkeit das Unionsrecht zu beachten (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 42 und 45).

33

In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es legitim ist, dass ein Mitgliedstaat das zwischen ihm und seinen Staatsbürgern bestehende Verhältnis besonderer Verbundenheit und Loyalität sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen, schützen will (Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 51).

34

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass der niederländische Gesetzgeber mit Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN eine Regelung einführen wollte, die u. a. darauf abzielte, die unerwünschten Folgen des Besitzes mehrerer Staatsangehörigkeiten durch ein und dieselbe Person auszuschließen. Die niederländische Regierung führt außerdem in ihren vor dem Gerichtshof abgegebenen Erklärungen aus, dass es eines der Ziele des RWN sei, zu vermeiden, dass Personen die niederländische Staatsangehörigkeit erhalten oder beibehalten, obwohl keine Bindung zwischen ihnen und dem Königreich der Niederlande (mehr) besteht. Mit Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN wiederum werde bezweckt, die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie wiederherzustellen.

35

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 53 und 55 seiner Schlussanträge feststellt, darf ein Mitgliedstaat bei der Ausübung seiner Zuständigkeit für die Festlegung der Voraussetzungen für den Erwerb und den Verlust der Staatsangehörigkeit davon ausgehen, dass die Staatsangehörigkeit Ausdruck einer echten Bindung zwischen ihm und seinen Staatsbürgern ist, und folglich das Fehlen oder den Wegfall einer solchen echten Bindung mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit verbinden. Es ist auch legitim, dass ein Mitgliedstaat die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie schützen möchte.

36

Ein Kriterium wie das in Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN enthaltene, das auf den gewöhnlichen Aufenthalt der Staatsangehörigen des Königreichs der Niederlande während eines ununterbrochenen Zeitraums von zehn Jahren außerhalb dieses Mitgliedstaats und der Gebiete, auf die der EU-Vertrag Anwendung findet, abstellt, kann insoweit dahin aufgefasst werden, dass es das Fehlen dieser echten Bindung widerspiegelt. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass, wie die niederländische Regierung in Bezug auf Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN ausgeführt hat, das Fehlen einer echten Bindung zwischen den Eltern eines minderjährigen Kindes und dem Königreich der Niederlande grundsätzlich das Fehlen einer solchen Bindung zwischen diesem Kind und dem Mitgliedstaat impliziert.

37

Die grundsätzliche Zulässigkeit des Verlusts der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats in solchen Situationen wird darüber hinaus durch die Bestimmungen von Art. 6 und Art. 7 Abs. 3 bis 6 des Übereinkommens zur Verringerung der Fälle von Staatenlosigkeit bestätigt, die in ähnlichen Situationen vorsehen, dass eine Person die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats verlieren kann, sofern sie nicht staatenlos würde. Diese Gefahr der Staatenlosigkeit wird im vorliegenden Fall durch die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften ausgeschlossen, da deren Anwendung voraussetzt, dass die betreffende Person neben der niederländischen Staatsangehörigkeit die eines anderen Staates besitzt. Ferner bestimmt Art. 7 Abs. 1 Buchst. e und Abs. 2 des Übereinkommens über die Staatsangehörigkeit, dass ein Vertragsstaat insbesondere, wenn – bei Volljährigen – eine echte Bindung zwischen diesem Staat und einem Staatsangehörigen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland fehlt und – bei Minderjährigen – für Kinder, deren Eltern die Staatsangehörigkeit dieses Staates verlieren, den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsehen kann.

38

Für diese Zulässigkeit spricht zudem, dass nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts der niederländische Gesetzgeber, wenn die betreffende Person innerhalb des Zehnjahreszeitraums im Sinne von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN die Ausstellung einer Erklärung über den Besitz der niederländischen Staatsangehörigkeit, eines Reisedokuments oder eines niederländischen Personalausweises im Sinne des niederländischen Passgesetzes beantragt, der Auffassung ist, dass diese Person somit eine echte Bindung mit dem Königreich der Niederlande aufrechterhalten will, wie die Tatsache zeigt, dass nach Art. 15 Abs. 4 RWN die Ausstellung eines dieser Dokumente diese Frist unterbricht und damit den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit ausschließt.

39

Unter diesen Umständen verbietet es das Unionsrecht grundsätzlich nicht, dass in Situationen wie den von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN und Art. 16 Abs. 1 Buchst. d RWN erfassten ein Mitgliedstaat aus Gründen des Allgemeininteresses den Verlust der Staatsangehörigkeit vorsieht, auch wenn dieser Verlust für die betreffende Person den Verlust ihres Unionsbürgerstatus nach sich zieht.

40

Es ist jedoch Sache der zuständigen nationalen Behörden und der nationalen Gerichte, zu prüfen, ob mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er zum Verlust des Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die unionsrechtliche Stellung des Betroffenen und gegebenenfalls seiner Familienangehörigen, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 55 und 56).

41

Der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes verstieße gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, wenn die relevanten innerstaatlichen Rechtsvorschriften zu keinem Zeitpunkt eine Einzelfallprüfung der Folgen dieses Verlusts für die Situation der Betroffenen aus unionsrechtlicher Sicht erlaubten.

42

Hieraus folgt, dass in Situationen wie den in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, in denen der Verlust der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats kraft Gesetzes erfolgt und den Verlust des Unionsbürgerstatus nach sich zieht, die zuständigen nationalen Behörden und Gerichte in der Lage sein müssen, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen.

43

Im Übrigen gibt das vorlegende Gericht im Wesentlichen an, dass sowohl der Minister als auch die zuständigen Gerichte nach dem innerstaatlichen Recht aufgerufen seien, die Möglichkeit der Beibehaltung der niederländischen Staatsangehörigkeit im Rahmen des Verfahrens für Anträge auf Passerneuerung unter Vornahme einer umfassenden Beurteilung im Hinblick auf den im Unionsrecht verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen.

44

Eine solche Prüfung erfordert eine Beurteilung der individuellen Situation der betroffenen Person sowie der ihrer Familie, um zu bestimmen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, wenn er den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, Folgen hat, die die normale Entwicklung ihres Familien- und Berufslebens – gemessen an dem vom nationalen Gesetzgeber verfolgten Ziel – aus unionsrechtlicher Sicht unverhältnismäßig beeinträchtigen würden. Dabei darf es sich nicht um nur hypothetische oder potenzielle Folgen handeln.

45

Im Rahmen dieser Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es Sache insbesondere der zuständigen nationalen Behörden und gegebenenfalls der nationalen Gerichte, sich Gewissheit darüber zu verschaffen, dass ein solcher Verlust der Staatsangehörigkeit mit den Grundrechten der Charta, deren Wahrung der Gerichtshof sichert, im Einklang steht, und insbesondere mit dem Recht auf Achtung des Familienlebens, das in Art. 7 der Charta niedergelegt ist, wobei dieser Artikel in Zusammenschau mit der Verpflichtung auszulegen ist, das in Art. 24 Abs. 2 der Charta anerkannte Kindeswohl zu berücksichtigen (Urteil vom 10. Mai 2017, Chavez-Vilchez u. a., C‑133/15, EU:C:2017:354, Rn. 70).

46

Was die Umstände in Bezug auf die individuelle Situation der betroffenen Person angeht, die bei der von den zuständigen nationalen Behörden und den nationalen Gerichten im vorliegenden Fall vorzunehmenden Beurteilung relevant sein können, ist u. a. die Tatsache zu erwähnen, dass die betroffene Person infolge des Verlusts der niederländischen Staatsangehörigkeit und des Unionsbürgerstatus kraft Gesetzes Beschränkungen bei der Ausübung ihres Rechts, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, ausgesetzt wäre, gegebenenfalls verbunden mit besonderen Schwierigkeiten, sich weiter in die Niederlande oder einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, um dort tatsächliche und regelmäßige Bindungen mit Mitgliedern ihrer Familie aufrechtzuerhalten, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben oder die notwendigen Schritte zu unternehmen, um dort eine solche Tätigkeit auszuüben. Ebenfalls relevant wäre erstens der Umstand, dass ein Verzicht der betroffenen Person auf die Staatsangehörigkeit eines Drittstaats nicht möglich gewesen wäre und sie deshalb in den Anwendungsbereich von Art. 15 Abs. 1 Buchst. c RWN fällt, und zweitens die ernsthafte Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihrer Sicherheit oder ihrer Freiheit, zu kommen und zu gehen, der die betroffene Person deshalb ausgesetzt wäre, weil es ihr unmöglich wäre, im Hoheitsgebiet des Drittstaats, in dem diese Person wohnt, konsularischen Schutz gemäß Art. 20 Abs. 2 Buchst. c AEUV in Anspruch zu nehmen.

47

Was minderjährige Personen betrifft, müssen die zuständigen Behörden oder Gerichte außerdem im Rahmen ihrer individuellen Prüfung dem etwaigen Vorliegen von Umständen Rechnung tragen, aus denen sich ergibt, dass der Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit des betroffenen Minderjährigen, die der innerstaatliche Gesetzgeber an den Verlust der niederländischen Staatsangehörigkeit eines seiner Elternteile geknüpft hat, um die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie zu wahren, wegen der Folgen eines solchen Verlusts für diesen Minderjährigen aus unionsrechtlicher Sicht nicht dem in Art. 24 der Charta anerkannten Kindeswohl entspricht.

48

Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 20 AEUV im Licht der Art. 7 und 24 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Unionsbürgerstatus und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den Verlust des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

49

Angesichts der Antwort auf die Frage braucht über den von der niederländischen Regierung in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag, die Wirkungen des Urteils für den Fall, dass darin die Unvereinbarkeit der niederländischen Regelung mit Art. 20 AEUV festgestellt werden sollte, zeitlich zu begrenzen, nicht entschieden zu werden.

Kosten

50

Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 20 AEUV ist im Licht der Art. 7 und 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats wie der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die unter bestimmten Bedingungen den Verlust der Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats kraft Gesetzes vorsieht, der bei Personen, die nicht auch die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats besitzen, zum Verlust ihres Status als Bürger der Europäischen Union und der damit verbundenen Rechte führt, nicht entgegensteht, sofern die zuständigen nationalen Behörden einschließlich gegebenenfalls der nationalen Gerichte in der Lage sind, bei der Beantragung eines Reisedokuments oder eines anderen Dokuments zur Bescheinigung der Staatsangehörigkeit durch eine betroffene Person inzident die Folgen dieses Verlusts der Staatsangehörigkeit zu prüfen und gegebenenfalls die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen rückwirkend wiederherzustellen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden und Gerichte feststellen, ob der Verlust der Staatsangehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats, der den des Unionsbürgerstatus mit sich bringt, im Hinblick auf seine Folgen für die Situation der betroffenen Personen und gegebenenfalls für die ihrer Familienangehörigen aus unionsrechtlicher Sicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

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