EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62021CJ0402

Urteil des Gerichtshofs (Zweite Kammer) vom 9. Februar 2023.
Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid u. a. gegen S und Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid.
Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 6 und 7 – Türkische Staatsangehörige, die bereits in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats integriert sind und über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügen – Entscheidungen der nationalen Behörden, mit denen türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, das Aufenthaltsrecht entzogen wird, weil sie eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen – Art. 13 – Stillhalteklausel – Art. 14 – Rechtfertigung – Gründe der öffentlichen Ordnung.
Rechtssache C-402/21.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2023:77

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

9. Februar 2023 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Assoziierungsabkommen EWG-Türkei – Beschluss Nr. 1/80 – Art. 6 und 7 – Türkische Staatsangehörige, die bereits in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats integriert sind und über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfügen – Entscheidungen der nationalen Behörden, mit denen türkischen Staatsangehörigen, die sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in dem betreffenden Mitgliedstaat aufhalten, das Aufenthaltsrecht entzogen wird, weil sie eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen – Art. 13 – Stillhalteklausel – Art. 14 – Rechtfertigung – Gründe der öffentlichen Ordnung“

In der Rechtssache C‑402/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Raad van State (Staatsrat, Niederlande) mit Entscheidung vom 23. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 30. Juni 2021,

in dem Verfahren

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

gegen

S

und in den Verfahren

E,

C

gegen

Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Richterin M. L. Arastey Sahún sowie der Richter F. Biltgen (Berichterstatter), N. Wahl und J. Passer,

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 28. September 2022,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von E, vertreten durch A. Durmus und E. Köse, Advocaten,

von C, vertreten durch A. Agayev und Š. Petković, Advocaten,

von S, vertreten durch N. van Bremen, Advocaat,

der niederländischen Regierung, vertreten durch M. K. Bulterman und A. Hanje als Bevollmächtigte,

der dänischen Regierung, vertreten durch M. Brochner Jespersen, J. Farver Kronborg, V. Pasternak Jørgensen, M. Søndahl Wolff und Y. Thyregod Kollberg als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und H. van Vliet als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6, 7, 13 und 14 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (im Folgenden: Beschluss Nr. 1/80).

2

Es ergeht im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid (Staatssekretär für Justiz und Sicherheit, Niederlande, im Folgenden: Staatssekretär) auf der einen sowie S bzw. E und C auf der anderen Seite, wegen des Erlasses von Entscheidungen, mit denen der Staatssekretär den Entzug des Aufenthaltsrechts von S, E und C (im Folgenden zusammen: Betroffene) sowie ihre Ausweisung aus dem niederländischen Hoheitsgebiet angeordnet hat.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Assoziierungsabkommen

3

Nach Art. 2 Abs. 1 des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Republik Türkei, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnet und im Namen der Gemeinschaft durch den Beschluss 64/732/EWG des Rates vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Assoziierungsabkommen), hat dieses zum Ziel, eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien unter voller Berücksichtigung der Notwendigkeit zu fördern, dass hierbei der beschleunigte Aufbau der türkischen Wirtschaft sowie die Hebung des Beschäftigungsstandes und der Lebensbedingungen des türkischen Volkes gewährleistet werden.

4

Dazu sieht das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase vor, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3 des Abkommens), eine Übergangsphase, in der die Vertragsparteien die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken gewährleisten (Art. 4 des Abkommens), und eine auf der Zollunion beruhende Endphase, die eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt (Art. 5 des Abkommens).

5

Art. 6 des Assoziierungsabkommens sieht vor:

„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem [Assoziierungsabkommen] zugewiesen sind.“

Zusatzprotokoll

6

Das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnete und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. 1972, L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte Zusatzprotokoll (im Folgenden: Zusatzprotokoll), das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, legt nach Art. 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Abkommens genannten Übergangsphase fest.

7

Es enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), dessen Kapitel I „Arbeitskräfte“ und dessen Kapitel II „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft.

8

Art. 59 dieses Protokolls sieht vor:

„In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen darf der [Republik] Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander auf Grund des [EG‑Vertrags] einräumen.“

Beschluss Nr. 1/80

9

Kapitel II („Soziale Bestimmungen“) des Beschlusses Nr. 1/80 enthält einen Abschnitt 1 („Fragen betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer“), der die Art. 6 bis 16 des Beschlusses umfasst.

10

Art. 6 des Beschlusses sieht vor:

„(1)   Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;

nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;

nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.

(3)   Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt.“

11

Art. 7 des Beschlusses lautet:

„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;

haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.

Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“

12

Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 lautet:

„Die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die [Republik] Türkei dürfen für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.“

13

Art. 14 dieses Beschlusses bestimmt:

„(1)   Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

(2)   Er berührt nicht die Rechte und Pflichten, die sich aus den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder zweiseitigen Abkommen zwischen der [Republik] Türkei und den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ergeben, soweit sie für ihre Staatsangehörigen eine günstigere Regelung vorsehen.“

14

Nach Art. 16 des Beschlusses sind die Bestimmungen von Kapitel II Abschnitt 1 ab dem 1. Dezember 1980 anwendbar.

Richtlinie 2003/109/EG

15

In Art. 12 („Ausweisungsschutz“) der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. 2004, L 16, S. 44) heißt es:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können nur dann gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt.

(2)   Die Verfügung nach Absatz 1 darf nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen.

(3)   Bevor sie gegen einen langfristig Aufenthaltsberechtigten eine Ausweisung verfügen, berücksichtigen die Mitgliedstaaten Folgendes:

a)

Dauer des Aufenthalts in ihrem Hoheitsgebiet,

b)

Alter der betreffenden Person,

c)

Folgen für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen,

d)

Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat.

…“

Niederländisches Recht

Ausländergesetz

16

Art. 22 der Wet tot algehele herziening van de Vreemdelingenwet (Vreemdelingenwet 2000) (Ausländergesetz 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 495) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ausländergesetz) sieht vor:

„…

2.   Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach Art. 20 kann entzogen werden, wenn

c.

der Inhaber wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht ist, oder wenn die in Art. 37a des Wetboek van Strafrecht (Strafgesetzbuch) genannte Maßregel gegen ihn angeordnet worden ist;

d.

der Ausländer eine Gefahr für die nationale Sicherheit darstellt.

3.   Durch oder kraft Verordnung können Vorschriften erlassen werden, in denen die in Abs. 2 genannten Gründe näher geregelt werden.“

Ausländerverordnung

17

In Art. 3.86 des Besluit tot uitvoering van de Vreemdelingenwet 2000 (Vreemdelingenbesluit 2000) (Ausländerverordnung 2000) vom 23. November 2000 (Stb. 2000, Nr. 497) in der bis zum 1. Juli 2012 geltenden Fassung (im Folgenden: Ausländerverordnung) hieß es:

„…

4.   Der Antrag [auf Verlängerung der befristeten regulären Aufenthaltserlaubnis] kann auch auf der Grundlage von Art. 18 Abs. 1 Buchst. e des [Ausländergesetzes] abgelehnt werden, wenn gegen den Ausländer wegen mindestens fünf Straftaten oder – bei einem Aufenthalt von weniger als zwei Jahren – wegen mindestens drei Straftaten durch rechtskräftiges Urteil eine Freiheits- bzw. Jugendstrafe, eine Strafe in Form von [gemeinnütziger] Arbeit verhängt oder eine Maßregel nach Art. 37a, 38m oder 77h Abs. 4 Buchst. a oder b des Strafgesetzbuchs angeordnet worden ist oder durch eine rechtskräftige strafrechtliche Entscheidung der Staatsanwaltschaft („strafbeschikking“) eine Strafe in Form von [gemeinnütziger] Arbeit verhängt worden ist oder das ausländische Äquivalent einer solchen Strafe oder Maßregel verhängt bzw. angeordnet worden ist und die Gesamtdauer des unbedingt zu vollstreckenden Teils dieser Strafen oder Maßregeln mindestens der in Abs. 5 angegebenen Dauer entspricht.

5.   Die in Abs. 4 genannte Dauer beträgt

[bei einer Aufenthaltsdauer von] mindestens 15 Jahren, aber weniger als 20 Jahren: 14 Monate.

11.   Abweichend von den vorstehenden Absätzen wird der Antrag [auf Verlängerung der befristeten regulären Aufenthaltserlaubnis] nicht abgelehnt,

b.

wenn die Aufenthaltsdauer 20 Jahre beträgt.

…“

18

Art. 3.98 dieser Verordnung sieht vor:

„1.   Gemäß Art. 22 Abs. 2 Buchst. c des [Ausländergesetzes] kann die unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis entzogen werden, wenn gegen den betreffenden Ausländer wegen einer Straftat, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht ist, durch rechtskräftiges Urteil eine Freiheitsstrafe, eine Strafe in Form von [gemeinnütziger] Arbeit verhängt oder eine Maßregel nach Art. 37a des Strafgesetzbuchs angeordnet worden ist oder das ausländische Äquivalent einer solchen Strafe oder Maßregel verhängt bzw. angeordnet worden ist und die Gesamtdauer dieser Strafen oder Maßregeln mindestens der in Art. 3.86 Abs. 2, 3 oder 5 angegebenen Dauer entspricht.

2.   Die Art. 3.86 und 3.87 gelten entsprechend.“

19

In Art. 8.7 der Verordnung heißt es:

„1.   Dieser Unterabschnitt gilt für Ausländer, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats der Union oder eines Vertragsstaats des EWR-Abkommens oder die schweizerische Staatsangehörigkeit besitzen und sich in die Niederlande begeben oder sich dort aufhalten.

…“

20

Art. 8.22 der Verordnung bestimmt:

„1.   Der Minister kann den rechtmäßigen Aufenthalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit verweigern oder beenden, wenn das persönliche Verhalten des betreffenden Ausländers eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bevor der Minister eine Entscheidung trifft, berücksichtigt er die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in den Niederlanden, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in den Niederlanden und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat.

3.   Sofern nicht zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit es erfordern, wird der rechtmäßige Aufenthalt nicht beendet, wenn der Ausländer

a.

während der letzten zehn Jahre in den Niederlanden gewohnt hat; …

…“

21

Mit Art. I des Besluit houdende wijziging van het Vreemdelingenbesluit 2000 in verband met aanscherping van de glijdende schaal (Beschluss zur Änderung der Ausländerverordnung im Zusammenhang mit einer Verschärfung der gleitenden Skala) vom 26. März 2012 (Stb. 2012, Nr. 158) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Beschluss vom 26. März 2012) wurde die Ausländerverordnung folgendermaßen geändert.

22

Der Wortlaut von Art. 3.86 Abs. 5 der Ausländerverordnung wurde wie folgt ersetzt:

„Die in Abs. 4 genannte Dauer beträgt …

[bei einer Aufenthaltsdauer von] mindestens 15 Jahren: 14 Monate.“

23

Art. 3.86 Abs. 11 der Ausländerverordnung, der zu Abs. 10 umnummeriert wurde, wurde wie folgt ersetzt:

„Abweichend von den vorstehenden Absätzen wird der Antrag nicht abgelehnt, wenn die Aufenthaltsdauer zehn Jahre beträgt, außer bei Vorliegen

a.

einer Straftat im Sinne von Art. 22b Abs. 1 des Strafgesetzbuchs;

b.

eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz, der nach seiner gesetzlichen Definition mit einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Jahren bedroht ist.“

24

Art. II des Beschlusses vom 26. März 2012 lautet:

„Der vorliegende Beschluss gilt nicht für Ausländer, deren Aufenthalt nach dem vor Inkrafttreten dieses Beschlusses geltenden Recht nicht abgebrochen werden konnte.“

Ausländerrunderlass 2000

25

Abschnitt B10/2.3 des Vreemdelingencirculaire 2000 (Ausländerrunderlass 2000) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung sieht vor:

„…

Öffentliche Ordnung und öffentliche Sicherheit

Gemäß Art. 8.22 Abs. 1 der Ausländerverordnung verweigert oder beendet [die zuständige Behörde] den rechtmäßigen Aufenthalt, wenn das persönliche Verhalten eines Unionsbürgers oder seiner Familienangehörigen eine gegenwärtige, tatsächliche und schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt, es sei denn, dass eine entsprechende Anwendung von Art. 3.77 oder Art. 3.86 der Ausländerverordnung nicht zur Beendigung des Aufenthalts führt.

…“

26

Abschnitt B12/2.8 dieses Runderlasses in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung lautet:

„Die [zuständige Behörde] entzieht die unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis, wenn ein in Art. 22 Abs. 2 des Ausländergesetzes genannter Umstand eintritt und die Art. 3.97 und 3.98 der Ausländerverordnung keine Abweichung davon vorsehen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

Ausgangsverfahren

Ausgangsverfahren betreffend S

27

S, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit dem 15. Februar 1983 rechtmäßig in den Niederlanden auf und besitzt seit dem 9. März 1992 eine unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis.

28

Mit Entscheidung vom 5. Oktober 2017 entzog der Staatssekretär die Aufenthaltserlaubnis von S gemäß Art. 3.98 der Ausländerverordnung und Art. 3.86 dieser Verordnung in der durch den Beschluss vom 26. März 2012 geänderten Fassung (im Folgenden: verschärfte gleitende Skala), ordnete an, dass S das niederländische Hoheitsgebiet unverzüglich zu verlassen habe, und verhängte ein Einreiseverbot gegen ihn.

29

Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass S seit November 1994 in 39 Fällen wegen Straftaten verurteilt worden sei, die mit einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren bedroht seien, und dass die Gesamtdauer von 66 Monaten der gegen ihn verhängten unbedingten Freiheitsstrafen im Verhältnis zur Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts in den Niederlanden den Anforderungen der verschärften gleitenden Skala entspreche. Die Entscheidung wurde auch damit begründet, dass das persönliche Verhalten von S eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle, da er zum einen schwere Straftaten, u. a. Raub, Einbruchdiebstahl und Handel mit harten Drogen, begangen habe, und zum anderen die Wiederholungsgefahr beim Betroffenen hoch sei, da S auch nach seiner zweijährigen Unterbringung in einer besonderen Einrichtung für Intensivtäter weiterhin Straftaten begangen habe.

30

Mit Entscheidung vom 27. März 2018 wies der Staatssekretär die von S gegen die Entscheidung vom 5. Oktober 2017 eingelegte Beschwerde als unbegründet zurück.

31

Auf Klage von S gegen diese Entscheidung erklärte die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag, Niederlande), Sitzungsort Rotterdam (Niederlande), mit Urteil vom 18. Oktober 2018 die Entscheidung vom 27. März 2018 und die vom 5. Oktober 2017 mit der Begründung für nichtig, dass die verschärfte gleitende Skala eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstelle.

32

Der Staatssekretär legte gegen dieses Urteil Berufung beim Raad van State (Staatsrat, Niederlande), dem vorlegenden Gericht, ein und machte u. a. geltend, dass die Nichtanwendung dieser nationalen Rechtsvorschriften auf S diesen in eine günstigere Lage versetze als die Unionsbürger, was gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstoße.

Ausgangsverfahren betreffend C

33

C, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit dem 3. Mai 1976 rechtmäßig in den Niederlanden auf und besitzt seit dem 25. März 1983 eine unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis.

34

Mit Entscheidung vom 22. April 2018 entzog der Staatssekretär die Aufenthaltserlaubnis von C gemäß der verschärften gleitenden Skala, ordnete an, dass C das niederländische Hoheitsgebiet unverzüglich zu verlassen habe, und verhängte ein Einreiseverbot gegen ihn. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass C seit 1988, und insbesondere nach 2012, in 22 Fällen strafrechtlich verurteilt worden sei wegen Straftaten wie Einbruchdiebstahl, Körperverletzung und Handel mit harten Drogen, und dass die Gesamtdauer von 56 Monaten der gegen ihn verhängten unbedingten Freiheitsstrafen im Verhältnis zur Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts in den Niederlanden den Anforderungen der verschärften gleitenden Skala entspreche. Der Staatssekretär war ferner der Ansicht, dass der Umstand, dass C zwischen dem 1. September 1990 und dem 31. Dezember 2000 seine minderjährige Tochter sexuell missbraucht habe, seine Einschätzung stütze, wonach das persönliche Verhalten des Betroffenen eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle.

35

Mit Entscheidung vom 3. Oktober 2018 wies der Staatssekretär die von C gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde als unbegründet zurück.

36

Mit Urteil vom 24. Juli 2019 erklärte die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag), Sitzungsort Middelburg (Niederlande), die von C gegen die Entscheidung vom 3. Oktober 2018 erhobene Klage für unbegründet. Dieses Gericht entschied, dass Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 anwendbar sei, da das persönliche Verhalten von C eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle, und dass sich C in diesem Fall nicht auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen könne.

37

C legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein und machte geltend, dass sein persönliches Verhalten keine gegenwärtige Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstelle und dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 im vorliegenden Fall anwendbar sei.

Ausgangsverfahren betreffend E

38

E, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit dem Jahr 1981 rechtmäßig in den Niederlanden auf und besitzt seit dem 16. März 1995 eine unbefristete reguläre Aufenthaltserlaubnis.

39

Mit Entscheidung vom 30. Mai 2018 entzog der Staatssekretär die Aufenthaltserlaubnis von E gemäß der verschärften gleitenden Skala, ordnete an, dass E das niederländische Hoheitsgebiet unverzüglich zu verlassen habe, und verhängte ein Einreiseverbot gegen ihn. Diese Entscheidung wurde damit begründet, dass E seit 1990, und auch nach 2012, in 13 Fällen strafrechtlich verurteilt worden sei, und dass die Gesamtdauer von 25 Monaten der gegen ihn verhängten unbedingten Freiheitsstrafen im Verhältnis zur Dauer seines rechtmäßigen Aufenthalts im Hoheitsgebiet den Anforderungen der verschärften gleitenden Skala entspreche. Darüber hinaus stelle das persönliche Verhalten von E eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft dar.

40

Mit Entscheidung vom 24. September 2018 wurde die von E gegen die Entscheidung vom 30. Mai 2018 eingelegte Beschwerde als unbegründet zurückgewiesen.

41

Mit Urteil vom 2. Mai 2019 erklärte die Rechtbank Den Haag (Bezirksgericht Den Haag), Sitzungsort Amsterdam (Niederlande), die von E gegen die Entscheidung vom 24. September 2018 erhobene Klage für unbegründet und führte zum einen aus, dass, selbst wenn die verschärfte gleitende Skala eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstelle, der Geltungsbereich dieser Bestimmung durch Art. 14 dieses Beschlusses begrenzt werde, und zum anderen, dass es gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstoße, diese nationalen Rechtsvorschriften nicht auf E anzuwenden, da er dadurch in eine günstigere Lage versetzt werde als die Unionsbürger.

42

E legte gegen dieses Urteil Berufung beim vorlegenden Gericht ein und machte geltend, dass die Anwendung der verschärften gleitenden Skala gegen Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verstoße und dass er nicht in eine günstigere Lage versetzt werde als ein Unionsbürger, wenn die nationalen Rechtsvorschriften nicht auf ihn angewandt würden.

Vorlagefragen

43

Das vorlegende Gericht, bei dem die Berufungen gegen die erstinstanzlichen Urteile in Bezug auf S, C und E anhängig sind, hält es zur Entscheidung der Ausgangsverfahren für erforderlich, die Art. 13 und 14 des Beschlusses Nr. 1/80 auszulegen.

44

Es schließt nicht aus, dass die betreffenden nationalen Rechtsvorschriften, nämlich der Beschluss vom 26. März 2012, der eine verschärfte gleitende Skala vorsehe, als „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eingestuft werden könnten, da sie im Gegensatz zu den vor Inkrafttreten des Beschlusses vom 26. März 2012 geltenden nationalen Rechtsvorschriften kein Verbot des Entzugs der Aufenthaltserlaubnis von Ausländern mehr enthielten, die sich seit mindestens 20 Jahren rechtmäßig im niederländischen Hoheitsgebiet aufhielten, und es somit den türkischen Staatsangehörigen erschwerten, von ihrem Recht auf Freizügigkeit in diesem Hoheitsgebiet Gebrauch zu machen.

45

Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob sich ein türkischer Staatsangehöriger, dem wie den Betroffenen ein Aufenthaltsrecht zusteht, das sich, wie im Fall von C, aus Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 bzw., wie im Fall von S und E, aus Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 ergibt, auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen kann, um die Anwendung dieser nationalen Rechtsvorschriften auf ihn zu verhindern, da die Rechtsprechung des Gerichtshofs hierzu keine klare Antwort gebe.

46

Das persönliche Verhalten der Betroffenen stelle eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, insbesondere aus den Urteilen vom 18. Juli 2007, Derin (C‑325/05, EU:C:2007:442, Rn. 74), und vom 8. Dezember 2011, Ziebell (C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 82), gehe hervor, dass ein Mitgliedstaat auf der Grundlage einer Prüfung des persönlichen Verhaltens, die den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Grundrechte des betroffenen türkischen Staatsangehörigen wahre, gemäß Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 die dem Betroffenen durch die Art. 6 und 7 dieses Beschlusses verliehenen Rechte entziehen könne, wenn er eine solche Gefahr darstelle. Außerdem ergebe sich aus dem Wortlaut von Art. 14 dieses Beschlusses, dass dessen Art. 13 vorbehaltlich der Beschränkungen gelte, die u. a. aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt seien.

47

Im vorliegenden Fall ergebe sich aus der Begründung des Beschlusses vom 26. März 2012, dass der Erlass der betreffenden nationalen Rechtsvorschriften mit geänderten Anschauungen innerhalb der niederländischen Gesellschaft betreffend den Schutz der öffentlichen Ordnung begründet werde. Insoweit geht es von der Annahme aus, dass das persönliche Verhalten von S, C und E eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Interesse der Gesellschaft darstelle, so dass deren Aufenthaltsrecht grundsätzlich nach Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80 beendet werden könne. Das vorlegende Gericht fragt sich jedoch, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 anwendbar ist, wenn ein Ausländer bereits Rechte aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses herleitet, und wenn ja, in welchem Verhältnis Art. 13 und Art. 14 dieses Beschlusses zueinander stehen.

48

Unter diesen Umständen hat der Raad van State (Staatsrat) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Können türkische Staatsangehörige mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 sich zusätzlich auf Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen?

2.

Ergibt sich aus Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80, dass türkische Staatsangehörige sich nicht mehr auf Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen können, wenn sie wegen ihres persönlichen Verhaltens eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen?

3.

Können zur Rechtfertigung der neuen Beschränkung, nach der das Aufenthaltsrecht türkischer Staatsangehöriger auch nach 20 Jahren aus Gründen der öffentlichen Ordnung beendet werden kann, geänderte gesellschaftliche Anschauungen angeführt werden, die zu der neuen Beschränkung geführt haben? Reicht es insoweit aus, dass die neue Beschränkung dem Ziel der öffentlichen Ordnung dient, oder ist auch erforderlich, dass die Beschränkung zur Erreichung dieses Ziels geeignet ist und nicht über das hierfür erforderliche Maß hinausgeht?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

49

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er von türkischen Staatsangehörigen mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses geltend gemacht werden kann.

50

Insoweit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, dass dieser eine Stillhalteklausel enthält, die den Mitgliedstaaten die Einführung neuer Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen untersagt, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind.

51

Nach ständiger Rechtsprechung hat diese Stillhalteklausel unmittelbare Wirkung (Urteil vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572, Rn. 58 sowie die dort angeführte Rechtsprechung) und soll für die türkischen Staatsangehörigen gelten, die noch keine Rechte in Bezug auf Beschäftigung und entsprechend auf Aufenthalt nach Art. 6 Abs. 1 dieses Beschlusses genießen (Urteil vom 29. April 2010, Kommission/Niederlande, C‑92/07, EU:C:2010:228, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung). Die Stillhalteklausel erklärt sich aus dem Umstand, dass die Mitgliedstaaten die Befugnis behalten haben, die Einreise türkischer Staatsangehöriger in ihr Hoheitsgebiet und dort die erstmalige Aufnahme einer Beschäftigung zu genehmigen, und soll die Mitgliedstaaten davon abhalten, Bestimmungen zu erlassen, die die Verwirklichung des Zieles des Beschlusses Nr. 1/80, nämlich die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, beeinträchtigen, auch wenn während eines ersten Abschnitts der schrittweisen Herstellung dieser Freizügigkeit bereits bestehende innerstaatliche Einschränkungen auf dem Gebiet des Zugangs zu einer Beschäftigung beibehalten werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a., C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572, Rn. 80 und 81).

52

Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung verbietet die Stillhalteklausel jedoch allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn beim Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (Urteile vom 29. März 2017, Tekdemir, C‑652/15, EU:C:2017:239, Rn. 25, sowie vom 2. September 2021, Udlændingenævnet, C‑379/20, EU:C:2021:660, Rn. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung).

53

Eine solche weite Auslegung des Umfangs der betreffenden Stillhalteklausel ist im Hinblick auf das Ziel des Beschlusses Nr. 1/80, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer herzustellen, gerechtfertigt. Sowohl eine neue Beschränkung, die die Bedingungen für den erstmaligen Zugang zur Erwerbstätigkeit eines türkischen Arbeitnehmers oder seiner Familienangehörigen verschärft, als auch eine Beschränkung, die, wenn dieser Arbeitnehmer oder seine Familienangehörigen bereits Rechte in Bezug auf Beschäftigung nach Art. 6 oder Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 genießen, seinen Zugang zu einer durch diese Rechte garantierten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschränkt, verstoßen nämlich gegen das Ziel des Beschlusses, die Freizügigkeit dieser Arbeitnehmer zu verwirklichen.

54

Zwar hat der Gerichtshof, wie das vorlegende Gericht ausgeführt hat, in Rn. 81 des Urteils vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572), festgestellt, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der in einem Mitgliedstaat bereits ordnungsgemäß eine Beschäftigung ausübt, nicht mehr durch die Stillhalteklausel in Bezug auf den Zugang zu einer Beschäftigung geschützt zu werden braucht, da dieser Zugang bereits erfolgt ist und der Betroffene für seine weitere berufliche Laufbahn im Aufnahmemitgliedstaat ausdrücklich nach Art. 6 dieses Beschlusses Rechte genießt.

55

Diese Feststellung bedeutet jedoch nicht, dass die Anwendung der Stillhalteklausel in einem solchen Fall ausgeschlossen ist. Auch wenn sich ein türkischer Staatsangehöriger und seine Familienangehörigen, die unter Art. 6 bzw. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 fallen, auf ihre Rechte aus diesen Bestimmungen berufen können, um sich gegen Beschränkungen der Ausübung ihrer Freizügigkeit zu wehren, ohne dass sie darüber hinaus nachweisen müssen, dass diese Beschränkungen neu sind und daher gegen die Stillhalteklausel verstoßen, können diese beiden Fälle dennoch zusammentreffen.

56

Der Gerichtshof hat im Übrigen in Rn. 84 des Urteils vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C‑317/01 und C‑369/01, EU:C:2003:572), klargestellt, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 nicht nur auf bereits in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierte türkische Staatsangehörige Anwendung findet. Diese fallen daher in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung.

57

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Ausgangsverfahren ihren Ursprung darin haben, dass die zuständigen niederländischen Behörden das Aufenthaltsrecht der Betroffenen in Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften entzogen haben, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung erlassen wurden. Diese nationalen Rechtsvorschriften, die nach Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 im niederländischen Hoheitsgebiet eingeführt wurden, erlauben es den zuständigen Behörden, einem türkischen Arbeitnehmer, der sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in diesem Hoheitsgebiet aufhält und aus diesem Grund Rechte aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich oder Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 genießt, das Aufenthaltsrecht zu entziehen und ihn auszuweisen, wenn er eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.

58

Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen die Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Lage der türkischen Staatsangehörigen festgelegt werden sollen, indem u. a. die Voraussetzungen für den Aufenthalt dieser Staatsangehörigen im Gebiet dieses Staates erlassen oder geändert werden, neue Beschränkungen im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, Demir, C‑225/12, EU:C:2013:725, Rn. 38 und 39).

59

Folglich schränken nationale Rechtsvorschriften, die den Entzug der Aufenthaltsrechte der Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich und Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 gestatten, deren Recht auf Freizügigkeit gegenüber demjenigen ein, über das sie bei Inkrafttreten dieses Beschlusses verfügten, und stellen daher eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses dar.

60

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er von türkischen Staatsangehörigen mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses geltend gemacht werden kann.

Zur zweiten und zur dritten Frage

61

Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich türkische Staatsangehörige auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen können, um sich gegen die Anwendung einer „neuen Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung zu wehren, nach der die zuständigen nationalen Behörden eines Mitgliedstaats ihr Aufenthaltsrecht mit der Begründung beenden können, dass sie nach deren Ansicht eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen. Falls dies bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche Beschränkung nach Art. 14 des Beschlusses gerechtfertigt werden kann.

62

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, von den Bestimmungen dieses Beschlusses, die türkischen Arbeitnehmern bestimmte Rechte verleihen, abzuweichen.

63

Danach kann nämlich die Anwendung des Abschnitts des Beschlusses Nr. 1/80 betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer Beschränkungen unterworfen werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

64

Daraus folgt, dass eine Maßnahme, die gegen das Verbot in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verstößt, neue innerstaatliche Maßnahmen zu erlassen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat galten, aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses gerechtfertigt sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Udlændingenævnet, C‑379/20, EU:C:2021:660, Rn. 22 und 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Beschluss Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigt ist und dem eine solche Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Ordnung auferlegt wird, diese vor den nationalen Gerichten anfechten kann, indem er sich auf das Verbot in Art. 13 dieses Beschlusses, „neue Beschränkungen“ zu erlassen, und auf die fehlerhafte Anwendung von Art. 14 des Beschlusses beruft. Nach ständiger Rechtsprechung können sich nämlich türkische Staatsangehörige, für die diese Bestimmung gilt, vor den innerstaatlichen Gerichten auf Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 berufen, um die Anwendung entgegenstehender Vorschriften des innerstaatlichen Rechts auszuschließen (Urteil vom 17. September 2009, Sahin, C‑242/06, EU:C:2009:554, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung). Außerdem hat der Gerichtshof anerkannt, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der im Aufnahmemitgliedstaat nach dem Beschluss Nr. 1/80 aufenthaltsberechtigt ist, sich vor den nationalen Gerichten dieses Mitgliedstaats auf Art. 14 Abs. 1 dieses Beschlusses berufen kann, um die Anwendung einer mit dieser Bestimmung unvereinbaren nationalen Maßnahme zu verhindern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 51).

66

Da die in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehene Ausnahme eine Abweichung von der Grundfreiheit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt, ist sie jedoch eng auszulegen, und ihr Umfang kann nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 81).

67

Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, unter welchen Voraussetzungen eine neue Maßnahme, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme gegen die Stillhalteklausel verstößt, als durch Erfordernisse der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt angesehen werden kann. Insbesondere fragt es sich, ob die Verschärfung der gleitenden Skala, die diese nationale Maßnahme aufgrund geänderter gesellschaftlicher Anschauungen vorsieht, der restriktiven Auslegung des Begriffs „öffentliche Ordnung“ hinreichend Rechnung trägt und ob sie in den Wertungsspielraum des betreffenden Mitgliedstaats fällt.

68

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten zwar weiterhin freisteht, nach ihren nationalen Bedürfnissen, die je nach Mitgliedstaat und Zeitpunkt unterschiedlich sein können, zu bestimmen, was die öffentliche Ordnung erfordert, insbesondere wenn sie eine Abweichung von dem Prinzip der Freizügigkeit rechtfertigen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. Mai 2012, I, C‑348/09, EU:C:2012:300, Rn. 23), die Ausübung dieses Ermessens aber in mehrfacher Hinsicht begrenzt ist.

69

So ergibt sich aus Rn. 66 des vorliegenden Urteils, dass die Anforderungen der öffentlichen Ordnung eng auszulegen sind.

70

Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass von den Mitgliedstaaten in Verfolgung dieser Anforderungen erlassene Maßnahmen, die von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 erfasst sind, geeignet sein müssen, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen dürfen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Udlændingenævnet, C‑379/20, EU:C:2021:660, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

71

Zur Situation eines türkischen Staatsangehörigen, der sich wie die Betroffenen seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, hat der Gerichtshof im Übrigen entschieden, dass Art. 12 der Richtlinie 2003/109 der Bezugsrahmen für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist. Aus diesem Bezugsrahmen ergibt sich erstens, dass ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden kann, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt; zweitens, dass die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen darf; und drittens, dass die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 79 und 80).

72

So hat der Gerichtshof entschieden, dass Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden können, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden, bei der sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, gewahrt werden, herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 82).

73

Der Gerichtshof hat klargestellt, dass für die Feststellung der Gegenwärtigkeit dieser Gefahr nach der letzten Behördenentscheidung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen sind, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der Gefährdung mit sich bringen können, die das Verhalten des Betroffenen für das betreffende Grundinteresse darstellen soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C‑371/08, EU:C:2011:809, Rn. 84).

74

In Anbetracht dieser Gesichtspunkte ist davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall die Verschärfung der gleitenden Skala, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vorsieht, in den in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährten Wertungsspielraum der zuständigen niederländischen Behörden fällt. Darüber hinaus können der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen, die zu dieser neuen Beschränkung geführt haben, und der Umstand, dass diese neue Beschränkung dem Ziel der öffentlichen Ordnung dient, zu ihrer Rechtfertigung beitragen.

75

Allerdings reichen der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen und die auf die öffentliche Ordnung gestützte Rechtfertigung allein nicht aus, um die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme, die gemäß Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 getroffen wurde, zu rechtfertigen. Diese Maßnahmen müssen nämlich auch geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und dürfen nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehen; dies zu beurteilen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Bei dieser Beurteilung hat das vorlegende Gericht die durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehenen Rechte und insbesondere die in den Art. 6, 7 und 13 dieses Beschlusses genannten Rechte zu berücksichtigen. Im Übrigen wird das vorlegende Gericht zu beurteilen haben, ob diese Maßnahmen eine vorherige und individuelle Prüfung der gegenwärtigen Situation des betroffenen türkischen Arbeitnehmers vorsehen, die sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch dessen Grundrechte wahrt, wie in den Rn. 71 bis 73 des vorliegenden Urteils dargelegt.

76

Um festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften diese Anforderungen erfüllen, können im vorliegenden Fall, vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen, die folgenden Gesichtspunkte relevant sein. Erstens das Fehlen eines Automatismus zwischen der Verhängung einer Strafe und dem Entzug des Aufenthaltsrechts, das der betroffenen Person durch den Beschluss Nr. 1/80 verliehen wurde, sowie der Ausweisung dieser Person aus dem niederländischen Hoheitsgebiet. Zweitens der Umstand, dass die zuständigen Behörden, die beabsichtigen, einen solchen Entzug zu verfügen, die Dauer des Aufenthalts der betroffenen Person in den Niederlanden, ihr Alter, ihren Gesundheitszustand, ihre familiäre und wirtschaftliche Lage, ihre soziale und kulturelle Integration in diesem Mitgliedstaat und das Ausmaß ihrer Bindungen zum Herkunftsland berücksichtigen und letztlich die Schwere der gegen die betreffende Person wegen der von ihr begangenen Straftat verhängten Strafe einerseits und die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person andererseits gegeneinander abwägen müssen. Drittens der Umstand, dass diese Behörden für den Erlass einer solchen Entscheidung nicht nur berücksichtigen müssen, ob diese Person über mehrere Jahre hinweg wiederholt Straftaten begangen hat, sondern auch andere Gesichtspunkte, wie etwa den Umstand, dass diese Person ihr Verhalten nach der Verurteilung positiv verändert hat, indem sie u. a. Reue zeigt, den Konsum von Betäubungsmitteln einstellt, ein Studium aufnimmt, oder ob sie im Gegenteil die Taten, derentwegen sie verurteilt wurde, leugnet oder relativiert.

77

Folglich ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich türkische Staatsangehörige, die nach Ansicht der zuständigen nationalen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Interesse der Gesellschaft darstellen, auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen können, um sich gegen die Anwendung einer „neuen Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung zu wehren, nach der diese Behörden ihr Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung beenden können. Eine solche Beschränkung kann nach Art. 14 des Beschlusses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.

Kosten

78

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei

ist dahin auszulegen, dass

er von türkischen Staatsangehörigen mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses geltend gemacht werden kann.

 

2.

Art. 14 des Beschlusses Nr. 1/80

ist dahin auszulegen, dass

sich türkische Staatsangehörige, die nach Ansicht der zuständigen nationalen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Interesse der Gesellschaft darstellen, auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen können, um sich gegen die Anwendung einer „neuen Beschränkung“ im Sinne dieser Bestimmung zu wehren, nach der diese Behörden ihr Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung beenden können. Eine solche Beschränkung kann nach Art. 14 des Beschlusses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Niederländisch.

Top