EUR-Lex Access to European Union law

Back to EUR-Lex homepage

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 62021CJ0347

Urteil des Gerichtshofs (Achte Kammer) vom 15. September 2022.
Strafverfahren gegen DD.
Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person – Möglichkeit, die Verletzung eines Rechts in einem späteren Verfahrensstadium zu beheben – Zusätzliche Vernehmung des Zeugen – Richtlinie 2013/48/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Art. 3 Abs. 1 – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Rechtsbeistands der beschuldigten Person.
Rechtssache C-347/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:692

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Achte Kammer)

15. September 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie (EU) 2016/343 – Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren – Art. 8 Abs. 1 – Recht einer beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit der beschuldigten Person – Möglichkeit, die Verletzung eines Rechts in einem späteren Verfahrensstadium zu beheben – Zusätzliche Vernehmung des Zeugen – Richtlinie 2013/48/EU – Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren – Art. 3 Abs. 1 – Vernehmung eines Belastungszeugen in Abwesenheit des Rechtsbeistands der beschuldigten Person“

In der Rechtssache C‑347/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 3. Juni 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Juni 2021, in dem Strafverfahren gegen

DD,

Beteiligte:

Spetsializirana prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Achte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten N. Jääskinen sowie der Richter M. Safjan (Berichterstatter) und M. Gavalec,

Generalanwalt: A. M. Collins,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von DD, vertreten durch V. Vasilev, Advokat,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Wasmeier und I. Zaloguin als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016, L 65, S. 1) und von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (ABl. 2013, L 294, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen DD wegen Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2013/48

3

Im 54. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/48 heißt es:

„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften erlassen. Die Mitgliedstaaten können die in dieser Richtlinie festgelegten Rechte ausweiten, um ein höheres Schutzniveau zu bieten. …“

4

Art. 1 („Gegenstand“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden Mindestvorschriften für die Rechte von Verdächtigen und beschuldigten Personen in Strafverfahren … auf Zugang zu einem Rechtsbeistand, auf Benachrichtigung eines Dritten von dem Freiheitsentzug sowie auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs festgelegt.“

5

Art. 3 („Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand im Strafverfahren“) der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass die betroffenen Personen ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können.

(3)   Das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand umfasst Folgendes:

c)

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den folgenden Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, falls diese in den einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind und falls die Anwesenheit des Verdächtigen oder der beschuldigten Personen bei den betreffenden Handlungen vorgeschrieben oder zulässig ist:

i)

Identifizierungsgegenüberstellungen;

ii)

Vernehmungsgegenüberstellungen;

iii)

Tatortrekonstruktionen.

…“

Richtlinie 2016/343

6

In den Erwägungsgründen 33 und 47 der Richtlinie 2016/343 heißt es:

„(33)

Das Recht auf ein faires Verfahren ist eines der Grundprinzipien einer demokratischen Gesellschaft. Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht und sollte in der gesamten Union sichergestellt werden.

(47)

Diese Richtlinie wahrt die in der [Charta der Grundrechte der Europäischen Union] und der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten] anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter … das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte. …“

7

Art. 8 („Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung“) Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.“

Bulgarisches Recht

8

Art. 55 des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) sieht vor:

„Die beschuldigte Person hat folgende Rechte:

am Strafverfahren teilzunehmen

einen Verteidiger zu haben.“

9

Nach Art. 94 Abs. 1 Nr. 8 NPK ist, wenn eine Sache in Abwesenheit der beschuldigten Person verhandelt wird, deren Verteidigung durch einen Rechtsanwalt zwingend.

10

Art. 99 NPK sieht vor:

„Der Verteidiger hat folgende Rechte:

am Strafverfahren teilzunehmen …“

11

Gemäß Art. 269 Abs. 3 NPK ist eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten nur dann zulässig, wenn dieser nicht auffindbar ist oder über die Möglichkeit einer solchen Verhandlung informiert worden ist.

12

Art. 271 Abs. 2 NPK bestimmt:

„Die Gerichtsverhandlung ist zu vertagen, wenn folgende Personen nicht erscheinen:

2. der Angeklagte …

3. der Verteidiger …“

13

Art. 348 Abs. 3 NPK bestimmt:

„Ein Verstoß gegen die Verfahrensregeln ist wesentlich, wenn:

1.

er zu einer Beschränkung der Verfahrensrechte der Beteiligten geführt hat und ihm nicht abgeholfen wurde;

…“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

14

DD, ein Beamter der Grenzpolizei am Flughafen Sofia (Bulgarien), wird gemeinsam mit anderen Personen wegen Straftaten im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung vor dem vorlegenden Gericht, dem Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien), strafrechtlich verfolgt.

15

Zum ersten Verhandlungstermin vor dem vorlegenden Gericht am 15. Oktober 2020 erschienen DD und sein Rechtsanwalt VV. Bei diesem Termin wurde u. a. der Zeuge mit geheimer Identität Nr. 263 vernommen, der von VV befragt werden konnte. Die Fortsetzung dieser Vernehmung wurde für den 30. November 2020 angesetzt.

16

Am 27. November 2020 beantragte VV die Verschiebung des anberaumten Verhandlungstermins und die Vertagung des Verfahrens mit der Begründung, dass er nach einer Coronavirus-Erkrankung noch nicht genesen sei.

17

Im Verhandlungstermin am 30. November 2020 beantragte DD die Vertagung des Verfahrens wegen der Abwesenheit seines Rechtsanwalts VV. Das vorlegende Gericht fuhr trotzdem mit der Vernehmung des Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 fort, wobei es einräumte, dass dadurch das Recht von DD auf Vertretung durch einen Rechtsanwalt und das Recht von VV, der Verhandlung beizuwohnen und daran mitzuwirken, verletzt würden. Ungeachtet dessen vertrat dieses Gericht unter Bezugnahme auf das Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94), die Auffassung, dass die Rechtsverletzung behoben werden könne, indem der Zeuge mit geheimer Identität Nr. 263 im darauffolgenden, für den 18. Dezember 2020 anberaumten Verhandlungstermin erneut vernommen werde, damit VV ihn befragen könne. Die beim Termin vom 30. November 2020 anwesenden Beteiligten stellten dem Zeugen ihre Fragen. In der Folge wurde VV eine Abschrift des Protokolls dieser Vernehmung übersandt.

18

Am 4., 10. und 15. Dezember 2020 legte VV Dokumente vor, die seine gesundheitlichen Probleme sowie die Coronavirus-Erkrankung von DD bescheinigten, und beantragte zweimal die Vertagung der Rechtssache.

19

Im folgenden Verhandlungstermin, der trotzdem am 18. Dezember 2020 in Abwesenheit von DD und VV stattfand, nahm das vorlegende Gericht die Befragung des Zeugen YAR vor, dessen Aussage für die Strafverfolgung von DD relevant war. Es wies dabei erneut darauf hin, dass DD und VV die Gelegenheit gegeben werde, ihn im nächsten Termin zu befragen. Abschriften des Protokolls dieser Vernehmung wurden DD und VV übersandt.

20

Am 11. Januar 2021 fand ein Verhandlungstermin statt, zu dem DD und VV erschienen. Bei dieser Gelegenheit stellte VV die Entscheidung des vorlegenden Gerichts, die Verhandlungstermine vom 30. November 2020 und 18. Dezember 2020 aufrechtzuerhalten, unter Berufung auf eine Verletzung der Verteidigungsrechte in Frage. Hierzu vertrat das vorlegende Gericht u. a. die Ansicht, dass die Durchführung der Verhandlungstermine zwar zu einer Verletzung des Rechts von DD und VV auf persönliche Anwesenheit geführt habe, diese aber durch eine erneute Vernehmung der betroffenen Zeugen behoben werden könne.

21

In einem Verhandlungstermin am 22. Februar 2021 konnten DD und VV den Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 und den Zeugen YAR befragen. Bei dieser Gelegenheit stellte DD keine Fragen, während VV nur den Zeugen YAR befragte und angab, keine Fragen an den Zeugen mit geheimer Identität Nr. 263 zu haben.

22

Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach nationalem Recht durch eine Beweiserhebung, u. a. eine Zeugenvernehmung, in Abwesenheit des Angeklagten und seines Rechtsanwalts das Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung und auf Zugang zu einem Rechtsbeistand verletzt werde. Es stehe fest, dass dieser Verfahrensfehler nur dann behoben werden könne, wenn diese Zeugen erneut geladen würden und dem Angeklagten und seinem Rechtsanwalt Gelegenheit gegeben werde, sie zu befragen.

23

Das nationale Recht regele jedoch nicht ausdrücklich, welchen Charakter diese erneute Zeugenvernehmung habe. Entweder handle es sich lediglich um eine zusätzliche Vernehmung, und in diesem Fall blieben die Angaben, die die Zeugen zu den Fragen der anderen Beteiligten bei einer vorausgegangenen Vernehmung in Abwesenheit des Angeklagten und seines Rechtsanwalts gemacht hätten, gültig, oder die erneute Vernehmung ersetze die vorausgegangene, die dann als unwirksam und ohne rechtliche Bedeutung anzusehen sei. In einem solchen Fall müssten die Beteiligten, die bei der vorausgegangenen Vernehmung anwesend gewesen seien, die Fragen, die sie bei dieser Gelegenheit gestellt hätten, erneut stellen. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, es gebe Anhaltspunkte dafür, dass eine zusätzliche Vernehmung genüge, um den Verstoß gegen die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verfahrensregeln zu beheben.

24

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ergibt sich aus dem Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura (Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person) (C‑688/18, EU:C:2020:94), dass keine Verletzung des in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerten Rechts des Angeklagten auf persönliche Anwesenheit gegeben sei, wenn er zwar in einem Verhandlungstermin abwesend gewesen sei, anschließend aber die in seiner Abwesenheit vorgenommenen Handlungen in seiner Anwesenheit wiederholt würden. Das vorlegende Gericht ist jedoch der Auffassung, dass der Umfang dieses Erfordernisses nicht klar sei. Es fragt sich konkreter, ob es notwendig sei, die gesamte Vernehmung eines Zeugen zu wiederholen, so dass die zuvor anwesenden Beteiligten, die dem Zeugen bereits ihre Fragen gestellt hätten, nun nochmal dieselben Fragen stellen müssten und danach der zuvor abwesende Angeklagte seine Fragen stelle, oder ob es genüge, dass die zusätzliche Vernehmung dem Angeklagten und seinem Rechtsbeistand lediglich die Gelegenheit zur Befragung des Zeugen biete.

25

Außerdem fragt sich das vorlegende Gericht, ob das in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 verankerte Recht von DD auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand verletzt worden sei, da in der vorliegenden Rechtssache die Verhandlungstermine vom 30. November 2020 und 18. Dezember 2020 in Abwesenheit von VV stattgefunden hätten.

26

Vor diesem Hintergrund hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist das Recht auf persönliche Anwesenheit des Angeklagten gemäß Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie und im Licht ihres 44. Erwägungsgrundes gewahrt, wenn in einem gesonderten Verhandlungstermin ein Zeuge in Abwesenheit des Angeklagten vernommen wurde, der Angeklagte aber im darauffolgenden Verhandlungstermin die Gelegenheit hatte, diesen Zeugen zu befragen, jedoch erklärt hat, keine Fragen zu haben, oder ist zur Wahrung des Rechts auf persönliche Anwesenheit die vollständige Wiederholung dieser Vernehmung, einschließlich der Wiederholung der Fragen der weiteren Beteiligten, die bei der ersten Vernehmung anwesend waren, erforderlich?

2.

Ist das Recht auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie gewahrt, wenn in zwei gesonderten Verhandlungsterminen zwei Zeugen in Abwesenheit des Rechtsanwalts des Angeklagten vernommen wurden, er aber im darauffolgenden Verhandlungstermin die Gelegenheit hatte, die beiden Zeugen zu befragen, oder ist zur Wahrung des Rechts auf Verteidigung durch einen Rechtsbeistand erforderlich, dass diese beiden Vernehmungen, einschließlich der Fragen der weiteren Beteiligten aus der ersten Vernehmung, vollständig wiederholt werden und zudem dem Rechtsanwalt, der bei den beiden vorausgegangenen Verhandlungsterminen abwesend war, Gelegenheit gegeben wird, seine Fragen zu stellen?

27

Mit Schreiben vom 5. August 2022 teilte der Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien) dem Gerichtshof mit, dass infolge einer am 27. Juli 2022 in Kraft getretenen Gesetzesänderung der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) aufgelöst worden ist und dass bestimmte Strafsachen, die bei diesem Gericht anhängig waren, einschließlich der Rechtssache im Ausgangsverfahren, ab diesem Zeitpunkt an den Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia) verwiesen worden sind.

Zu den Vorlagefragen

28

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen sind, dass, wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, es genügt, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand diesen Zeugen frei befragen können, oder ob diese zusätzliche Vernehmung in einer vollständigen Wiederholung der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen bestehen muss, was die Ungültigkeit der bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen zur Folge hätte.

29

Erstens ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 sicherstellen müssen, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in der sie betreffenden Verhandlung anwesend zu sein.

30

Nach ihrem 47. Erwägungsgrund wahrt diese Richtlinie die in der Charta der Grundrechte und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) anerkannten Grundrechte und Grundsätze, darunter das Recht auf ein faires Verfahren, die Unschuldsvermutung und die Verteidigungsrechte.

31

Wie aus dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie hervorgeht, beruht das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, auf dem Recht auf ein faires Verfahren, das in Art. 6 EMRK verankert ist, dem, wie es in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (ABl. 2007, C 303, S. 17) heißt, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 48 der Charta entsprechen. Der Gerichtshof muss daher darauf achten, dass seine Auslegung dieser Bestimmungen ein Schutzniveau gewährleistet, das das in Art. 6 EMRK in seiner Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte garantierte Schutzniveau nicht verletzt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juli 2019, Gambino und Hyka, C‑38/18, EU:C:2019:628, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32

In diesem Zusammenhang ergibt sich aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass die Durchführung einer öffentlichen Verhandlung ein in Art. 6 EMRK verankertes Grundprinzip darstellt. Diesem Grundsatz kommt im Strafrecht besondere Bedeutung zu, dessen Verfahren im Allgemeinen ein erstinstanzliches Gericht vorsehen muss, das den Anforderungen von Art. 6 EMRK voll und ganz genügt, vor dem der Rechtsunterworfene zu Recht verlangen kann, „angehört“ zu werden und insbesondere Gelegenheit zu haben, sein Verteidigungsvorbringen mündlich vorzutragen, die belastenden Zeugenaussagen zu hören sowie Zeugen zu befragen und ins Kreuzverhör zu nehmen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 23. November 2006, Jussila/Finnland, CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 40, und vom 4. März 2008, Hüseyin Turan/Türkei, CE:ECHR:2008:0304JUD001152902, § 31).

33

Aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte geht ferner hervor, dass die Vertragsstaaten bei der Wahl der Mittel, anhand deren ihre Justizsysteme mit den Anforderungen von Art. 6 EMRK in Bezug auf das Recht des Angeklagten auf Teilnahme an der Verhandlung in Einklang gebracht werden können, über einen weiten Spielraum verfügen, wobei sich die vom innerstaatlichen Recht und von der innerstaatlichen Praxis gebotenen Verfahrensmittel als wirksam erweisen müssen, wenn der Angeklagte weder auf sein Erscheinen noch auf seine Verteidigung verzichtet hat noch die Absicht hatte, sich der Justiz zu entziehen (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteil vom 1. März 2006, Sejdovic/Italien, CE:ECHR:2006:0301JUD005658100, § 83).

34

Was insbesondere das in Art. 6 Abs. 3 Buchst. d EMRK vorgesehene Recht auf Ladung und Vernehmung von Zeugen angeht, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass diese Bestimmung den Grundsatz aufstellt, dass vor der Verurteilung eines Angeklagten in der Regel alle ihn belastenden Beweise in einer öffentlichen Verhandlung in seiner Anwesenheit zum Zweck einer kontradiktorischen Auseinandersetzung vorgelegt werden müssen. Ausnahmen von diesem Grundsatz können nur unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verteidigungsrechte zugelassen werden, die im Allgemeinen verlangen, dass dem Angeklagten eine angemessene und ausreichende Gelegenheit gegeben wird, belastende Zeugenaussagen zu bestreiten und deren Urheber zu befragen, sei es zum Zeitpunkt ihrer Aussage oder in einem späteren Stadium (vgl. in diesem Sinne EGMR, Urteile vom 15. Dezember 2011, Al-Khawadja und Tahery/Vereinigtes Königreich, CE:ECHR:2011:1215JUD002676605, § 118, sowie vom 23. März 2016, Blokhin/Russland, CE:ECHR:2016:0323JUD004715206, § 200).

35

In Anbetracht dieser Rechtsprechung ist festzustellen, dass die Befragung eines Belastungszeugen in einem Verhandlungstermin, in dem die beschuldigte Person aus nicht von ihr zu vertretenden Gründen abwesend war, zwar ihr in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankertes Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung verletzt, diese Bestimmung aber einer Behebung der Verletzung in einem späteren Stadium des Verfahrens nicht entgegensteht. So hat der Gerichtshof entschieden, dass eine Person, die eine Wiederholung von Handlungen in ihrer Anwesenheit erwirkt hat, die bei Verhandlungsterminen vorgenommen wurden, zu denen sie nicht erscheinen konnte, nicht als Person angesehen werden kann, die bei der sie betreffenden Verhandlung nicht anwesend war (Urteil vom 13. Februar 2020, Spetsializirana prokuratura [Verhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person], C‑688/18, EU:C:2020:94, Rn. 48).

36

Um die Wahrung des Rechts auf ein faires Verfahren und der Verteidigungsrechte zu gewährleisten, muss die Wiederholung der Vernehmung des Belastungszeugen jedoch unter Bedingungen erfolgen, die der beschuldigten Person eine angemessene Gelegenheit geben, die belastende Zeugenaussage zu bestreiten und deren Urheber zu befragen.

37

Zu diesem Zweck genügt es, eine zusätzliche Vernehmung durchzuführen, bei der die beschuldigte Person die Gelegenheit hat, den Zeugen frei zu befragen, ohne dass es einer vollständigen Wiederholung der in ihrer Abwesenheit erfolgten Vernehmung bedarf, da es im Hinblick auf die in der vorstehenden Randnummer genannten Anforderungen nicht erforderlich erscheint, die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären.

38

Wichtig ist jedoch, dass der beschuldigten Person vor der zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der in ihrer Abwesenheit vorgenommenen Vernehmung des Belastungszeugen übermittelt wird. Denn nur wenn die beschuldigte Person Kenntnis vom Inhalt und Ablauf der Befragung des Zeugen bei dieser vorausgegangenen Vernehmung hat, ist sie vollständig in der Lage, ihn gegebenenfalls auf der Grundlage der bei der Vernehmung gemachten Angaben zu befragen.

39

Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass DD aus gesundheitlichen Gründen nicht am Verhandlungstermin vom 18. Dezember 2020 teilnehmen konnte, in dem der Zeuge YAR befragt wurde. DD wurde jedoch eine Abschrift des Protokolls dieser Vernehmung übermittelt, und er hatte in der Folge Gelegenheit, diesen Zeugen in einem späteren Verhandlungstermin am 22. Februar 2021 frei zu befragen. Vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht ist daher festzustellen, dass die Verletzung des in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 verankerten Rechts von DD auf Anwesenheit in der Verhandlung auf diese Weise behoben worden ist.

40

Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 das Grundprinzip aufgestellt wird, dass Verdächtigen und beschuldigten Personen das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand so rechtzeitig und in einer solchen Art und Weise zukommt, dass sie ihre Verteidigungsrechte praktisch und wirksam wahrnehmen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2020, VW [Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand bei Nichterscheinen vor Gericht], C‑659/18, EU:C:2020:201, Rn. 31).

41

In Bezug auf die Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen, auf die dieses Recht Anwendung findet, sieht Art. 3 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 vor, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen mindestens das Recht haben, dass ihr Rechtsbeistand den Identifizierungsgegenüberstellungen, Vernehmungsgegenüberstellungen und Tatortrekonstruktionen beiwohnt.

42

Darüber hinaus werden nach ihrem Art. 1 mit der Richtlinie 2013/48 Mindestvorschriften u. a. für das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in Strafverfahren Zugang zu einem Rechtsbeistand zu erhalten, festgelegt.

43

Im 54. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es, dass die Mitgliedstaaten die in ihr festgelegten Rechte ausweiten können, um ein höheres Schutzniveau zu bieten, da mit ihr nur Mindestvorschriften erlassen werden.

44

Bereits nach dem Wortlaut von Art. 3 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2013/48 können die Mitgliedstaaten dementsprechend das Recht von Verdächtigen oder beschuldigten Personen, dass ihr Rechtsbeistand den in dieser Bestimmung aufgeführten Ermittlungs- oder Beweiserhebungshandlungen beiwohnt, auf andere Handlungen, wie die Vernehmung eines Belastungszeugen vor einem Strafgericht, ausweiten.

45

Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass unter Berücksichtigung der in den Rn. 35 bis 38 des vorliegenden Urteils angeführten Grundprinzipien eines fairen Verfahrens die Wahrnehmung der Verteidigungsrechte einer beschuldigten Person als praktisch und wirksam angesehen werden kann, wenn der Rechtsbeistand der beschuldigten Person, der bei einer Vernehmung eines Belastungszeugen vor einem Strafgericht aus nicht von ihm zu vertretenden Gründen abwesend war, die Gelegenheit hatte, den Zeugen auf der Grundlage der Abschrift der in seiner Abwesenheit vorgenommenen Vernehmung bei einer zusätzlichen Vernehmung frei zu befragen. Es ist daher nicht erforderlich, die Vernehmung, die in seiner Abwesenheit stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen.

46

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2016/343 und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48 dahin auszulegen sind, dass, wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, es genügt, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand den Zeugen frei befragen können, sofern der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand vor dieser zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen übermittelt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Vernehmung, die in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen und die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären.

Kosten

47

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Achte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie (EU) 2016/343 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren und Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2013/48/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs

 

sind wie folgt auszulegen:

 

Wenn das nationale Gericht, um die Wahrung des Rechts der beschuldigten Person auf Anwesenheit in der Verhandlung und ihres Rechts auf Zugang zu einem Rechtsbeistand zu gewährleisten, eine zusätzliche Vernehmung eines Belastungszeugen vornimmt, da die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand aus nicht von ihnen zu vertretenden Gründen nicht an der vorausgegangenen Vernehmung dieses Zeugen teilnehmen konnten, genügt es, dass die beschuldigte Person und ihr Rechtsbeistand den Zeugen frei befragen können, sofern der beschuldigten Person und ihrem Rechtsbeistand vor dieser zusätzlichen Vernehmung eine Abschrift des Protokolls der vorausgegangenen Vernehmung des Zeugen übermittelt wurde. Unter diesen Umständen ist es nicht erforderlich, die Vernehmung, die in Abwesenheit der beschuldigten Person und ihres Rechtsbeistands stattgefunden hat, vollständig zu wiederholen und die bei dieser Vernehmung vorgenommenen Verfahrenshandlungen für ungültig zu erklären.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

Top