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Document 62021CJ0231

Urteil des Gerichtshofs (Siebte Kammer) vom 31. März 2022.
IA gegen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl.
Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofs.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin‑System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 29 Abs. 2 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Überstellungsfrist von sechs Monaten – Möglichkeit zur Verlängerung dieser Frist höchstens auf ein Jahr im Fall einer Inhaftierung – Begriff ‚Inhaftierung‘ – Zwangsweise Unterbringung des Asylbewerbers in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses mit gerichtlicher Genehmigung.
Rechtssache C-231/21.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:237

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

31. März 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Dublin‑System – Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – Art. 29 Abs. 2 – Überstellung des Asylbewerbers in den für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständigen Mitgliedstaat – Überstellungsfrist von sechs Monaten – Möglichkeit zur Verlängerung dieser Frist höchstens auf ein Jahr im Fall einer Inhaftierung – Begriff ‚Inhaftierung‘ – Zwangsweise Unterbringung des Asylbewerbers in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses mit gerichtlicher Genehmigung“

In der Rechtssache C‑231/21

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 25. März 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 12. April 2021, in dem Verfahren

IA

gegen

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. Passer, der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) und der Richterin M. L. Arastey Sahún,

Generalanwalt: J. Richard de la Tour,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll, V.‑S. Strasser, A. Posch und G. Eberhard als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und R. Kanitz als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch C. Cattabriga und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 29 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABL 2013, L 180, S. 31, im Folgenden: Dublin‑III‑Verordnung).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen IA und dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Österreich, im Folgenden: Bundesamt) wegen der Überstellung des Betroffenen nach Italien.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 4 und 5 der Dublin‑III‑Verordnung lauten:

„(4)

Entsprechend den Schlussfolgerungen [des Europäischen Rates auf seiner Sondertagung vom 15. und 16. Oktober 1999 in] Tampere sollte das [Gemeinsame Europäische Asylsystem] auf kurze Sicht eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats umfassen.

(5)

Eine solche Formel sollte auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basieren. Sie sollte insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.“

4

Kapitel VI Abschnitt VI der Dublin‑III‑Verordnung ist der Überstellung von Antragstellern in den zuständigen Mitgliedstaat gewidmet. Sein Art. 29 („Modalitäten und Fristen“) sieht vor:

„(1)   Die Überstellung des Antragstellers oder einer anderen Person im Sinne von Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe c oder d aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat erfolgt gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat.

Wenn Überstellungen in den zuständigen Mitgliedstaat in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung erfolgen, stellt der Mitgliedstaat sicher, dass sie in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde durchgeführt werden.

(2)   Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

(4)   Die Kommission legt im Wege von Durchführungsrechtsakten einheitliche Bedingungen für Konsultationen und den Informationsaustausch zwischen den Mitgliedstaaten, insbesondere für den Fall, dass Überstellungen verschoben werden oder nicht fristgerecht erfolgen, für Überstellungen nach stillschweigender Annahme, für Überstellungen Minderjähriger oder abhängiger Personen und für kontrollierte Überstellungen fest. …“

5

Die Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 der Kommission vom 2. September 2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung Nr. 343/2003 (ABl. 2003, L 222, S. 3) in der durch die Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 (ABl. 2014, L 39, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Durchführungsverordnung) enthält die Durchführungsbestimmungen zur Dublin‑III‑Verordnung.

6

In Kapitel III („Durchführung der Überstellung“) der Durchführungsverordnung bestimmt Art. 9 („Verschieben der Überstellung und nicht fristgerechte Überstellungen“):

„(1)   Der zuständige Mitgliedstaat wird unverzüglich unterrichtet, wenn sich die Überstellung wegen eines Rechtsbehelfsverfahrens mit aufschiebender Wirkung oder wegen materieller Umstände wie der Gesundheitszustand des Antragstellers, die Nichtverfügbarkeit des Beförderungsmittels oder der Umstand, dass der Antragsteller sich der Überstellung entzogen hat, verzögert.

(1a)   Wurde eine Überstellung auf Ersuchen des überstellenden Mitgliedstaats verschoben, so nehmen der überstellende und der zuständige Mitgliedstaat wieder Kontakt auf, um möglichst bald und nicht später als zwei Wochen ab dem Zeitpunkt, zu dem die Behörden erfahren, dass die Umstände, die die Verzögerung oder Verschiebung verursacht haben, nicht mehr vorliegen, eine neue Überstellung gemäß Artikel 8 zu organisieren. In diesem Fall wird vor der Überstellung ein aktualisiertes Standardformblatt für die Übermittlung von Daten vor einer Überstellung gemäß Anhang VI übermittelt.

(2)   Ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Artikel 29 Absatz 2 der [Dublin‑III‑Verordnung] genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, unterrichtet den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der [Dublin‑III‑Verordnung] gemäß Artikel 29 Absatz 2 der genannten Verordnung dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.

…“

Österreichisches Recht

7

§ 5 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: AsylG 2005) sieht vor:

„Unzuständigkeit Österreichs

Zuständigkeit eines anderen Staates

(1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der [Dublin‑III‑Verordnung] zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. …

(2) Gemäß Abs. 1 ist auch vorzugehen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der [Dublin‑III‑Verordnung] dafür zuständig ist zu prüfen, welcher Staat zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist.

…“

8

§ 46 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 bestimmt:

„(1)   Fremde, gegen die eine Rückkehrentscheidung, eine Anordnung zur Außerlandesbringung, eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchsetzbar ist, sind von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag des Bundesamtes zur Ausreise zu verhalten (Abschiebung) …

(7)   Befindet sich der Fremde in einer Krankenanstalt … und steht seine Abschiebung zeitnah bevor, so hat die Krankenanstalt das Bundesamt auf Anfrage unverzüglich über den feststehenden oder voraussichtlichen Zeitpunkt der Entlassung aus der Anstaltspflege zu informieren. Ändert sich der nach Satz 1 mitgeteilte Zeitpunkt, so hat die Krankenanstalt das Bundesamt aus Eigenem zu informieren.“

9

§ 61 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 bestimmt:

„(1)   Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 [Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz] …

(2)   Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

…“

10

§ 3 („Voraussetzungen der Unterbringung“) des Unterbringungsgesetzes (im Folgenden: UbG) bestimmt:

„In einer psychiatrischen Abteilung darf nur untergebracht werden, wer

1.

an einer psychischen Krankheit leidet und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet und

2.

nicht in anderer Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen Abteilung, ausreichend ärztlich behandelt oder betreut werden kann.“

11

§ 8 („Unterbringung ohne Verlangen [des Betroffenen]“) UbG sieht vor:

„Eine Person darf gegen oder ohne ihren Willen nur dann in eine psychiatrische Abteilung gebracht werden, wenn sie ein/eine im öffentlichen Sanitätsdienst stehende/r Arzt/Ärztin, ein Polizeiarzt/-ärztin oder ein Arzt/eine Ärztin einer Primärversorgungseinheit, die hierfür … verpflichtet wurde, untersucht und bescheinigt, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen. In der Bescheinigung sind im Einzelnen die Gründe anzuführen, aus denen der Arzt die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachtet.“

12

§ 9 UbG bestimmt:

„(1)   Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind berechtigt und verpflichtet, eine Person, bei der sie aus besonderen Gründen die Voraussetzungen der Unterbringung für gegeben erachten, zur Untersuchung zum Arzt (§ 8) zu bringen oder diesen beizuziehen. Bescheinigt der Arzt das Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung, so haben die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person in eine psychiatrische Abteilung zu bringen oder dies zu veranlassen. Wird eine solche Bescheinigung nicht ausgestellt, so darf die betroffene Person nicht länger angehalten werden.

(2)   Bei Gefahr im Verzug können die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes die betroffene Person auch ohne Untersuchung und Bescheinigung in eine psychiatrische Abteilung bringen.

(3)   Der Arzt und die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes haben unter möglichster Schonung der betroffenen Person vorzugehen und die notwendigen Vorkehrungen zur Abwehr von Gefahren zu treffen. Sie haben, soweit das möglich ist, mit psychiatrischen Einrichtungen außerhalb einer psychiatrischen Abteilung zusammenzuarbeiten und erforderlichenfalls den örtlichen Rettungsdienst beizuziehen.“

13

§ 10 Abs. 1 UbG sieht vor:

„Der Abteilungsleiter hat die betroffene Person unverzüglich zu untersuchen. Sie darf nur aufgenommen werden, wenn nach seinem ärztlichen Zeugnis die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen.

…“

14

§ 11 UbG bestimmt:

„Der § 10 ist sinngemäß anzuwenden, wenn

1.

bei einem sonst in die psychiatrische Abteilung aufgenommenen, in seiner Bewegungsfreiheit nicht beschränkten Kranken Grund für die Annahme besteht, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, oder

2.

ein auf Verlangen Untergebrachter das Verlangen widerruft oder nach Ablauf von sechs Wochen nicht erneut erklärt oder die zulässige Gesamtdauer der Unterbringung auf Verlangen abgelaufen ist und jeweils Grund für die Annahme besteht, dass die Voraussetzungen der Unterbringung weiterhin vorliegen.“

15

§ 17 („Verständigung des Gerichts“) UbG bestimmt:

„Wird eine Person ohne Verlangen in eine psychiatrische Abteilung aufgenommen (§§ 10 und 11), so hat der Abteilungsleiter hievon unverzüglich das Gericht zu verständigen. …“

16

§ 18 („Gegenstand des Verfahrens“) UbG sieht vor:

„Über die Zulässigkeit der Unterbringung des Kranken in den Fällen der §§ 10 und 11 hat das Gericht nach Prüfung der Voraussetzungen der Unterbringung zu entscheiden.“

17

§ 20 Abs. 1 UbG bestimmt:

„Gelangt das Gericht bei der Anhörung zum Ergebnis, dass die Voraussetzungen der Unterbringung vorliegen, so hat es diese vorläufig bis zur Entscheidung nach § 26 Abs. 1 für zulässig zu erklären und eine mündliche Verhandlung anzuberaumen, die spätestens innerhalb von 14 Tagen nach der Anhörung stattzufinden hat.“

18

In § 26 Abs. 1 UbG heißt es:

„Am Schluss der mündlichen Verhandlung hat das Gericht über die Zulässigkeit der Unterbringung zu entscheiden. Der Beschluss ist in der mündlichen Verhandlung in Gegenwart des Kranken zu verkünden, zu begründen und diesem zu erläutern.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

19

Im Oktober 2016 reiste IA, ein marokkanischer Staatsangehöriger, aus Libyen nach Italien ein. Die italienische Polizei registrierte daraufhin seine personenbezogenen und biometrischen Daten.

20

In der Folge begab sich IA nach Österreich und stellte am 20. Februar 2017 einen Asylantrag.

21

Am 1. März 2017 ersuchten die österreichischen Behörden die italienischen Behörden, IA aufzunehmen. Dieses Ersuchen blieb unbeantwortet.

22

Am 30. Mai 2017 teilten die österreichischen Behörden den italienischen Behörden mit, dass das Aufnahmegesuch als angenommen gelte und dass die Frist von höchstens sechs Monaten für die Durchführung der Überstellung am 2. Mai 2017 zu laufen begonnen habe.

23

Mit Bescheid vom 12. August 2017 wies das Bundesamt zum einen den Asylantrag von IA als unzulässig zurück und ordnete zum anderen seine Außerlandesbringung nach Italien an.

24

Am 25. September 2017 legte IA gegen diesen Bescheid Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht (Österreich) ein. Später zog er diese Beschwerde wieder zurück.

25

Zwischen dem 20. September 2017 und dem 6. Oktober 2017 wurde IA auf sein Verlangen in einem Krankenhaus in Wien (Österreich) psychiatrisch behandelt.

26

Die für den 23. Oktober 2017 vorgesehene Überstellung von IA nach Italien konnte nicht erfolgen, da er zwischen dem 6. Oktober 2017 und dem 4. November 2017 ohne sein Verlangen in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses in Wien untergebracht war. Diese Unterbringung wurde von einem Wiener Bezirksgericht mit einem ersten Beschluss vom 6. Oktober 2017 – zunächst vorläufig – und dann mit einem zweiten Beschluss vom 17. Oktober 2017 bis zum 17. November 2017 für zulässig erklärt. Dieses Gericht genehmigte die Unterbringung von IA mit der Begründung, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankung eine ernstliche und erhebliche Gefahr für sich selbst und andere darstelle.

27

Am 25. Oktober 2017 teilten die österreichischen Behörden den italienischen Behörden mit, dass sich die Überstellungsfrist für IA gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung aufgrund seiner Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses auf zwölf Monate verlängert habe.

28

Die Unterbringung von IA wurde am 4. November 2017 vorzeitig beendet. An diesem Tag wurde er auf sein Verlangen in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht, aus der er am 6. November 2017 entlassen wurde.

29

Am 6. Dezember 2017 wurde IA in Begleitung der Polizei und eines Arztes mit dem Flugzeug nach Italien überstellt.

30

Am 22. Dezember 2017 stellte IA in Italien einen Asylantrag, dem am 24. April 2018 stattgegeben wurde.

31

Daraufhin erhob IA Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht gegen seine Überstellung von Österreich nach Italien, da diese nach Ablauf der in Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 der Dublin‑III‑Verordnung vorgesehenen Frist von sechs Monaten am 2. November 2017 erfolgt und daher aufgrund der Verspätung rechtswidrig gewesen sei.

32

Mit Urteil vom 14. Februar 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht diese Beschwerde als unbegründet ab. Es war der Auffassung, dass die österreichischen Behörden die italienischen Behörden am 25. Oktober 2017 über die Verlängerung der sechsmonatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin‑III‑Verordnung aufgrund der Unterbringung des Betroffenen unterrichtet hätten. Diese Überstellungsfrist, die am 2. November 2017 ablaufen sollte, sei daher um sechs Monate bis zum 2. Mai 2018 verlängert worden. Daher sei die am 6. Dezember 2017 erfolgte Überstellung von IA nicht verspätet gewesen.

33

Das Bundesverwaltungsgericht stellte fest, dass die gegen seinen Willen erfolgte Unterbringung von IA in einer psychiatrischen Einrichtung durch gerichtlichen Beschluss gemäß den in § 3 UbG vorgesehenen Voraussetzungen auf der Feststellung beruhe, dass er aufgrund seiner psychischen Erkrankung sein oder das Leben anderer ernstlich und erheblich gefährde.

34

Eine Unterbringung aufgrund einer psychischen Erkrankung stelle, wie aus den Art. 6, 52 und 53 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie aus Art. 5 Abs. 1 Buchst. e der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehe, eine freiheitsentziehende Maßnahme dar. Für die Verlängerung der Überstellungsfrist aufgrund einer „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung sei es hingegen weder erforderlich, dass die Inhaftierung in einem Gefängnis erfolge, noch, dass sie auf einem gerichtlichen Schuldspruch beruhe. Entscheidend sei, dass der überstellende Staat daran gehindert sei, den Betroffenen in den zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn diese Person durch eine gerichtliche Entscheidung dem Zugriff der Verwaltungsbehörden entzogen sei.

35

Das vorlegende Gericht, bei dem IA Revision gegen dieses Urteil des Bundesverwaltungsgerichts eingelegt hat, geht davon aus, dass für die Prüfung, ob die Überstellung von IA nach Italien im vorliegenden Fall rechtmäßig war, entscheidend sei, ob der Begriff „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung, der im Übrigen in dieser Verordnung nicht definiert sei, dahin zu verstehen sei, dass er eine freiheitsentziehende Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende umfasse, nämlich die Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses aufgrund einer psychischen Erkrankung gegen oder ohne den Willen des Betroffenen, die von einem Gericht für zulässig erklärt worden sei.

36

Diese Frage könnte aus den vom Bundesverwaltungsgericht angeführten Gründen zu bejahen sein. Eine gegenteilige Antwort komme jedoch ebenfalls in Betracht, da es sich zum einen bei der „Unterbringung ohne Verlangen [des Betroffenen]“ im Sinne der §§ 8 ff. UbG vor allem um eine medizinische Maßnahme handele, die vom Gericht lediglich für zulässig erklärt werde. Diese Maßnahme sei nicht unbedingt vom Begriff „Inhaftierung“ in der deutschen Sprachfassung, „imprisonment“ in der englischen Sprachfassung oder auch „emprisonnement“ in der französischen Sprachfassung abgedeckt.

37

Zum anderen könnten schwere Krankheiten, die einer Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat vorläufig entgegenstünden, keine Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung begründen, wie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bestätigt werde (Urteil vom 16. Februar 2017, C. K. u. a., C‑578/16 PPU, EU:C:2017:127, Rn. 89).

38

Für den Fall, dass der Gerichtshof zu der Auffassung gelangen sollte, dass die Unterbringung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses unter den Begriff „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung fällt, hält es das vorlegende Gericht für erforderlich, im vorliegenden Fall die genaue Dauer der Verlängerung der Überstellungsfrist zu bestimmen.

39

Insoweit könnte davon ausgegangen werden, dass die Überstellungsfrist um die Dauer des Zeitraums verlängert werden könne, in dem IA tatsächlich gegen seinen Willen in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht gewesen sei, oder um die mutmaßliche Dauer der „Inhaftierung“, die dem ersuchten Mitgliedstaat gemäß Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung mitgeteilt wurde, gegebenenfalls zuzüglich einer angemessenen Frist für die Organisation der Überstellung.

40

Unter diesen Umständen hat der Verwaltungsgerichtshof (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Ist unter einer Inhaftierung im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung auch eine von einem Gericht für zulässig erklärte Unterbringung des Betroffenen in der psychiatrischen Abteilung einer Krankenanstalt gegen oder ohne seinen Willen (hier aufgrund einer sich aus seiner psychischen Erkrankung ergebenden Eigen- und Fremdgefährdung) zu verstehen?

2.

Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird:

a)

Kann – mit Bindung für den Betroffenen – die Frist des Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin‑III‑Verordnung im Fall einer Inhaftierung durch den ersuchenden Mitgliedstaat jedenfalls auf ein Jahr verlängert werden?

b)

Wenn nein, um welchen Zeitraum ist eine Verlängerung zulässig, etwa nur um jenen Zeitraum,

den die Inhaftierung tatsächlich dauerte oder

den die Inhaftierung, bezogen auf den Zeitpunkt der Unterrichtung des zuständigen Mitgliedstaats nach Art. 9 Abs. 2 der Durchführungsverordnung voraussichtlich insgesamt dauern wird,

allenfalls jeweils zuzüglich einer angemessenen Frist für die neuerliche Organisation der Überstellung?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

41

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Inhaftierung“ anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt.

42

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sowohl aus den Anforderungen der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch aus dem Gleichheitsgrundsatz folgt, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinns und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Europäischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung nicht nur des Wortlauts dieser Bestimmung, sondern auch ihres Zusammenhangs und der Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, gefunden werden muss (Urteil vom 15. April 2021, The North of England P & I Association, C‑786/19, EU:C:2021:276, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43

Der Unionsgesetzgeber hat aber den Begriff „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung nicht definiert, und diese Bestimmung verweist für die Ermittlung seines Sinns und seiner Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten. Daher ist eine autonome und einheitliche Auslegung dieses Begriffs vorzunehmen.

44

Was als Erstes den Wortlaut von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung betrifft, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung die in einer der Sprachfassungen einer unionsrechtlichen Bestimmung verwendete Formulierung nicht als alleinige Grundlage für die Auslegung dieser Bestimmung herangezogen werden oder Vorrang vor den übrigen Sprachfassungen beanspruchen kann (Urteil vom 15. April 2021, The North of England P & I Association, C‑786/19, EU:C:2021:276, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45

Im vorliegenden Fall wird der Begriff „Inhaftierung“ oder der ähnliche und weitgehend austauschbare Begriff „Haftstrafe“ in der großen Mehrheit der Sprachfassungen dieser Bestimmung verwendet. Dies gilt u. a. für die spanische, die tschechische, die dänische, die englische, die französische, die maltesische, die niederländische, die rumänische, die slowakische und die finnische Sprachfassung.

46

In anderen – eindeutig in der Minderheit befindlichen – Sprachfassungen wie der italienischen, der portugiesischen oder der schwedischen werden hingegen weiter gefasste Begriffe verwendet, die Gewahrsam, Arrest bzw. Freiheitsentzug zum Ausdruck bringen, ohne dass diese Begriffe einen Zusammenhang mit einem „Gefängnis“ oder einer „Haftstrafe“ nahelegen.

47

Zu dem in der deutschen Sprachfassung verwendeten Begriff „Inhaftierung“ trägt die österreichische Regierung vor, dass er nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch insbesondere den „Freiheitsentzug“ abdecke und daher nicht auf eine gerichtlich angeordnete Inhaftierung in einem Strafverfahren reduziert werden könne, während die deutsche Regierung der Ansicht ist, dass dieser Begriff in diesem engeren Sinne verstanden werden könne.

48

Bei nach wie vor wörtlicher Auslegung von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung ergibt sich aus der gewöhnlichen Bedeutung des Begriffs „Inhaftierung“ oder „Haftstrafe“, die, wie in Rn. 45 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist, der großen Mehrheit der Sprachfassungen dieser Bestimmung zu entnehmen ist, dass darunter im Wesentlichen eine Freiheitsstrafe zu verstehen ist, die im Rahmen eines Strafverfahrens aufgrund der Begehung einer Straftat verhängt wird, hinsichtlich deren der Betroffene schuldig gesprochen oder verdächtigt wird.

49

Genauer gesagt bezeichnet dieser Begriff in seiner gewöhnlichen Bedeutung eine Freiheitsstrafe, die in der Regel in einem Gefängnis zu verbüßen ist und die von einem Gericht verhängt wird, sofern es am Ende eines Strafverfahrens feststellt, dass sich eine Person strafbar gemacht hat. Außerdem erfasst dieser Begriff nach seiner gewöhnlichen Bedeutung auch die gegen eine Person, die der Begehung einer Straftat verdächtigt wird, verhängte Untersuchungshaft, die grundsätzlich durch eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen eines Strafverfahrens angeordnet wird.

50

Angesichts dieser gewöhnlichen Bedeutung kann die zwangsweise Unterbringung einer Person in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, die gerichtlich genehmigt wurde, weil die Person an einer psychischen Erkrankung leidet, aufgrund deren sie für sich selbst oder die Gesellschaft besonders gefährlich ist, nicht als „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung eingestuft werden.

51

Hierzu ist festzustellen, dass eine zwangsweise Unterbringung nach dem UbG erfolgt, ohne dass der Betroffene aufgrund der Begehung einer Straftat verurteilt wurde oder ohne dass er verdächtigt wird, eine solche Straftat begangen zu haben.

52

Eine solche Unterbringung unterscheidet sich daher grundlegend von der psychiatrischen Unterbringung einer Person, die angeordnet wird, weil diese eine Straftat begangen hat, für die sie jedoch aufgrund einer psychischen Erkrankung, an der sie zum Zeitpunkt der ihr zur Last gelegten Tat litt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann.

53

Als Zweites stehen der Kontext, in den sich Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung einfügt, und die mit dieser Verordnung verfolgten Ziele nicht der Auslegung entgegen, wonach der Begriff „Inhaftierung“ im Sinne dieser Bestimmung nur den Freiheitsentzug erfasst, der durch eine gerichtliche Entscheidung im Rahmen eines Strafverfahrens wegen einer Straftat angeordnet wird, hinsichtlich deren der Asylbewerber schuldig gesprochen oder verdächtigt wird.

54

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung ausnahmsweise die Verlängerung der in Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 dieser Verordnung festgelegten Überstellungsfrist von sechs Monaten gestattet, um zu berücksichtigen, dass es dem ersuchenden Mitgliedstaat aufgrund der Inhaftierung oder Flucht der betreffenden Person tatsächlich unmöglich ist, die Überstellung durchzuführen (Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 60).

55

Eine weite Auslegung des Begriffs „Inhaftierung“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin, dass er sämtliche freiheitsentziehende Maßnahmen einschließlich derjenigen umfasst, die nicht im Rahmen eines Strafverfahrens aufgrund einer Straftat verhängt werden, die von der betroffenen Person begangen wurde oder deren Begehung sie verdächtigt wird, würde aber den vom Gerichtshof hervorgehobenen Ausnahmecharakter einer solchen Verlängerung verkennen.

56

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung ist nämlich nach einem in ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs aufgestellten Grundsatz eng auszulegen, da er in zwei konkreten Fällen eine Ausnahme von der allgemeinen Regel des Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 dieser Verordnung vorsieht (vgl. u. a. Urteil vom 20. Mai 2021, X [LPG‑Tankfahrzeuge], C‑120/19, EU:C:2021:398, Rn. 50).

57

Außerdem hat der Gerichtshof zwar in den Rn. 61 und 62 des Urteils vom 19. März 2019, Jawo (C‑163/17, EU:C:2019:218), eine Auslegung des Begriffs „Flucht“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung verworfen, wonach der Nachweis der Absicht der betroffenen Person erforderlich ist, sich den zuständigen nationalen Behörden zu entziehen, um die Gefahr zu vermeiden, dass diese Behörden auf etwaige erhebliche Schwierigkeiten stoßen oder das effektive Funktionieren des Dublin‑Systems und die Verwirklichung seiner Ziele nicht gewährleisten können.

58

Eine Auslegung des Begriffs „Inhaftierung“ im Sinne dieser Bestimmung, die auf den Freiheitsentzug beschränkt ist, der durch gerichtliche Entscheidungen in Strafverfahren angeordnet wird, und die andere freiheitsentziehende Maßnahmen ausschließt, birgt hingegen keine solche Gefahr.

59

Eine solche Auslegung erfordert nämlich nur eine einfache Tatsachenprüfung der Frage, ob eine freiheitsentziehende gerichtliche Entscheidung vorliegt, die im Rahmen eines Strafverfahrens gegen eine Person erlassen wurde, die eine Straftat begangen hat oder die der Begehung einer Straftat verdächtigt wird.

60

Eine derartige Prüfung führt nicht zu besonderen praktischen Schwierigkeiten, die das effektive Funktionieren des Dublin‑Systems und die Verwirklichung seiner Ziele behindern können.

61

Diese Auslegung steht daher auch nicht im Widerspruch zum Ziel der zügigen Bearbeitung, das mit der Dublin‑III‑Verordnung gemäß ihren Erwägungsgründen 4 und 5 verfolgt wird (Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C‑163/17, EU:C:2019:218, Rn. 58 und 59).

62

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin‑III‑Verordnung dahin auszulegen ist, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Inhaftierung“ nicht anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber zwangsweise mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt.

Zur zweiten Frage

63

Die zweite Frage hat das vorlegende Gericht für den Fall gestellt, dass die erste Frage bejaht wird. Aus Rn. 62 des vorliegenden Urteils geht aber hervor, dass diese Frage zu verneinen ist. Daher ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

Kosten

64

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, ist dahin auszulegen, dass der in dieser Bestimmung verwendete Begriff „Inhaftierung“ nicht anwendbar ist, wenn ein Asylbewerber zwangsweise mit gerichtlicher Genehmigung in einer psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses untergebracht wird, weil er aufgrund einer psychischen Erkrankung eine erhebliche Gefahr für sich selbst oder für die Gesellschaft darstellt.

 

Passer

Prechal

Arastey Sahún

Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 31. März 2022.

Der Kanzler

A. Calot Escobar

Der Präsident der Siebten Kammer

J. Passer


( *1 ) Verfahrenssprache: Deutsch.

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