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Document 62021CC0383

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Campos Sánchez-Bordona vom 9. Juni 2022.
    Sambre & Biesme SCRL und Commune de Farciennes gegen Société wallonne du logement (SWL).
    Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d'État (Belgien).
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Öffentliche Aufträge – Richtlinie 2014/24/EU – Vergabe eines öffentlichen Auftrags ohne Einleitung eines Ausschreibungsverfahrens – Öffentliche Aufträge zwischen Einrichtungen des öffentlichen Sektors – Art. 12 Abs. 3 – Öffentliche Aufträge, die ‚inhouse‘ vergeben werden – Begriff ‚ähnliche Kontrolle‘ – Voraussetzungen – Vertretung aller beteiligten öffentlichen Auftraggeber – Art. 12 Abs. 4 – Vertrag zwischen öffentlichen Auftraggebern, die gemeinsame Ziele von öffentlichem Interesse verfolgen – Begriff ‚Zusammenarbeit‘ – Voraussetzungen – Nicht fristgerechte Umsetzung – Unmittelbare Wirkung.
    Verbundene Rechtssachen C-383/21 und C-384/21.

    Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2022:456

     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

    vom 9. Juni 2022 ( 1 )

    Verbundene Rechtssachen C‑383/21 und C‑384/21

    Société de logement de service public (SLSP) „Sambre & Biesme“, SCRL (C‑383/21),

    Commune de Farciennes (C‑384/21)

    gegen

    Société wallonne du logement

    (Vorabentscheidungsersuchen des Conseil d’État [Staatsrat, Belgien])

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2014/24/EU – Öffentliche Aufträge – Dienstleistungen, Bauarbeiten und Baubetreuung – ‚In-House‘-Übertragung – ‚In-House‘-Einrichtung, die von mehreren öffentlichen Auftraggebern gemeinsam kontrolliert wird – Anwendbarkeit der Richtlinie“

    1.

    In Belgien schlossen eine gemeinwirtschaftliche Wohnbaugesellschaft und eine Gemeinde einen Rahmenvertrag, wonach ein Vertrag über technische Unterstützung beim Wohnungsbau und ein Vertrag über Asbestinventurleistungen nicht im Wege einer Ausschreibung, sondern direkt an eine dritte, ebenfalls öffentliche Einrichtung vergeben werden sollten.

    2.

    Die von der wallonischen Regierung mit der Aufsicht über die gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaften beauftragte Behörde erklärte den Rahmenvertrag mit der Begründung für nichtig, die Bedingungen für eine direkte Vergabe der Verträge seien im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

    3.

    Die beiden Vertragsparteien des Rahmenvertrags haben jeweils Klage gegen die Nichtigerklärung erhoben, da eine direkte Vergabe ihrer Auffassung nach mit der Richtlinie 2014/24/EU ( 2 ) vereinbar ist. Über den Rechtsstreit hat das oberste Verwaltungsgericht Belgiens zu entscheiden, das zwei Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof gerichtet hat.

    I. Rechtlicher Rahmen. Richtlinie 2014/24

    4.

    Im 31. Erwägungsgrund heißt es:

    „Es besteht erhebliche Rechtsunsicherheit darüber, inwieweit Verträge, die zwischen Einrichtungen des öffentlichen Sektors geschlossen werden, von den Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge erfasst werden sollten. Die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union wird nicht nur von den einzelnen Mitgliedstaaten, sondern auch von den einzelnen öffentlichen Auftraggebern unterschiedlich ausgelegt. Daher gilt es zu präzisieren, in welchen Fällen im öffentlichen Sektor geschlossene Verträge von der Anwendung der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge ausgenommen sind.

    Diese Präzisierung sollte sich auf die Grundsätze stützen, die in der einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union dargelegt wurden. Der Umstand, dass beide Parteien einer Vereinbarung selbst öffentliche Stellen sind, reicht allein nicht aus, um die Anwendung der Vergabevorschriften auszuschließen. Die Anwendung der Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge sollte öffentliche Stellen jedoch nicht in ihrer Freiheit beschränken, die ihnen übertragenen öffentlichen Aufgaben auszuüben, indem sie ihre eigenen Mittel verwenden, wozu die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit anderen öffentlichen Stellen gehört.

    …“

    5.

    Der 33. Erwägungsgrund lautet:

    „Die öffentlichen Auftraggeber sollten auch beschließen können, ihre öffentlichen Dienstleistungen gemeinsam im Wege der Zusammenarbeit zu erbringen, ohne zur Einhaltung einer bestimmten Rechtsform verpflichtet zu sein. Diese Zusammenarbeit könnte alle Arten von Tätigkeiten in Verbindung mit der Ausführung der Dienstleistungen und Zuständigkeiten, die den teilnehmenden Stellen zugeteilt wurden oder von ihnen übernommen werden, erfassen, wie gesetzliche oder freiwillige Aufgaben der Gebietskörperschaften oder Dienste, die bestimmten Einrichtungen durch das öffentliche Recht übertragen werden. Die von den verschiedenen teilnehmenden Stellen erbrachten Dienstleistungen müssen nicht notwendigerweise identisch sein; sie können sich auch ergänzen.

    Aufträge für die gemeinsame Erbringung öffentlicher Dienstleistungen sollten nicht der Anwendung der in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften unterliegen, vorausgesetzt sie werden ausschließlich zwischen öffentlichen Auftraggebern geschlossen, die Durchführung dieser Zusammenarbeit wird ausschließlich von Erwägungen des öffentlichen Interesse[s] bestimmt und kein privater Dienstleister erhält einen Vorteil gegenüber seinen Wettbewerbern.

    Um diese Voraussetzungen zu erfüllen, sollte die Zusammenarbeit auf einem kooperativen Konzept beruhen. Die Zusammenarbeit setzt nicht voraus, dass alle teilnehmenden Stellen die Ausführung wesentlicher vertraglicher Pflichten übernehmen, solange sie sich verpflichtet haben, einen Beitrag zur gemeinsamen Ausführung der betreffenden öffentlichen Dienstleistung zu leisten. Für die Durchführung der Zusammenarbeit einschließlich etwaiger Finanztransfers zwischen den teilnehmenden öffentlichen Auftraggebern sollten im Übrigen ausschließlich Erwägungen des öffentlichen Interesses maßgeblich sein.“

    6.

    In Art. 12 („Öffentliche Aufträge zwischen Einrichtungen des öffentlichen Sektors“) wird festgelegt:

    „(1)   Ein von einem öffentlichen Auftraggeber an eine juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts vergebener öffentlicher Auftrag fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wenn alle der folgenden Bedingungen erfüllt sind:

    a)

    Der öffentliche Auftraggeber übt über die betreffende juristische Person eine ähnliche Kontrolle aus, wie über seine eigenen Dienststellen;

    b)

    mehr als 80 % der Tätigkeiten der kontrollierten juristischen Person dienen der Ausführung der Aufgaben, mit denen sie von dem die Kontrolle ausübenden öffentlichen Auftraggeber oder von anderen von diesem kontrollierten juristischen Personen betraut [wurde,] und

    c)

    es besteht keine direkte private Kapitalbeteiligung an der kontrollierten juristischen Person, mit Ausnahme nicht beherrschender Formen der privaten Kapitalbeteiligung und Formen der privaten Kapitalbeteiligung ohne Sperrminorität, die in Übereinstimmung mit den Verträgen durch nationale gesetzliche Bestimmungen vorgeschrieben sind und die keinen maßgeblichen Einfluss auf die kontrollierte juristische Person vermitteln.

    (3)   Ein öffentlicher Auftraggeber, der keine Kontrolle über eine juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts im Sinne von Absatz 1 ausübt, kann einen öffentlichen Auftrag dennoch ohne Anwendung dieser Richtlinie an diese juristische Person vergeben, wenn alle der folgenden Bedingungen erfüllt sind:

    a)

    Der öffentliche Auftraggeber übt gemeinsam mit anderen öffentlichen Auftraggebern über diese juristische Person eine ähnliche Kontrolle aus wie über ihre eigenen Dienststellen;

    b)

    mehr als 80 % der Tätigkeiten dieser juristischen Person dienen der Ausführung der Aufgaben, mit denen sie von den die Kontrolle ausübenden öffentlichen Auftraggebern oder von anderen von denselben öffentlichen Auftraggebern kontrollierten juristischen Personen betraut [wurde], und

    Für die Zwecke von Unterabsatz 1 Buchstabe a üben öffentliche Auftraggeber gemeinsam die Kontrolle über eine juristische Person aus, wenn alle folgenden Bedingungen erfüllt sind:

    i)

    Die beschlussfassenden Organe der kontrollierten juristischen Person setzen sich aus Vertretern sämtlicher teilnehmender öffentlicher Auftraggeber zusammen. Einzelne Vertreter können mehrere oder alle teilnehmenden öffentlichen Auftraggeber vertreten;

    ii)

    diese öffentlichen Auftraggeber können gemeinsam einen maßgeblichen Einfluss auf die strategischen Ziele und wesentlichen Entscheidungen der kontrollierten juristischen Person ausüben und

    iii)

    die kontrollierte juristische Person verfolgt keine Interessen, die denen der kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber zuwiderlaufen.

    4.   Ein ausschließlich zwischen zwei oder mehr öffentlichen Auftraggebern geschlossener Vertrag fällt nicht in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie, wenn alle nachfolgend genannten Bedingungen erfüllt sind:

    a)

    Der Vertrag begründet oder erfüllt eine Zusammenarbeit zwischen den beteiligten öffentlichen Auftraggebern mit dem Ziel sicherzustellen, dass von ihnen zu erbringende öffentliche Dienstleistungen im Hinblick auf die Erreichung gemeinsamer Ziele ausgeführt werden;

    b)

    die Durchführung dieser Zusammenarbeit wird ausschließlich durch Überlegungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse bestimmt und

    c)

    die beteiligten öffentlichen Auftraggeber erbringen auf dem offenen Markt weniger als 20 % der durch die Zusammenarbeit erfassten Tätigkeiten.

    …“

    II. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

    7.

    Die Société de logement de service public Sambre & Biesme ( 3 ) ist eine öffentliche Einrichtung mit der Rechtsform einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung, deren wichtigste Mitglieder die Gemeinden Farciennes und Aiseau-Presles sind. Sie gehört zum Netz der gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaften von Wallonien (Belgien).

    8.

    Im Jahr 2015 beschlossen die SLSP Sambre et Biesme und die Gemeinde Farciennes, in Farciennes ein Öko-Viertel mit etwa 150 öffentlichen und privaten Wohnungen zu errichten. Aufgrund des Umfangs des Projekts ließen sich die Parteien von der Intercommunale pour la Gestion et la Réalisation d’Études Techniques et Économiques ( 4 ) unterstützen, die ebenfalls die Rechtsform einer Genossenschaft mit beschränkter Haftung hat.

    9.

    IGRETEC gehören ausschließlich juristische Personen des öffentlichen Rechts an. Im Jahr 2016 zählten zu ihren Mitgliedern mehr als 70 Gemeinden, darunter auch die Gemeinde Farciennes, und mehr als 50 weitere „öffentliche Stellen“. Die Gemeinden verfügten über 5054351 stimmberechtigte Anteile und die anderen öffentlichen Stellen über 17126 Anteile.

    10.

    Die Satzung von IGRETEC behält den Gemeinden die Stimmenmehrheit sowie den Vorsitz in den verschiedenen Verwaltungsorganen vor. Beschlüsse dieser Organe werden mit der Mehrheit der Stimmen der kommunalen Mitglieder gefasst.

    11.

    Zum maßgeblichen Zeitpunkt zählte zum Verwaltungsrat von IGRETEC ein Mitglied des Gemeinderats von Farciennes, das zugleich Mitglied des Verwaltungsrats der SLSP Sambre et Biesme war.

    12.

    Am 29. Oktober 2015 beschloss die SLSP Sambre et Biesme, einen Anteil an IGRETEC im Wert von 6,20 Euro zu erwerben, um deren Leistungen in Anspruch nehmen zu können. Sie erhielt dadurch den Status eines Mitglieds der interkommunalen Genossenschaft, auch wenn ihr Anteil rein symbolisch war ( 5 ).

    13.

    Um die jeweiligen Rechte und Pflichten bei der Gestaltung und Realisierung des Öko-Viertels in Farciennes festzulegen, setzten die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme im Januar 2017 einen Rahmenvertrag mit folgenden Klauseln auf:

    Nach Art. 1 beschließen die Parteien, gemeinsame öffentliche Aufträge über Dienstleistungen, Bauarbeiten und Baubetreuung zu vergeben, und ermächtigen die Gemeinde Farciennes, in ihrem gemeinsamen Namen als öffentlicher Auftraggeber zu handeln und alle Entscheidungen über die Erteilung des Zuschlags für öffentliche Aufträge allein zu treffen.

    Nach Art. 5 ( 6 )„vereinbaren die Parteien, dass die Gemeinde Farciennes mit IGRETEC … einen Vertrag über die Bauleitungsunterstützung und über Leistungen auf den Gebieten Recht und Umwelt abschließt, und zwar im Rahmen des ‚In-House-Verhältnisses‘, das die einzelnen Parteien mit dieser Interkommunalen verbindet“.

    Um die Entscheidungsfindung bei der Umsetzung des Rahmenvertrags zu vereinfachen, ist in seinem Anhang die Einrichtung eines Leitungsorgans ( 7 ) vorgesehen.

    IGRETEC hat zwar nicht den Rahmenvertrag unterzeichnet, ist jedoch im Leitungsorgan vertreten und für dessen Sekretariat zuständig.

    14.

    Am 9. Februar 2017 beschloss der Verwaltungsrat der SLSP Sambre et Biesme: a) „den Abschluss eines Rahmenvertrags über gemeinsame Aufträge mit der Gemeinde Farciennes zu genehmigen“, und b) „angesichts des In-House-Verhältnisses zwischen [der SLSP Sambre et Biesme] und IGRETEC“„den öffentlichen Auftrag für Asbestinventurleistungen nicht auszuschreiben“, dessen Sonderlastenheft er zuvor genehmigt hatte. Dieses Lastenheft wird als erste Stufe bei der Realisierung des Vorhabens eines Öko-Viertels in Farciennes beschrieben.

    15.

    Am 10. Februar 2017 legte der für die SLSP Sambre et Biesme zuständige Vertreter der SWL gegen die beiden genannten Beschlüsse (im Folgenden: streitige Beschlüsse) bei der SWL einen Rechtsbehelf ein. SWL handelt im Auftrag der wallonischen Regierung als Aufsichtsbehörde für die gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaften.

    16.

    Am 25. Februar 2017 erklärte SWL die streitigen Beschlüsse für nichtig, da der Vertrag über technische Unterstützung (Art. 5 des Rahmenvertrags) und der Vertrag über Asbestinventurleistungen ohne Ausschreibung an IGRETEC vergeben worden seien.

    17.

    SWL vertritt die Auffassung:

    Es bestünden vernünftige Zweifel daran, dass die SLSP Sambre et Biesme auf IGRETEC einen maßgeblichen Einfluss ausübe, weil sie nur einen einzigen Anteil am Genossenschaftskapital von IGRETEC halte, deren Satzung den Gemeinden eine Vorrangstellung einräume.

    Die Benennung der Gemeinde Farciennes als führender öffentlicher Auftraggeber in Art. 1 des Rahmenvertrags reiche nicht aus, um die direkte Vergabe der Verträge an IGRETEC im Namen der verschiedenen Parteien des Rahmenvertrags zu rechtfertigen, auch wenn für die Gemeinde Farciennes individuell in ihrem Verhältnis zu IGRETEC die „In-House-Ausnahme“ gelte. Bei einem gemeinsamen Auftrag gestalteten die verschiedenen Partner den Auftrag gemeinsam, doch müssten die üblichen Vergabeverfahren von jedem Partner eingehalten werden.

    18.

    Da die Beschlüsse der SWL vor den Verwaltungsgerichten angefochten werden können, haben die SLSP Sambre et Biesme sowie die Gemeinde Farciennes jeweils Klage gegen die Nichtigerklärung der streitigen Beschlüsse erhoben.

    19.

    Der Conseil d’État (Staatsrat, Belgien), der für die Entscheidung über die Klagen zuständig ist, legt dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor.

    20.

    Im ersten Vorlagebeschluss (Rechtssache C‑383/21) stellt er folgende Vorlagefragen:

    1.

    Ist Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24/EU dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet?

    2.

    Für den Fall, dass diese erste Frage bejaht wird: Ist Art. 12 Abs. 3 der genannten Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen, dass die Voraussetzung, wonach ein öffentlicher Auftraggeber, vorliegend eine gemeinwirtschaftliche Wohnbaugesellschaft, in den Entscheidungsgremien der kontrollierten juristischen Person, hier einer interkommunalen Genossenschaft, vertreten sein muss, allein deswegen erfüllt ist, weil eine Person, die in ihrer Eigenschaft als Gemeinderatsmitglied eines anderen beteiligten öffentlichen Auftraggebers, vorliegend einer Gemeinde, im Verwaltungsrat dieser interkommunalen Genossenschaft sitzt, aus rein tatsächlichen Gründen und ohne dass die Vertretung gesetzlich garantiert ist, auch Mitglied im Verwaltungsrat der gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaft ist, während die Gemeinde sowohl (nicht alleiniges) Mitglied der kontrollierten Einrichtung (interkommunalen Genossenschaft) als auch der gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaft ist?

    3.

    Für den Fall, dass die erste Frage verneint wird: Ist ein öffentlicher Auftraggeber, vorliegend eine gemeinwirtschaftliche Wohnbaugesellschaft, an den Entscheidungsgremien der kontrollierten juristischen Person, hier einer interkommunalen Genossenschaft, allein deswegen „beteiligt“, weil eine Person, die in ihrer Eigenschaft als Gemeinderatsmitglied eines anderen beteiligten öffentlichen Auftraggebers, vorliegend einer Gemeinde, im Verwaltungsrat dieser interkommunalen Genossenschaft sitzt, aus rein tatsächlichen Gründen und ohne dass die Vertretung gesetzlich garantiert ist, auch Mitglied im Verwaltungsrat der gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaft ist, während die Gemeinde sowohl (nicht alleiniges) Mitglied der kontrollierten Einrichtung (interkommunalen Genossenschaft) als auch der gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaft ist?

    21.

    Im zweiten Vorlagebeschluss (Rechtssache C‑384/21) stellt das vorlegende Gericht neben den vorstehenden Vorlagefragen folgende Fragen:

    4.

    Ist Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung entfaltet?

    5.

    Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird: Ist Art. 12 Abs. 4 der genannten Richtlinie 2014/24 dahin auszulegen, dass er es erlaubt, einem öffentlichen Auftraggeber, hier einer interkommunalen Genossenschaft, ohne vorherige Ausschreibung Aufgaben im Bereich Bauleitungsunterstützung sowie betreffend Leistungen auf den Gebieten Recht und Umwelt zu übertragen, wenn diese Aufgaben in den Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen zwei anderen öffentlichen Auftraggebern fallen, hier einer Gemeinde und einer gemeinwirtschaftlichen Wohnbaugesellschaft, unstreitig ist, dass die Gemeinde eine „gemeinsame In-House-Kontrolle“ über die interkommunale Genossenschaft ausübt, und die Gemeinde und die gemeinwirtschaftliche Wohnbaugesellschaft Mitglieder der interkommunalen Genossenschaft im Tätigkeitsbereich „Planungs- und Verwaltungsbüro und Einkaufszentrale“ ihres Gesellschaftszwecks sind, der gerade von den Aufgaben betroffen ist, die sie ihr übertragen wollen, wobei diese Aufgaben Tätigkeiten entsprechen, die auf dem Markt von Planungs- und Verwaltungsbüros ausgeübt werden, die sich auf die Planung, Realisierung und Umsetzung von Projekten spezialisiert haben?

    III. Verfahren vor dem Gerichtshof

    22.

    Die Vorabentscheidungsersuchen sind am 24. Juni 2021 beim Gerichtshof eingegangen. Sie wurden zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.

    23.

    Die SLSP Sambre et Biesme, die Gemeinde Farciennes, die belgische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Alle Beteiligten haben an der mündlichen Verhandlung vom 30. März 2022 teilgenommen.

    IV. Würdigung

    A.   Vorbemerkung

    24.

    Auf Wunsch des Gerichtshofs beziehen sich die vorliegenden Schlussanträge auf die erste Vorlagefrage beider Rechtssachen sowie auf die vierte und fünfte Vorlagefrage der Rechtssache C‑384/21.

    B.   Erste Vorlagefrage der Rechtssache C‑383/21 sowie erste und vierte Vorlagefrage der Rechtssache C‑384/21

    25.

    Nach Angaben des vorlegenden Gerichts war das belgische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2014/24 zum Zeitpunkt des streitigen Sachverhalts noch nicht in Kraft, obwohl die Umsetzungsfrist bereits abgelaufen war ( 8 ).

    26.

    Die Klägerinnen machen in beiden Verfahren geltend, dass Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung habe, da er unbedingte und hinreichend genaue Bestimmungen enthalte, die dem Einzelnen Rechte verliehen, die dieser gegenüber dem Staat und allen seinen Verwaltungseinrichtungen geltend machen könne ( 9 ).

    27.

    Die belgische Regierung und die Kommission ( 10 ) sind entgegengesetzter Auffassung. Sie vertreten den Standpunkt, dass Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 aus folgenden Gründen nicht die Voraussetzungen für eine unmittelbare Wirkung erfülle:

    Öffentliche Auftraggeber und Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die unter die Vergaberichtlinien fielen, seien keine „Einzelnen“, denen Rechte zuständen, die sie gegenüber dem Staat geltend machen könnten.

    Die Vorschrift enthalte keine Verpflichtung zum Handeln oder Unterlassen seitens des Staates und zugunsten der Wirtschaftsteilnehmer.

    28.

    Das Ergebnis, das ich im Folgenden vorschlagen werde, d. h. die Anwendung von Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 auf die vorliegende Rechtssache, wird in der Praxis sowohl durch das Zugeständnis erzielt, dass eine unmittelbare Wirkung dieser Bestimmungen den betroffenen öffentlichen Einrichtungen – die sich gegenüber dem Staat darauf berufen können – zugutekommt, als auch durch die einfache Feststellung, dass die Einrichtungen in Ermangelung einer fristgemäßen Umsetzung der Richtlinie durch die Bestimmungen gebunden waren. Ich schließe mich dem letztgenannten Standpunkt an.

    1. Unmittelbare Wirkung, Unbedingtheit und Möglichkeit der öffentlichen Stellen, sich auf Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 zu berufen

    29.

    Der Ansatz, der den Vorlagefragen zugrunde liegt, ist nach meiner Ansicht nicht geeignet. Wäre er dies, müsste die Antwort so lauten, wie es SWL im Ausgangsverfahren vorschlägt und wie es die belgische Regierung und die Kommission im vorliegenden Verfahren vertreten.

    30.

    Zur Untermauerung jenes Standpunkts weise ich darauf hin, dass die Rechtsprechung von der sogenannten „unmittelbaren Wirkung“, die der Gerichtshof in Bezug auf Richtlinien entwickelt hat, in erster Linie dem Schutz des Einzelnen dient. Sie ermöglicht dem Einzelnen die Ausübung von Rechten, die ihm die Richtlinien verleihen und die er mangels der erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen auf nationaler Ebene nicht auf anderem Wege geltend machen kann.

    31.

    Die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs zur unmittelbaren Wirkung der Richtlinien, insbesondere von nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinien, beantwortet die Frage, wer sich auf die unmittelbare Wirkung berufen kann und unter welchen Bedingungen.

    32.

    So hat der Gerichtshof in seinem jüngsten Urteil vom 8. März 2022 festgestellt:

    „… der Einzelne [kann sich] in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat …“ ( 11 )

    „… eine Unionsvorschrift [ist] zum einen unbedingt …, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und [ist] zum anderen hinreichend genau …, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt …“ ( 12 )

    „… eine Bestimmung einer Richtlinie [kann] auch dann, wenn die Richtlinie den Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum beim Erlass der Durchführungsvorschriften lässt, als unbedingt und genau angesehen werden …, wenn sie den Mitgliedstaaten unmissverständlich eine Verpflichtung zur Erreichung eines bestimmten Ergebnisses auferlegt, die im Hinblick auf die Anwendung der dort aufgestellten Regel durch keinerlei Bedingungen eingeschränkt ist …“ ( 13 )

    33.

    Aufgrund dieser Prämissen vertrete ich den Standpunkt, dass sich öffentliche Einrichtungen wie die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme, die nicht mehr als eine Ausprägung des Staates im weiteren Sinne sind, gegenüber dem Staat nicht auf die (hypothetische) unmittelbare Wirkung von Art. 12 der Richtlinie 2014/24 berufen können.

    34.

    Selbst bei der Annahme, dass Art. 12 Abs. 3 und 4 eine „hinreichend genaue“ Formulierung enthält, wäre nur schwer zu belegen, dass diese „unbedingt“ ist und den Mitgliedstaaten eine eindeutige Verpflichtung auferlegt. Vielmehr verleiht der Artikel den Mitgliedstaaten die Befugnis, sofern sie dies für angemessen halten, zwischen öffentlichen Stellen geschlossene Verträge vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 auszuschließen.

    35.

    Nach Überzeugung des Gerichtshofs hat Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2014/24, der „sich … darauf beschränkt, die Bedingungen festzulegen, die ein öffentlicher Auftraggeber einhalten muss, wenn er einen internen Auftrag abschließen will, … nur die Wirkung, die Mitgliedstaaten zu ermächtigen, einen solchen Auftrag vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 auszunehmen“ ( 14 ).

    36.

    In diesem Sinne erläutert der Gerichtshof, dass die Richtlinie 2014/24 nicht „dazu verpflichtet, auf ein Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags zurückzugreifen“, und auch nicht „dazu zwingen [kann], einen internen Auftrag in Anspruch zu nehmen, wenn die Voraussetzungen des Art. 12 Abs. 1 erfüllt sind“ ( 15 ). Das Gleiche gilt für die Abs. 3 und 4 dieses Artikels.

    37.

    Diese Aussage steht im Einklang mit der Freiheit der Mitgliedstaaten, „die Art der Erbringung von Dienstleistungen, durch die die öffentlichen Auftraggeber für ihren eigenen Bedarf sorgen, zu wählen“ ( 16 ).

    38.

    Im Übrigen können sich, wie ich bereits ausgeführt habe, kommunale Einrichtungen und Einrichtungen des öffentlichen Rechts (selbst wenn sie die Form von Handelsgesellschaften haben) gegenüber dem Staat nicht auf eine „unmittelbare Wirkung“ von Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 berufen. Im Verhältnis zu den staatlichen Organen, die ihre Entscheidungen beaufsichtigen, handelt es sich bei den kommunalen Einrichtungen nicht um „Einzelne“, die diese Wirkung geltend machen können.

    39.

    Aus diesen Gründen und obwohl ich in der vorliegenden Rechtssache eine Entscheidung über die unmittelbare Wirkung von Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 für nicht erforderlich halte, schließe ich mich, falls der Gerichtshof sich dennoch mit dieser in der mündlichen Verhandlung ausführlich erörterten Frage befassen sollte, der an jener Stelle von der belgischen Regierung und der Kommission vertretenen Auffassung an.

    40.

    Art. 12 der Richtlinie 2014/24 legt die Mindestvoraussetzungen für ein Recht fest, dessen Ausübung die Mitgliedstaaten, wie ich noch einmal betonen möchte, vollständig ausschließen können. Tun sie dies nicht, kommt für eine unmittelbare Wirkung von Art. 12 (auf die sich nur ein Wirtschaftsteilnehmer berufen könnte, der sich für geschädigt hält) einzig und allein der Fall in Frage, dass ein öffentlicher Auftraggeber, ohne dass die in dem Artikel festgelegten Mindestbedingungen erfüllt sind, unter Umgehung des Vergaberechts eine interne Auftragsvergabe oder eine horizontale Zusammenarbeit anstrebt.

    2. Anwendung von Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 auf öffentliche Stellen

    41.

    Die vorstehenden Ausführungen bedeuten jedoch nicht, dass in der vorliegenden Rechtssache Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 nicht zur Anwendung käme.

    42.

    Für die öffentlichen Stellen ergibt sich die Verpflichtung zur Einhaltung von Art. 12 Abs. 3 und 4 vor der Umsetzung der Richtlinie nicht aus einer eventuellen unmittelbaren Wirkung dieser Bestimmungen, sondern aus „der für alle staatlichen Behörden geltenden Verpflichtung …, Richtlinienbestimmungen zu beachten (Art. 288 Abs. 3 AEUV) sowie auf loyale Weise zusammenzuarbeiten und die vollständige Erfüllung der Verpflichtungen sicherzustellen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe ergeben (Art. 4 Abs. 3 EUV)“ ( 17 ).

    43.

    Eine angemessene Antwort auf die ersten Fragen der beiden Vorabentscheidungsersuchen sollte sich folglich vorrangig auf die Verpflichtung der öffentlichen Stellen zur Einhaltung der Richtlinie 2014/24 (bzw., wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, ihre bindende Wirkung) in dem Fall konzentrieren, dass die Richtlinie trotz Fristablauf nicht umgesetzt wurde.

    44.

    Der Gerichtshof hat eine solche Verpflichtung bestätigt ( 18 ).

    45.

    Für die an den beiden Rechtsstreitigkeiten beteiligten Auftraggeber, deren öffentlicher Charakter unbestritten ist, hat dies zur Folge, dass sie ab dem Zeitpunkt, zu dem die Richtlinie 2014/24 hätte umgesetzt werden müssen ( 19 ), an die Richtlinie gebunden waren.

    46.

    Da keine Umsetzung erfolgt war, waren die Behörden oder von ihnen abhängigen Einrichtungen, soweit sie als öffentliche Auftraggeber handeln, unabhängig davon, ob Art. 12 Abs. 3 und 4 der Richtlinie 2014/24 unmittelbare Wirkung entfaltet und sich der Einzelne gegenüber ihnen darauf berufen kann, verpflichtet, die in dieser Bestimmung vorgesehenen Voraussetzungen zu erfüllen.

    47.

    Da die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme es für die Beschaffung der für die Durchführung ihrer jeweiligen Projekte erforderlichen Dienstleistungen vorzogen, nicht auf den Markt zurückzugreifen und die Aufträge nicht wie üblich öffentlich auszuschreiben, galten für sie zum Zeitpunkt des Sachverhalts die in Art. 12 der Richtlinie 2014/24 vorgeschriebenen Bedingungen.

    48.

    Nach der Umsetzung der Richtlinie ist weder für die vertikale bzw. In-House-Zusammenarbeit noch für die horizontale Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Einrichtungen eine öffentliche Ausschreibung erforderlich, wenn der Mitgliedstaat von seinem in Art. 12 der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen Recht, so wie es der Gerichtshof ausgelegt hat ( 20 ), Gebrauch macht und bestimmte Tatbestände vom Anwendungsbereich der Richtlinie ausschließt.

    49.

    Vor diesem Hintergrund müssen die öffentlichen Auftraggeber, wenn sich ein Staat dafür entschieden hat, die von den formalisierten Verfahren der Richtlinie 2014/24 ausgenommenen Mechanismen der Verwaltungszusammenarbeit zuzulassen, die Voraussetzungen aus Art. 12 Abs. 3 und 4 erfüllen, wenn sie beabsichtigen, für die Beschaffung bestimmter Dienstleistungen oder Lieferungen keine öffentliche Ausschreibung durchzuführen.

    C.   Fünfte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑384/21

    1. Gegenstand

    50.

    Die fünfte Vorlagefrage in der Rechtssache C‑384/21 betrifft den in Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 festgelegten Ausschluss vom Anwendungsbereich der Richtlinie.

    51.

    Anders als bei den in Art. 12 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen Ausschlusstatbeständen, wonach über den erfolgreichen Bieter des öffentlichen Auftrags durch den oder die öffentlichen Auftraggeber eine Kontrolle ausgeübt werden muss, beruht der Ausschlusstatbestand in Abs. 4 auf der Zusammenarbeit von öffentlichen Auftraggebern, zwischen denen kein solches Kontrollverhältnis besteht.

    52.

    Die Vorlagefrage ergibt sich aus der Argumentation, die die Gemeinde Farciennes hilfsweise für den Fall vorträgt, dass das vorlegende Gericht angesichts der Beziehungen zwischen der SLSP Sambre et Biesme und IGRETEC die Voraussetzungen von Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie als nicht erfüllt ansieht ( 21 ).

    53.

    Die Gemeinde Farciennes macht geltend, dass bei Nichtvorliegen der in Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie 2014/24 vorgesehenen gemeinsamen Kontrolle immer noch eine horizontale Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern gemäß Art. 12 Abs. 4 denkbar sei. Bei der Zusammenarbeit zwischen ihr, der SLSP Sambre et Biesme und IGRETEC handele es sich um eine solche Zusammenarbeit.

    54.

    Aus ihren schriftlichen Erklärungen schließe ich, dass die Gemeinde Farciennes zwei Ansätze für die Auslegung der Verhältnisse zwischen den beteiligten öffentlichen Einrichtungen vorschlägt:

    Nach dem ersten Ansatz, den die Gemeinde Farciennes zu bevorzugen scheint, handelt es sich um eine horizontale Zusammenarbeit, die für die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme dem Zweck dient, das Vorhaben eines Öko-Viertels zu realisieren, und für IGRETEC dem Zweck, ihren Auftrag, ihre Partner bei deren Projekten zu unterstützen, zu erfüllen. Der von den Parteien geschlossene Vertrag würde folglich der Verwirklichung gemeinsamer Ziele dienen ( 22 ).

    Beim zweiten Ansatz führt das Bestehen eines In-House-Verhältnisses zwischen der Gemeinde Farciennes und IGRETEC dazu, dass die Gemeinde, wenn sie IGRETEC mit der Erbringung bestimmter Dienstleistungen betraut, ihre eigenen Leistungen in Anspruch nimmt, was nach Ansicht der Gemeinde Farciennes bei ihrer Zusammenarbeit mit der SLSP Sambre et Biesme zu berücksichtigen ist ( 23 ).

    55.

    In beiden Fällen würde das Verhältnis unter Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 fallen. Eine öffentliche Ausschreibung wäre somit nicht erforderlich.

    2. Zusammenarbeit im Sinne von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24

    56.

    Nach Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 fällt ein öffentlicher Auftrag nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie, wenn alle drei in den Buchst. a, b und c aufgeführten Bedingungen erfüllt sind ( 24 ).

    57.

    Die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen sich auf den Begriff der „Zusammenarbeit“ im Sinne dieses Artikels, der autonom auszulegen ist ( 25 ).

    58.

    An anderer Stelle ( 26 ) habe ich erläutert, dass die Bestimmung die Rechtsprechung des Gerichtshofs aus der Zeit vor der Richtlinie übernimmt, jedoch noch weiter geht: Die Regelung wird eindeutiger und flexibler gestaltet, und ihre Voraussetzungen werden in gewissem Maße an die Voraussetzungen anderer Lösungsansätze angepasst, mit denen bestimmte Aufträge öffentlicher Auftraggeber vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 ausgenommen werden können ( 27 ).

    59.

    Dies erklärt, dass sich nach der Richtlinie 2014/24 eine horizontale Zusammenarbeit, die nicht den formalisierten Verfahren der öffentlichen Auftragsvergabe unterliegt, durch folgende Merkmale auszeichnet:

    Anders als nach der früheren Rechtsprechung ( 28 ) ist nicht erforderlich, dass die Zusammenarbeit der gemeinsamen Erfüllung einer allen beteiligten öffentlichen Auftraggebern gemeinsam obliegenden öffentlichen Aufgabe dient ( 29 ).

    Die Zusammenarbeit kann eine Tätigkeit zur Unterstützung einer öffentlichen Dienstleistung umfassen (bzw. sich darin konkretisieren), sofern diese Tätigkeit zur wirksamen Erfüllung beiträgt ( 30 ).

    Die von den öffentlichen Auftraggebern erbrachten Dienstleistungen müssen nicht notwendigerweise identisch sein. Solange die Voraussetzung der gemeinsamen und außerdem dem Gemeinwohl dienenden Ziele eingehalten wird, ist es zulässig, dass sich die Leistungen ergänzen ( 31 ).

    Solange sich die teilnehmenden Stellen verpflichtet haben, einen Beitrag zur gemeinsamen Ausführung der betreffenden öffentlichen Dienstleistung zu leisten, ist es nicht erforderlich, dass sich alle gleichermaßen an der Zusammenarbeit beteiligen. Dies kann auch auf der Grundlage einer Aufgabenteilung oder einer bestimmten Spezialisierung erfolgen ( 32 ).

    60.

    Unerlässlich ist jedoch, dass die Parteien mit der Zusammenarbeit von allen Kooperationspartnern angestrebte gemeinsame Ziele verfolgen. Hierbei handelt es sich um ein wesentliches Element der horizontalen Zusammenarbeit, das einen Unterschied zur direkten Vergabe an vom öffentlichen Auftraggeber kontrollierte Einrichtungen ausmacht.

    61.

    So hat der Gerichtshof auch im Urteil Remondis II entschieden, in dem er auf die „ihrem Wesen nach kollaborative Dimension“ der Zusammenarbeit im Sinne von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 verweist. Diese Dimension manifestiert sich u. a. in der Ausarbeitung einer Kooperationsvereinbarung, in der die Einrichtungen gemeinsam ihren Bedarf und die Lösungen dafür definieren ( 33 ).

    62.

    Außerdem beruht eine horizontale Zusammenarbeit auf einem kooperativen Konzept, d. h. auf gegenseitigen Verpflichtungen der beteiligten Auftraggeber. Diese Verpflichtungen gehen über die Erbringung einer bestimmten Dienstleistung einerseits und ihre Vergütung andererseits hinaus, wie im Urteil Remondis II ( 34 ) klargestellt wird.

    63.

    Der Begriff des „kooperativen Konzepts“, der im 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24 genannt wird, entspricht dem Vorschlag, eine „echte Zusammenarbeit“ zu fordern, und diese wiederum „umfasst wechselseitige Rechte und Pflichten der Parteien“ ( 35 ). Ausgeschlossen werden soll, dass einer der öffentlichen Auftraggeber „bloßer ‚Käufer‘“ ( 36 ) der entsprechenden Bauleistungen, Dienstleistungen oder Lieferungen ist.

    64.

    Für jegliche Vereinbarung, für die Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 in Anspruch genommen werden soll, ist wesentliche Voraussetzung, dass es sich um eine echte Zusammenarbeit handelt. So lässt sich diese Form der horizontalen Zusammenarbeit von der vertikalen bzw. In-House-Zusammenarbeit sowie von öffentlichen Vergabeverfahren unterliegenden Verträgen abgrenzen, bei denen eine der Parteien eine Aufgabe gemäß den Vorgaben der anderen Partei ausführt, die dafür lediglich zahlt ( 37 ).

    3. In der Ausgangsrechtssache

    a) Erstes Szenario

    65.

    Um das Bestehen einer horizontalen Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde Farciennes, der SLSP Sambre et Biesme und IGRETEC zu untermauern, stellt die Gemeinde ein erstes Szenario vor.

    66.

    Zusammenfassend wiederhole ich den Sachverhalt wie folgt:

    Die SLSP Sambre et Biesme und die Gemeinde Farciennes beschlossen, ihre jeweiligen Projekte der Wohnraumsanierung und Stadterneuerung in einem bestimmten Viertel gemeinsam durchzuführen.

    Zu diesem Zweck schlossen sie einen Rahmenvertrag, bei dem IGRETEC nicht Vertragspartner war.

    IGRETEC wurde infolge eines Auftrags über die für die Umsetzung des Öko-Viertels erforderlichen Leistungen miteinbezogen. Die Beauftragung erfolgte nach dem Beschluss der zwei öffentlichen Auftraggeber, das Projekt gemeinsam durchzuführen.

    67.

    Nach meiner Ansicht fällt die beschriebene Dreierbeziehung nicht unter Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24. Ich stimme insoweit mit dem vorlegenden Gericht überein, das feststellt: „Der bloße Umstand, dass [IGRETEC] diese Aufgaben im Rahmen des zwischen der Gemeinde Farciennes und der SLSP Sambre et Biesme geschlossenen Vertrags zur Verwirklichung des Projekts eines Öko-Viertels in Farciennes wahrnimmt, bedeutet … nicht, dass IGRETEC selbst an dem Projekt mitarbeitet oder dass sie ein gemeinsames Ziel mit den Parteien dieses Vertrags verfolgt“ ( 38 ).

    68.

    Angesichts des vom vorlegenden Gericht beschriebenen Sachverhalts veranlassen mich mehrere Gründe dazu, die von ihm vorgenommene Würdigung, die auch von der Kommission geteilt wird, zu bestätigen. Hervorzuheben ist, dass für die Feststellung des tatsächlichen Rahmens des Rechtsstreits ausschließlich das vorlegende Gericht zuständig ist und dass diese Feststellung die Beurteilung der Beteiligung der Parteien am Rechtsstreit und des jeweils von ihnen verfolgten Ziels beinhaltet.

    69.

    Erstens lag, wie das vorlegende Gericht mit dem vorstehend wiedergegebenen Wortlaut feststellt, keine Gemeinsamkeit der Ziele vor, die eine Zusammenarbeit zwischen den drei Einrichtungen im Sinne von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 begründen könnte ( 39 ).

    70.

    Nach einer Prüfung der Satzung von IGRETEC und ihrer Beteiligung an den streitigen Projekten kommt der Conseil d’État (Staatsrat) zu dem Schluss, dass die im vorliegenden Fall von IGRETEC erledigten Aufgaben zu „Abschnitt I“ ihres Gesellschaftszwecks zählen, d. h. zu Tätigkeiten, die auf dem Markt von auf die Projektumsetzung spezialisierten Planungs- und Verwaltungsgesellschaften angeboten werden, und nicht zu „Abschnitt II“, d. h. zu Tätigkeiten der wirtschaftlichen, sozialen und touristischen Entwicklung der Region und insbesondere der Errichtung, Finanzierung und Nutzung bestimmter Gebäude ( 40 ).

    71.

    Zweitens mangelt es auch an der kollaborativen Dimension, die sich in erster Linie durch die Definition des gemeinsamen Bedarfs und gemeinsamer Lösungen der auf eine Zusammenarbeit abzielenden Parteien auszeichnet. In dieser Phase kann IGRETEC die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme professionell dabei unterstützen, den Bedarf des Projekts eines Öko-Viertels, das sie beide errichten wollen, zu ermitteln und zu erfassen. Für IGRETEC handelt es sich hierbei jedoch um fremden Bedarf.

    72.

    Drittens werden die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme zwar nach Vorschlägen von IGRETEC ( 41 ) tätig, jedoch scheint die Strategie zur optimalen Aufteilung und Bündelung der Ressourcen der Beteiligten auf die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme beschränkt zu sein. Tatsächlich erbringt IGRETEC keine öffentlichen Dienstleistungen gemeinsam mit der Gemeinde Farciennes und der SLSP Sambre et Biesme.

    73.

    Schließlich erfüllt die Einbindung von IGRETEC in die Beziehung zwischen den beiden öffentlichen Auftraggebern ( 42 ) über den Vertrag über Bauleitungsunterstützung und Leistungen auf den Gebieten Recht und Umwelt nicht die Voraussetzungen einer echten Zusammenarbeit. Mit dem Vertrag verpflichten sich die Gemeinde Farciennes und die SLSP Sambre et Biesme gegenüber IGRETEC nicht anders, als sie es bei einer öffentlichen Ausschreibung tun würden: Sie fordern die von IGRETEC angebotenen Leistungen und verpflichten sich im Gegenzug lediglich zu einer Zahlung.

    b) Zweites Szenario

    74.

    Das zweite Szenario besteht aus einer Kombination aus horizontaler und vertikaler Zusammenarbeit, bei der IGRETEC, die von einem der beiden Beteiligten der horizontalen Zusammenarbeit (der Gemeinde Farciennes) kontrolliert wird, eine Dienstleistung auch für die andere (die SLSP Sambre et Biesme) erbringt und von beiden bezahlt wird.

    75.

    Nach Meinung der Gemeinde Farciennes nutzt sie, wenn sie IGRETEC mit der Bauleitungsunterstützung und Leistungen auf den Gebieten Recht und Umwelt beauftragt, die eigenen Ressourcen der Gemeinde. Dieser Umstand müsse auch im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde und der SLSP Sambre et Biesme berücksichtigt werden.

    76.

    Ich kann jedoch dieser Argumentation, die die Gemeinde Farciennes nachrangig (im Rahmen von hilfsweise zum Hauptvorbringen vorgebrachten Gründen) vorträgt und vielleicht deshalb nicht weiter ausführt, nicht folgen.

    77.

    Sofern ich es richtig verstehe, vertritt die Gemeinde Farciennes den Standpunkt, dass die beiden an der vertikalen Zusammenarbeit beteiligten Einrichtungen (IGRETEC und die Gemeinde selbst) aufgrund dieses Verhältnisses und im Rahmen der horizontalen Zusammenarbeit mit einer dritten Einrichtung eine einzige Einrichtung bilden ( 43 ). Es sei somit nicht erforderlich, dass beide den Rahmenvertrag mit der SLSP Sambre et Biesme unterzeichneten.

    78.

    Ich teile diese Auffassung nicht. Bei der vertikalen bzw. In‑House-Zusammenarbeit sind der öffentliche Auftraggeber und die instrumentale Einrichtung, über die er eine Kontrolle ausübt, die der Kontrolle über seine eigenen Dienststellen entspricht, sowohl vor als auch nach Abschluss eines öffentlichen Auftrags formal getrennte Einrichtungen.

    79.

    Das Bestehen eines In-House-Verhältnisses zwischen der Gemeinde Farciennes und IGRETEC reicht also nicht aus, um die Bedingungen für eine horizontale Zusammenarbeit mit der SLSP Sambre et Biesme zu erfüllen.

    V. Ergebnis

    80.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Conseil d’État (Staatsrat, Belgien) wie folgt zu antworten:

    1.

    Ein öffentlicher Auftraggeber, der einen in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG fallenden öffentlichen Auftrag ohne Bindung an die darin vorgesehenen Vergabeverfahren vergeben möchte, muss ab dem Ablauf der Frist für die Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht, wenn die Umsetzung zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfolgt ist, die in Art. 12 der Richtlinie vorgesehenen Bedingungen erfüllen.

    2.

    Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 ist dahin auszulegen, dass

    keine Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern vorliegt, wenn die Beziehung zwischen ihnen, in deren Rahmen sie sich zur Erbringung ihrer jeweiligen Dienstleistungen verpflichten, nicht auf gemeinsame Ziele ausgerichtet ist;

    die Bestimmung nicht auf eine Beziehung zwischen unabhängigen öffentlichen Auftraggebern anwendbar ist, bei der die eine Partei von der anderen Partei eine Dienstleistung ausschließlich als Gegenleistung für eine Geldzahlung erhält.


    ( 1 ) Originalsprache: Spanisch.

    ( 2 ) Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Februar 2014 über die öffentliche Auftragsvergabe und zur Aufhebung der Richtlinie 2004/18/EG (ABl. 2014, L 94, S. 65) in der durch die Delegierte Verordnung (EU) 2015/2170 der Kommission vom 24. November 2015 (ABl. 2015, L 307, S. 5) geänderten Fassung.

    ( 3 ) Gemeinwirtschaftliche Wohnbaugesellschaft Sambre et Biesme (im Folgenden: SLSP Sambre et Biesme).

    ( 4 ) Interkommunale für die Verwaltung und Durchführung technischer und wirtschaftlicher Studien (im Folgenden: IGRETEC).

    ( 5 ) Die Beteiligung betrug 0,0000000197 % der stimmberechtigten Anteile (S. 26 des Vorlagebeschlusses in der Rechtssache C‑383/21) bzw. 0,0000049 % der Anteile (S. 39 des Vorlagebeschlusses in der Rechtssache C‑384/21).

    ( 6 ) „Wahl der Bauleitungsunterstützung für die Durchführung von Aufträgen über Dienstleistungen, Bauarbeiten und Baubetreuung und für die Realisierung des Stadterneuerungsvorhabens“.

    ( 7 ) Das Leitungsorgan besteht aus vier Vertretern der Gemeinde Farciennes, zwei Vertretern der SLSP Sambre et Biesme, zwei Vertretern von IGRETEC und zwei Vertretern der Société wallonne du logement (Wallonische Wohnbaugesellschaft, im Folgenden: SWL). Die Beschlüsse im Leitungsorgan werden einvernehmlich gefasst.

    ( 8 ) Die Frist für die Umsetzung der Richtlinie 2014/24 war am 18. April 2016 abgelaufen. Das belgische Umsetzungsgesetz wurde am 17. Juni 2016 verabschiedet. Nach Inkrafttreten des Durchführungserlasses vom 18. April 2017 kommt das Gesetz seit dem 30. Juni 2017 zur Anwendung.

    ( 9 ) Schriftliche Erklärungen der Gemeinde Farciennes, Rn. 33 ff., und der SLSP Sambre et Biesme, Rn. 34 ff.

    ( 10 ) Schriftliche Erklärungen der belgischen Regierung, Rn. 17 ff. und 80 ff., sowie der Kommission, Rn. 12 ff. SWL vertritt vor dem vorlegenden Gericht die gleiche Auffassung.

    ( 11 ) Urteil Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Unmittelbare Wirkung) (C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 17).

    ( 12 ) Ebd., Rn. 18.

    ( 13 ) Ebd., Rn. 19.

    ( 14 ) Urteil vom 3. Oktober 2019, Irgita (C‑285/18, EU:C:2019:829, im Folgenden: Urteil Irgita, Rn. 43), Hervorhebung nur hier. Zu einem späteren Zeitpunkt erging der Beschluss vom 6. Februar 2020, Pia Opera Croce Verde Padova (C‑11/19, EU:C:2020:88, Rn. 40 bis 46).

    ( 15 ) Urteil Irgita, Rn. 46.

    ( 16 ) Ebd., Rn. 45, mit Verweis auf den fünften Erwägungsgrund der Richtlinie 2014/24, wonach „die Mitgliedstaaten durch diese Richtlinie in keiner Weise dazu verpflichtet werden, die Erbringung von Dienstleistungen an Dritte oder nach außen zu vergeben, wenn sie diese Dienstleistungen selbst erbringen oder die Erbringung durch andere Mittel als öffentliche Aufträge im Sinne dieser Richtlinie organisieren möchten“.

    ( 17 ) Insoweit schließe ich mich den Schlussanträgen des Generalanwalts Wahl in der Rechtssache Portgás (C‑425/12, EU:C:2013:623, Nr. 52) an.

    ( 18 ) Urteil vom 12. Dezember 2013, Portgás (C‑425/12, EU:C:2013:829, Rn. 34).

    ( 19 ) Nach der (ordnungsgemäßen) Umsetzung sind Bestimmungen über die öffentliche Auftragsvergabe und ihre Ausnahmen in den nationalen Vorschriften geregelt. In der mündlichen Verhandlung wurde erläutert, dass der belgische Gesetzgeber die Regelung aus Art. 12 der Richtlinie 2014/24 im Wesentlichen in das Gesetz vom 17. Juni 2016 übernommen hat. Er hätte dies jedoch nicht tun müssen. Zumindest theoretisch ist es daher denkbar, dass die Richtlinie umgesetzt wird, ohne von der in Art. 12 vorgesehenen Ausnahmebefugnis Gebrauch zu machen.

    ( 20 ) Bei der Forderung, diese Bestimmung sei eng auszulegen, weil die in Art. 12 der Richtlinie 2014/24 geregelten Fälle „Ausnahmen“ bzw. „Abweichungen“ von der Anwendung der Richtlinie seien, handelt es sich um eine leere Phrase. Ohne darauf einzugehen, in welche Richtung die Auslegung zu gehen hat, möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass dieser Artikel den Anwendungsbereich der Richtlinie abgrenzt. Es handelt sich also streng genommen nicht um eine Ausnahme von dieser Regel (vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung, C‑796/18, EU:C:2020:47, Nrn. 37 und 38).

    ( 21 ) Aus der Formulierung der Frage ergibt sich, dass nach Meinung des vorlegenden Gerichts die Gemeinde Farciennes über IGRETEC eine vergleichbare Kontrolle ausübt wie über ihre eigenen Dienststellen, dass dies jedoch im Verhältnis zwischen der SLSP Sambre et Biesme und IGRETEC nicht der Fall ist.

    ( 22 ) Schriftliche Erklärungen der Gemeinde Farciennes, Rn. 115 ff., insbesondere Rn. 143 und 145.

    ( 23 ) Ebd., Rn. 115 ff., insbesondere Rn. 139 und 140.

    ( 24 ) Neben diesen Bedingungen muss die Zusammenarbeit zwischen Verwaltungen auf jeden Fall im Einklang mit den im AEUV niedergelegten Grundsätzen erfolgen, insbesondere den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit sowie den Grundsätzen der Gleichbehandlung, der Nichtdiskriminierung, der gegenseitigen Anerkennung, der Verhältnismäßigkeit und der Transparenz. Zum Verbot der Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Auftraggebern, wenn diese dazu führt, dass ein privates Unternehmen bessergestellt wird als seine Wettbewerber, vgl. Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung (C‑796/18, EU:C:2020:395, Rn. 63 ff. und Nr. 3 des Tenors).

    ( 25 ) Urteil vom 4. Juni 2020, Remondis (C‑429/19, EU:C:2020:436, im Folgenden: Urteil Remondis II, Rn. 24).

    ( 26 ) Schlussanträge in der Rechtssache Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung (C‑796/18, EU:C:2020:47, Nrn. 26 bis 28).

    ( 27 ) Vor der Richtlinie 2014/24 hatte der Gerichtshof es abgelehnt, die direkte Vergabe von Aufträgen für Leistungen zur Unterstützung einer öffentlichen Aufgabe, wie z. B. Forschungsaufträge für Architekten oder Ingenieure und die Büroreinigung, als horizontale Zusammenarbeit anzuerkennen: vgl. Urteil vom 19. Dezember 2012, Ordine degli Ingegneri della Provincia di Lecce u. a. (C‑159/11, EU:C:2012:817), für den ersten Fall und Urteil vom 13. Juni 2013, Piepenbrock (C‑386/11, EU:C:2013:385), für den zweiten Fall. Es könnte eingewendet werden, dass die Ablehnung nicht auf dem unterstützenden Charakter der Leistung beruhe, sondern auf der fehlenden Ausrichtung der Vereinbarung zwischen den Parteien auf die gemeinsame Erfüllung gemeinwirtschaftlicher Aufgaben: Ich verweise insoweit auf Rn. 34 des Urteils Ordine degli Ingegneri della Provincia di Lecce u. a. sowie auf Rn. 39 des Urteils Piepenbrock. Wie dem auch sei, ist diese Einschränkung in der geltenden Richtlinie nicht mehr vorgesehen.

    ( 28 ) Neben den in der vorstehenden Fußnote zitierten Urteilen vgl. Urteile vom 9. Juni 2009, Kommission/Deutschland (C‑480/06, EU:C:2009:357, Rn. 37), und vom 8. Mai 2014, Datenlotsen Informationssysteme (C‑15/13, EU:C:2014:303, Rn. 35). So hat es auch die Kommission in Art. 11 Abs. 4 Buchst. a ihres Vorschlags für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe (KOM[2011] 896 endg.), aufgegriffen.

    ( 29 ) Urteil vom 28. Mai 2020, Informatikgesellschaft für Software-Entwicklung (C‑796/18, EU:C:2020:395, Rn. 57 und 58 sowie Tenor).

    ( 30 ) Ebd., Rn. 59 und 60 sowie Tenor. In meinen Schlussanträgen in jener Rechtssache (C‑796/18, EU:C:2020:47, Nrn. 84 und 85) stelle ich fest, dass unterstützende Tätigkeiten, „unmittelbar und untrennbar mit der öffentlichen Dienstleistung verbunden“ sein sollten und ihr „Instrumentalcharakter derart nachhaltig [sein sollte], dass die eigentliche Dienstleistung ohne sie nicht als eine solche öffentliche Dienstleistung erbracht werden könnte“. Der Gerichtshof formuliert dies zwar anders, jedoch erscheint mir seine Formulierung nicht weniger strikt.

    ( 31 ) Als Beispiele für solche unterstützenden Leistungen sind die im Urteil vom 9. Juni 2009, Kommission/Deutschland (C‑480/06, EU:C:2009:357), genannte Abfallsammlung und ‑behandlung oder die von Generalanwalt Mengozzi in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache Datenlotsen Informationssysteme (C‑15/13, EU:C:2014:23, Nr. 59) angeführten Lehr- und Forschungstätigkeiten öffentlicher Universitäten zu nennen. In der Praxis könnte die durch die Richtlinie 2014/24 gewährte Flexibilität ins Leere gehen, wenn der Inhalt der von den einzelnen öffentlichen Auftraggebern zu erbringenden Dienstleistungen zu unterschiedlich ist, um gemeinsame Ziele für alle definieren zu können. In einem solchen Fall würde ein unverzichtbares Element der Zusammenarbeit fehlen. Es ist auch denkbar, dass aufgrund dieses Unterschieds eine gemeinsame Ausführung der entsprechenden Dienstleistungen unmöglich ist, weil der eine öffentliche Auftraggeber kein Interesse an den Dienstleistungen des anderen hat oder weil die Komplementarität nicht wechselseitig, sondern einseitig ist. In einem solchen Fall liegt, wenn sich das Verhältnis zwischen den Parteien darauf beschränkt, dass der an der Dienstleistung des anderen interessierte öffentliche Auftraggeber diese gegen Entgelt erwirbt, keine Zusammenarbeit im Sinne von Art. 12 Abs. 4 der Richtlinie 2014/24 vor. Wahrscheinlich läge auch keine Durchführung der Zusammenarbeit vor, die ausschließlich von Erwägungen des öffentlichen Interesses bestimmt wird, wie es Art. 12 Abs. 4 Buchst. b vorschreibt: Die Berechnung eines Entgelts als Gegenleistung für eine Dienstleistung stellt kein dem Gemeinwohl dienendes Ziel dar. Der Verweis auf unterstützende Dienstleistungen (genauer gesagt auf öffentliche „Aufgaben“) findet sich in Erwägungsgrund 14(aa) des Vorschlags für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe im Anhang zum Vermerk des Generalsekretariats, Ratsdokument 14971/12 vom 19. Oktober 2012. Der Ausschluss einer Zusammenarbeit aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie war ausdrücklich von der Voraussetzung abhängig gemacht worden, dass die unterstützenden Dienstleistungen „gemeinsam“ erbracht werden können. Aufgrund ihrer Redundanz ist die Streichung dieser Voraussetzung aus der Endfassung nicht von Bedeutung.

    ( 32 ) Abs. 3 des 33. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2014/24. Der Gedanke fand sich bereits im Arbeitsdokument der Kommissionsdienststellen über die Anwendung des EU-Vergaberechts im Fall von Beziehungen zwischen öffentlichen Auftraggebern (öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit) (SEK[2011] 1169 endg.) vom 4. Oktober 2011, Nr. 3.3.2.

    ( 33 ) Urteil Remondis II, Rn. 32 und 33.

    ( 34 ) Ebd., Rn. 27.

    ( 35 ) Vorschlag für [eine] Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die öffentliche Auftragsvergabe vom 20. Dezember 2011 (KOM[2011] 896 endg.), Art. 11 Abs. 4 Buchst. a.

    ( 36 ) Der Ausdruck findet sich im Vermerk des Generalsekretariats, Ratsdokument 9315/12 vom 27. April 2012, S. 38. Im Urteil Remondis II entspricht dies Rn. 29.

    ( 37 ) Eine horizontale Zusammenarbeit kann auch bei Finanztransfers zwischen den Parteien vorliegen, nicht jedoch, wie ich betonen möchte, wenn sich der Beitrag einer der Parteien auf die bloße Zahlung beschränkt.

    ( 38 ) Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑384/21, S. 56.

    ( 39 ) Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑384/21, S. 56. Wenn es ein gemeinsames Ziel geben sollte, so geht es aus den Erklärungen der Parteien nicht hervor und ist für einen außenstehenden Beobachter nicht zu erkennen. Meiner Ansicht nach verdeutlichen diese Fragen die Schwierigkeiten, auf die ich in Fn. 31 hinweise. Ein Beispiel für eine Zusammenarbeit bei der Erbringung (bzw. durch die Erbringung) von unterstützenden Leistungen für denselben Zweck ist der Vertrag, der im Urteil vom 9. Juni 2009, Kommission/Deutschland (C‑480/06, EU:C:2009:357), geprüft wurde: vgl. dort Rn. 37. Das gemeinsame Ziel war die Rationalisierung der Behandlung von Abfällen in einer möglichst nahe gelegenen Anlage.

    ( 40 ) Vorlagebeschluss in der Rechtssache C‑384/21, S. 56 und 57. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass für den Ausschluss vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2014/24 gemäß Art. 12 Voraussetzung ist, dass der öffentliche Auftraggeber zwischen der Beschaffung der Dienstleistung über eine (vertikale oder horizontale) Zusammenarbeit zwischen Verwaltungen und der Beschaffung auf dem Markt wählen kann. In der Regel können die durch die Zusammenarbeit zwischen öffentlichen Einrichtungen erhaltenen Leistungen (auch) auf dem Markt beschafft werden.

    ( 41 ) Ihre Vorschläge konzentrieren sich auf Bereiche wie die Anzahl der Wohnungen, den Abriss oder die Sanierung bestehender Wohnungen, den Einsatz privater Kapitalbeteiligungen, die Art des öffentlichen Auftrags und vergleichbare Themen.

    ( 42 ) Wie die Kommission andeutet (Rn. 33 ihrer schriftlichen Erklärungen), erscheint IGRETEC nicht als öffentlicher Auftraggeber. Es ist nicht ersichtlich, welche Leistung IGRETEC „erwirbt“ bzw., wenn es keine Zusammenarbeit gäbe, ausschreiben müsste.

    ( 43 ) Schriftliche Erklärungen der Gemeinde Farciennes, Rn. 146 a. E.: „Definitionsgemäß kann [IGRETEC] aufgrund des In-House-Verhältnisses mit der Gemeinde Farciennes gleichgesetzt werden.“ Die Gemeinde verwies bei der mündlichen Verhandlung zwar auf eine „funktionale und organische Verbindung“ zwischen den beiden Einrichtungen, hielt jedoch ihre auf ein zwischen den Einrichtungen bestehendes In-House-Verhältnis gestützte Argumentation aufrecht.

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