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Document 62019CJ0821

Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 16. November 2021.
Europäische Kommission gegen Ungarn.
Vertragsverletzungsklage – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinien 2013/32/EU und 2013/33/EU – Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes – Unzulässigkeitsgründe – Begriffe ‚sicherer Drittstaat‘ und ‚erster Asylstaat‘ – Unterstützung von Asylbewerbern – Pönalisierung – Verbot des Betretens des Grenzgebiets des betreffenden Mitgliedstaats.
Rechtssache C-821/19.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2021:930

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

16. November 2021 ( *1 )

„Vertragsverletzungsklage – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Asylpolitik – Richtlinien 2013/32/EU und 2013/33/EU – Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes – Unzulässigkeitsgründe – Begriffe ‚sicherer Drittstaat‘ und ‚erster Asylstaat‘ – Unterstützung von Asylbewerbern – Pönalisierung – Verbot des Betretens des Grenzgebiets des betreffenden Mitgliedstaats“

In der Rechtssache C‑821/19

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 8. November 2019,

Europäische Kommission, zunächst vertreten durch J. Tomkin, A. Tokár und M. Condou-Durande, dann durch J. Tomkin und A. Tokár als Bevollmächtigte,

Klägerin,

gegen

Ungarn, vertreten durch K. Szíjjártó, M. M. Tátrai und M. Z. Fehér als Bevollmächtigte,

Beklagte,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Kammerpräsidenten A. Arabadjiev, C. Lycourgos (Berichterstatter), E. Regan und N. Jääskinen, der Kammerpräsidentin I. Ziemele und des Kammerpräsidenten J. Passer sowie der Richter M. Ilešič, J.‑C. Bonichot, A. Kumin und N. Wahl,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 23. November 2020,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 25. Februar 2021

folgendes

Urteil

1

Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c, Art. 22 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013, L 180, S. 60) und aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (ABl. 2013, L 180, S. 96), verstoßen hat, dass es

zusätzlich zu den Gründen, die in der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich genannt sind, einen neuen Grund der Unzulässigkeit von Asylanträgen eingeführt hat,

die Organisationstätigkeit, die darauf abzielt, die Einleitung eines Asylverfahrens durch Personen zu ermöglichen, die die im innerstaatlichen Recht festgelegten Voraussetzungen des Rechts auf Asyl nicht erfüllen, für strafbar erklärt und Maßnahmen ergriffen hat, die für Personen, die wegen einer solchen Straftat verfolgt werden oder bestraft worden sind, Beschränkungen mit sich bringen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2013/32

2

Art. 6 („Zugang zum Verfahren“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Stellt eine Person einen Antrag auf internationalen Schutz bei einer Behörde, die nach nationalem Recht für die Registrierung solcher Anträge zuständig ist, so erfolgt die Registrierung spätestens drei Arbeitstage nach Antragstellung.

Wird der Antrag auf internationalen Schutz bei anderen Behörden gestellt, bei denen derartige Anträge wahrscheinlich gestellt werden, die aber nach nationalem Recht nicht für die Registrierung zuständig sind, so gewährleisten die Mitgliedstaaten, dass die Registrierung spätestens sechs Arbeitstage nach Antragstellung erfolgt.

Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass diese anderen Behörden, bei denen wahrscheinlich Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden, wie Polizei, Grenzschutz, Einwanderungsbehörden und Personal von Gewahrsamseinrichtungen, über die einschlägigen Informationen verfügen und ihr Personal das erforderliche, seinen Aufgaben und Zuständigkeiten entsprechende Schulungsniveau und Anweisungen erhält, um die Antragsteller darüber zu informieren, wo und wie Anträge auf internationalen Schutz gestellt werden können.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass eine Person, die einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, tatsächlich die Möglichkeit hat, diesen so bald wie möglich förmlich zu stellen. Stellt der Antragsteller keinen förmlichen Antrag, so können die Mitgliedstaaten Artikel 28 entsprechend anwenden.

(3)   Unbeschadet des Absatzes 2 können die Mitgliedstaaten verlangen, dass Anträge auf internationalen Schutz persönlich und/oder an einem bestimmten Ort gestellt werden.

(4)   Ungeachtet des Absatzes 3 gilt ein Antrag auf internationalen Schutz als förmlich gestellt, sobald den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats ein vom Antragsteller vorgelegtes Formblatt oder ein behördliches Protokoll, sofern nach nationalem Recht vorgesehen, zugegangen ist.

…“

3

Art. 8 („Informations- und Beratungsleistungen in Gewahrsamseinrichtungen und an Grenzübergangsstellen“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Gibt es Anzeichen dafür, dass Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die sich in Gewahrsamseinrichtungen oder an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, befinden, möglicherweise einen Antrag auf internationalen Schutz stellen möchten, so stellen ihnen die Mitgliedstaaten Informationen über die Möglichkeit hierzu zur Verfügung. Die Mitgliedstaaten treffen an diesen Gewahrsamseinrichtungen und Grenzübergangsstellen Sprachmittlungsvorkehrungen, soweit dies notwendig ist, um die Inanspruchnahme des Asylverfahrens zu erleichtern.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Organisationen und Personen, die Beratungsleistungen für Antragsteller erbringen, effektiven Zugang zu Antragstellern an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen, einschließlich Transitzonen, erhalten. Die Mitgliedstaaten können Vorschriften erlassen, die die Anwesenheit dieser Organisationen und Personen an diesen Grenzübergangsstellen regeln, und insbesondere den Zugang von einer Vereinbarung mit den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten abhängig machen. Beschränkungen eines solchen Zugangs dürfen nur verhängt werden, wenn sie nach Maßgabe des nationalen Rechts für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Verwaltung der betreffenden Grenzübergangsstellen objektiv erforderlich sind, sofern der Zugang dadurch nicht erheblich behindert oder unmöglich gemacht wird.“

4

Art. 9 („Berechtigung zum Verbleib im Mitgliedstaat während der Prüfung des Antrags“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 2:

„Die Mitgliedstaaten dürfen nur eine Ausnahme machen, wenn eine Person einen Folgeantrag im Sinne von Artikel 41 stellt oder wenn sie eine Person aufgrund von Verpflichtungen aus einem Europäischen Haftbefehl oder aus anderen Gründen entweder an einen anderen Mitgliedstaat oder aber an einen Drittstaat oder an internationale Strafgerichte überstellen beziehungsweise ausliefern.“

5

Art. 12 („Garantien für Antragsteller“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Bezüglich der Verfahren des Kapitels III stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Antragsteller über folgende Garantien verfügen:

c)

Ihnen darf nicht die Möglichkeit verwehrt werden, mit dem [Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR)] oder einer anderen Organisation, die für Antragsteller nach Maßgabe des Rechts des betreffenden Mitgliedstaats Rechtsberatung oder sonstige Beratungsleistungen erbringt, Verbindung aufzunehmen.

(2)   Bezüglich der Verfahren nach Kapitel V sichern die Mitgliedstaaten allen Antragstellern Garantien zu, die den in Absatz 1 Buchstaben b bis e aufgeführten gleichwertig sind.“

6

Art. 22 („Anspruch auf Rechtsberatung und ‑vertretung in allen Phasen des Verfahrens“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 1:

„Antragsteller erhalten in allen Phasen des Verfahrens, auch nach einer ablehnenden Entscheidung, effektiv Gelegenheit, auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt oder sonstigen nach nationalem Recht zugelassenen oder zulässigen Rechtsberater in Fragen ihres Antrags auf internationalen Schutz zu konsultieren.“

7

Art. 23 („Umfang der Rechtsberatung und ‑vertretung“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 2:

„Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass der Rechtsanwalt oder sonstige Rechtsberater, der einen Antragsteller unterstützt oder vertritt, gemäß Artikel 10 Absatz 4 und Artikel 18 Absatz 2 Buchstaben b und c der Richtlinie 2013/33/EU zum Zweck der Beratung des Antragstellers Zugang zu abgeschlossenen Bereichen, wie Gewahrsamseinrichtungen oder Transitzonen, erhält.“

8

In Kapitel III („Erstinstanzliche Verfahren“) mit den Art. 31 bis 43 ist das Verfahren der Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz geregelt.

9

Art. 31 („Prüfungsverfahren“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt in Abs. 8:

„Die Mitgliedstaaten können festlegen, dass das Prüfungsverfahren im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II beschleunigt und/oder an der Grenze oder in Transitzonen nach Maßgabe von Artikel 43 durchgeführt wird, wenn

a)

der Antragsteller bei der Einreichung seines Antrags und der Darlegung der Tatsachen nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung der Frage, ob er als Flüchtling oder Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) (ABl. 2011, L 337, S. 9)] anzuerkennen ist, nicht von Belang sind, oder

b)

der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne dieser Richtlinie kommt … oder

c)

der Antragsteller die Behörden durch falsche Angaben oder Dokumente oder durch Verschweigen wichtiger Informationen oder durch Zurückhalten von Dokumenten über seine Identität und/oder Staatsangehörigkeit, die sich negativ auf die Entscheidung hätten auswirken können, getäuscht hat … oder

d)

angenommen werden kann, dass der Antragsteller ein Identitäts- oder ein Reisedokument, das die Feststellung seiner Identität oder Staatsangehörigkeit ermöglicht hätte, mutwillig vernichtet oder beseitigt hat, oder

e)

der Antragsteller eindeutig unstimmige und widersprüchliche, eindeutig falsche oder offensichtlich unwahrscheinliche Angaben gemacht hat, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, so dass die Begründung für seine Behauptung, dass er [als] Person mit Anspruch auf internationalen Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95… anzusehen ist, offensichtlich nicht überzeugend ist;

f)

der Antragsteller einen Folgeantrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der gemäß Artikel 40 Absatz 5 nicht unzulässig ist, oder

g)

der Antragsteller den Antrag nur zur Verzögerung oder Behinderung der Vollstreckung einer bereits getroffenen oder unmittelbar bevorstehenden Entscheidung stellt, die zu seiner Abschiebung führen würde, oder

h)

der Antragsteller unrechtmäßig in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats eingereist ist oder seinen Aufenthalt unrechtmäßig verlängert hat und es ohne stichhaltigen Grund versäumt hat, zum angesichts der Umstände seiner Einreise frühestmöglichen Zeitpunkt bei den Behörden vorstellig zu werden oder einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, oder

i)

der Antragsteller sich weigert, der Verpflichtung zur Abnahme seiner Fingerabdrücke gemäß der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 über die Einrichtung von Eurodac‘ für den Abgleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, und für der Strafverfolgung dienende Anträge der Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten und Europols auf den Abgleich mit Daten in Eurodac [sowie zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1077/2011 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für das Betriebsmanagement von IT‑Großsystemen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (ABl. 2013, L 180, S. 1)] nachzukommen, oder

…“

10

Art. 33 („Unzulässige Anträge“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, müssen die Mitgliedstaaten nicht prüfen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage des vorliegenden Artikels als unzulässig betrachtet wird.

(2)   Die Mitgliedstaaten können einen Antrag auf internationalen Schutz nur dann als unzulässig betrachten, wenn

a)

ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz gewährt hat;

b)

ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als erster Asylstaat des Antragstellers gemäß Artikel 35 betrachtet wird;

c)

ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Artikel 38 betrachtet wird;

d)

es sich um einen Folgeantrag handelt, bei dem keine neuen Umstände oder Erkenntnisse zu der Frage, ob der Antragsteller nach Maßgabe der Richtlinie 2011/95… als Person mit Anspruch auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zutage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden sind, oder

e)

eine vom Antragsteller abhängige Person förmlich einen Antrag stellt, nachdem sie gemäß Artikel 7 Absatz 2 eingewilligt hat, dass ihr Fall Teil eines in ihrem Namen förmlich gestellten Antrags ist, und keine Tatsachen betreffend die Situation dieser Person vorliegen, die einen gesonderten Antrag rechtfertigen.“

11

Art. 35 („Begriff des ersten Asylstaats“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„Ein Staat kann als erster Asylstaat für einen Antragsteller angesehen werden, wenn

a)

der Antragsteller in dem betreffenden Staat als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder

b)

ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Anwendung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird,

vorausgesetzt, dass er von diesem Staat wieder aufgenommen wird.

…“

12

Art. 38 („Das Konzept des sicheren Drittstaats“) der Richtlinie 2013/32 bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten können das Konzept des sicheren Drittstaats nur dann anwenden, wenn die zuständigen Behörden sich davon überzeugt haben, dass eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, in dem betreffenden Drittstaat nach folgenden Grundsätzen behandelt wird:

a)

keine Gefährdung von Leben und Freiheit aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung;

b)

keine Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne der Richtlinie 2011/95… zu erleiden;

c)

Wahrung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung nach [dem am 28. Juli 1951 in Genf unterzeichneten Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (United Nations Treaty Series, Bd. 189, S. 150, Nr. 2545 [1954]) in der durch das am 31. Januar 1967 in New York geschlossene Protokoll über die Rechtsstellung der Flüchtlinge geänderten Fassung];

d)

Einhaltung des Verbots der Abschiebung, wenn diese einen Verstoß gegen das im Völkerrecht festgelegte Verbot der Folter und grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung darstellt, und

e)

Möglichkeit, einen Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu stellen und im Falle der Anerkennung als Flüchtling Schutz gemäß [dem Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] zu erhalten.

(2)   Die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats unterliegt den Regeln, die im nationalen Recht festgelegt sind; dazu gehören

a)

Regeln, die eine Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat verlangen, so dass es aufgrund dieser Verbindung vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt;

b)

Regeln betreffend die Methodik, mit der sich die zuständigen Behörden davon überzeugen, dass das Konzept des sicheren Drittstaats auf einen bestimmten Staat oder einen bestimmten Antragsteller angewandt werden kann. Diese Methodik umfasst die Prüfung der Sicherheit des Staates im Einzelfall für einen bestimmten Antragsteller und/oder die nationale Bestimmung von Staaten, die als im Allgemeinen sicher angesehen werden;

c)

mit dem Völkerrecht vereinbare Regeln, die es ermöglichen, in Form einer Einzelprüfung festzustellen, ob der betreffende Drittstaat für einen bestimmten Antragsteller sicher ist, und die dem Antragsteller zumindest die Möglichkeit bieten, die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats mit der Begründung anzufechten, dass der betreffende Drittstaat für ihn in seiner besonderen Situation nicht sicher ist. Darüber hinaus ist dem Antragsteller die Möglichkeit einzuräumen, das Bestehen einer Verbindung gemäß Buchstabe a zwischen ihm und dem betreffenden Drittstaat anzufechten.

(4)   Erlaubt der Drittstaat dem Antragsteller nicht, in sein Hoheitsgebiet einzureisen, so müssen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass im Einklang mit den Grundsätzen und Garantien nach Kapitel II Zugang zu einem Verfahren gewährt wird.

…“

Richtlinie 2013/33

13

Art. 10 („Haftbedingungen“) der Richtlinie 2013/33 bestimmt in Abs. 4:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass Familienangehörige, Rechtsbeistand oder Berater und Personen, die von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannte einschlägig tätige Nichtregierungsorganisationen vertreten, unter Bedingungen, die den Schutz der Privatsphäre garantieren, mit Antragstellern Verbindung aufnehmen und sie besuchen können. Der Zugang zu der Hafteinrichtung darf nur dann eingeschränkt werden, wenn dies nach Maßgabe des einzelstaatlichen Rechts objektiv für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Verwaltung der Hafteinrichtung erforderlich ist und der Zugang dadurch nicht wesentlich behindert oder unmöglich gemacht wird.“

14

Art. 18 („Modalitäten der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen“) bestimmt:

„(1)   Sofern die Unterbringung als Sachleistung erfolgt, sollte eine der folgenden Unterbringungsmöglichkeiten oder eine Kombination davon gewählt werden:

a)

Räumlichkeiten zur Unterbringung von Antragstellern für die Dauer der Prüfung eines an der Grenze oder in Transitzonen gestellten Antrags auf internationalen Schutz;

b)

Unterbringungszentren, die einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten;

c)

Privathäuser, Wohnungen, Hotels oder andere für die Unterbringung von Antragstellern geeignete Räumlichkeiten.

(2)   Unbeschadet besonderer Haftbedingungen nach den Artikeln 10 und 11 in Bezug auf die Unterbringung nach Absatz 1 Buchstaben a, b und c dieses Artikels tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass

b)

Antragsteller die Möglichkeit haben, mit Verwandten, Rechtsbeistand oder Beratern, Personen, die den UNHCR vertreten, und anderen einschlägig tätigen nationalen und internationalen Organisationen sowie Nichtregierungsorganisationen in Verbindung zu treten;

c)

Familienangehörige, Rechtsbeistand oder Berater, Personen, die den UNHCR vertreten, und einschlägig tätige von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannte Nichtregierungsorganisationen Zugang erhalten, um den Antragstellern zu helfen. Der Zugang darf nur aus Gründen der Sicherheit der betreffenden Räumlichkeiten oder der Antragsteller eingeschränkt werden.

…“

Richtlinie 2002/90/EG

15

Art. 1 der Richtlinie 2002/90/EG des Rates vom 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 17) bestimmt:

„(1)   Jeder Mitgliedstaat legt angemessene Sanktionen für diejenigen fest, die

a)

einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, vorsätzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen;

b)

einer Person, die nicht Angehörige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten.

(2)   Jeder Mitgliedstaat kann beschließen, wegen der in Absatz 1 Buchstabe a) beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhängen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitäre Unterstützung der betroffenen Person ist.“

Rahmenbeschluss 2002/946/JI

16

Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2002/946/JI des Rates vom 28. November 2002 betreffend die Verstärkung des strafrechtlichen Rahmens für die Bekämpfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt (ABl. 2002, L 328, S. 1) bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen[,] um sicherzustellen, dass die in den Artikeln 1 und 2 der Richtlinie [2002/90] beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung führen können.“

17

Art. 6 des Rahmenbeschlusses bestimmt:

„Dieser Rahmenbeschluss gilt unbeschadet des Schutzes, der Flüchtlingen und Asylbewerbern nach dem internationalen Flüchtlingsrecht und anderen internationalen Menschenrechtsübereinkünften zu gewähren ist, insbesondere unbeschadet der Einhaltung der internationalen Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten nach den Artikeln 31 und 33 des [Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge] eingegangen sind.“

Ungarisches Recht

18

§ 51 Abs. 2 Buchst. f des Menedékjogról szóló 2007. évi LXXX. törvény (Gesetz Nr. LXXX von 2007 über das Asylrecht) vom 29. Juni 2007 (Magyar Közlöny 2007/83) in der auf das vorliegende Verfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Asylgesetz) sieht für Asylanträge folgenden neuen Unzulässigkeitsgrund vor:

„Der Antrag ist unzulässig, wenn der Antragsteller durch ein Land nach Ungarn eingereist ist, in dem er keiner Verfolgung im Sinne von § 6 Abs. 1 ausgesetzt ist und in dem für ihn auch nicht die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden im Sinne von § 12 Abs. 1 zu erleiden, oder in dem ein angemessener Schutz gewährleistet ist.“

19

§ 51 Abs. 12 des Asylgesetzes bestimmt:

„Falls Abs. 2 Buchst. f Anwendung findet, kann der Antragsteller, sobald ihm dies mitgeteilt wurde, binnen drei Tagen erklären, dass in seinem konkreten Fall bei dem betreffenden Land die Voraussetzungen des Abs. 2 Buchst. f nicht erfüllt sind.

…“

20

§ 353/A („Erleichterung der illegalen Einwanderung“) des Büntető Törvénykönyvről szóló 2012. évi C. törvény (Gesetz Nr. C von 2012 über das Strafgesetzbuch) vom 13. Juli 2012 (Magyar Közlöny 2012/92) in der auf das vorliegende Verfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Strafgesetzbuch) bestimmt:

„1.   Wer Organisationstätigkeiten ausübt, die darauf abzielen,

a) die Einleitung eines Asylverfahrens in Ungarn durch eine Person zu ermöglichen, die in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, in dem Land ihres gewöhnlichen Aufenthalts oder in einem anderen Land, über das sie eingereist ist, nicht aus Gründen der Rasse, der Staatsangehörigkeit, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, der religiösen oder politischen Überzeugung verfolgt wird oder die keinen triftigen Grund hat, eine unmittelbare Verfolgung zu befürchten, oder

b) eine Person, die illegal nach Ungarn eingereist ist oder sich illegal dort aufhält, dabei zu unterstützen, einen Aufenthaltstitel zu erhalten,

wird mit Arrest bestraft, es sei denn, sie hat eine schwerere Straftat begangen.

(2)   Wer materielle Mittel zur Begehung einer Straftat nach Abs. 1 bereitstellt oder derartige Organisationstätigkeiten regelmäßig durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr bestraft.

(3)   Wer bei der Begehung der Straftat nach Abs. 1

a) mit Gewinnerzielungsabsicht handelt,

b) mehr als einer Person hilft oder

c) in einer Entfernung von weniger als acht Kilometern von der Grenze oder von der Grenzmarkierung, die der Außengrenze im Sinne von Art. 2 Nr. 2 der Verordnung (EU) 2016/399 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) [(ABl. 2016, L 77, S. 1)] entspricht, tätig wird, wird mit der in Abs. 2 vorgesehenen Strafe bestraft.

(4)   Die Strafe des Täters der Straftat nach Abs. 1 kann ohne Einschränkung herabgesetzt oder in Fällen, die eine besondere Behandlung verdienen, erlassen werden, wenn der Täter die Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, spätestens bei der Einleitung des Ermittlungsverfahrens offenlegt.

(5)   Organisationstätigkeiten im Sinne dieses Artikels umfassen insbesondere die folgenden, zu einem in Abs. 1 genannten Zweck vorgenommenen Tätigkeiten:

a) die Durchführung einer Überwachung an den Grenzen, an der Grenze oder an einer Grenzmarkierung, die der Außengrenze Ungarns nach Art. 2 Nr. 2 der Verordnung 2016/399 entspricht,

b) die Erstellung oder Verbreitung von Informationsmaterial oder die Beauftragung Dritter mit der Vornahme dieser Handlungen und

c) den Aufbau oder die Unterhaltung eines Netzwerks.“

21

§ 46/F („Rückführungsmaßnahmen im Rahmen der Grenzsicherung“) des Rendőrségről szóló 1994. évi XXXIV. törvény (Gesetz Nr. XXXIV von 1994 über die Polizei) vom 20. April 1994 (Magyar Közlöny 1994/41) in der auf das vorliegende Verfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Polizeigesetz) bestimmt:

„Um die Ordnung an der Staatsgrenze aufrechtzuerhalten und etwaige Störungen der Grenzüberwachung zu verhindern, hindern die Polizeibeamten jede Person, die wegen einer Straftat des rechtswidrigen Überquerens des Grenzzauns (§ 352/A des Strafgesetzbuchs), der Beschädigung des Grenzzauns (§ 352/B des Strafgesetzbuchs), der Behinderung des Baus oder der Instandhaltung des Grenzzauns (§ 352/C des Strafgesetzbuchs), des Menschenhandels (§ 353 des Strafgesetzbuchs), der Beihilfe zum illegalen Aufenthalt (§ 354 des Strafgesetzbuchs) oder der Erleichterung der illegalen Einwanderung (§ 353/A des Strafgesetzbuchs) strafrechtlich verfolgt wird, daran, in einen weniger als acht Kilometer von der Grenze oder von der Grenzmarkierung, die der Außengrenze des ungarischen Hoheitsgebiets gemäß Art. 2 Nr. 2 der Verordnung [2016/399] entspricht, entfernten Bereich einzudringen, oder verlangen von einer solchen Person, sofern sie sich innerhalb dieses Bereichs befindet, diesen Bereich zu verlassen.“

Vorprozessuales Verfahren

22

Die Kommission übersandte Ungarn am 19. Juli 2018 ein Mahnschreiben, in dem sie die Auffassung vertrat, dass es unionsrechtswidrig sei, dass der ungarische Gesetzgeber die Gründe für die Unzulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz ausgeweitet, Organisationstätigkeiten, die darauf abzielten, es Personen, die nach ungarischem Recht keinen Anspruch auf Asyl hätten, die Stellung von Asylanträgen zu erleichtern, pönalisiert und die Bewegungsfreiheit der Adressaten dieser Pönalisierung eingeschränkt habe.

23

Ungarn antwortete auf dieses Mahnschreiben mit einem Schreiben, das am 19. September 2018 bei der Kommission einging. Ungarn vertrat darin die Auffassung, dass die ungarische Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar sei.

24

Die Kommission gab am 24. Januar 2019 eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, in der sie u. a. geltend machte, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c, Art. 22 Abs. 1 und Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen habe, dass es

zusätzlich zu den Gründen, die in der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich genannt seien, einen neuen Grund der Unzulässigkeit von Asylanträgen eingeführt habe,

die Organisationstätigkeit der Erleichterung der Einleitung eines Asylverfahrens für strafbar erklärt habe und

dass es restriktive Maßnahmen gegen Personen, die beschuldigt würden, eine solche Straftat begangen zu haben, oder wegen einer solchen Straftat bereits verurteilt seien, eingeführt habe.

25

In seiner Antwort vom 23. März 2019 hielt Ungarn an seiner Auffassung fest, dass die betreffenden ungarischen Rechtsvorschriften mit dem Unionsrecht vereinbar und angesichts des Notstands der Masseneinwanderung in sein Hoheitsgebiet auch gerechtfertigt seien.

26

Die Kommission hielt die von Ungarn vorgebrachten Argumente für nicht überzeugend. Sie beschloss deshalb, die vorliegende Klage zu erheben.

Zu § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes

Vorbringen der Parteien

27

Die Kommission ist der Auffassung, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 verstoßen habe, dass es in § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes vorgesehen habe, dass ein Asylantrag als unzulässig zu betrachten sei, wenn der Antragsteller über ein Land eingereist sei, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt sei oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet sei.

28

Dieser Unzulässigkeitsgrund lasse sich keinem der in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 abschließend aufgezählten Unzulässigkeitsgründe zuordnen. Insbesondere könne nicht angenommen werden, dass er mit dem Begriff des „ersten Asylstaats“ oder dem Konzept des „sicheren Drittstaats“ im Sinne dieser Bestimmung in Einklang stehe.

29

Ungarn hat das Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal (Tompa) (C‑564/18, EU:C:2020:218), durchaus zur Kenntnis genommen, ist aber der Meinung, dass Art. 33 der Richtlinie 2013/32 nicht geeignet sei, einen angemessenen Ausgleich herzustellen zwischen der Überbelastung der Systeme der Bearbeitung von Asylanträgen durch ungerechtfertigte Anträge und den legitimen Interessen der Antragsteller, die tatsächlich eines internationalen Schutzes bedürften.

30

§ 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes ziele darauf ab, Missbrauch zu bekämpfen, indem er vorsehe, dass gemäß dem Unzulässigkeitsgrund des „sicheren Drittstaats“, wie er in Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 vorgesehen sei, ein Antrag, der von einer Person gestellt werde, die, gegebenenfalls mit einem längeren Aufenthalt, über einen Staat eingereist sei, in dem sie nicht verfolgt worden sei und in dem auch nicht die Gefahr bestehe, dass sie verfolgt werde, grundsätzlich unzulässig sei, und zwar auch dann, wenn die betreffende Person in diesem Staat keinen Antrag auf internationalen Schutz gestellt habe.

31

Dass die Vorschriften des Unionsrechts nicht genügten, um Missbrauch zu bekämpfen, zeige auch der Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Einführung eines gemeinsamen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes in der Union und zur Aufhebung der Richtlinie 2013/32/EU (COM[2016] 467 final).

Würdigung durch den Gerichtshof

32

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass, anders als Ungarn offenbar meint, der bloße Umstand, dass der Unionsgesetzgeber eine Änderung der Richtlinie 2013/32 plant, für die Prüfung der vorliegenden Rüge nicht relevant ist. Maßgeblich ist insoweit der Stand des Unionsrechts zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ungarn in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Mai 2011, Kommission/Portugal, C‑52/08, EU:C:2011:337, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33

Dies vorausgeschickt ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten nach Art. 33 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 zusätzlich zu den Fällen, in denen nach Maßgabe der Verordnung Nr. 604/2013 ein Antrag nicht geprüft wird, nicht prüfen müssen, ob dem Antragsteller der internationale Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95 zuzuerkennen ist, wenn ein Antrag auf der Grundlage von Art. 33 der Richtlinie 2013/32 als unzulässig betrachtet wird. Die Fälle, in denen die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten können, sind in Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 abschließend aufgezählt (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 149 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Wie der Gerichtshof entschieden hat, entspricht § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes keinem der in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a, b, d und e aufgeführten Unzulässigkeitsgründe (vgl. hierzu Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 151 und 161 bis 164).

35

Nach dem Wortlaut von Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 können die Mitgliedstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig betrachten, wenn ein Staat, der kein Mitgliedstaat ist, als für den Antragsteller sicherer Drittstaat gemäß Art. 38 der Richtlinie 2013/32 betrachtet wird.

36

Wie der Gerichtshof entschieden hat, geht aus Art. 38 der Richtlinie 2013/32 hervor, dass die Anwendung des Konzepts des sicheren Drittstaats voraussetzt, dass die in den Abs. 1 bis 4 dieses Artikels genannten Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 153 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nach Art. 38 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 muss zwischen der Person, die um internationalen Schutz nachsucht, und dem betreffenden Drittstaat eine Verbindung bestehen, so dass es aufgrund dieser Verbindung vernünftig erscheint, dass diese Person sich in diesen Staat begibt.

37

Im vorliegenden Fall besteht die Verbindung, die § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes zwischen der Person, die um internationalen Schutz nachsucht, und dem betreffenden Drittstaat herstellt, lediglich darin, dass diese Person über das Hoheitsgebiet dieses Staates eingereist ist.

38

Wie der Gerichtshof entschieden hat, kann der Umstand, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz das Gebiet eines Drittstaats durchreist hat, für sich genommen aber nicht die Annahme begründen, dass sie vernünftigerweise in dieses Land zurückkehren könnte (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 47).

39

Die den Mitgliedstaaten durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 für die Zwecke der Anwendung des Begriffs „sicherer Drittstaat“ auferlegte Verpflichtung, Regeln zu erlassen, die die Methodik vorsehen, mit der im Einzelfall beurteilt wird, ob der betreffende Drittstaat die Voraussetzungen erfüllt, um für den betreffenden Antragsteller als sicher angesehen zu werden, sowie die Möglichkeit des Antragstellers, das Bestehen einer Verbindung zwischen ihm und dem Drittstaat anzufechten, wäre nicht zu rechtfertigen, wenn die bloße Durchreise der Person, die um internationalen Schutz nachsucht, durch den betreffenden Drittstaat insoweit eine hinreichende oder signifikante Verbindung darstellte (Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 158 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Dass die Person, die um internationalen Schutz ersucht, über den betreffenden Drittstaat eingereist ist, kann somit nicht bereits eine „Verbindung“ mit diesem Staat im Sinne von Art. 38 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32 begründen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 159 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41

Folglich kann § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes keine Anwendung des in Art. 33 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 vorgesehenen Unzulässigkeitsgrundes bezüglich des sicheren Drittstaats darstellen (Urteil vom 19. März 2020, Bevándorlási és Menekültügyi Hivatal [Tompa], C‑564/18, EU:C:2020:218, Rn. 51) und damit entgegen dem Vorbringen von Ungarn auch keine ordnungsgemäße Umsetzung dieser Bestimmung.

42

Somit ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 verstoßen hat, dass es ermöglicht hat, dass ein Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abgelehnt wird, weil der Antragsteller über einen Staat, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt ist und in dem für ihn nicht die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist, in sein Hoheitsgebiet eingereist ist.

Zu § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs

Vorbringen der Parteien

43

Die Kommission ist der Auffassung, dass Ungarn mit dem Erlass von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs gegen Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen habe.

44

Sie macht insoweit geltend, dass der Tatbestand der Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs „weit“ und „unbestimmt“ gefasst sei.

45

Erstens fielen unter den Straftatbestand des § 353/A des Strafgesetzbuchs, obwohl dessen Einführung nach der Gesetzesbegründung durch die erhöhte Gefahr einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylverfahrens gerechtfertigt sei, nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht lediglich die vorsätzliche Einreichung eines missbräuchlichen Antrags oder die Täuschung der Behörden.

46

§ 353/A des Strafgesetzbuchs habe durch die Rechtsprechung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof, Ungarn) keine Klärung erfahren. Dieser habe es nämlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit überlassen, zu bestimmen, in welchen Fällen die Unterstützung des Asylbewerbers einer humanitären Unterstützung gleichgestellt werden könne und daher nicht strafbar sei.

47

Im Übrigen biete auch die Verpflichtung zum Nachweis einer qualifizierten Absicht des Täters der Straftat gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs Personen, die Asylbewerber unterstützten, keine hinreichenden Garantien. § 353/A des Strafgesetzbuchs beruhe nämlich auf der unzutreffenden Prämisse, dass die Person, die eine Organisationstätigkeit ausübe, um Asylbewerber zu unterstützen, im Voraus wisse, ob die betreffenden Asylbewerber die Voraussetzungen für die Gewährung von Asyl in Ungarn erfüllten. Es sei aber nicht Sache dieser Person, über die Flüchtlingseigenschaft der Asylbewerber zu befinden.

48

Zweitens erlaube § 353/A Abs. 1 des Strafgesetzbuchs in Fortsetzung von § 51 Abs. 2 Buchst. f des Asylgesetzes die Ahndung einer Organisationstätigkeit, die darauf abziele, einer Person die Stellung eines Asylantrags zu ermöglichen, die nicht in allen Ländern, über die sie eingereist ist, verfolgt werde oder die keinen triftigen Grund habe, zu befürchten, dass sie dort unmittelbar verfolgt werde.

49

Im Rahmen des Notstands der Masseneinwanderung, der in Ungarn seit 2015 ausgerufen sei, könnten Asylanträge jedoch nur in den Transitzonen Röszke (Ungarn) und Tompa (Ungarn) gestellt werden. Diese befänden sich an der serbisch-ungarischen Grenze und seien nur von Serbien aus zu erreichen. Asylanträge würden daher nach ungarischem Recht in den allermeisten Fällen als unzulässig abgelehnt. Vor diesem Hintergrund müssten Personen, die bei der Stellung von Asylanträgen Hilfe leisteten oder Informationen lieferten, zwangsläufig wissen, dass Antragsteller, die sich in einer Transitzone befänden, nur über Serbien dorthin gelangt sein könnten und dass sie nach ungarischem Recht grundsätzlich kein Asyl erhalten könnten. Daher lasse sich bei Personen, die solche Tätigkeiten ausübten, leicht Vorsatz nachweisen.

50

Drittens stelle auch der Umstand, dass die Begehung der Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 des Strafgesetzbuchs die Ausübung einer Organisationstätigkeit voraussetze, keine hinreichende Garantie dar. Die Definition der Organisationstätigkeit sei nämlich „weit“ und „unbestimmt“ gefasst, so dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die bloße Unterstützung einer Person bei der Stellung eines Asylantrags strafrechtlich geahndet werde. In § 353/A Abs. 5 des Strafgesetzbuchs würden nämlich lediglich Beispiele für Organisationstätigkeiten angeführt. Und diese Beispiele seien nicht gerade konkret. Das Urteil des Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) vom 25. Februar 2019 habe insoweit keine Rechtssicherheit geschaffen. Es sei den Gerichten der ordentlichen Gerichtsbarkeit überlassen worden, genau zu bestimmen, was eine Organisationstätigkeit sei.

51

Außerdem ergebe sich aus dem Wortlaut von § 353/A des Strafgesetzbuchs, dass eine Tätigkeit auch dann als Organisationstätigkeit im Sinne dieser Vorschrift eingestuft werden könne, wenn sie nicht regelmäßig ausgeübt werde und nur einer einzigen Person geholfen werden solle, und dass sich eine Person, die eine zivilgesellschaftliche Organisation, die Asylbewerbern, die sich in einer Transitzone befänden, Unterlagen über die Asylvorschriften der Union zur Verfügung stelle, finanziell unterstütze, auch wenn dies nur in geringem Umfang geschehe, strafbar machen könne.

52

Ungeachtet des Ziels des Gesetzes, wie er sich aus der Gesetzesbegründung ergebe, nämlich der Senkung der Zahl missbräuchlicher und betrügerischer Asylanträge, würde § 353/A des Strafgesetzbuchs daher für nahezu jede Person, die die Einleitung eines Asylverfahrens in Ungarn unterstütze, die Gefahr einer Strafverfolgung begründen. Insoweit hat die Kommission in der mündlichen Verhandlung weiter ausgeführt, dass jede im Asylverfahren gewährte Unterstützung als Unterstützung bei der Einleitung eines solchen Verfahrens angesehen werden könne. Denn sobald die gerichtsähnliche Behörde bzw. die Verwaltungsstelle eines Mitgliedstaats, die für die Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz zuständig und befugt sei, erstinstanzliche Entscheidungen über diese Anträge zu erlassen (im Folgenden: Asylbehörde), damit beginne, die Angelegenheit zu prüfen, träfen den Antragsteller im Hinblick auf den Nachweis seines Anspruchs auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus eine ganze Reihe von Verpflichtungen.

53

§ 353/A des Strafgesetzbuchs könne auch nicht als Umsetzung der Richtlinie 2002/90 in ungarisches Recht angesehen werden. Der Tatbestand dieser Vorschrift decke sich nicht mit dem Helfen bei der rechtswidrigen Einreise, der rechtswidrigen Durchreise und dem rechtswidrigen Aufenthalt im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2002/90.

54

Die Kommission gelangt deshalb als Erstes zu der Einschätzung, dass § 353/A des Strafgesetzbuchs nicht mit Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 vereinbar sei.

55

Da praktisch nahezu jede Organisation, jeder ehrenamtliche Helfer und jeder Rechtsanwalt, der eine Organisationstätigkeit im Sinne von § 353/A des Strafgesetzbuchs ausübe, strafrechtlicher Verfolgung ausgesetzt sei, stehe zu befürchten, dass der Zugang von Organisationen und Personen, die Beratungsleistungen für Asylbewerber, die an Grenzübergangsstellen an den Außengrenzen und in den Transitzonen vorstellig würden, erbrächten, praktisch unmöglich werde.

56

Zwar sei Ungarn nach Art. 8 Abs. 2 Satz 3 der Richtlinie 2013/32 befugt, zu regeln, wer in die Transitzonen einreisen dürfe, um dort Asylbewerber rechtlich zu beraten. Solche Beschränkungen dürften jedoch nur verhängt werden, wenn sie für die Sicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Verwaltung der betreffenden Grenzübergangsstellen objektiv erforderlich seien und sofern der Zugang dadurch nicht erheblich behindert oder unmöglich gemacht werde. Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen für die Anwendung der Ausnahmen der öffentlichen Ordnung und der öffentlichen Sicherheit jedoch nicht erfüllt, und § 353/A des Strafgesetzbuchs sehe auch nicht vor, dass überprüft werde, ob sie erfüllt sind.

57

Als Zweites vertritt die Kommission die Auffassung, dass Ungarn gegen seine Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 verstoßen habe. Nach § 353/A des Strafgesetzbuchs könne sich nämlich jede Person strafbar machen, die gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 eine Organisationstätigkeit ausübe, mit der die Einleitung eines Asylverfahrens unterstützt werde, insbesondere durch die Erteilung von Informationen über die Rechtsberatung oder die für die Stellung eines Antrags erforderlichen Formalitäten.

58

Als Drittes macht die Kommission geltend, dass § 353/A des Strafgesetzbuchs auch nicht mit Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 vereinbar sei. Würden nämlich Rechtsberater, insbesondere Rechtsanwälte, wegen der in Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 genannten Dienstleistungen strafrechtlich verfolgt, stünden sie Asylbewerbern nicht mehr zur Verfügung, und zwar auch dann nicht, wenn ein Asylantrag abgelehnt werde.

59

Als Viertes macht die Kommission geltend, dass die beanstandeten ungarischen Rechtsvorschriften auch nicht mit Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 vereinbar seien. Die Transitzonen seien nämlich Einrichtungen der Haft im Sinne von Art. 2 Buchst. h der Richtlinie 2013/33 gleichzusetzen. Asylbewerber, die sich in den Transitzonen befänden, fielen daher unter Art. 10 der Richtlinie 2013/33. Das dort in Abs. 4 vorgesehene Recht werde durch § 353/A des Strafgesetzbuchs aber ausgehöhlt.

60

Ungarn macht als Erstes geltend, dass § 353/A Abs. 1 des Strafgesetzbuchs wegen der Verwendung des Ausdrucks „die darauf abziel[e]“ nur dahin verstanden werden könne, dass mit ihm der Tatbestand einer vorsätzlichen Straftat eingeführt werde. Daher könne eine Person nur dann nach § 353/A des Strafgesetzbuchs bestraft werden, wenn die Behörden jenseits vernünftiger Zweifel nachweisen könnten, dass sie in dem Wissen gehandelt habe, dass die Person, in deren Interesse sie die Organisationstätigkeit ausgeübt habe, nicht verfolgt werde oder deren insoweit bestehende Furcht unbegründet sei, und dass sie die Absicht gehabt habe, dieser Person durch ihre Organisationstätigkeit die Einleitung eines Asylverfahrens oder die Erlangung eines Aufenthaltstitels zu ermöglichen.

61

In seinem Urteil vom 25. Februar 2019 habe der Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) diese Auslegung bestätigt und dabei betont, dass eine uneigennützige Organisationstätigkeit, mit der der Verpflichtung zur Unterstützung von Hilfsbedürftigen nachgekommen werde, nicht unter den Tatbestand von § 353/A des Strafgesetzbuchs fallen könne. Diese Auslegung des Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) sei für die Gerichte der ordentlichen Gerichtsbarkeit bindend.

62

Im Übrigen gehe aus der Gesetzesbegründung zu § 353/A des Strafgesetzbuchs eindeutig hervor, dass mit dieser Vorschrift das Ziel verfolgt werde, die Unterstützung der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylverfahrens und die Unterstützung der betrügerischen Einwanderung sowie Handlungen zur Organisation solcher Tätigkeiten zu bekämpfen. Daher müssten die ungarischen Behörden für die Zwecke der Strafverfolgung nachweisen, dass der Täter die Absicht gehabt habe, Personen, die einen Antrag auf internationalen Schutz stellen wollten, dabei zu unterstützen, die geltenden Rechtsvorschriften zu umgehen, das Asylsystem zu missbrauchen oder sich den Vorschriften über die Aufenthaltstitel zu entziehen. Die Straftat gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs könne daher nicht von gutgläubigen Personen oder Organisationen begangen werden, die nicht beabsichtigten, rechtswidrige Ziele zu erreichen oder das Recht zu umgehen.

63

Eine Person, die bei der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz unterstütze und wisse, dass der Antragsteller höchstwahrscheinlich keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe, begehe somit nicht die Straftat gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs. Anders als die Kommission geltend mache, schließe der Umstand, dass eine Person grundsätzlich keinen Anspruch auf Asyl habe, weil sie über einen sicheren Drittstaat eingereist sei, nicht bereits von vornherein aus, dass sie als Person angesehen werden könne, die Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft habe. Der gemäß § 51 Abs. 12 des Asylgesetzes wegen der Durchreise bestehende Grund für die Unzulässigkeit ihres Antrags sei nämlich widerlegbar.

64

Als Zweites macht Ungarn geltend, dass der Begriff „Organisation“ auch Tatbestandsmerkmal anderer Straftaten des Strafgesetzbuchs sei. Die beispielhafte Aufzählung in § 353/A Abs. 5 des Strafgesetzbuchs erschwere die Auslegung dieses Begriffs durch die Gerichte nicht, sondern erleichtere sie.

65

Außerdem könne eine solche Organisationstätigkeit nicht mit der bloßen Erteilung von Ratschlägen oder Informationen gleichgesetzt werden. Mit dem Begriff „Organisation“ sei eine komplexere und umfassendere Verhaltensweise gemeint, mit der mittels Koordinierung ein ganz bestimmtes, abgestimmtes Ziel erreicht werden solle. In seinem Urteil vom 25. Februar 2019 habe der Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) im Übrigen entschieden, dass die Erbringung einer Dienstleistung der rechtlichen Vertretung als solche nicht der Ausübung einer Organisationstätigkeit im Sinne von § 353/A des Strafgesetzbuchs gleichkomme. Zudem sei die Ausübung der Tätigkeiten der Rechtsberatung, der Erteilung von Auskünften oder der Unterstützung durch die ungarische Asylregelung ausdrücklich garantiert.

66

Als Drittes hat Ungarn in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass die Unterstützung eines Asylbewerbers nur dann strafbar sei, wenn sie die Einleitung des Asylverfahrens ermögliche. Deshalb falle eine Unterstützung, die nach der Stellung eines Asylantrags gewährt werde, nicht unter den Tatbestand von § 353/A des Strafgesetzbuchs. Die Bestimmungen des Unionsrechts, deren Verletzung die Kommission geltend mache, bezögen sich jedoch allesamt ausschließlich auf Personen, die internationalen Schutz beantragten. Ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser erwerbe die Eigenschaft als Antragsteller aber erst mit der förmlichen Stellung seines Antrags.

67

Als Viertes macht Ungarn geltend, dass die Kommission ihr Vorbringen, dass § 353/A des Strafgesetzbuchs abschreckende Wirkung habe, nicht mit objektiven Tatsachen belegt habe. Es obliege aber der Kommission, dem Gerichtshof die Informationen zu liefern, die dieser benötige, um überprüfen zu können, ob die von ihr behauptete Vertragsverletzung vorliege. Die Kommission könne sich insoweit nicht auf irgendwelche Vermutungen stützen.

68

Als Fünftes macht Ungarn geltend, dass § 353/A des Strafgesetzbuchs, auch wenn er nicht der Umsetzung der Richtlinie 2002/90 in ungarisches Recht diene, im Einklang mit den Zielen dieser Richtlinie erlassen worden sei, nämlich um kriminelle Verhaltensweisen zu ahnden, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Richtlinie 2002/90 noch nicht bekannt gewesen seien, aber in engem Zusammenhang mit den in deren Art. 1 genannten Handlungen stünden.

69

Als Sechstes macht Ungarn schließlich geltend, dass der Arrest in den Transitzonen keine Haftmaßnahme darstelle. Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 komme bei der Prüfung der vorliegenden Klage daher überhaupt nicht zum Tragen.

Würdigung durch den Gerichtshof

70

Die Kommission ist im Wesentlichen der Auffassung, dass Ungarn dadurch, dass es die Organisationstätigkeit, die darauf abziele, die Einleitung eines Asylverfahrens durch Personen zu ermöglichen, denen die Flüchtlingseigenschaft nach den in seinem nationalen Recht festgelegten Kriterien nicht zuerkannt werden könne, für strafbar erklärt habe, die durch Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie durch Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 garantierten Rechte in ungerechtfertigter Weise beschränkt habe.

71

Die Rüge der Kommission ist folglich dahin zu verstehen, dass sie gegen die Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs gerichtet ist, die in § 353/A Abs. 2, 3 und 5 des Strafgesetzbuchs näher bestimmt wird.

72

Um festzustellen, ob sie begründet ist, ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs eine Beschränkung der Rechte darstellt, die sich aus den oben in Rn. 70 genannten Bestimmungen der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 ergeben, und, wenn ja, in einem zweiten Schritt, ob eine solche Beschränkung unionsrechtlich gerechtfertigt werden kann.

Zum Vorliegen einer Beschränkung

73

Um zu beurteilen, ob § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs eine Beschränkung der in den oben in Rn. 70 genannten Bestimmungen der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 verbürgten Rechte darstellt, ist zu prüfen, ob die von diesen Bestimmungen des Unionsrechts erfassten Tätigkeiten der Unterstützung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, unter den Tatbestand von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs fallen und, wenn ja, ob § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs die in diesen Bestimmungen des Unionsrechts verbürgten Rechte beschränkt.

74

Was als Erstes die Frage angeht, ob solche Tätigkeiten der Unterstützung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, unter den Tatbestand von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs fallen, ist festzustellen, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Straftat drei Tatbestandsmerkmale hat.

75

Wie sich aus dem Wortlaut von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ergibt, muss die vom Täter gewährte Unterstützung, damit der Straftatbestand erfüllt ist, erstens dazu bestimmt sein, „die Einleitung eines Asylverfahrens in Ungarn … zu ermöglichen“.

76

Ungarn folgert daraus, dass der Anwendungsbereich von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ausschließlich auf die Phasen des Asylverfahrens beschränkt sei, die vor der eigentlichen Prüfung des Asylantrags durch die Asylbehörde lägen. Mit § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs könne daher nur die Unterstützung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen bei der Stellung und anschließenden förmlichen Stellung ihres Asylantrags im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2013/32 geahndet werden.

77

Die Kommission hat nicht dargetan, dass diese Auslegung nicht zuträfe. Ihr Vorbringen, dass sich der Anwendungsbereich von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs schon allein deshalb auf die während des gesamten Asylverfahrens gewährten Unterstützungen erstrecke, weil den Antragsteller während der eigentlichen Prüfung seines Asylantrags weiterhin eine Reihe von Verpflichtungen treffe, wegen derer er auf die Unterstützung der in den oben in Rn. 70 angeführten Vorschriften des Unionsrechts genannten Personen und Organisationen angewiesen sein könne, beruht nämlich auf einer Auslegung, die ganz offensichtlich nicht mit dem Wortlaut von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs vereinbar ist.

78

In Anbetracht der dem Gerichtshof vorgelegten Informationen ist § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs somit dahin zu verstehen, dass, sobald ein Asylbewerber seinen Antrag gemäß Art. 6 Abs. 2, 3 und 4 der Richtlinie 2013/32 förmlich gestellt hat, eine Person, die ihn unterstützt, nicht wegen einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verurteilt werden kann.

79

Allerdings können die in Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie in Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Tätigkeiten ihrem Wesen nach schon vor der förmlichen Stellung des Antrags auf internationalen Schutz ausgeübt werden, so dass sie unter den Tatbestand gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs fallen können.

80

Denn zum einen erwirbt der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose die Eigenschaft einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, entgegen dem Vorbringen Ungarns, sobald er einen entsprechenden Antrag stellt (Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 100 und die dort angeführte Rechtsprechung). Zum anderen sind Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin auszulegen, dass sie auch garantieren, dass Unterstützung bei der Stellung eines solchen Antrags gewährt werden kann. Denn abgesehen davon, dass mit der Richtlinie 2013/32 das Ziel verfolgt wird, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes zu gewährleisten, und zwar schon ab der Phase der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz (vgl. hierzu Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 104 bis 106), ergibt sich aus einer Gesamtbetrachtung der Abs. 1 und 2 des Art. 8 der Richtlinie 2013/32, dass die an den Grenzübergangsstellen gewährte Unterstützung insbesondere dazu dient, den Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen, die dort vorstellig werden, die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz zu erleichtern. Außerdem sieht Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 ausdrücklich das Recht vor, in allen Phasen des Verfahrens einen Rechtsberater zu konsultieren.

81

Etwas anderes gilt hingegen für die in Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 genannten Tätigkeiten. Es ergibt sich nämlich bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass diese nur für Verfahren des Kapitels III der Richtlinie 2013/32 gilt, d. h. ab der Phase der eigentlichen Prüfung des Asylantrags. Wie insbesondere aus Art. 31 Abs. 3 der Richtlinie 2013/32 hervorgeht, beginnt diese Phase aber erst, wenn der Antrag auf internationalen Schutz förmlich gestellt worden ist und die Phase des Zugangs zum Verfahren im Sinne von Art. 6 der Richtlinie somit abgeschlossen ist.

82

Dementsprechend fallen die nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafbaren Tätigkeiten der Unterstützung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, entgegen dem Vorbringen der Kommission nicht in den Anwendungsbereich von Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32. Ihre Pönalisierung ist somit nicht geeignet, die Garantien zu beschränken, über die Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, nach dieser Bestimmung verfügen.

83

Zweitens besteht ein weiteres Tatbestandsmerkmal von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs darin, dass die Unterstützung im Rahmen einer „Organisationstätigkeit“ gewährt worden sein muss.

84

Der Begriff „Organisationstätigkeit“ ist in § 353/A des Strafgesetzbuchs nicht näher definiert. Abs. 5 dieser Vorschrift enthält lediglich eine beispielhafte Aufzählung solcher Tätigkeiten. Es ergibt sich allerdings aus dem Wortlaut der Abs. 2 und 3 der Vorschrift, dass die Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags auch dann als „Organisationstätigkeit“ im Sinne von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs angesehen werden kann, wenn sie gelegentlich und ohne Gewinnerzielungsabsicht nur einer Person gewährt wird.

85

Ungarn macht jedoch geltend, dass die Unterstützung, die einer Person gewährt werde, die in seinem Hoheitsgebiet um Asyl nachsuche, nur dann als „Organisationstätigkeit“ im Sinne von § 353/A des Strafgesetzbuchs angesehen werden könne, wenn sie im Rahmen einer gewissen, im Hinblick auf ein ganz bestimmtes, abgestimmtes Ziel vorgenommenen Koordination erfolge.

86

Dieser Umstand ist jedenfalls aber nicht geeignet, zu verhindern, dass bestimmte Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich von Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie von Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 fallen, durch § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs mit Strafe bedroht werden.

87

Denn zum einen ist in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 und Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 insbesondere das Recht bestimmter Organisationen auf Zugang zu Personen garantiert, die an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten vorstellig werden oder sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats in Haft befinden und um internationalen Schutz nachsuchen. Wie der Generalanwalt in Nr. 39 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist die Tätigkeit solcher Organisationen aber ihrem Wesen nach Gegenstand einer gewissen, im Hinblick auf ein ganz bestimmtes, abgestimmtes Ziel vorgenommenen Koordinierung. Daher ist die Unterstützung, die die Mitglieder solcher Organisationen den betreffenden Asylbewerbern gewähren, als „Organisationstätigkeit“ im Sinne von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs anzusehen.

88

Zum anderen kann, auch wenn die Organisationen, die Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, Unterstützung gewähren, in Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 nicht ausdrücklich genannt sind, nicht ausgeschlossen werden, dass die Beratung, einschließlich der Rechtsberatung, die die Person, die um internationalen Schutz nachsucht, nach dieser Bestimmung auf eigene Kosten in Anspruch nehmen kann, im Rahmen einer „Organisationstätigkeit“, wie Ungarn sie versteht, durchgeführt wird.

89

Selbst wenn solche Beratungsleistungen zugunsten einer bestimmten Person erbracht werden, ist durchaus denkbar, dass sie im allgemeineren Rahmen einer koordinierten und abgestimmten Tätigkeit erfolgen, mit der das Ziel verfolgt wird, Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, zu unterstützen.

90

Auch aus dem Urteil des Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) vom 25. Februar 2019, auf das sich Ungarn beruft, geht nicht hervor, dass Rechtsberatung, einschließlich der Beratung durch einen Rechtsanwalt, von vornherein vom Anwendungsbereich von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ausgeschlossen wäre. Zwar wird in diesem Urteil hervorgehoben, dass die rechtliche Unterstützung als solche keine nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafbare Organisationstätigkeit sei. Es wird aber nicht ausgeschlossen, dass eine solche Unterstützung, wenn die Tatbestandsmerkmale des § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs erfüllt sind, in dessen Anwendungsbereich fallen kann. Im Übrigen hat der Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) darauf hingewiesen, dass die Ausübung der Tätigkeit als Rechtsanwalt nach ungarischem Recht nicht dazu dienen dürfe, das Gesetz zu umgehen.

91

Drittens setzt die Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs Vorsatz voraus. Wie Ungarn vorgetragen hat, müssen die ungarischen Behörden, zum Nachweis dieser Straftat nämlich jenseits vernünftiger Zweifel nachweisen, dass der Täter wusste, dass die Person, der er Unterstützung gewährt hat, nach ungarischem Recht kein Asyl erlangen konnte.

92

Allerdings schließen weder Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 noch deren Art. 22 Abs. 1 noch Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 die Unterstützung von ihrem jeweiligen Anwendungsbereich aus, die einer Person gewährt wird, die um internationalen Schutz nachsucht, obwohl die Person, die die Unterstützung gewährt hat, wusste, dass der Antrag ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hat.

93

Somit ist festzustellen, dass zumindest einige der in Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie in Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Tätigkeiten der Unterstützung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, in den Anwendungsbereich von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs fallen.

94

Als Zweites ist zu prüfen, ob § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs die in den oben in Rn. 93 genannten Bestimmungen des Unionsrechts verbürgten Rechte beschränkt.

95

Was zum einen die Rechte aus Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 und Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 betrifft, ist festzustellen, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a, Abs. 2 und Abs. 3 des Strafgesetzbuchs Personen oder Organisationen, die Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, unterstützen, nicht förmlich verbietet, Drittstaatsangehörige oder Staatenlose, die an den Außengrenzen Ungarns vorstellig werden oder sich im ungarischen Hoheitsgebiet in Haft befinden und in Ungarn Asyl erhalten möchten, aufzusuchen oder Verbindung mit ihnen aufzunehmen. Indem sie eine bestimmte Art der bei dieser Gelegenheit gewährten Unterstützung strafrechtlich ahndet, beschränkt diese Vorschrift aber das Recht, Zugang zu den Asylbewerbern zu erhalten, und das Recht, mit den Asylbewerbern Verbindung aufzunehmen, die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bzw. Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 ausdrücklich anerkannt sind.

96

Was zum anderen Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 angeht, ist festzustellen, dass, auch wenn das Risiko einer strafrechtlichen Sanktion nicht der Asylbewerber selbst trägt, § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs auch die Wirksamkeit des dem Asylbewerber durch Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 garantierten Rechts beschränkt, auf eigene Kosten einen Rechtsanwalt oder sonstigen Rechtsberater zu konsultieren. § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ist nämlich geeignet, solche Dienstleistungserbringer davon abzuschrecken, den Asylbewerber zu unterstützen. Außerdem schränkt eine solcher Straftatbestand auch das den Dienstleistungsanbietern mittelbar nach Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 zustehende Recht ein, auf Anfragen von Asylbewerbern zu antworten.

97

Weiter ist hervorzuheben, dass, wie Ungarn in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, bestimmte nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafbare Tätigkeiten der Unterstützung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, mit Arrest bestraft werden, was eine freiheitsentziehende Maßnahme darstellt. Ferner sieht § 353/A Abs. 2 des Strafgesetzbuchs vor, dass der Täter, wenn die Straftat regelmäßig begangen wird, mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr bestraft werden kann. Dasselbe gilt, wenn die Straftat unter den in § 353/A Abs. 3 des Strafgesetzbuchs beschriebenen Umständen begangen wird.

98

Die Einführung solcher strafrechtlichen Sanktionen hat zweifellos eine überaus hohe abschreckende Wirkung, die Personen, die Drittstaatsangehörige oder Staatenlose unterstützen wollen, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ungarn begehren, dazu veranlassen kann, sich nicht an den Unterstützungstätigkeiten zu beteiligen, die Gegenstand der oben in Rn. 93 genannten Bestimmungen des Unionsrechts sind.

99

Somit ist festzustellen, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs als Beschränkung der in den oben in Rn. 93 genannten Bestimmungen des Unionsrechts verbürgten Rechte anzusehen ist, die im Übrigen dazu beitragen, das in Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerte Recht zu konkretisieren.

100

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorbringen von Ungarn.

101

Erstens müsste § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs, selbst unterstellt, die durch die Bestimmungen der Richtlinien 2013/32 und 2013/33 garantierten Rechte (siehe oben, Rn. 93) würden, wie Ungarn geltend macht, ausdrücklich durch andere Vorschriften des ungarischen Rechts verbürgt, gegenüber diesen nationalen Rechtsvorschriften als lex specialis angesehen werden, die deren Tragweite einschränkt, und nicht umgekehrt.

102

Zweitens ist, was die einschränkende Auslegung angeht, die der Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 25. Februar 2019 vorgenommen hat, festzustellen, dass danach uneigennützige Verhaltensweisen, mit denen dem Gebot zur Unterstützung Hilfsbedürftiger entsprochen wird und keine durch § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verbotenen Absichten verfolgt werden, nicht nach dieser Vorschrift strafbar sind.

103

Diese einschränkende Auslegung gilt jedoch nur für uneigennützige Tätigkeiten, d. h. nicht für Personen, die Asylbewerber gegen Entgelt unterstützen. Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 garantiert das Recht des Antragstellers, einen Rechtsanwalt oder sonstigen Rechtsberater zu konsultieren, aber nur auf eigene Kosten.

104

Außerdem fällt eine Unterstützung, die einem Asylbewerber ehrenamtlich gewährt wird, nach der besagten einschränkenden Auslegung nur dann nicht unter den Tatbestand von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuches, wenn das Tatbestandsmerkmal des Vorsatzes nicht erfüllt ist. Es dürfte daher ausgeschlossen sein, dass eine Person, die im Rahmen einer Organisationstätigkeit eine Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags gewährt hat, obwohl sie, wie jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, wusste, dass der Antrag nach ungarischem Recht keine Aussicht auf Erfolg hatte, nach der einschränkenden Auslegung, die der Alkotmánybíróság (Verfassungsgerichtshof) in seinem Urteil vom 25. Februar 2019 vorgenommen hat, auf keinen Fall strafbar ist.

105

Drittens war die Kommission, anders als Ungarn in seinen schriftlichen Erklärungen geltend macht, nicht verpflichtet, zum Nachweis einer Beschränkung der in den oben in Rn. 93 genannten Bestimmungen des Unionsrechts verbürgten Rechte Beweise dafür zu liefern, dass sich die abschreckende Wirkung von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs konkret darin gezeigt hat, dass der Zugang zu den Asylbewerbern abgenommen hat oder dass die tatsächlich für Asylbewerber erbrachten Beratungsleistungen zurückgegangen sind.

106

Denn der Kommission obliegt es zwar, das Vorliegen der von ihr behaupteten Vertragsverletzungen nachzuweisen, ohne sich dabei auf irgendeine Vermutung stützen zu können; beruht eine Vertragsverletzung jedoch auf dem Erlass einer Maßnahme in Form eines Gesetzes oder einer Verordnung, deren Existenz und Anwendung nicht bestritten werden, kann das Vorliegen der Vertragsverletzung durch eine rechtliche Analyse der Bestimmungen dieser Maßnahme nachgewiesen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2020, Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 36 und 37 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

107

Im vorliegenden Fall beruht die Vertragsverletzung, die die Kommission Ungarn vorwirft, aber auf dem Erlass von § 353/A des Strafgesetzbuchs, dessen Existenz und Anwendung von Ungarn nicht bestritten werden und dessen Bestimmungen in der Klageschrift rechtlich analysiert werden. Insoweit ist insbesondere festzustellen, dass Ungarn in der mündlichen Verhandlung eingeräumt hat, dass auf der Grundlage von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafrechtliche Verfolgungen eingeleitet worden sind.

108

Schließlich ist jedenfalls festzustellen, dass, selbst unterstellt, auf der Grundlage von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs wäre, wie Ungarn behauptet, noch keine strafrechtliche Verurteilung erfolgt, dieser Umstand für die Frage, ob die Vorschrift eine abschreckende Wirkung hat, durch die die in den oben in Rn. 93 genannten Bestimmungen des Unionsrechts verbürgten Rechte beschränkt werden, nicht von Belang ist. Denn abgesehen davon, dass nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine solche Verurteilung in Zukunft erfolgen wird, besteht das Wesen der abschreckenden Wirkung von Straftatbeständen gerade darin, jeden davon abzuhalten, die für rechtswidrig erachtete Handlung zu begehen und sich damit den entsprechenden Sanktionen auszusetzen.

Zum Bestehen einer Rechtfertigung

109

Da § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs – gegebenenfalls in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs – eine Beschränkung der durch Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie durch Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verbürgten Rechte darstellt, hat der Gerichtshof zu prüfen, ob eine solche Beschränkung unionsrechtlich gerechtfertigt ist.

110

Insoweit geht aus den Erklärungen Ungarns hervor, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs erlassen wurde, um sowohl die Unterstützung der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylverfahrens als auch die Unterstützung der betrügerischen illegalen Einwanderung zu bekämpfen. Es ist daher zu prüfen, ob die behauptete Verfolgung solcher Ziele die Beschränkung der in der vorstehenden Randnummer genannten Rechte zu rechtfertigen vermag.

– Zur Bekämpfung der Unterstützung bei der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylverfahrens

111

Nach einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs kann man sich nicht betrügerisch oder missbräuchlich auf das Unionsrecht berufen. Ein Mitgliedstaat muss die Anwendung von Vorschriften des Unionsrechts daher verweigern, wenn diese nicht geltend gemacht werden, um die Ziele der Vorschriften zu verwirklichen, sondern um in den Genuss eines im Unionsrecht vorgesehenen Vorteils zu gelangen, obwohl die entsprechenden Voraussetzungen lediglich formal erfüllt sind (Urteil vom 26. Februar 2019, T Danmark und Y Denmark, C‑116/16 und C‑117/16, EU:C:2019:135, Rn. 70 bis 72 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

112

Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 und Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 können daher nicht dahin ausgelegt werden, dass sie die Mitgliedstaaten daran hindern, die darin genannten Personen und Organisationen mit Sanktionen zu belegen, wenn diese Handlungen begehen, mit denen sie von dem Recht auf Zugang zu Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, zu Zwecken Gebrauch machen, die nicht mit den Zielen vereinbar sind, im Hinblick auf die ihnen dieses Recht zuerkannt ist.

113

Ebenso wenig kann Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 dahin ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten verböte, betrügerische oder missbräuchliche Handlungen zu ahnden, die von Rechtsanwälten oder sonstigen Rechtsberatern im Rahmen der Beratung von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, begangen werden.

114

Es ist daher zu prüfen, ob § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs eine angemessene Maßnahme darstellt, um betrügerische oder missbräuchliche Verhaltensweisen im Sinne der oben in Rn. 111 dargestellten Rechtsprechung zu bekämpfen.

115

Insoweit ist festzustellen, dass die Kommission nicht bestritten hat, dass diese Strafvorschrift des ungarischen Rechts die Ahndung von Verhaltensweisen ermöglicht, die von den Mitgliedstaaten zu Recht als betrügerische oder missbräuchliche Verhaltensweisen bekämpft werden können.

116

§ 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs beschränkt sich jedoch nicht auf die Bekämpfung solcher Verhaltensweisen. Denn bei einer nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs geahndeten Unterstützung steht fest, dass sie rechtswidrig ist, wenn jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person wusste, dass die von ihr unterstützte Person nach ungarischem Recht den Flüchtlingsstatus überhaupt nicht erhalten konnte. Entgegen dem Vorbringen Ungarns ist daher jede im Rahmen einer Organisationstätigkeit zur Erleichterung der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags gewährte Unterstützung, bei der dies nachgewiesen werden kann, strafbar, und zwar auch dann, wenn die Unterstützung unter strikter Beachtung der einschlägigen Verfahrensvorschriften gewährt wird und ohne die Absicht, die Asylbehörde hinsichtlich der Begründetheit des Asylantrags zu täuschen.

117

Somit bekämpft Ungarn Verhaltensweisen, die nicht als betrügerische oder missbräuchliche Verhaltensweisen im Sinne der oben in Rn. 111 dargestellten Rechtsprechung angesehen werden können.

118

Insoweit ist als Erstes festzustellen, dass Ungarn nicht bestritten hat, dass eine Person, die bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags in Ungarn unterstützt und die zwar weiß, dass der Antrag nach den ungarischen Rechtsvorschriften keine Aussicht auf Erfolg hat, aber der Auffassung ist, dass Letztere völker- oder unionsrechtswidrig sind, einer Strafverfolgung auf der Grundlage von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ausgesetzt wäre.

119

Es wäre aber nicht mit dem Ziel der Richtlinie 2013/32 zu vereinbaren, einen effektiven, einfachen und schnellen Zugang zum Verfahren des internationalen Schutzes zu gewährleisten (siehe oben, Rn. 80), Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, eine Unterstützung zu entziehen, die es ihnen ermöglichen würde, in einer späteren Phase des Verfahrens des internationalen Schutzes die Rechtmäßigkeit der auf ihre Situation anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften anzufechten, insbesondere im Hinblick auf das Unionsrecht.

120

Insoweit verdient die Situation der von den Asylbewerbern konsultierten Rechtsanwälte besondere Beachtung, deren Tätigkeiten wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 88 bis 90) unter den Tatbestand des § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs fallen können.

121

Denn nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs muss ein Rechtsanwalt tatsächlich in der Lage sein, seinen Aufgaben bei der Beratung, der Verteidigung und der Vertretung seines Mandanten in angemessener Weise gerecht zu werden, da dem Mandanten sonst die ihm durch Art. 47 der Charta gewährten Rechte genommen wären (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juli 2021, Kommission/Polen [Disziplinarordnung für Richter], C‑791/19, EU:C:2021:596, Rn. 206 und die dort angeführte Rechtsprechung).

122

§ 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ist aber geeignet, Rechtsanwälte daran zu hindern, die effiziente Verteidigung der Interessen der Asylbewerber, die sie konsultieren, zu gewährleisten, indem er sie davor abschreckt, den Asylbewerbern zu raten, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen oder förmlich zu stellen, um dann später die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften anfechten zu können, die ihrer Auffassung nach unionsrechtswidrig sind.

123

Ungarn meint zwar, dass eine auf der Grundlage von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verfolgte Person gegebenenfalls bei dem Gericht, das über die gegen sie eingeleitete Verfolgung zu entscheiden habe, zur Erwirkung eines Freispruchs geltend machen könne, dass die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften unionsrechtswidrig seien.

124

Es würde aber gegen Art. 47 der Charta verstoßen, wenn eine Person, um Zugang zu einem Gericht zu erhalten, das dafür zuständig ist, die Achtung der ihr durch das Unionsrecht garantierten Rechte sicherzustellen, gezwungen wäre, gegen eine Vorschrift oder eine rechtliche Verpflichtung zu verstoßen und sich der mit diesem Verstoß verbundenen Sanktion auszusetzen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, État luxembourgeois [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 66 und die dort angeführte Rechtsprechung).

125

Als Zweites ergibt sich, wie Ungarn in der mündlichen Verhandlung bestätigt hat, bereits aus dem Wortlaut von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs, dass mit dieser Vorschrift das Verhalten einer jeden Person geahndet wird, die eine andere Person im Rahmen einer Organisationstätigkeit in voller Kenntnis der Sachlage dabei unterstützt, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen oder förmlich zu stellen, obwohl diese Person nicht in mindestens einem Staat, über den sie nach Ungarn eingereist ist, verfolgt worden ist und auch nicht in mindestens einem solchen Staat die Gefahr besteht, dass sie verfolgt wird.

126

Wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 42), steht die Richtlinie 2013/32 aber dem entgegen, dass ein Asylantrag aus diesem Grund als unzulässig abgelehnt wird. Somit liegt, wie der Generalanwalt im Wesentlichen in Nr. 35 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, auf der Hand, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs, indem er eine Unterstützung wie die in der vorstehenden Randnummer beschriebene mit Strafe bedroht, ein Verhalten ahndet, das als solches keinesfalls einer betrügerischen oder missbräuchlichen Verhaltensweise gleichgesetzt werden kann, und damit gegen die durch die oben in Rn. 93 genannten Vorschriften des Unionsrechts garantierten Rechte verstößt.

127

Als Drittes ist erstens festzustellen, dass die Begehung der Straftat gemäß Art. 353/A Abs. 1 Buchst. a, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 91), zwar voraussetzt, dass jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass der Täter wusste, dass der Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg hat. Nach den Informationen, über die der Gerichtshof verfügt, ist damit jedoch nicht ausgeschlossen, dass auf der Grundlage dieser Vorschrift eine strafrechtliche Verurteilung erfolgt, wenn konkret nachgewiesen werden kann, dass die beschuldigte Person wissen musste, dass der von ihr unterstützte Drittstaatsangehörige oder Staatenlose die nach ungarischem Recht für die Gewährung von Asyl geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt.

128

Zweitens führt § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs, indem er nicht ausschließt, dass eine Person allein deshalb bestraft wird, weil jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass sie wissen musste, dass der von ihr unterstützte Asylbewerber die nach ungarischem Recht für die Gewährung von Asyl geltenden Voraussetzungen nicht erfüllt, dazu, dass sich jemand, der eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, unterstützen möchte, nicht darauf beschränken kann, die betreffende Person rein formal bei der Stellung oder förmlichen Stellung ihres Antrags zu unterstützen, sondern ab diesem Stadium prüfen muss, ob der Antrag nach ungarischem Recht Aussicht auf Erfolg hat.

129

Zum einen kann von Personen, die Asylbewerber unterstützen, unabhängig davon, in welcher Eigenschaft sie dies tun, aber, wie die Kommission im Wesentlichen geltend macht, nicht erwartet werden, dass sie eine solche Überprüfung vornehmen, bevor sie einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen dabei unterstützen können, seinen Asylantrag zu stellen oder förmlich zu stellen.

130

Abgesehen davon können Asylbewerber Schwierigkeiten haben, bereits bei der Stellung oder förmlichen Stellung ihres Antrags die relevanten Umstände geltend zu machen, die zu rechtfertigen vermögen, dass sie in den Genuss des Flüchtlingsstatus kommen können.

131

Zum anderen schafft das für die betreffende Person bestehende Risiko, allein deshalb bestraft zu werden, weil sie wissen musste, dass der Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg hat, Unsicherheit hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer jeglichen Unterstützung bei der Stellung und der förmlichen Stellung des Antrags, bei denen es sich um wesentliche Abschnitte des Verfahrens der Gewährung von Asyl handelt. Dies gilt umso mehr, als § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs diese Straftat mit einer besonders schweren Strafe, nämlich einer freiheitsentziehenden Strafe, bedroht.

132

§ 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs ist deshalb geeignet, jede Person, die in irgendeiner Form eine Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags gewähren möchte, unabhängig davon, in welcher Eigenschaft sie dies tut, in hohem Maße abzuschrecken, obwohl die Unterstützung einzig und allein darauf abzielt, es einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zu ermöglichen, von seinem Grundrecht Gebrauch zu machen, in einem Mitgliedstaat um Asyl nachzusuchen, wie es in Art. 18 der Charta garantiert und in Art. 6 der Richtlinie 2013/32 näher bestimmt ist.

133

Aus den Rn. 116 bis 132 des vorliegenden Urteils ergibt sich, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs über das hinausgeht, was als erforderlich angesehen werden kann, um das Ziel der Bekämpfung betrügerischer oder missbräuchlicher Verhaltensweisen zu erreichen.

– Zur Bekämpfung der betrügerischen illegalen Einwanderung

134

Was das Ziel der Bekämpfung der betrügerischen illegalen Einwanderung angeht, braucht nicht geprüft zu werden, ob dieses Ziel Beschränkungen sämtlicher Rechte zu rechtfertigen vermag, die in den oben in Rn. 93 genannten Vorschriften des Unionsrechts verbürgt sind. Es genügt, festzustellen, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs jedenfalls keine Maßnahme ist, die geeignet wäre, um ein solches Ziel zu verfolgen.

135

Als Erstes ist insoweit festzustellen, dass § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs nicht darauf abzielt, die Person zu bestrafen, die eine materielle oder finanzielle Unterstützung gewährt, mit der die illegale Einreise in das ungarische Hoheitsgebiet oder der illegale Aufenthalt dort erleichtert werden soll. Ein solches Verhalten wird von anderen Vorschriften des Strafgesetzbuchs mit Strafe bedroht, wie Ungarn in seinen schriftlichen Erklärungen einräumt.

136

Als Zweites ist zum einen festzustellen, dass jeder Drittstaatsangehörige oder Staatenlose das Recht hat, im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats – auch an den Grenzen oder in Transitzonen – einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen; dies gilt auch, wenn er sich illegal im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats aufhält (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Juni 2020, Ministerio Fiscal [Behörde, bei der ein Antrag auf internationalen Schutz wahrscheinlich gestellt wird], C‑36/20 PPU, EU:C:2020:495, Rn. 73, und vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 96 und die dort angeführte Rechtsprechung). Dieses Recht wird dem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen zuerkannt, ohne dass es darauf ankommt, welche Erfolgsaussichten ein solcher Antrag hat.

137

Zum anderen erwirbt der Drittstaatsangehörige oder Staatenlose mit der Stellung eines solchen Antrags, wie bereits ausgeführt (siehe oben, Rn. 80), die Eigenschaft einer Person, die um internationalen Schutz nachsucht, im Sinne der Richtlinie 2013/32. Es kann aber nicht grundsätzlich angenommen werden, dass sich eine Person, die um internationalen Schutz nachsucht, illegal im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats aufhielte, in dem sie ihren Antrag gestellt hat, solange über diesen nicht erstinstanzlich entschieden worden ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. Juni 2018, Gnandi, C‑181/16, EU:C:2018:465, Rn. 40, und vom 14. Mai 2020, Országos Idegenrendészeti Főigazgatóság Dél-alföldi Regionális Igazgatóság, C‑924/19 PPU und C‑925/19 PPU, EU:C:2020:367, Rn. 209 und die dort angeführte Rechtsprechung).

138

Die Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats kann daher auch dann nicht als eine Tätigkeit, die die illegale Einreise oder den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats fördern würde, angesehen werden, wenn für die Person, die sie gewährt, feststeht, dass dem Antrag nicht stattgegeben werden wird.

139

Dies würde selbst dann gelten, wenn der Asylbewerber nicht das Recht hätte, solange sein Antrag erstinstanzlich geprüft wird, im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats zu verbleiben, wie Art. 9 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 als Ausnahme vorsieht. Denn, da die nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafbare Unterstützung es der betreffenden Person lediglich ermöglicht, einen solchen Antrag zu stellen oder förmlich zu stellen, und nicht, in einem solchen Fall im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verbleiben, kann sie nicht mit der Unterstützung eines illegalen Aufenthalts gleichgesetzt werden.

140

Im Übrigen unterscheidet sich die nach § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs strafbare Handlung, anders als Ungarn in seinen schriftlichen Erklärungen anklingen lässt, ganz klar von den Verhaltensweisen, für die die Mitgliedstaaten nach Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90 angemessene Sanktionen festzulegen haben. Diese Verhaltensweisen bestehen zum einen darin, einem Drittstaatsangehörigen vorsätzlich dabei zu helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über die Einreise oder die Durchreise von Ausländern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen, und zum anderen darin, einem Drittstaatsangehörigen zu Gewinnzwecken vorsätzlich dabei zu helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates über den Aufenthalt von Ausländern aufzuhalten.

141

Es kann aber nicht angenommen werden, dass ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser bereits deshalb gegen die Rechtsvorschriften über die Einreise in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder den Aufenthalt in diesem Gebiet verstieße, weil er im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats um internationalen Schutz nachsucht. Die Person, die einen solchen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen lediglich dabei unterstützt, bei den zuständigen nationalen Behörden einen Asylantrag zu stellen oder förmlich zu stellen, ist daher, auch wenn sie weiß, dass der Antrag keine Aussicht auf Erfolg hat, nicht mit einer Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2002/90 vergleichbar, die bei der illegalen Einreise, der illegalen Durchreise oder dem illegalen Aufenthalt hilft.

142

Diese Auslegung wird durch Art. 6 des Rahmenbeschlusses 2002/946 bestätigt. Denn auch wenn die Mitgliedstaaten nach dem Rahmenbeschluss verpflichtet sind, die in Art. 1 der Richtlinie 2002/90 beschriebenen Handlungen mit wirksamen Strafen zu bedrohen, sieht Art. 6 des Rahmenbeschlusses ausdrücklich vor, dass der Rahmenbeschluss unbeschadet des Schutzes gilt, der Asylbewerbern nach dem Völkerrecht zu gewähren ist.

143

Die Beschränkung der in den oben in Rn. 93 genannten Vorschriften des Unionsrechts verbürgten Rechte durch § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs in Verbindung mit § 353/A Abs. 2 und 3 des Strafgesetzbuchs ist somit nicht gerechtfertigt.

144

Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen hat, dass es in seinem innerstaatlichen Recht das Verhalten einer jeden Person, die im Rahmen einer Organisationstätigkeit Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags in seinem Hoheitsgebiet gewährt, mit Strafe bedroht hat, wenn jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person wusste, dass der Antrag nach dem innerstaatlichen Recht keine Aussicht auf Erfolg hatte.

145

Die Rüge der Kommission ist hingegen zurückzuweisen, soweit geltend gemacht wird, dass Ungarn durch den Erlass von § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs gegen seine Verpflichtungen aus Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 verstoßen habe.

Zu § 46/F des Polizeigesetzes

Vorbringen der Parteien

146

Die Kommission ist der Auffassung, dass Ungarn auch dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen habe, dass es vorgesehen habe, dass die durch § 46/F des Polizeigesetzes auferlegten Beschränkungen der Bewegungsfreiheit auf Personen anwendbar seien, die einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verdächtigt würden oder deswegen bereits verurteilt seien.

147

Die Kommission macht insoweit ergänzend zu ihren Ausführungen zu § 353/A des Strafgesetzbuchs geltend, dass es, selbst wenn sich die in Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 genannten Organisationen und Personen trotz des aufgrund dieser Strafvorschrift für sie bestehenden Risikos einer strafrechtlichen Verfolgung dafür entschieden, ihre Tätigkeiten weiter auszuüben, leicht sei, sie auf der Grundlage von § 46/F des Polizeigesetzes daran zu hindern, der es jeder Person, auch wenn sie einer Straftat gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs erst einmal nur verdächtigt werde, verbiete, sich den Außengrenzen Ungarns zu nähern. Eine solche Beschränkung des durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 garantierten Rechts könne aber nicht auf der Grundlage von Art. 8 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 2013/32 gerechtfertigt werden, da sich die in § 46/F des Polizeigesetzes vorgesehenen polizeilichen Maßnahmen automatisch aus der Einleitung eines Strafverfahrens ergäben.

148

Zudem sei die Anwendung von § 46/F des Polizeigesetzes auf Personen, die einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verdächtigt würden oder deswegen bereits verurteilt seien, geeignet, die durch Art. 12 Abs. 2 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie durch Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 garantierten Rechte auszuhöhlen.

149

Ungarn trägt ergänzend zu den Argumenten, die es im Zusammenhang mit § 353/A des Strafgesetzbuchs zu seiner Verteidigung vorgebracht hat, vor, dass es logisch sei, dass eine Person, die einer Straftat verdächtigt werde, eine so bedeutende Einrichtung wie eine Transitzone nicht betreten dürfe.

150

Da für die Erhebung der Anklage ein „begründeter Verdacht“ im Sinne des A büntetőeljárásról szóló 2017. évi XC. törvény (Gesetz Nr. XC von 2017 über die Strafprozessordnung) vom 26. Juni 2017 (Magyar Közlöny 2017/99) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung erforderlich sei, stehe der Ausschluss der wegen der in § 46/F des Polizeigesetzes genannten Straftaten verfolgten Personen vom Grenzgebiet im Einklang mit der Ausnahme zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder der Sicherheit gemäß Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32. Die Personen, die verdächtigt würden, im Rahmen einer Organisationstätigkeit Asylbewerbern die erforderlichen Informationen zu erteilen, um die ungarischen Behörden zu täuschen, gefährdeten die Aufrechterhaltung der Sicherheit und der öffentlichen Ordnung oder die Verwaltung der Grenzübergangsstellen, so dass § 46/F des Polizeigesetzes eine Maßnahme sei, die zur Aufrechterhaltung der Ordnung an den Staatsgrenzen erforderlich und gerechtfertigt sei.

Würdigung durch den Gerichtshof

151

Die Kommission wirft Ungarn im Wesentlichen vor, dadurch gegen Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 der Richtlinie 2013/32 sowie gegen Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen zu haben, dass es vorgesehen habe, dass § 46/F des Polizeigesetzes auf Personen Anwendung finde, die einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs beschuldigt würden oder wegen einer solchen Straftat bestraft worden seien.

152

Die ungarische Polizei ist nach § 46/F des Polizeigesetzes verpflichtet, zu verhindern, dass Personen, die insbesondere wegen Straftaten gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs verfolgt werden, sich in einer Entfernung von weniger als 8 km zu den ungarischen Außengrenzen befinden.

153

Vorab ist festzustellen, dass sich entgegen dem Vorbringen der Kommission bereits aus dem Wortlaut von § 46/F des Polizeigesetzes ergibt, dass diese Vorschrift nicht für Personen gilt, die wegen Straftaten gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs verurteilt worden sind. Von Ungarn wird zwar nicht bestritten, dass eine Verurteilung wegen Straftaten gemäß § 353/A des Strafgesetzbuchs ein Verbot der Einreise in einen Teil seines Hoheitsgebiets nach sich ziehen kann. Diese Folge ist aber nicht in § 46/F des Polizeigesetzes vorgesehen, sondern in einer anderen Vorschrift des Strafgesetzbuchs, die nicht Gegenstand der vorliegenden Klage ist.

154

Dies vorausgeschickt ist als Erstes festzustellen, dass § 46/F des Polizeigesetzes eine Beschränkung der durch die oben in Rn. 151 genannten Vorschriften des Unionsrechts garantierten Rechte darstellt.

155

Erstens ist offensichtlich, dass § 46/F des Polizeigesetzes, indem er Personen, die einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verdächtigt werden, daran hindert, sich zu Asylbewerbern zu begeben, die an den ungarischen Außengrenzen vorstellig werden, das durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 garantierte Recht auf Zugang zu diesen Asylbewerbern beschränkt.

156

Zweitens ist § 46/F des Polizeigesetzes auch als Beschränkung des in Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verbürgten Rechts auf Zugang zu in Haft genommenen Asylbewerbern anzusehen.

157

Zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ungarn in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist waren die Transitzonen Röszke und Tompa nämlich noch nicht geschlossen. Eine Vielzahl von Personen, die um internationalen Schutz nachsuchten, waren verpflichtet, während der gesamten Dauer der Prüfung ihres Antrags in diesen unmittelbar an der serbisch-ungarischen Grenze gelegenen Transitzonen zu verbleiben. Diese Zonen waren als Hafteinrichtungen im Sinne der Richtlinie 2013/33 anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Kommission/Ungarn [Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen], C‑808/18, EU:C:2020:1029, Rn. 156 bis 166 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

158

Indem er einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verdächtigte Personen daran hindert, sich in die unmittelbare Nähe der ungarischen Außengrenzen und damit auch in die Transitzonen von Röszke und Tompa zu begeben, hat § 46/F des Polizeigesetzes daher jedenfalls eine Beschränkung des Zugangs der in Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Personen zu einem Teil der Personen bewirkt, die zum Zeitpunkt des Ablaufs der Ungarn in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats in Haft waren und um internationalen Schutz nachsuchten.

159

Drittens ist das Recht der Person, die um internationalen Schutz nachsucht, die in Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 genannten Personen zu konsultieren, dahin zu verstehen, dass es das Recht auf Zugang zu diesen Personen einschließt, wie Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32 bestätigt.

160

§ 46/F des Polizeigesetzes stellt mithin auch eine Beschränkung der den Asylbewerbern durch Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 garantierten Rechte dar, wenn diese sich weniger als 8 km von den ungarischen Außengrenzen entfernt befinden.

161

Was viertens Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 angeht, ist oben in Rn. 82 festgestellt worden, dass die Ausübung der Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, nach dieser Bestimmung zuerkannten Rechte durch § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs nicht beschränkt werden kann, da diese Vorschrift erst nach förmlicher Stellung des Antrags auf internationalen Schutz zum Tragen kommt.

162

Allerdings soll mit § 46/F des Polizeigesetzes verhindert werden, dass Personen, die einer Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs verdächtigt werden, Zugang zu Personen, die sich in der Nähe der ungarischen Grenzen befinden und um internationalen Schutz nachsuchen, erhalten können, und zwar auch, nachdem diese ihren Antrag auf internationalen Schutz förmlich gestellt haben. § 46/F des Polizeigesetzes ist daher geeignet, das Recht, mit den in Art. 12 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2013/32 genannten Organisationen Verbindung aufzunehmen, zu beschränken, das Personen, die um internationalen Schutz nachsuchen, zusteht, sobald sie ihren Antrag förmlich gestellt haben. Dieses Recht setzt voraus, dass diese Organisationen die Möglichkeit haben, Zugang zu den Personen zu erhalten, die um internationalen Schutz nachsuchen.

163

Als Zweites ist festzustellen, dass, soweit § 46/F des Polizeigesetzes die durch die oben in Rn. 151 genannten Vorschriften des Unionsrechts garantierten Rechte beschränkt, weil die betreffende Person verdächtigt wird, eine Straftat gemäß § 353/A Abs. 1 Buchst. a des Strafgesetzbuchs begangen zu haben, obwohl der entsprechende Straftatbestand unionsrechtswidrig ist, eine solche Beschränkung unionsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.

164

Nach alledem ist festzustellen, dass Ungarn dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen hat, dass es jeder Person, die verdächtigt wird, im Rahmen einer Organisationstätigkeit eine Unterstützung bei der Stellung oder der förmlichen Stellung eines Asylantrags in seinem Hoheitsgebiet gewährt zu haben, obwohl jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person wusste, dass der Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg hatte, das Recht genommen hat, sich seinen Außengrenzen zu nähern.

Kosten

165

Die unterliegende Partei ist auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen (Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs). Wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, trägt jede Partei ihre eigenen Kosten; der Gerichtshof kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint (Art. 138 Abs. 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs).

166

Da die Kommission beantragt hat, Ungarn die Kosten aufzuerlegen, und Ungarn mit seinem Vorbringen im Wesentlichen unterliegt, ist Ungarn in Anbetracht der konkreten Umstände des vorliegenden Falles zu verurteilen, neben den eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Kommission zu tragen. Die Kommission trägt ein Fünftel ihrer eigenen Kosten.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

 

1.

Ungarn hat

dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 33 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes verstoßen, dass es ermöglicht hat, dass ein Antrag auf internationalen Schutz deshalb als unzulässig abgelehnt wird, weil der Antragsteller über einen Staat, in dem er keiner Verfolgung ausgesetzt ist und in dem für ihn nicht die Gefahr besteht, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, oder in dem ein angemessenes Schutzniveau gewährleistet ist, in sein Hoheitsgebiet eingereist ist;

dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, verstoßen, dass es in seinem innerstaatlichen Recht das Verhalten einer jeden Person, die im Rahmen einer Organisationstätigkeit Unterstützung bei der Stellung oder förmlichen Stellung eines Asylantrags in seinem Hoheitsgebiet gewährt, mit Strafe bedroht hat, wenn jenseits vernünftiger Zweifel nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person wusste, dass der Antrag nach dem innerstaatlichen Recht keine Aussicht auf Erfolg hatte;

dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 8 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 Buchst. c und Art. 22 Abs. 1 der Richtlinie 2013/32 sowie aus Art. 10 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 verstoßen, dass es jeder Person, die einer solchen Straftat verdächtigt wird, das Recht genommen hat, sich seinen Außengrenzen zu nähern.

 

2.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

 

3.

Ungarn trägt neben seinen eigenen Kosten vier Fünftel der Kosten der Europäischen Kommission.

 

4.

Die Europäische Kommission trägt ein Fünftel ihrer eigenen Kosten.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Ungarisch

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