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Document 62017CJ0230

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 27. Juni 2018.
Erdem Deha Altiner und Isabel Hanna Ravn gegen Udlændingestyrelsen.
Vorabentscheidungsersuchen der Østre Landsret.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Recht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, sich in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, aufzuhalten – Einreise dieses Familienangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, die nach der Rückkehr des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat erfolgt.
Rechtssache C-230/17.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:497

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

27. Juni 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Unionsbürgerschaft – Art. 21 Abs. 1 AEUV – Richtlinie 2004/38/EG – Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten – Recht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, sich in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit dieser Unionsbürger besitzt, aufzuhalten – Einreise dieses Familienangehörigen in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats, die nach der Rückkehr des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat erfolgt“

In der Rechtssache C‑230/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost, Dänemark) mit Entscheidung vom 21. April 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Mai 2017, in dem Verfahren

Erdem Deha Altiner,

Isabel Hanna Ravn

gegen

Udlændingestyrelsen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan, D. Šváby und M. Vilaras (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Wahl,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. März 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Deha Altiner und Frau Ravn, vertreten durch E. O. R. Khawaja, advokat,

der dänischen Regierung, vertreten durch M. S. Wolff sowie J. Nymann-Lindegren und C. Thorning als Bevollmächtigte im Beistand von R. Holdgaard, advokat,

der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, L. Van den Broeck und M. Jacobs als Bevollmächtigte,

von Irland, vertreten durch A. Joyce und L. Williams als Bevollmächtigte,

der norwegischen Regierung, vertreten durch I. S. Jansen als Bevollmächtigte im Beistand von K. B. Moen, advokat,

der Europäischen Kommission, vertreten durch E. Montaguti und M. Wilderspin als Bevollmächtigte im Beistand von H. Peytz, advokat,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 21 AEUV und der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. 2004, L 158, S. 77, und Berichtigung in ABl. 2004, L 229, S. 35).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Erdem Deha Altiner und Frau Isabel Hanna Ravn einerseits und der Udlændingestyrelse (Einwanderungsbehörde, Dänemark) andererseits über deren Entscheidung vom 3. Juni 2016 (im Folgenden: Entscheidung vom 3. Juni 2016), mit der die vorangegangene Entscheidung der Statsforvaltning (Regionale Staatsverwaltung, Dänemark) bestätigt wurde, die den Antrag von Herrn Erdem Deha Altiner, als Familienmitglied der Unionsbürgerin Isabel Hanna Ravn einen Aufenthaltstitel zu erhalten, abgelehnt hatte.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2004/38

3

Art. 1 („Gegenstand“) der Richtlinie 2004/38 bestimmt:

„Diese Richtlinie regelt

a)

die Bedingungen, unter denen Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt innerhalb des Hoheitsgebiets der Mitgliedstaaten genießen;

…“

4

In Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.

‚Unionsbürger‘ jede Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt;

2.

‚Familienangehöriger‘

a)

den Ehegatten;

c)

die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten …, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

3.

‚Aufnahmemitgliedstaat‘ den Mitgliedstaat, in den sich der Unionsbürger begibt, um dort sein Recht auf Freizügigkeit oder Aufenthalt auszuüben.“

5

Art. 3 („Berechtigte“) Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 sieht vor:

„Diese Richtlinie gilt für jeden Unionsbürger, der sich in einen anderen als den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, begibt oder sich dort aufhält, sowie für seine Familienangehörigen im Sinne von Artikel 2 Nummer 2, die ihn begleiten oder ihm nachziehen.“

6

Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 lautet:

„(1)   Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a)

Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b)

für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c)

bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d)

ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstaben a, b oder c erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2)   Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a, b oder c erfüllt.“

Dänisches Recht

7

§ 13 des Bekendtgørelse nr. 474 om ophold i Danmark for udlændinge, der er omfattet af Den Europæiske Unions regler (Verordnung Nr. 474 über den Aufenthalt in Dänemark für unter Vorschriften der Europäischen Union fallende Ausländer) vom 12. Mai 2011 lautet:

„In dem sich aus dem Unionsrecht ergebenden Umfang haben Familienangehörige eines dänischen Staatsangehörigen ein Recht auf Aufenthalt im Inland über die drei Monate hinaus, die nach § 2 Abs. 1 und 2 des Ausländergesetzes erlaubt sind.“

8

Die EU-orientering nr. 1/14, Orientering til Statsforvaltningen om behandling af ansøgninger om familiesammenføring efter EU-retten, hvor referencen er dansk statsborger (Leitlinie Nr. 1/14 für die Staatsverwaltung zur Behandlung von Anträgen auf Familienzusammenführung nach Unionsrecht, wenn die Referenzperson ein dänischer Staatsbürger ist) vom 10. Dezember 2014 (im Folgenden: Leitlinie Nr. 1/14) wurde von der Einwanderungsbehörde erlassen.

9

In Abschnitt 4.1.5 („Zeitlicher Zusammenhang zwischen der Rückkehr eines dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark und dem Antrag auf Familienzusammenführung nach Unionsrecht“) sieht diese Leitlinie vor:

„Es besteht kein Erfordernis dahin, dass der ausländische Familienangehörige gleichzeitig mit dem dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark einreist.

Wenn ein Familienangehöriger eines dänischen Staatsangehörigen, der sein Recht auf Freizügigkeit in einem anderen Mitgliedstaat genutzt hat, erst zu einem späteren Zeitpunkt als dem Zeitpunkt der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark Familienzusammenführung nach Unionsrecht beantragt, muss eine konkrete Feststellung erfolgen, ob der Antrag des Familienangehörigen in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark erfolgt.

Bei dieser Beurteilung ist der Frage Gewicht beizumessen, was Hintergrund der zeitlichen Differenz zwischen der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen und der Antragstellung ist, darunter der Frage, ob sich die Antragstellung des Familienangehörigen aus besonderen Gründen der Beschäftigung oder Ausbildung verzögert hat, einschließlich der Frage des Umfangs der zeitlichen Differenz. Beispielsweise kann eine Verzögerung der Einreichung des Antrags dadurch begründet sein, dass der Antragsteller eine vorher begonnene Ausbildung abgeschlossen hat, was sich u. a. durch die Übersendung von Prüfungsnachweisen usw. belegen lässt. Auch besondere gesundheitliche Gründe, einschließlich einer beim Antragsteller oder bei einem seiner Familienmitglieder vorliegenden ernsten Erkrankung, können eine Ursache für die Verzögerung sein.

Andererseits kann eine mehrmonatige Verzögerung grundsätzlich nicht mit einem allgemeinen Wunsch gerechtfertigt werden, eine Beschäftigung fortzusetzen oder bei der Familie zu leben.

Liegen dagegen besondere beschäftigungsbedingte Erwägungen, [wie] die Erfüllung einer vertraglichen Verpflichtung, vor, die Ursache dafür waren, dass sich der Antrag um mehrere Monate verzögerte, wird der Antrag grundsätzlich als in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen erfolgt anzusehen sein. Dies kann unter anderem durch einen Arbeitsvertrag dokumentiert werden, der beispielsweise belegt, dass die betreffende Person an einem konkreten Bauvorhaben beteiligt ist.

In Fällen, in denen der Familienangehörige gleichzeitig mit oder in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark eingereist ist, aber erst später einen Antrag auf Familienzusammenführung nach den Unionsvorschriften stellt, besteht kein Erfordernis dahin, dass der Antrag in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen gestellt wird, wenn der Betroffene im Übrigen die Voraussetzungen für die Gewährung einer Familienzusammenführung mit dem dänischen Staatsangehörigen nach Unionsrecht erfüllt.

Voraussetzung ist, dass der Familienangehörige nach Dänemark einreist, um ein Familienleben mit dem dänischen Staatsangehörigen aufzunehmen, und dass dem Familienangehörigen im Übrigen auch nach den Unionsvorschriften eine Familienzusammenführung mit dem dänischen Staatsangehörigen hätte gewährt werden können, wenn der Betroffene den Antrag bei seiner Einreise gestellt hätte. Weiter ist Voraussetzung, dass der Antragsteller in dem gesamten Zeitraum bis zum Zeitpunkt der Antragstellung diese Voraussetzungen erfüllt hat.

Bei der Beurteilung solcher Fälle ist daher entscheidend, ob der Familienangehörige in dem gesamten Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung einer Familienzusammenführung mit dem dänischen Staatsangehörigen nach den Unionsvorschriften erfüllt hat, diese aber lediglich nicht beantragt hat. In solchen Fällen hat der Familienangehörige ein Aufenthaltsrecht in Dänemark nach den Unionsvorschriften, unabhängig davon, ob er erst später eine richtige Aufenthaltskarte beantragt hat.

In den Fällen, in denen der Antrag nicht in Verbindung mit der Einreise gestellt wird, obliegt es dem Antragsteller, nachzuweisen, dass die Einreise gleichzeitig mit oder in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsangehörigen nach Dänemark erfolgte, und dass er in dem gesamten Zeitraum die Voraussetzungen für die Gewährung einer Familienzusammenführung mit dem dänischen Staatsangehörigen nach den Unionsvorschriften erfüllt hat; zu diesen gehört, dass der Betroffene sich zusammen mit dem dänischen Staatsangehörigen in Dänemark aufgehalten hat. Dies kann beispielsweise durch Vorlage einer Fahrkarte, Änderung der Meldeanschrift, Mietquittungen u. a. belegt werden.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10

Herr Erdem Deha Altiner wurde am 2. September 2004 in der Türkei geboren und ist türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater, Herr Metin Altiner, der am 17. Juli 2008 nach Dänemark eingereist war, ist von der Mutter von Herrn Erdem Deha Altiner geschieden und seit dem 26. Oktober 2010 in zweiter Ehe mit Frau Ravn verheiratet, einer dänischen Staatsangehörigen, die zu jener Zeit in Dänemark wohnte. In dem Urteil, mit dem Herr Metin Altiner und die Mutter von Herrn Erdem Deha Altiner geschieden wurden, wurde das Sorgerecht für ihn seiner Mutter, einer türkischen Staatsangehörigen, zugesprochen, und er lebte mit ihr in der Türkei.

11

Vom 1. Dezember 2012 bis 24. Oktober 2014 wohnten Frau Ravn und Herr Metin Altiner in Schweden. Vom 1. August 2013 bis 9. September 2013 und vom 8. Juli 2014 bis 2. September 2014 reiste Herr Erdem Deha Altiner mit einem im Schengen-Raum gültigen Visum nach Schweden ein und hielt sich bei ihnen auf.

12

Am 24. Oktober 2014 kehrten Frau Ravn und Herr Metin Altiner nach Dänemark zurück, wo sie seither wohnen. Am 25. Juni 2015 reiste Herr Erdem Deha Altiner mit einem im Schengen-Raum bis 30. September 2015 gültigen Visum nach Dänemark ein.

13

Nachdem seine Mutter am 15. Juli 2015 schriftlich eingewilligt hatte, stellte Herr Erdem Deha Altiner zwei Tage später bei der dänischen Verwaltung einen Antrag auf Ausstellung eines Unionsaufenthaltstitels als Familienangehöriger der Ehefrau seines Vaters, Frau Ravn.

14

Mit Entscheidung vom 9. März 2016 lehnte die regionale Staatsverwaltung Dänemarks diesen Antrag mit der Begründung ab, er erfolge nicht in der natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr von Frau Ravn nach Dänemark. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten geht hervor, dass die Verwaltung klarstellte, dass sie nicht zu der Frage Stellung nehme, ob die Aufenthalte von Herrn Erdem Deha Altiner in Schweden es ihm ermöglicht hätten, dort mit Frau Ravn ein Familienleben zu entwickeln oder zu festigen. Gegen die Ablehnung wurde bei der Einwanderungsbehörde ein Rechtsbehelf eingelegt, den diese mit Entscheidung vom 3. Juni 2016 zurückwies.

15

In dieser Entscheidung führt die Einwanderungsbehörde aus, Herr Erdem Deha Altiner sei nicht gleichzeitig mit Frau Ravn in das dänische Hoheitsgebiet eingereist und sein Antrag auf einen Aufenthaltstitel erfolge nicht in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr von Frau Ravn nach Dänemark. Ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines dänischen Staatsbürgers, der nach einem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat nach Dänemark zurückkehre, erlösche, wenn dieser Familienangehörige nicht in der natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des dänischen Staatsbürgers in das dänische Hoheitsgebiet einreise oder einen Aufenthaltstitel beantrage.

16

Am 15. Juni 2016 erhoben Herr Erdem Deha Altiner und Frau Ravn gegen die Entscheidung vom 3. Juni 2016 Klage beim Københavns byret (Stadtgericht Kopenhagen, Dänemark), das die Rechtssache am 18. Oktober 2016 an das vorlegende Gericht verwies.

17

Das vorlegende Gericht gibt an, die Parteien stritten darüber, ob die in der dänischen Regelung vorgesehene Bedingung, wonach das Aufenthaltsrecht eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines nach Ausübung seines Freizügigkeitsrechts nach Dänemark zurückkehrenden dänischen Staatsbürgers davon abhänge, dass die Einreise dieses Familienangehörigen in das dänische Hoheitsgebiet oder sein Antrag auf einen Aufenthaltstitel in der „natürlichen Verlängerung“ zu der Rückkehr des betreffenden dänischen Staatsangehörigen erfolge, mit Unionsrecht vereinbar sei. Die Kläger des Ausgangsverfahrens sind der Ansicht, diese Bedingung verstoße gegen Unionsrecht, insbesondere gegen Art. 21 AEUV.

18

Unter diesen Umständen hat das Østre Landsret (Berufungsgericht der Region Ost, Dänemark) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Steht Art. 21 AEUV in Verbindung mit der entsprechend angewandten Richtlinie 2004/38 dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat einem Drittstaatsangehörigen, der Familienangehöriger eines Unionsbürgers ist, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und der in den Mitgliedstaat zurückgekehrt ist, nachdem er sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht verweigert, wenn der Familienangehörige nicht in einer natürlichen Verlängerung zu der Rückkehr des Unionsbürgers einreist oder einen Antrag auf ein Aufenthaltsrecht stellt?

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

19

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die belgische und die norwegische Regierung in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen unter Verweis auf die beiden relativ kurzen Aufenthalte von Herrn Erdem Deha Altiner in Schweden Zweifel daran äußern, ob es sich dabei um einen tatsächlichen Aufenthalt in Schweden gehandelt habe, der es ihm habe ermöglichen können, mit der betroffenen Unionsbürgerin – Frau Ravn – ein Familienleben zu entwickeln oder zu festigen, das ihm nach Unionsrecht ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht in Dänemark eröffnen würde. Die norwegische Regierung ist der Ansicht, dass die Vorlagefrage unter diesen Umständen rein hypothetisch sein könnte.

20

Es trifft zu, dass nach Art. 21 Abs. 1 AEUV der tatsächliche Aufenthalt des Unionsbürgers und des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen im Aufnahmemitgliedstaat bei der Rückkehr des Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, dem Drittstaatsangehörigen, mit dem der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat ein Familienleben geführt hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht eröffnet.

21

Im vorliegenden Fall geht aus den Angaben des vorlegenden Gerichts, die in den Rn. 13 bis 15 des vorliegenden Urteils zusammengefasst sind, hervor, dass der von Herrn Erdem Deha Altiner gestellte Antrag auf einen Aufenthaltstitel nach Unionsrecht von der Einwanderungsbehörde letztlich nicht deshalb abgelehnt wurde, weil seine Aufenthalte in Schweden nicht die Entwicklung oder die Festigung eines Familienlebens zwischen ihm, Herrn Metin Altiner und Frau Ravn ermöglicht hätten, sondern weil seine Einreise in das dänische Hoheitsgebiet und sein Antrag auf einen Aufenthaltstitel nicht gleichzeitig mit der Rückkehr von Frau Ravn nach Dänemark oder in der natürlichen Verlängerung zu dieser Rückkehr erfolgt waren, wie dies von der Leitlinie Nr. 1/14 gefordert wird.

22

Nach ständiger Rechtsprechung besteht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen des nationalen Gerichts, die es zur Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener Verantwortung festlegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Die Zurückweisung des Ersuchens eines nationalen Gerichts ist dem Gerichtshof nur möglich, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit den Gegebenheiten oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 19 und 20).

23

Daher kann unbeschadet der Möglichkeit des vorlegenden Gerichts, die Tatsachenvoraussetzungen des vor ihm angefochtenen Verwaltungsakts gegebenenfalls zu überprüfen, nicht davon ausgegangen werden, dass die Vorlagefrage, die die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung wie der Leitlinie Nr. 1/14 mit dem Unionsrecht betrifft, in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein Problem rein hypothetischer Natur betrifft.

24

Das Vorabentscheidungsersuchen ist somit zulässig.

Zur Begründetheit

25

Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 21 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, wonach einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und dahin zurückkehrt, nachdem er sich auf der Grundlage und unter Beachtung des Unionsrechts in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Unionsrecht nicht gewährt wird, wenn die Einreise des Familienmitglieds in sein Hoheitsgebiet oder die dortige Stellung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel nicht „in der natürlichen Verlängerung“ zu der Rückkehr des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat erfolgt ist.

26

Hierzu hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es, wenn im Zuge eines tatsächlichen Aufenthalts eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, auf der Grundlage und unter Beachtung von Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 sich dort ein Familienleben entwickelt oder gefestigt hat, aus Gründen der praktischen Wirksamkeit der Rechte des Unionsbürgers aus Art. 21 Abs. 1 AEUV geboten ist, dass das Familienleben, das der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat geführt hat, bei seiner Rückkehr in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, fortgesetzt werden kann, indem dem betreffenden drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt wird. Andernfalls würde der Unionsbürger nämlich davon abgehalten, den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zu verlassen, um sein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 21 Abs. 1 AEUV in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, weil er nicht die Gewissheit hat, mit seinen nahen Verwandten in seinem Herkunftsmitgliedstaat ein im Aufnahmemitgliedstaat entwickeltes oder gefestigtes Familienleben fortsetzen zu können (Urteile vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 54, und vom 5. Juni 2018, Coman u. a., C‑673/16, EU:C:2018:385, Rn. 24).

27

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich außerdem, dass bei der Rückkehr eines Unionsbürgers in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, die Voraussetzungen, unter denen einem drittstaatsangehörigen Familienmitglied des Unionsbürgers, mit dem dieser sich allein in seiner Eigenschaft als Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, nach Art. 21 Abs. 1 AEUV ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden kann, grundsätzlich nicht strenger sein dürfen als diejenigen, die die Richtlinie 2004/38 für die Gewährung eines solchen Rechts im Falle eines drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers vorsieht, welcher sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat, indem er sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Zwar regelt die Richtlinie 2004/38 einen solchen Fall der Rückkehr nicht; sie ist hinsichtlich der Voraussetzungen des Aufenthalts eines Unionsbürgers in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, jedoch entsprechend anzuwenden, da in beiden Fällen der Unionsbürger die Referenzperson dafür ist, dass einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht gewährt werden kann (Urteil vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 50).

28

Das abgeleitete Aufenthaltsrecht, das gemäß Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 den Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der sich in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen hat als dem, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, gewährt wird, ist indes nicht an die Bedingung geknüpft, dass die Familienangehörigen innerhalb einer bestimmten Frist nach der Einreise des Unionsbürgers in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einreisen.

29

Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung gilt das Aufenthaltsrecht in einer solchen Situation nämlich für die Familienangehörigen eines Unionsbürgers sowohl dann, wenn sie ihn in einen anderen Mitgliedstaat als den, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, „begleiten“, als auch dann, wenn sie ihm dorthin „nachziehen“.

30

Dies vorausgeschickt ist darauf hinzuweisen, dass das etwaige Aufenthaltsrecht des Drittstaatsangehörigen in einem Unionsmitgliedstaat daraus abgeleitet wird, dass der Unionsbürger sein Recht auf Freizügigkeit ausgeübt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. März 2014, O. und B., C‑456/12, EU:C:2014:135, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Da die Gewährung eines abgeleiteten Aufenthaltsrechts nach Art. 21 Abs. 1 AEUV es ermöglichen soll, in dem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der betreffende Unionsbürger besitzt, das im Aufnahmemitgliedstaat mit einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen entwickelte oder gefestigte Familienleben fortzusetzen, dürfen die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, dessen Staatsangehörigkeit der Unionsbürger besitzt, vor der Gewährung des Aufenthaltsrechts prüfen, ob das Familienleben zwischen dem Unionsbürger und dem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen vor der Einreise des Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit der betreffende Unionsbürger besitzt, nicht unterbrochen wurde.

32

Bei dieser Prüfung kann der betreffende Mitgliedstaat den Umstand, dass der Drittstaatsangehörige, der Angehöriger der Familie eines seiner eigenen Staatsangehörigen ist, in sein Gebiet erst geraume Zeit nach dessen Rückkehr dorthin eingereist ist, als bloßes Indiz berücksichtigen.

33

Doch ist nicht auszuschließen, dass sich ein zwischen einem Unionsbürger und einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen während ihres auf der Grundlage und unter Beachtung des Unionsrechts erfolgten Aufenthalts im Aufnahmemitgliedstaat entwickeltes oder gefestigtes Familienleben fortsetzt, auch wenn der Unionsbürger in den Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt, zurückkehrt, ohne von dem betreffenden Familienangehörigen begleitet zu werden, der sich etwa aus Gründen seiner persönlichen Situation, seines Berufs oder seiner Ausbildung gezwungen sieht, seine Ankunft im Herkunftsmitgliedstaat des fraglichen Unionsbürgers zu verzögern.

34

Deshalb ist ein Antrag auf einen Aufenthaltstitel, der nicht „in der natürlichen Verlängerung“ zu der Rückkehr des Unionsbürgers gestellt wird, ein relevanter Gesichtspunkt, der zwar für sich genommen nicht entscheidend ist, aber dazu führen kann, dass der Herkunftsmitgliedstaat des Unionsbürgers im Rahmen einer umfassenden Beurteilung feststellt, dass zwischen dem Antrag und der vorherigen Ausübung des Rechts auf Freizügigkeit durch den Unionsbürger kein Zusammenhang besteht, und es daher ablehnt, einen solchen Aufenthaltstitel auszustellen.

35

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 21 Abs. 1 AEUV dahin auszulegen ist, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und dahin zurückkehrt, nachdem er sich auf der Grundlage und unter Beachtung des Unionsrechts in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Unionsrecht nicht gewährt wird, wenn die Einreise des Familienangehörigen des betreffenden Unionsbürgers in den Herkunftsmitgliedstaat dieses Unionsbürgers oder die dortige Stellung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel nicht „in der natürlichen Verlängerung“ zu der Rückkehr des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat erfolgt, soweit nach dieser Regelung im Rahmen einer umfassenden Beurteilung auch die Berücksichtigung anderer relevanter Gesichtspunkte gefordert wird, insbesondere solcher, mit denen sich nachweisen lässt, dass trotz der Zeit, die zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in seinen Herkunftsmitgliedstaat und der Einreise des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen dorthin verstrichen ist, das im Aufnahmemitgliedstaat entwickelte oder gefestigte Familienleben nicht beendet wurde, so dass dem betreffenden Familienangehörigen das abgeleitete Aufenthaltsrecht gewährt werden kann, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

Kosten

36

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 21 Abs. 1 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, wonach einem drittstaatsangehörigen Familienangehörigen eines Unionsbürgers, der die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats besitzt und dahin zurückkehrt, nachdem er sich auf der Grundlage und unter Beachtung des Unionsrechts in einem anderen Mitgliedstaat aufgehalten hat, ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht nach Unionsrecht nicht gewährt wird, wenn die Einreise des Familienangehörigen des betreffenden Unionsbürgers in den Herkunftsmitgliedstaat dieses Unionsbürgers oder die dortige Stellung eines Antrags auf einen Aufenthaltstitel nicht „in der natürlichen Verlängerung“ zu der Rückkehr des Unionsbürgers in diesen Mitgliedstaat erfolgt, soweit nach dieser Regelung im Rahmen einer umfassenden Beurteilung auch die Berücksichtigung anderer relevanter Gesichtspunkte gefordert wird, insbesondere solcher, mit denen sich nachweisen lässt, dass trotz der Zeit, die zwischen der Rückkehr des Unionsbürgers in seinen Herkunftsmitgliedstaat und der Einreise des drittstaatsangehörigen Familienangehörigen dorthin verstrichen ist, das im Aufnahmemitgliedstaat entwickelte oder gefestigte Familienleben nicht beendet wurde, so dass dem betreffenden Familienangehörigen das abgeleitete Aufenthaltsrecht gewährt werden kann, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Dänisch.

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