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Document 62017CJ0001

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 21. Juni 2018.
Petronas Lubricants Italy SpA gegen Livio Guida.
Vorabentscheidungsersuchen der Corte d'appello di Torino.
Gutachten nach Art. 218 Abs. 11 AEUV – Umfassendes Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen Kanada einerseits und der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten andererseits (CETA) – Beilegung von Streitigkeiten zwischen Investoren und Staaten (ISDS) – Einsetzung eines Gerichts und einer Rechtsbehelfsinstanz – Vereinbarkeit mit dem Primärrecht der Union – Erfordernis der Beachtung der Autonomie der Rechtsordnung der Union – Von den Organen der Union gemäß deren verfassungsrechtlichem Rahmen festgelegtes Niveau des Schutzes öffentlicher Interessen – Gleichbehandlung von Investoren aus Kanada und aus der Union – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 20 – Zugang zu dem Gericht und der Rechtsbehelfsinstanz und Unabhängigkeit dieser Gerichte – Art. 47 der Charta – Finanzielle Zugänglichkeit – Verpflichtung, die finanzielle Zugänglichkeit für natürliche Personen und kleine und mittlere Unternehmen zu gewährleisten – Externer und interner Aspekt des Erfordernisses der Unabhängigkeit – Ernennung, Vergütung und Verhaltenspflichten der Mitglieder der Gerichte – Rolle des Gemischten CETA-Ausschusses – Verbindliche Auslegungen des CETA durch den Gemischten CETA-Ausschuss.
Rechtssache C-1/17.

Court reports – general – 'Information on unpublished decisions' section

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2018:478

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

21. Juni 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen – Verordnung (EG) Nr. 44/2001 – Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge – Art. 20 Abs. 2 – Arbeitgeber, der vor den Gerichten des Mitgliedstaats verklagt wird, in dem er seinen Wohnsitz hat – Widerklage des Arbeitgebers – Bestimmung des zuständigen Gerichts“

In der Rechtssache C‑1/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte d’appello di Torino (Oberlandesgericht Turin, Italien) mit Entscheidung vom 21. Dezember 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 2. Januar 2017, in dem Verfahren

Petronas Lubricants Italy SpA

gegen

Livio Guida

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan (Berichterstatter), D. Šváby und M. Vilaras,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Petronas Lubricants Italy SpA, vertreten durch L. Failla, G. Crespi und A. Valentini, avvocati,

von Herrn Guida, vertreten durch U. Oliva und C. Germano, avvocati,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von P. Pucciariello, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Heller und F. Moro als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. März 2018

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Livio Guida, wohnhaft in Polen, und seinem ehemaligen Arbeitgeber, der Gesellschaft italienischen Rechts Petronas Lubricants Italy SpA (im Folgenden: PL Italy) wegen der von dieser Gesellschaft gegenüber Herrn Guida ausgesprochenen Kündigung.

Rechtlicher Rahmen

3

Die Erwägungsgründe 11, 12, 13 und 15 der Verordnung Nr. 44/2001 lauten:

„(11)

Die Zuständigkeitsvorschriften müssen in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten, und diese Zuständigkeit muss stets gegeben sein außer in einigen genau festgelegten Fällen, in denen aufgrund des Streitgegenstands oder der Vertragsfreiheit der Parteien ein anderes Anknüpfungskriterium gerechtfertigt ist. Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden.

(12)

Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten muss durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind.

(13)

Bei Versicherungs-, Verbraucher- und Arbeitssachen sollte die schwächere Partei durch Zuständigkeitsvorschriften geschützt werden, die für sie günstiger sind als die allgemeine Regelung.

(15)

Im Interesse einer abgestimmten Rechtspflege müssen Parallelverfahren so weit wie möglich vermieden werden, damit nicht in zwei Mitgliedstaaten miteinander unvereinbare Entscheidungen ergehen. Es sollte eine klare und wirksame Regelung zur Klärung von Fragen der Rechtshängigkeit und der im Zusammenhang stehenden Verfahren sowie zur Verhinderung von Problemen vorgesehen werden, die sich aus der einzelstaatlich unterschiedlichen Festlegung des Zeitpunkts ergeben, von dem an ein Verfahren als rechtshängig gilt. Für die Zwecke dieser Verordnung sollte dieser Zeitpunkt autonom festgelegt werden.“

4

Art. 6 Nr. 3 dieser Verordnung sieht in Kapitel II Abschnitt 2 („Besondere Zuständigkeiten“) vor, dass eine Person, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, „wenn es sich um eine Widerklage handelt, die auf denselben Vertrag oder Sachverhalt wie die Klage selbst gestützt wird, vor dem Gericht [verklagt werden kann], bei dem die Klage selbst anhängig ist“.

5

Kapitel II Abschnitt 5 dieser Verordnung umfasst die Art. 18 bis 21 und enthält die Zuständigkeitsregeln für individuelle Arbeitsverträge.

6

Art. 18 Abs. 1 der Verordnung bestimmt:

„Bilden ein individueller Arbeitsvertrag oder Ansprüche aus einem individuellen Arbeitsvertrag den Gegenstand des Verfahrens, so bestimmt sich die Zuständigkeit unbeschadet des Artikels 4 und des Artikels 5 Nummer 5 nach diesem Abschnitt.“

7

Art. 19 der Verordnung Nr. 44/2001 sieht vor:

„Ein Arbeitgeber, der seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat, kann verklagt werden:

1.

vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat, oder

2.

in einem anderen Mitgliedstaat

a)

vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet oder zuletzt gewöhnlich verrichtet hat, oder

b)

wenn der Arbeitnehmer seine Arbeit gewöhnlich nicht in ein und demselben Staat verrichtet oder verrichtet hat, vor dem Gericht des Ortes, an dem sich die Niederlassung, die den Arbeitnehmer eingestellt hat, befindet bzw. befand.“

8

In Art. 20 der Verordnung heißt es:

„(1)   Die Klage des Arbeitgebers kann nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats erhoben werden, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer seinen Wohnsitz hat.

(2)   Die Vorschriften dieses Abschnitts lassen das Recht unberührt, eine Widerklage vor dem Gericht zu erheben, bei dem die Klage selbst gemäß den Bestimmungen dieses Abschnitts anhängig ist.“

9

Art. 21 der Verordnung lautet:

„Von den Vorschriften dieses Abschnitts kann im Wege der Vereinbarung nur abgewichen werden,

1.

wenn die Vereinbarung nach der Entstehung der Streitigkeit getroffen wird oder

2.

wenn sie dem Arbeitnehmer die Befugnis einräumt, andere als die in diesem Abschnitt angeführten Gerichte anzurufen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

Herr Guida wurde 1982 von PL Italy eingestellt und 1996 zu der mit dieser Gesellschaft verbundenen, zu 100 % von PL Italy gehaltenen Gesellschaft Petronas Lubricants Poland sp. z o.o. (im Folgenden: PL Poland) versetzt, bei der er die Position eines Generaldirektors innehatte und seit 1998 den Rang eines Geschäftsführers besaß. Im Jahr 2001 schloss er parallel dazu mit PL Poland einen befristeten Arbeitsvertrag nach polnischem Recht, der mittels mehrerer aufeinanderfolgender Erneuerungen verlängert wurde. Die letzte Vertragserneuerung hatte eine Laufzeit bis zum 30. April 2016. Mit zwei Schreiben vom 17. bzw. vom 29. April 2014 wurde Herr Guida in verschiedener Hinsicht abgemahnt. Ihm wurde u. a. vorgehalten, er habe sich von PL Poland wiederholt Kosten für behauptete Dienstreisen erstatten lassen, die in Wirklichkeit Zeiten betroffen hätten, während deren er sich im Urlaub befunden habe, er habe PL Italy hinsichtlich der Jahre 2012 und 2013 in Bezug auf die Abrechnung der Beträge getäuscht, mit denen der Nettowert des in polnischen Zloty erhaltenen Gehalts habe sichergestellt werden sollen, indem er ihr gegenüber einen Wechselkurs zwischen dem polnischen Zloty und dem Euro angegeben habe, der für ihn günstiger gewesen sei als der amtliche Wechselkurs, und er habe sich für die Jahre 2008 bis 2014 ungerechtfertigterweise von PL Poland jährlich den nicht genommenen Urlaub auszahlen lassen.

11

Mit Schreiben vom 28. Mai 2014 kündigte PL Italy Herrn Guida aus, wie es hieß, wichtigem Grund. Mit einem weiteren Schreiben vom selben Tag wurde ihm die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses mit PL Poland mitgeteilt.

12

Am 31. Juli 2014 reichte Herr Guida beim Tribunale di Torino (Landesgericht Turin, Italien) gegen PL Italy Klage ein, mit der er beantragte, seine Kündigung für ungerechtfertigt, jedenfalls aber für rechtswidrig zu erklären, und PL Italy dazu zu verurteilen, den hierfür nach italienischem Recht vorgesehenen Schadensersatz zu zahlen und den immateriellen Schaden zu ersetzen, den er durch die Ehrenrührigkeit der Kündigung erlitten habe. Hierzu machte Herr Guida geltend, die Abmahnungen seien verspätet erfolgt und unbestimmt, und der ihm zur Last gelegte Sachverhalt sei falsch.

13

Am 5. Dezember 2014 ließ sich PL Italy im Verfahren vor diesem Gericht ein und beantragte die Zurückweisung der Anträge von Herrn Guida. Im Wege der Widerklage beantragte die Gesellschaft, Herrn Guida zur Erstattung des Betrags von 143816,29 Euro zu verurteilen, den er zu Unrecht als Erstattung von Reisekosten, Abgeltung von Urlaub und Überzahlung wegen der Anwendung falscher Wechselkurse Zloty/Euro erhalten habe, und stellte klar, dass PL Poland ihr ihre Forderungen gegen Herrn Guida mit Abtretungsvertrag vom 3. Dezember 2014 abgetreten habe.

14

Herr Guida machte geltend, das italienische Gericht sei gemäß Art. 20 Abs. 1 und 2 und Art. 6 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 für die Entscheidung über die von PL Italy erhobene Widerklage unzuständig.

15

Mit Urteil vom 14. September 2015 verurteilte das Tribunale di Torino (Landesgericht Turin) PL Italy, Herrn Guida als Ersatz des durch die Ehrenrührigkeit der Kündigung erlittenen immateriellen Schadens 100000 Euro zu zahlen, wies die Klage im Übrigen ab und erklärte sich hinsichtlich der von PL Italy erhobenen Widerklage für unzuständig, da dafür die polnischen Gerichte zuständig seien.

16

Das Landesgericht stellte insoweit fest, dass Herr Guida anhand von Dokumenten bewiesen habe, dass er seinen Wohnsitz in Polen habe.

17

Allerdings war es der Ansicht, dass Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 für Arbeitgeber zwar eine Ausnahme von der Verpflichtung vorsehe, Klagen gegen ihre Beschäftigten in dem Mitgliedstaat zu erheben, in dessen Hoheitsgebiet diese ihren Wohnsitz hätten, diese Ausnahme jedoch nur anwendbar sei, wenn der Arbeitgeber Forderungen geltend machen wolle, die in seiner Rechtssphäre entstanden seien, nicht aber, wenn der Arbeitgeber Forderungen geltend mache, die ursprünglich nicht seine eigenen gewesen seien und die er später vertraglich erworben habe.

18

PL Italy legte gegen dieses Urteil beim vorlegenden Gericht, der Corte d’appello di Torino (Oberlandesgericht Turin, Italien), Berufung ein, mit der sie zum einen beantragte, das Urteil, mit dem sie zum Ersatz des immateriellen Schadens verurteilt wurde, aufzuheben, und zum anderen ihre Widerklage wiederholte.

19

Dieses Gericht möchte wissen, ob im Hinblick auf Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ein Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, der von einem ehemaligen Arbeitnehmer vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats verklagt wurde, gemäß Art. 19 dieser Verordnung die Möglichkeit hat, gegen diesen Arbeitnehmer eine Widerklage vor dem Gericht zu erheben, bei dem die Klage selbst anhängig ist.

20

Für den Fall, dass sich aus Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 eine solche Möglichkeit ableiten lässt, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob nach dieser Bestimmung das Gericht, bei dem die Klage selbst anhängig ist, auch dann zuständig ist, wenn die Widerklage des Arbeitgebers zum einen eine Forderung zum Gegenstand hat, die von einer anderen Person übertragen wurde, die aufgrund eines parallelen Arbeitsvertrags auch Arbeitgeber desselben Beschäftigten ist, und zum anderen auf eine Forderungsabtretung gestützt ist, die, nachdem der Arbeitnehmer die Klage selbst erhoben hatte, zwischen dem verklagten Arbeitgeber und dem ursprünglichen Forderungsinhaber vertraglich vereinbart wurde.

21

Unter diesen Umständen hat die Corte d’appello di Torino (Berufungsgericht Turin) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Kann nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ein Arbeitgeber mit Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, der von einem ehemaligen Arbeitnehmer vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dem er seinen Wohnsitz hat (Art. 19 der Verordnung), verklagt wird, eine Widerklage gegen den Arbeitnehmer vor demselben Gericht erheben, bei dem die Klage selbst anhängig ist?

2.

Ist im Fall der Bejahung der ersten Frage das Gericht, bei dem die Klage selbst anhängig ist, nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 auch dann zuständig, wenn die Widerklage des Arbeitgebers nicht eine ursprünglich eigene Forderung des Arbeitgebers zum Gegenstand hat, sondern eine Forderung, die ursprünglich einer anderen Person zustand (die gleichzeitig Arbeitgeber desselben Arbeitnehmers kraft eines parallelen Arbeitsvertrags ist), und Grundlage für die Widerklage ein Forderungsabtretungsvertrag ist, der zwischen dem Arbeitgeber und dem ursprünglichen Forderungsinhaber nach Erhebung der Klage selbst durch den Arbeitnehmer geschlossen wurde?

Zu den Vorlagefragen

22

Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen ist, dass er dem Arbeitgeber das Recht einräumt, vor dem Gericht, bei dem die von einem Arbeitnehmer erhobene Klage selbst ordnungsgemäß anhängig ist, eine Widerklage zu erheben, die sich auf eine Forderungsabtretung stützt, die der Arbeitgeber und der ursprüngliche Forderungsinhaber vertraglich vereinbart haben, nachdem die Klage selbst erhoben worden war.

23

Hierzu ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 44/2001 für Rechtsstreitigkeiten über Arbeitsverträge eine Reihe von Vorschriften enthält, die, wie aus dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung hervorgeht, die schwächere Vertragspartei durch Zuständigkeitsvorschriften schützen sollen, die für sie günstiger sind (Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 49).

24

Diese Regelungen ermöglichen es dem Arbeitnehmer, seinen Arbeitgeber vor dem Gericht zu verklagen, das ihm seiner Ansicht nach am nächsten steht, indem sie ihm die Befugnis einräumen, vor einem Gericht des Mitgliedstaats zu klagen, in dem der Arbeitgeber seinen Sitz hat, oder vor dem Gericht des Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, oder – wenn diese Arbeit nicht in ein und demselben Land verrichtet wird – vor dem Gericht des Ortes der Niederlassung, die ihn eingestellt hat. Die Bestimmungen des genannten Abschnitts beschränken außerdem die Möglichkeit für den Arbeitgeber, der gegen den Arbeitnehmer klagt, den Gerichtsstand zu wählen, sowie die Möglichkeit, von den Zuständigkeitsvorschriften der Verordnung abzuweichen (Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 50).

25

Zum anderen handelt es sich bei den Vorschriften des Kapitels II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 44/2001 nicht nur um besondere, sondern auch um abschließende Bestimmungen (Urteil vom 14. September 2017, Nogueira u. a., C‑168/16 und C‑169/16, EU:C:2017:688, Rn. 51).

26

Was Widerklagen angeht, wurde die in Art. 6 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 vorgesehene Regel in Art. 20 Abs. 2 dieser Verordnung aufgenommen (Urteil vom 22. Mai 2008, Glaxosmithkline und Laboratoires Glaxosmithkline, C‑462/06, EU:C:2008:299, Rn. 22).

27

Aus dem Wortlaut von Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 ergibt sich jedoch, dass die Inanspruchnahme durch den Arbeitnehmer der für ihn günstigeren Zuständigkeitsvorschriften das Recht unberührt lassen muss, eine Widerklage vor dem Gericht zu erheben, bei dem die Klage selbst anhängig ist.

28

Daraus folgt, dass, solange die Wahl des Arbeitnehmers, was das für die Prüfung seiner Klage zuständige Gericht angeht, beachtet wurde, das Ziel der Privilegierung dieses Arbeitnehmers erreicht ist, und die Möglichkeit, diese Klage zusammen mit einer Widerklage nach Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 zu prüfen, nicht beschränkt werden kann.

29

Was den Begriff „Widerklage“ angeht, der in Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 nicht definiert wird, ist angesichts der Ausführungen in Rn. 26 des vorliegenden Urteils der in Art. 6 Nr. 3 der Verordnung Nr. 44/2001 aufgeführte Begriff „Widerklage“ in seiner Auslegung durch den Gerichtshof zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs soll es nämlich der geordneten Rechtspflege dienen, wenn der Sondergerichtsstand für die Widerklage die Parteien ihre sämtlichen auf einer gemeinsamen Grundlage beruhenden wechselseitigen Ansprüche im Laufe desselben Verfahrens und vor demselben Richter klären lässt. Auf diese Weise werden überflüssige und mehrfache Verfahren vermieden (Urteil vom 12. Oktober 2016, Kostanjevec, C‑185/15, EU:C:2016:763, Rn. 37).

30

Eine solche gemeinsame Grundlage der Klage selbst und der Widerklage kann in einem Vertrag oder, wie der Generalanwalt in Nr. 42 seiner Schlussanträge hervorgehoben hat, in einer faktischen Lage wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden begründet liegen.

31

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Herr Guida einen Arbeitsvertrag mit PL Italy, der 100%igen Eigentümerin von PL Poland, geschlossen hatte, bevor er einen gesonderten „parallelen“ Arbeitsvertrag mit PL Poland schloss, auf den PL Italy ihre Widerklage stützt. Auch wenn das von Herrn Guida eingeleitete Verfahren den ursprünglichen Vertrag betrifft, beruht die Kündigung dieses Vertrags durch PL Italy, die Herr Guida in diesem Verfahren anficht, doch auf demselben Sachverhalt wie die von PL Italy erhobene Widerklage.

32

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die gegenseitigen Ansprüche von Herrn Guida und PL Italy eine gemeinsame Grundlage im Sinne der in Rn. 29 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung haben, und dass das Gericht, bei dem die Klage selbst anhängig ist, folglich für die Prüfung der Widerklage zuständig ist.

33

Da dem Arbeitgeber das Gericht, bei dem die vom Arbeitnehmer erhobene Klage selbst anhängig ist, nicht im Voraus bekannt ist, kann schließlich dem Umstand, dass er die Forderungen, auf denen die Widerklage beruht, erst im Anschluss an die Anrufung dieses Gerichts erworben hat, keine Relevanz zukommen.

34

Nach alledem ist Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 dahin auszulegen, dass er in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dem Arbeitgeber das Recht einräumt, vor dem Gericht, bei dem die von einem Arbeitnehmer erhobene Klage selbst ordnungsgemäß anhängig ist, eine Widerklage zu erheben, die sich auf eine Forderungsabtretung stützt, die der Arbeitgeber und der ursprüngliche Forderungsinhaber vertraglich vereinbart haben, nachdem die Klage selbst erhoben worden war.

Kosten

35

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dem Arbeitgeber das Recht einräumt, vor dem Gericht, bei dem die von einem Arbeitnehmer erhobene Klage selbst ordnungsgemäß anhängig ist, eine Widerklage zu erheben, die sich auf eine Forderungsabtretung stützt, die der Arbeitgeber und der ursprüngliche Forderungsinhaber vertraglich vereinbart haben, nachdem die Klage selbst erhoben worden war.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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