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Document 62016CJ0403

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 13. Dezember 2017.
Soufiane El Hassani gegen Minister Spraw Zagranicznych.
Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 3 – Visakodex der Gemeinschaft – Ablehnung eines Visumantrags – Recht des Antragstellers auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf zu garantieren.
Rechtssache C-403/16.

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2017:960

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

13. Dezember 2017 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts – Verordnung (EG) Nr. 810/2009 – Art. 32 Abs. 3 – Visakodex der Gemeinschaft – Ablehnung eines Visumantrags – Recht des Antragstellers auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung – Verpflichtung eines Mitgliedstaats, das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf zu garantieren“

In der Rechtssache C‑403/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) mit Entscheidung vom 28. Juni 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juli 2016, in dem Verfahren

Soufiane El Hassani

gegen

Minister Spraw Zagranicznych

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter C. G. Fernlund, A. Arabadjiev, S. Rodin und E. Regan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: V. Giacobbo-Peyronnel, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 17. Mai 2017,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn El Hassani, vertreten durch J. Białas, radca prawny,

des Minister Spraw Zagranicznych, vertreten durch K. Pawłowska-Nojszewska und M. Arciszewski als Bevollmächtigte,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna, M. Kamejsza-Kozłowska und K. Straś als Bevollmächtigte,

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vláčil als Bevollmächtigte,

der estnischen Regierung, vertreten durch N. Grünberg als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch A. Stobiecka-Kuik und C. Cattabriga als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 7. September 2017

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) (ABl. 2009, L 243, S. 1) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. 2013, L 182, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Visakodex).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Soufiane El Hassani und dem Minister Spraw Zagranicznych (Minister für auswärtige Angelegenheiten, Polen) wegen einer Entscheidung des Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen), mit der die Klage von Herrn El Hassani gegen die Ablehnung seines Visumantrags durch einen Bescheid des Konsul Rzeczypospolitej Polskiej w Rabacie (Konsul der Republik Polen in Rabat [Marokko]) vom 27. Januar 2015 abgewiesen wurde.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3

Im 29. Erwägungsgrund des Visakodex heißt es:

„Diese Verordnung steht im Einklang mit den Grundrechten und Grundsätzen, die insbesondere mit der [am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK)] des Europarates und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“

4

Art. 1 Abs. 1 des Visakodex bestimmt:

„Mit dieser Verordnung werden die Verfahren und Voraussetzungen für die Erteilung von Visa für die Durchreise durch das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten oder für geplante Aufenthalte in diesem Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen festgelegt.“

5

Art. 32 Abs. 1 und 3 des Visakodex lautet:

„(1)   Unbeschadet des Artikels 25 Absatz 1 wird das Visum verweigert,

b)

wenn begründete Zweifel an der Echtheit der von dem Antragsteller vorgelegten Belege oder am Wahrheitsgehalt ihres Inhalts, an der Glaubwürdigkeit seiner Aussagen oder der von ihm bekundeten Absicht bestehen, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf der Gültigkeit des beantragten Visums zu verlassen.

(3)   Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, steht ein Rechtsmittel zu. Die Rechtsmittel sind gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, und in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats zu führen. Die Mitgliedstaaten informieren die Antragsteller über das im Falle der Einlegung eines Rechtsmittels zu befolgende Verfahren nach Anhang VI.“

Polnisches Recht

6

Art. 76 Abs. 1 der ustawa o cudzoziemcach (Ausländergesetz) vom 12. Dezember 2013 bestimmt:

„Im Fall der Ablehnung der Erteilung des Schengen-Visums … kann, falls

1.

der Konsul den Bescheid erlassen hat, die erneute Überprüfung der Angelegenheit durch diese Behörde beantragt werden;

2.

der Komendant Główny Straży Granicznej [(Kommandant einer Grenzschutzstelle)] den Bescheid erlassen hat, Widerspruch beim Komendant placówki Straży Granicznej [(Hauptkommandant des Grenzschutzes)] eingelegt werden.“

7

In Art. 5 der ustawa-Prawo o postępowaniu przed sądami administracyjnymi (Verwaltungsgerichtsordnung) vom 30. August 2002 heißt es:

„Die Verwaltungsgerichte sind nicht zuständig in Verfahren:

4.

über die Erteilung von Visa durch die Konsuln; dies gilt nicht für Visa, die Ausländern erteilt werden, die im Sinne von Art. 2 Nr. 4 der ustawa … o wjeździe na terytorium Rzeczypospolitej Polskiej, pobycie oraz wyjeździe z tego terytorium obywateli państw członkowskich Unii Europejskiej i członków ich rodzin [(Gesetz über die Einreise in die Republik Polen, den Aufenthalt und die Ausreise aus der Republik Polen von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihren Familienangehörigen)] vom 14. Juli 2006 [(im Folgenden: Einreisegesetz)] Familienangehörige eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Europäischen Union, eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum [(EWR)] oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft sind.“

8

Art. 58 Nr. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung sieht vor:

„Das Gericht weist die Klage ab,

1.

wenn die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts nicht gegeben ist; …“

9

In Art. 2 des Einreisegesetzes heißt es:

„Für die Zwecke dieses Gesetzes bezeichnen die Begriffe:

3.

EU-Bürger – einen Ausländer, der

a)

Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Union ist,

b)

Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des [EWR‑]Abkommens … ist,

c)

Staatsangehöriger der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist,

4.

Familienangehöriger – einen Ausländer, der unabhängig davon, ob er selbst EU-Bürger ist,

a)

Ehegatte eines EU-Bürgers ist,

b)

Verwandter in gerader absteigender Linie eines EU‑Bürgers oder von dessen Ehegatten ist, soweit er nicht älter als 21 Jahre ist oder ihm von diesem EU-Bürger oder dessen Ehegatten Unterhalt gewährt wird,

c)

Verwandter in gerader aufsteigender Linie eines EU‑Bürgers oder von dessen Ehegatten ist, soweit ihm von diesem EU‑Bürger oder dessen Ehegatten Unterhalt gewährt wird“.

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

10

Herr El Hassani beantragte in Rabat beim Konsul der Republik Polen die Erteilung eines Schengen-Visums, um seine Ehefrau und sein Kind, die beide die polnische Staatsangehörigkeit haben, besuchen zu können. Dieser Antrag wurde vom Konsul mit Bescheid vom 5. Januar 2015 abgelehnt.

11

Wie im polnischen Verfahrensrecht vorgesehen, beantragte Herr El Hassani die Überprüfung durch denselben Konsul, der am 27. Januar 2015 die Erteilung des Visums erneut ablehnte. Begründet wurde die Entscheidung damit, dass nicht sicher sei, ob Herr El Hassani beabsichtige, Polen vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Visums wieder zu verlassen.

12

Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger des Ausgangsverfahrens Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau). Er macht geltend, die Nichterteilung des Visums unter diesen Umständen stelle einen Verstoß gegen Art. 60 des Ausländergesetzes in Verbindung mit Art. 8 EMRK dar. Ferner sehe Art. 76 des Ausländergesetzes keinen Art. 13 EMRK entsprechenden Schutzstandard vor.

13

Herr El Hassani macht außerdem geltend, dass zwar seine Ehefrau und sein Kind polnische Staatsangehörige seien, dass es ihm aber nach polnischem Recht nicht erlaubt sei, bei einem Verwaltungsgericht Klage zu erheben, wenn sein Visumantrag abgelehnt werde, wohingegen ausländischen Ehegatten von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Union diese Möglichkeit offenstehe.

14

In seiner Klageerwiderung vom 30. März 2015 beantragte der Minister für Auswärtige Angelegenheiten, die Klage als unzulässig im Sinne von Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung oder – hilfsweise – als unbegründet abzuweisen und das Verfahren einzustellen.

15

Daraufhin beantragte Herr El Hassani beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau), den Gerichtshof um Vorabentscheidung bezüglich der Auslegung von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex zu ersuchen, um festzustellen, ob diese Vorschrift auch das Recht auf gerichtliche Kontrolle der Ablehnung des Visumantrags umfasst.

16

Mit Beschluss vom 24. November 2015 wies der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) die Klage gemäß Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung ab, da die Verwaltungsgerichte für Klagen gegen die Nichterteilung eines Schengen-Visums durch den Konsul nicht zuständig seien. Eine Vorlage an den Gerichtshof lehnte das Gericht ab.

17

Herr El Hassani legte am 28. April 2016 Kassationsbeschwerde beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) ein und machte geltend, als Drittstaatsangehöriger, der nach dem Einreisegesetz nicht Familienangehöriger eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Union sei, habe er kein Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf vor einem nationalen Gericht. Dies verstoße gegen Art. 13 EMRK und gegen Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), die einen Anspruch auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleisteten.

18

Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts hängt die Möglichkeit, bei einem Verwaltungsgericht Klage gegen einen Bescheid über einen Visumantrag zu erheben, davon ab, welche Stelle den Bescheid erlassen hat und welchen Status der Kläger hat.

19

Zwar kann gegen ablehnende Bescheide nationaler Stellen über Visumanträge, wenn sie vom Hauptkommandanten des Grenzschutzes oder vom Minister für Auswärtige Angelegenheiten erlassen wurden, und gegen ablehnende Bescheide des Woiwoden (Polen) über die Verlängerung eines Visums Klage beim Verwaltungsgericht erhoben werden. Doch bei ablehnenden Bescheiden eines Konsuls über Visumanträge – auch Anträge auf Erteilung von Schengen-Visa – gilt dies nicht immer. Ein Drittstaatsangehöriger kann gegen einen solchen Bescheid nur dann bei einem Verwaltungsgericht klagen, wenn er im Sinne des Art. 2 Nr. 4 des Einreisegesetzes Familienangehöriger eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats der Union, eines Mitgliedstaats der Europäischen Freihandelsassoziation und Vertragsstaats des EWR-Abkommens oder der Schweizerischen Eidgenossenschaft ist. Anderen Drittstaatsangehörigen steht gemäß Art. 76 Abs. 1 Nr. 1 des Ausländergesetzes nur ein Rechtsbehelf auf Verwaltungsebene, nämlich ein Antrag auf Überprüfung durch dieselbe Stelle, zur Verfügung.

20

Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die in Art. 5 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung festgelegte Unzuständigkeit der Verwaltungsgerichte für Verfahren über die Visaerteilung durch Konsuln gegen Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Verbindung mit Art. 47 Abs. 1 der Charta, der das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gewährleiste, verstoßen könne.

21

Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 32 Abs. 3 des Visakodex in Anbetracht des 29. Erwägungsgrundes des Visakodex und von Art. 47 Abs. 1 der Charta dahin auszulegen, dass er einen Mitgliedstaat dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf (Rechtsmittel) bei einem Gericht zu gewährleisten?

Zur Vorlagefrage

22

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 32 Abs. 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, einen gerichtlichen Rechtsbehelf vorzusehen.

23

Nach dem Wortlaut von Art. 32 Abs. 3 des Visakodex steht Antragstellern, deren Visumantrag abgelehnt wurde, ein „Rechtsmittel“ zu, das gegen den Mitgliedstaat, der endgültig über den Visumantrag entschieden hat, „in Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht dieses Mitgliedstaats“ zu führen ist.

24

Diese Bestimmung gibt demnach Antragstellern bei einer endgültigen Ablehnung des Visumantrags ausdrücklich die Möglichkeit, einen Rechtsbehelf nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats einzulegen, der die Entscheidung erlassen hat.

25

Der Unionsgesetzgeber hat somit die Entscheidung, welche Art von Rechtsbehelf in welcher konkreten Ausgestaltung den Visumantragstellern zur Verfügung stehen soll, den Mitgliedstaaten überlassen.

26

Nach ständiger Rechtsprechung ist es mangels einschlägiger Unionsregeln nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der Rechtsbehelfe, die zum Schutz der Rechte der Bürger bestimmt sind, festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27

Daraus ergibt sich, dass zwei kumulative Voraussetzungen, nämlich die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes und des Effektivitätsgrundsatzes, erfüllt sein müssen, damit sich ein Mitgliedstaat in Situationen, die dem Unionsrecht unterliegen, auf den Grundsatz der Verfahrensautonomie berufen kann (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 49).

28

Diese Erfordernisse in Bezug auf die Äquivalenz und Effektivität sind Ausdruck der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, den gerichtlichen Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte zu gewährleisten. Sie gelten sowohl für die Bestimmung der Gerichte, die für die Entscheidung über auf dieses Recht gestützte Klagen zuständig sind, als auch für die Bestimmung der Verfahrensmodalitäten (Urteil vom 18. März 2010, Alassini u. a., C‑317/08 bis C‑320/08, EU:C:2010:146, Rn. 49).

29

Zum einen verlangt der Äquivalenzgrundsatz, dass bei der Anwendung sämtlicher für Rechtsbehelfe geltenden Vorschriften nicht danach unterschieden wird, ob ein Verstoß gegen Unionsrecht oder gegen innerstaatliches Recht gerügt wird (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Zum anderen darf nach dem Effektivitätsgrundsatz eine nationale Verfahrensvorschrift wie die im Ausgangsverfahren in Frage stehende die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Urteil vom 15. März 2017, Aquino, C‑3/16, EU:C:2017:209, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31

Es ist Sache des für die Auslegung nationalen Rechts allein zuständigen vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob und inwieweit die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Überprüfungsregelung diesen Anforderungen entspricht.

32

Das nationale Gericht muss dabei berücksichtigen, dass die Auslegung der Bestimmungen des Visakodex nach dessen 29. Erwägungsgrund in Einklang mit den durch die Charta anerkannten Grundrechten und Grundsätzen stehen muss.

33

Nach ständiger Rechtsprechung sollen die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen, aber nicht außerhalb derselben Anwendung finden. Insoweit hat der Gerichtshof bereits festgestellt, dass er eine nationale Regelung nicht anhand der Charta beurteilen kann, wenn sie nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt. Sobald dagegen eine solche Regelung in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, hat der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise zu geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung er sichert (vgl. u. a. Urteil vom 26. September 2013, Texdata Software, C‑418/11, EU:C:2013:588, Rn. 72 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34

Im vorliegenden Fall steht außer Frage, dass die Ablehnung des vom Kläger des Ausgangsverfahrens gestellten Visumantrags, die ihm mit dem Standardformular aus Anhang VI des Visakodex mitgeteilt wurde, auf einen der in Art. 32 Abs. 1 des Visakodex genannten Gründe gestützt war.

35

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass der Visakodex die Voraussetzungen der Erteilung, Annullierung und Aufhebung von Visa regelt und die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten folglich die Erteilung eines einheitlichen Visums nicht unter Berufung auf einen anderen Grund als die in diesem Kodex vorgesehenen Gründe verweigern dürfen (Urteil vom 19. Dezember 2013, Koushkaki, C‑84/12, EU:C:2013:862, Rn. 47 und 51).

36

Zwar verfügen die nationalen Behörden bei der Prüfung von Visumanträgen in Bezug auf die Anwendungsvoraussetzungen der die im Visakodex vorgesehenen Ablehnungsgründe und die Würdigung der relevanten Tatsachen über einen weiten Beurteilungsspielraum, doch dieser Beurteilungsspielraum ändert nichts daran, dass die Behörden unmittelbar eine unionsrechtliche Vorschrift anwenden.

37

Folglich ist die Charta anwendbar, wenn ein Mitgliedstaat eine Entscheidung erlässt, mit der er nach Art. 32 Abs. 1 des Visakodex ein Visum verweigert.

38

Art. 47 der Charta, der den Grundsatz des wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt, bestimmt in Abs. 1, dass jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2015, Tall, C‑239/14, EU:C:2015:824, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39

Art. 47 Abs. 2 der Charta sieht vor, dass jede Person ein Recht darauf hat, dass ihre Sache von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird. Die Wahrung dieses Rechts setzt voraus, dass die Entscheidung einer Verwaltungsbehörde, die die Voraussetzungen der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit nicht selbst erfüllt, einer späteren Kontrolle durch ein Gericht unterliegt, das insbesondere befugt sein muss, sich mit allen relevanten Fragen zu befassen (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 55).

40

Der Begriff der Unabhängigkeit, die dem Auftrag des Richters innewohnt, bedeutet vor allem, dass die betreffende Stelle gegenüber der Behörde, die die mit einem Rechtsbehelf angefochtene Entscheidung erlassen hat, die Eigenschaft eines Dritten hat (Urteil vom 19. September 2006, Wilson, C‑506/04, EU:C:2006:587, Rn. 49).

41

Folglich sind die Mitgliedstaaten entsprechend den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 119 seiner Schlussanträge nach Art. 47 der Charta verpflichtet, zu gewährleisten, dass in irgendeinem Stadium des Verfahrens die Möglichkeit besteht, wegen einer endgültigen Ablehnung eines Visumantrags ein Gericht anzurufen.

42

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 32 Abs. 3 des Visakodex im Licht von Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ein Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung von Visumanträgen vorzusehen, dessen Ausgestaltung – unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Sache der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist. Bei diesem Verfahren muss in irgendeinem Stadium ein gerichtlicher Rechtsbehelf gewährleistet sein.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 32 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 810/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Juli 2009 über einen Visakodex der Gemeinschaft (Visakodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 geänderten Fassung ist im Licht von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union dahin auszulegen, dass er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, ein Rechtsbehelfsverfahren gegen die Ablehnung von Visumanträgen vorzusehen, dessen Ausgestaltung – unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität – Sache der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist. Bei diesem Verfahren muss in irgendeinem Stadium ein gerichtlicher Rechtsbehelf gewährleistet sein.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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