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Document 62015CC0289

    Schlussanträge des Generalanwalts M. Bobek vom 28. Juli 2016.

    Court reports – general

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2016:622

    SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

    MICHAL BOBEK

    vom 28. Juli 2016 ( 1 )

    Rechtssache C‑289/15

    Grundza

    (Vorabentscheidungsersuchen des Krajský súd v Prešove [Regionalgericht, Prešov, Slowakei])

    „Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen — Rahmenbeschluss 2008/909/JI — Im Ausstellungsstaat wegen Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung verurteilter Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaats — Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit“

    I – Einleitung

    1.

    Herr Grundza ist slowakischer Staatsangehöriger. Er wurde, als er unter Verstoß gegen eine frühere Entscheidung einer tschechischen Verwaltungsbehörde, mit der gegen ihn ein Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen verhängt worden war, einen Pkw führte, im Straßenverkehr von Prag angehalten. Er wurde später von einem tschechischen Gericht u. a. wegen „Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung“ zu einer Haftstrafe von 15 Monaten verurteilt.

    2.

    Auf der Grundlage des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI ( 2 ) ersuchte die zuständige tschechische Justizbehörde um Anerkennung des gegen Herrn Grundza ergangenen Urteils und Vollzug der Sanktion in der Slowakei. Das slowakische Gericht, bei dem dieses Ersuchen anhängig ist, hat jedoch Zweifel, ob die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im vorliegenden Fall erfüllt ist, da die Entscheidung, der zuwidergehandelt wurde, von einer tschechischen Behörde und nicht von einer slowakischen Behörde erlassen worden war.

    3.

    Die vorliegende Rechtssache gibt dem Gerichtshof Gelegenheit zur Auslegung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im Zusammenhang mit Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909. Auf welche Merkmale kommt es für die Erfüllung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit an, und welches Maß an Abstraktion ist ihrer Betrachtung zugrunde zu legen?

    II – Rechtlicher Rahmen

    A – Unionsrecht

    4.

    Nach Art. 3 Abs. 1 ist Zweck des Rahmenbeschlusses 2008/909, „im Hinblick auf die Erleichterung der sozialen Wiedereingliederung der verurteilten Person die Regeln festzulegen, nach denen ein Mitgliedstaat ein Urteil anerkennt und die verhängte Sanktion vollstreckt“.

    5.

    Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 enthält eine Aufzählung von 32 Straftaten, bei denen die Anerkennung eines Urteils oder die Vollstreckung der Sanktion ohne Überprüfung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfolgt.

    6.

    Nach Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 kann „[b]ei Straftaten, die nicht unter Absatz 1 fallen, … der Vollstreckungsstaat die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion davon abhängig machen, dass die ihm zugrunde liegenden Handlungen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat“.

    7.

    Art. 9 des Rahmenbeschlusses 2008/909 enthält eine Aufzählung von Gründen für die Versagung der Anerkennung eines Urteils und der Vollstreckung einer Sanktion. Für die vorliegende Rechtssache relevant ist der Grund nach Buchst. d, wonach die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaats die Anerkennung eines Urteils und die Vollstreckung einer Sanktion versagen kann, wenn „sich das Urteil in Fällen gemäß Artikel 7 Absatz 3 … auf eine Handlung bezieht, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaats keine Straftat darstellen würde. In Steuer-, Zoll- und Währungsangelegenheiten kann die Vollstreckung des Urteils jedoch nicht aus dem Grund abgelehnt werden, dass das Recht des Vollstreckungsstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer‑, Zoll‑ und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsstaats.“

    B – Nationales Recht

    8.

    Der Rahmenbeschluss 2008/909 wurde von der Slowakischen Republik durch das Gesetz Nr. 549/2011, Zákon o uznávaní a výkone rozhodnutí, ktorými sa ukladá trestná sankcia spojená s odňatím slobody v Európskej únii (Gesetz Nr. 549/2011 über die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen, durch die freiheitsentziehende strafrechtliche Sanktionen in der Europäischen Union verhängt werden), umgesetzt. Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 wurde von der Slowakischen Republik unter Beibehaltung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit für die unter diese Bestimmung fallenden Straftaten umgesetzt.

    9.

    Nach Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 549/2011 kann ein Urteil in der Slowakischen Republik grundsätzlich anerkannt und vollstreckt werden, wenn die Tat, derentwegen dieses Urteil ergangen ist, auch nach der Rechtsordnung der Slowakischen Republik eine Straftat darstellt. Nach Art. 16 Abs. 1 Buchst. b des Gesetzes Nr. 549/2011 „versagt das Gericht die Anerkennung und Vollstreckung der Entscheidung, wenn die Tat, derentwegen die Entscheidung ergangen ist, nach der Rechtsordnung der Slowakischen Republik keine Straftat darstellt …“.

    10.

    Die Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung gibt es sowohl nach slowakischem als auch nach tschechischem Recht. Die Definition dieser Straftat ist in beiden Rechtsordnungen nahezu identisch.

    11.

    Nach § 337 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes Nr. 40/2009 Sb., Trestní zákoník (Strafgesetzbuch der Tschechischen Republik) „kann mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft werden, wer den Vollzug der Entscheidung eines Gerichts oder eines anderen Trägers öffentlicher Gewalt dadurch vereitelt oder erheblich erschwert, dass er eine Handlung vornimmt, die ihm durch eine solche Entscheidung verboten worden ist oder für die ihm die entsprechende Berechtigung aufgrund einer anderen Rechtsvorschrift entzogen worden ist oder er diese Berechtigung verloren hat“.

    12.

    Nach § 348 Abs. 1 Buchst. d des Gesetzes 300/2005 Z.z., Trestný zákon (Strafgesetzbuch der Slowakischen Republik) „wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft, wer den Vollzug der Entscheidung eines Gerichts oder eines anderen Trägers öffentlicher Gewalt dadurch vereitelt oder erheblich erschwert, dass er eine Handlung vornimmt, die ihm durch eine solche Entscheidung verboten worden ist“.

    13.

    Die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit war bereits Gegenstand zweier Entscheidungen des Najvyšši súd Slovenskej republiky (Oberster Gerichtshof der Slowakischen Republik, im Folgenden: NS), die beide im Vorlagebeschluss genannt sind. Beide Entscheidungen betrafen die Überstellung von verurteilten Personen und die Anwendung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit in Fällen mit ähnlichem Sachverhalt – nämlich der Anerkennung einer in der Tschechischen Republik wegen der Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung verhängten Sanktion in der Slowakei. Diese Entscheidungen ergingen jedoch nicht konkret im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909, sondern vielmehr mit der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden früheren rechtlichen Regelung.

    14.

    Der NS entschied 2010, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im Fall der in jener Rechtssache in Rede stehenden Straftat – Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung – nicht erfüllt sei. Dies wurde auf die sogenannte konkrete Beurteilung (in concreto) der beiderseitigen Strafbarkeit gestützt, aufgrund deren der NS zu dem Schluss kam, dass eines der Merkmale des Straftatbestands im slowakischen Recht nicht erfüllt sei: Das tschechische Urteil, um dessen Anerkennung ersucht werde, beziehe sich nicht auf eine von einer slowakischen Behörde erlassene Entscheidung ( 3 ).

    15.

    Später verfolgte der NS jedoch einen anderen Ansatz. Er kam in einer anderen Rechtssache zu dem Schluss, dass im Fall der Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung die beiderseitige Strafbarkeit bei der konkreten Beurteilung (in concreto) tatsächlich gegeben sei. Der NS war der Ansicht, dass das geschützte Interesse der Tschechischen Republik, das durch die Vereitelung der tschechischen behördlichen Entscheidung berührt sei, in entsprechender Weise so zu betrachten sei, als ob es ein Interesse des slowakischen Staates sei. Mit anderen Worten stehe der Umstand, dass die Straftat keine von einer slowakischen Behörde erlassene behördliche Entscheidung, sondern eine behördliche Entscheidung einer tschechischen Behörde betroffen habe, der Schlussfolgerung nicht entgegen, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt sei ( 4 ).

    III – Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefrage

    16.

    Am 12. Februar 2014 verhängte der Magistrat von Přerov (Tschechische Republik) gegen Herrn Grundza ein Verbot des Führens von Kraftfahrzeugen. Am 9. März 2014 beging Herr Grundza in der Tschechischen Republik einen Diebstahl. Am 9. August 2014 führte Herr Grundza in Prag ein Kraftfahrzeug und wurde angehalten. Am 28. August 2014 wurde er der Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung für schuldig befunden. Schließlich wurde gegen ihn am 3. Oktober 2014 wegen des Diebstahls und der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung eine Gesamtfreiheitsstrafe ( 5 ) von 15 Monaten verhängt.

    17.

    Anschließend ersuchte die zuständige tschechische Justizbehörde nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 um Anerkennung des rechtskräftigen Urteils gegen Herrn Grundza und Vollzug der Strafe in der Slowakei.

    18.

    Nach Prüfung dieses Ersuchens und unter Berücksichtigung der oben dargestellten uneinheitlichen Rechtsprechung des slowakischen Obersten Gerichtshofs zur Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im vorliegenden Fall angesichts des Umstands erfüllt ist, dass die vereitelte Entscheidung von einer tschechischen Behörde erlassen wurde.

    19.

    Aufgrund dessen hat das Krajský súd v Prešove (Regionalgericht Prešov) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:

    Sind die Art. 7 Abs. 3 und 9 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nur dann erfüllt ist, wenn die Tat, derentwegen die anzuerkennende Entscheidung ergangen ist, bei konkreter Beurteilung (in concreto) auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellt (unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat), oder reicht es für die Erfüllung dieser Bedingung aus, dass diese Tat im Allgemeinen (in abstracto) auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats strafbar ist?

    20.

    Schriftliche Erklärungen sind von der österreichischen, der tschechischen, der slowakischen und der schwedischen Regierung sowie von der Kommission eingereicht worden. Die tschechische und die slowakische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 25. Mai 2016 mündliche Ausführungen gemacht.

    IV – Würdigung

    A – Einleitung: eine Anmerkung zur Terminologie

    21.

    Alle Mitgliedstaaten, die Stellung genommen haben, und die Kommission stimmen darin überein, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im vorliegenden Fall erfüllt sei. Unterschiedlich sind allerdings die Begründungen, mit denen sie zu diesem Schluss gelangen.

    22.

    Die vom nationalen Gericht vorgelegte Frage stellt auf die terminologische Unterscheidung zwischen einer Beurteilung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit in abstracto und in concreto ab.

    23.

    Diese Terminologie wird in der strafrechtlichen Lehre häufig verwendet. Was diese Begriffe (in concreto und in abstracto) spezifisch und genau bedeuten, ist jedoch weniger klar. Sie werden offenbar von verschiedenen Autoren unterschiedlich verstanden ( 6 ).

    24.

    Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner dieser verschiedenen Definitionen, könnte vielleicht die Ansicht vertreten werden, dass bei einer abstrakten Beurteilung (in abstracto) der beiderseitigen Strafbarkeit zu prüfen ist, ob die Taten und Handlungen, auf die sich das Urteil des Ausstellungsstaats bezieht, eine Straftat darstellen würden, wenn sie im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats begangen würden.

    25.

    Die konkrete Beurteilung (in concreto) der beiderseitigen Strafbarkeit setzt offenbar weit mehr voraus, u. a. die Erfüllung sonstiger Voraussetzungen der Strafbarkeit nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats, wie etwa Alter oder Geisteszustand des Angeklagten oder eine Berücksichtigung weiterer Sachverhaltsumstände, unter denen die Handlung begangen wurde.

    26.

    Die schriftlichen Erklärungen sowie die Erörterung, die in der mündlichen Verhandlung stattgefunden hat, zeigen, dass es zwischen den Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede gibt, was das genaue Verständnis der Begriffe in concreto und in abstracto im Zusammenhang mit der beiderseitigen Strafbarkeit angeht.

    27.

    Diese Erörterungen haben auch verdeutlicht, dass die Unterscheidung zwischen der abstrakten (in abstracto) und konkreten Beurteilung (in concreto) der beiderseitigen Strafbarkeit kein Entweder-oder ist, sondern vielmehr eine gleitende Skala. Diese Unterscheidung basiert auf dem Abstraktionsniveau, das bei der Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit gewählt wird. Beim höchsten Abstraktionsniveau könnte die Ansicht vertreten werden, dass die bloße Immoralität einer Handlung im Mittelpunkt steht: Eine bestimmte Handlung wird in beiden Systemen als Unrecht angesehen. Auf einem geringeren Abstraktionsniveau finden sich die grundlegenden Tatbestandsmerkmale der Straftat. Noch weiter unten auf der Abstraktionsskala könnten alle sonstigen besonderen Aspekte der Strafbarkeit zu prüfen sein, wie z. B. die Frage des Alters, des (Nicht‑)Vorliegens außergewöhnlicher Umstände, aber auch die Schwere der Strafe. Auf dem geringsten Abstraktionsniveau (bzw. dem höchsten Niveau der Konkretheit) sind auch alle individuellen sachverhaltsbezogenen Merkmale der Handlung relevant. Erforderlich ist dann tatsächlich, dass die Handlung und ihre rechtliche Beurteilung in beiden betreffenden Rechtsordnungen praktisch identisch sind.

    28.

    Wo ist die Trennlinie zwischen in abstracto und in concreto dann zu ziehen? Ähnlich dem von der Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Standpunkt bin ich der Ansicht, dass ein Meinungsstreit über diese Begriffe und ihren konkreten Inhalt vielleicht nicht unbedingt hilfreich ist, um dem nationalen Gericht in der vorliegenden Rechtssache eine sachdienliche Antwort zu geben. Auch könnte angesichts der Unterschiede im Verständnis der beteiligten Mitgliedstaaten im Hinblick darauf, wie die Begriffe in abstracto und in concreto genau zu definieren sind, eine begriffliche „Etikettierung“ irreführend sein, da sie zwangsläufig unterschiedlich verstanden würde.

    29.

    Daher wird sich die Würdigung in diesen Schlussanträgen nicht mit Begriffen beschäftigen, sondern zweckmäßig ausgerichtet sein. Ich werde eine Antwort an das nationale Gericht vorschlagen, die auf die Funktion der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit innerhalb des Systems der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union, und insbesondere im Rahmenbeschluss 2008/909 aufbaut.

    30.

    Bevor mit dieser zweckorientierten Würdigung begonnen wird, ist es jedoch hilfreich, sich kurz die Evolution des Begriffs der beiderseitigen Strafbarkeit im völkerrechtlichen und unionsrechtlichen Zusammenhang vor Augen zu führen. Diese Evolution schärft das Verständnis dafür, was mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 erreicht werden sollte.

    B – Evolution der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit

    31.

    Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit macht die Ausübung der extraterritorialen Zuständigkeit eines Staates allgemein davon abhängig, dass die betreffende Tat sowohl nach dem Recht des Ortes der Tatbegehung als auch nach dem Recht des die Handlung bestrafenden Staates unter Strafe gestellt ist ( 7 ). Es steht mit dem Legalitätsprinzip, insbesondere mit der Vorhersehbarkeit von Strafmaßnahmen (nulla poena sine lege), in Zusammenhang.

    32.

    Die beiderseitige Strafbarkeit ist eine traditionelle Bedingung für die Auslieferung. Völkerrechtliche Instrumente mögen zwar bestimmte Straftaten benennen, bei denen eine Auslieferung stattfinden soll, die Auslieferung unterliegt jedoch häufig der zusätzlichen Voraussetzung, dass die Tat in den Rechtsordnungen beider beteiligter Staaten unter Strafe gestellt ist ( 8 ).

    33.

    Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit basiert auf den Grundsätzen der Souveränität, Gegenseitigkeit und Nichteinmischung, die in völkerrechtlichen Instrumenten verankert und grundlegende Elemente der Kooperation zwischen Staaten sind. Diese Kooperation dient im Wesentlichen der Vermeidung von Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der beteiligten Staaten ( 9 ).

    34.

    Dagegen baut das System der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen innerhalb der Union in erster Linie auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung auf ( 10 ). Innerhalb dieses Systems öffnen sich die Rechtsordnungen der verschiedenen Mitgliedstaaten untereinander auf Basis eines erhöhten wechselseitigen Vertrauens in ihre jeweiligen Strafrechtssysteme.

    35.

    Auf einer praktischeren Ebene bedeutet dies, dass eine gerichtliche Entscheidung, sobald sie in einem Mitgliedstaat ergangen ist, „in anderen Mitgliedstaaten so rasch wie möglich und so reibungslos wie möglich anzuerkennen und zu vollstrecken ist, wie wenn es sich um eine innerstaatliche Entscheidung handeln würde“ ( 11 ).

    36.

    Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung hat u. a. zur Schaffung eines Katalogs von Straftaten geführt, bei denen die Prüfung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit abgeschafft worden ist und daher nicht durchgeführt werden darf.

    37.

    Die – wenn auch nur teilweise – Abkehr vom Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit stellt eine qualitative Änderung gegenüber der Praxis unter Geltung völkerrechtlicher Instrumente dar. Die Abkehr wurde erstmals mit dem Rahmenbeschluss 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten ( 12 ) eingeführt und seitdem in einer Reihe weiterer Unionsrechtsakte ( 13 ) ausgeweitet, u. a. im Rahmenbeschluss 2008/909.

    38.

    Der Rahmenbeschluss 2002/584 ersetzte das multilaterale Auslieferungssystem, das zuvor zwischen den Mitgliedstaaten bestanden hatte ( 14 ). In ähnlicher Weise hat der Rahmenbeschluss 2008/909 mehrere völkerrechtliche Instrumente ersetzt, um das Maß an Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu erhöhen.

    39.

    Die völkerrechtlichen Instrumente, die dem Rahmenbeschluss 2008/909 vorausgingen, waren das Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen, das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen und das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen ( 15 ). Alle diese Instrumente enthielten Bestimmungen über die beiderseitige Strafbarkeit ( 16 ).

    40.

    Es ist wichtig, diese entstehungsgeschichtliche Dynamik bei der Betrachtung der Funktion der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im Rahmenbeschluss 2008/909 im Blick zu behalten. Die Anwendung dieser Regel nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 sollte keine weniger entwickelten oder schwerfälligeren Interaktionen zwischen den Mitgliedstaaten hervorbringen als das frühere, weniger integrierte System auf der Grundlage der vorgenannten völkerrechtlichen Instrumente.

    C – Anwendung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im Zusammenhang des Rahmenbeschlusses 2008/909

    41.

    Mit seiner Vorlagefrage fragt das vorlegende Gericht im Wesentlichen nach dem richtigen Grad von Abstraktion oder Generalisierung, mit dem eine zu ahndende strafbare Handlung bei der Prüfung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 zu betrachten ist. Genauer gesagt, zielt die Frage darauf ab, ob die Art. 7 Abs. 3 und 9 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses dahin auszulegen sind, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt ist, wenn

    a)

    um die Anerkennung des Urteils und die Vollstreckung der Sanktion für Taten ersucht wird, die im Ausstellungsstaat als Straftat der „Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung“ eingestuft waren, und wenn

    b)

    es eine Straftat mit ähnlicher Bezeichnung auch im Recht des Vollstreckungsstaats gibt, wenn aber

    c)

    nach dem Recht bzw. nach der Rechtsprechung des Vollstreckungsstaats der Straftatbestand offenbar nur verwirklicht ist, wenn die behördliche Entscheidung von einer Behörde dieses Staates erlassen wurde.

    42.

    Zunächst ist festzustellen, dass die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2008/909 und die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit davon abhängt, ob die betreffende Straftat in der Aufzählung in Art. 7 Abs. 1 enthalten ist. Im Fall der dort aufgeführten Straftaten dürfen die Gerichte des Vollstreckungsstaats bei der Anerkennung des Urteils und der Vollstreckung der im Ausstellungsstaat verhängten Sanktion grundsätzlich ( 17 ) nicht prüfen, ob die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt ist.

    43.

    Die Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung ist in dieser Aufzählung nicht aufgeführt.

    44.

    Sofern eine Straftat in Art. 7 Abs. 1 nicht aufgeführt ist, darf die beiderseitige Strafbarkeit geprüft werden. Der Mitgliedstaat kann wählen, ob bei solchen Straftaten eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit stattfindet oder nicht; für ihn besteht insoweit keine Verpflichtung. Die Mitgliedstaaten können daher frei entscheiden, ob sie die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit bei in Art. 7 Abs. 1 nicht aufgeführten Straftaten anwenden werden.

    45.

    Die Slowakei hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Demzufolge müssen die slowakischen Gerichte diese Bedingung bei der Prüfung von Ersuchen um Überstellung von in anderen Mitgliedstaaten verurteilten Personen prüfen.

    46.

    Vor diesem Hintergrund werde ich, um dem vorlegenden Gericht zweckdienliche Hinweise zu den für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit geltenden Kriterien zu geben, zuerst die relevanten Merkmale erörtern, die bei dieser Beurteilung zu berücksichtigen sind (1), und dann auf die sich in der vorliegenden Rechtssache stellende konkrete Frage des geschützten staatlichen Interesses eingehen (2).

    1. Relevante Merkmale für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit

    47.

    Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 legt den Umfang der Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit dadurch fest, dass die zuständige Behörde zu prüfen hat, ob die betreffenden Handlungen auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaats eine Straftat darstellen, unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat.

    48.

    Zwei Merkmale verdienen, hervorgehoben zu werden. Erstens stellt Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 durch die Betonung des in Bezug auf die Tatbestandsmerkmale der Straftat zu wählenden flexiblen Ansatzes klar, dass keine exakte Übereinstimmung aller Komponenten der Straftat, wie sie im Recht des ausstellenden und des vollstreckenden Mitgliedstaats festgelegt sind, bestehen muss.

    49.

    Zweitens stellt Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses durch Hervorhebung der Flexibilität im Hinblick auf die Bezeichnung der Straftat ebenso klar, dass eine exakte Übereinstimmung der Benennung oder Systematik der Straftat im ausstellenden und vollstreckenden Mitgliedstaat nicht erforderlich ist.

    50.

    Als relevant und tatsächlich maßgebend hervorgehoben wird in Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 hingegen, dass die grundlegenden sachverhaltsbezogenen Merkmale der Straftat, wie sie sich im Urteil des Ausstellungsstaats widerspiegeln, zur Definition einer Straftat im Recht des Vollstreckungsstaats passen.

    51.

    Für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit sind somit im Wesentlichen zwei Schritte nötig: 1. Aufhebung der örtlichen Festlegung, indem die grundlegenden charakteristischen Merkmale der im Ausstellungsstaat begangenen Tat betrachtet werden und diese Tat so behandelt wird, als sei sie im Vollstreckungsstaat begangen worden, und 2. Subsumtion dieser grundlegenden Tatsachen unter welchen einschlägigen Straftatbestand auch immer, wie er im Recht des Vollstreckungsstaats festgelegt ist.

    52.

    Mit anderen Worten stellen sich der Justizbehörde des Vollstreckungsstaats bei einer solchen „Konversion“ folgende Fragen: Können die Tat oder die mehreren Taten, die zu dem Urteil im Ausstellungsstaat geführt haben, unter einen Straftatbestand des Strafrechts des Vollstreckungsstaats subsumiert werden? Wäre diese Tat an sich als strafbar anzusehen, wenn sie im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats begangen würde?

    53.

    Bei der Beantwortung dieser Fragen und beim Umreißen der betreffenden Tat oder Taten, die zu konvertieren sind, sollte meines Erachtens relativ stark abstrahiert werden. Zu prüfen ist eine Übereinstimmung der grundlegenden sachverhaltsbezogenen Merkmale, die von den Justizbehörden des Ausstellungsstaats für die strafrechtliche Verurteilung des Täters als relevant angesehen wurden, mit den Tatbestandsmerkmalen einer Straftat, wie sie im Strafrecht des Vollstreckungsstaats beschrieben ist.

    54.

    Der Wortlaut von Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 („unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat“) stellt hingegen klar, dass nicht zu prüfen ist, ob eine Übereinstimmung zwischen den jeweiligen normativen Straftatbeständen in den Rechtsordnungen des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaats vorliegt ( 18 ).

    55.

    In vielen Fällen wird sich sicherlich eher unschwer eine Übereinstimmung bereits auf der normativen Ebene finden. Dies dürfte vorliegend der Fall sein. Die Straftat der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung ist im tschechischen und im slowakischen Strafgesetzbuch nahezu gleichlautend definiert. In anderen Fällen mag die Straftat im Vollstreckungsstaat jedoch etwas anders verstanden werden als im Ausstellungsstaat. Die Tatbestandsmerkmale der beiden Straftaten mögen nicht exakt die gleichen sein. Oder die Tatbestandsmerkmale mögen recht ähnlich, die Straftatbestände jedoch in den Rechtsordnungen jeweils unterschiedlich benannt sein. Auch kann der Straftatbestand der „ursprünglichen“ Straftat in Strafgesetzbüchern recht eng und Teil einer breiteren Kategorie von Straftaten sein, die für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit in ihrer Gesamtheit betrachtet werden sollten.

    56.

    Wie bereits hervorgehoben, soll die beabsichtigte Konversion einer Straftat vom Ausstellungsstaat in den Vollstreckungsstaat jedenfalls ganz eindeutig eine „diagonale“ Konversion sein (bei der grundlegende sachverhaltsbezogene Merkmale aus dem Ausstellungsstaat unter die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats subsumiert werden) und keine „horizontale“ (bei der eine Übereinstimmung der normativen Straftatbestände in beiden Staaten zu prüfen wäre).

    57.

    Um ein konkreteres Beispiel zu geben, sollte im vorliegenden Fall des Herrn Grundza die grundlegende Beschreibung der Tat konvertiert werden, die sich einfach fassen ließe als die Tat einer Person, die ein Kraftfahrzeug führt, obwohl eine behördliche Entscheidung ihr dies verbietet.

    58.

    Sodann stellt sich folgende Frage: Wäre diese Tat auch nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats strafbar, wenn sie in seinem Hoheitsgebiet begangen würde? Im Zusammenhang mit der Slowakei dürfte dies zu bejahen sein.

    59.

    Die Konversion und Subsumtion könnte allgemein aber auch noch weiter gehen und Änderungen in der Systematik der Straftat nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats umfassen. Dies veranschaulicht das von der tschechischen Regierung in der mündlichen Verhandlung angeführte Beispiel. Dabei geht es um die Straftat des „Fahrens ohne Fahrerlaubnis“ in den deutschen Strafgesetzen ( 19 ). Nach deutschem Strafrecht wäre die von Herrn Grundza begangene Handlung möglicherweise nicht als „Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung“, sondern als „Fahren ohne Fahrerlaubnis“ einzustufen. Selbst wenn dies so sein sollte, wäre die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nach Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 jedoch meines Erachtens trotzdem erfüllt. Bei der Konversion von Straftaten von einer Rechtsordnung in eine andere sind Änderungen in der strafrechtlichen Systematik vom Wortlaut dieser Bestimmung ausdrücklich vorgesehen und gedeckt.

    60.

    Mit anderen Worten ist zur Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 meines Erachtens ein Ansatz zu wählen, bei dem das vom Gericht des Ausstellungsstaats untersuchte und verurteilte Verhalten auf einem erhöhten Abstraktionsniveau generalisiert wird. Diese Generalisierung setzt notwendigerweise eine gewisse Flexibilität bei der Konversion voraus, bei der die betreffende Tat nach den verschiedenen im Vollstreckungsstaat in Betracht kommenden Straftatbeständen geprüft wird.

    61.

    Ferner findet sich die Annahme, dass die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit einen erheblichen Grad an Abstraktion erfordert, auch in dem eher begrenzten Umfang der Angaben bestätigt, die von den zuständigen Behörden des Ausstellungsstaats auf dem standardisierten Formular in Anhang I des Rahmenbeschlusses 2008/909 übermittelt werden.

    62.

    Der Umfang der zu übermittelnden Angaben hängt davon ab, ob das Ersuchen um Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion Straftaten betrifft, die in Art. 7 Abs. 1 aufgeführt sind (Unterabschnitt h, Nrn. 1 und 2 des Anhangs I), oder sonstige (nicht aufgeführte) Straftaten (Unterabschnitt h, Nrn. 1 und 3 des Anhangs I).

    63.

    Selbst für die nicht aufgeführten Straftaten, bei denen eine Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit stattfinden kann, sind die zu übermittelnden standardisierten Angaben jedoch eher von grundlegender Art. Wie die schwedische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen bemerkt, wäre auf der Grundlage derart begrenzter Angaben sicherlich keine umfassendere Fallbeurteilung möglich.

    64.

    Zusammenfassend kann es individuelle Unterschiede in der strafrechtlichen Systematik geben, doch sind diese Besonderheiten für die Beurteilung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nicht relevant. Maßgebend ist, ob eine derartige Tat, wenn sie im Hoheitsgebiet des vollstreckenden Mitgliedstaats begangen wird, an sich im Vollstreckungsstaat strafbar wäre.

    65.

    Besonderes Gewicht sollte der Formulierung an sich strafbar beigemessen werden, im Unterschied zu der Frage, ob die verurteilte Person bei einer strafrechtlichen Verfolgung auch schuldig gesprochen und verurteilt worden wäre, wenn der Strafprozess nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats stattgefunden hätte.

    66.

    Hinzuweisen ist insofern darauf, dass das mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 verfolgte Ziel darin besteht, die soziale Wiedereingliederung verurteilter Personen zu erleichtern, indem es ihnen ermöglicht wird, gegen sie verhängte Sanktionen in anderen Mitgliedstaaten zu verbüßen.

    67.

    Dies bedeutet, dass das Ziel in der Überstellung bereits verurteilter Personen und in ihrer sozialen Wiedereingliederung besteht. Es besteht ganz gewiss nicht darin, im vollstreckenden Mitgliedstaat damit zu beginnen, rechtskräftige Entscheidungen in Frage zu stellen oder Strafprozesse von Neuem durchzuführen. Es ist nicht ohne Grund so, dass die mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 eingeführte Zusammenarbeit erst nach der Durchführung des Prozesses und dem Erlass des rechtskräftigen Urteils im Ausstellungsstaat eingeleitet werden kann.

    68.

    In diesem Rahmen ist die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit in Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 richtigerweise als verbleibendes Sicherheitsventil zu verstehen, das der vollstreckende Mitgliedstaat auslösen kann, um die Vollstreckung einer Sanktion für eine Tat zu versagen, die nach seinen eigenen Rechtsvorschriften nicht an sich unter Strafe gestellt ist. Mit anderen Worten kann ein Mitgliedstaat nicht verpflichtet werden, eine Sanktion für ein Verhalten anzuerkennen und zu vollstrecken, das der Staat und seine Gesellschaft nicht als so moralisch falsch ansehen, dass es unter Strafe zu stellen wäre ( 20 ).

    2. Relevanz des konkreten geschützten staatlichen Interesses

    69.

    Wie oben bereits ausgeführt, erfordert die Beurteilung der Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit im Zusammenhang mit dem Rahmenbeschluss 2008/909 eine Aufhebung der örtlichen Festlegung des Sachverhalts, die mit einem hohen Abstraktionsgrad vorzunehmen ist, und seine Subsumtion unter das Strafrecht des Vollstreckungsstaats.

    70.

    Es ist nur folgerichtig, dass diese Konversion auch für das konkrete staatliche Interesse vorgenommen wird, das von der Straftat berührt wird. Für die Festlegung der zu übertragenden Handlung kann ein staatliches Interesse nicht als das nationale Interesse des konkreten Staates (d. h. des Ausstellungsstaats) betrachtet werden, sondern muss vielmehr als ein staatliches Interesse betrachtet werden, das zusammen mit anderen grundlegenden Merkmalen der betreffenden Tat nach dem Strafrecht des Vollstreckungsstaats beurteilt wird.

    71.

    Es ist ohne Weiteres einzuräumen, dass es in besonderen, eher außergewöhnlichen Fällen Ausnahmen von einer uneingeschränkten Konversion der betreffenden staatlichen Interessen des Ausstellungs‑ und Vollstreckungsstaats geben kann. Für die ganz überwiegende Mehrheit der übrigen Straftaten, einschließlich der Vereitelung des Vollzugs einer behördlichen Entscheidung, kann ein System der gegenseitigen Anerkennung jedoch nur funktionieren, wenn das, was geschützt ist, die bindende Kraft „einer behördlichen Entscheidung“ ist und nicht nur die „bindende Kraft ausschließlich solcher Entscheidungen, die von den Behörden des Mitgliedstaats X erlassen werden“.

    72.

    Für dieses Verständnis der Bedeutung von Art. 7 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2008/909 sprechen auch zwei weitere systematische Argumente.

    73.

    Erstens ist festzustellen, dass einige der in Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 aufgeführten Straftaten (für die die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit vollständig abgeschafft worden ist) eindeutig auf den Schutz des konkreten staatlichen Interesses abzielen, gegen das sich ihre Begehung richtet. Hierzu gehören z. B. Sabotage, Korruption, Geldfälschung, Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt, Fälschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit oder Fälschung von Zahlungsmitteln.

    74.

    Zweitens besteht nach Art. 9 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/909 die Möglichkeit, die Anerkennung eines Urteils und die Vollstreckung einer Sanktion zu versagen, wenn die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit nicht erfüllt ist. In dieser Bestimmung heißt es jedoch, dass „[i]n Steuer‑, Zoll‑ und Währungsangelegenheiten … die Vollstreckung des Urteils … nicht aus dem Grund abgelehnt werden [kann], dass das Recht des Vollstreckungsstaats keine gleichartigen Steuern vorschreibt oder keine gleichartigen Steuer‑, Zoll‑ und Währungsbestimmungen enthält wie das Recht des Ausstellungsstaats“.

    75.

    Beide Bestimmungen untermauern meines Erachtens den Schluss, dass die gegenseitige Anerkennung nach dem Rahmenbeschluss 2008/909 im Allgemeinen über den Partikularismus mitgliedstaatlicher Interessen hinausgehen soll. Ist dies nach alledem nicht genau das, worum es bei der gegenseitigen Anerkennung und Achtung gehen soll?

    76.

    Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Art. 7 Abs. 3 und 9 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/909 dahin auszulegen sind, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt ist, wenn um Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion in Bezug auf eine Tat ersucht wird, die mit einem relativ hohen Grad an Abstraktion erfasst an sich nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats strafbar ist, ohne dass es auf eine exakte Übereinstimmung der Systematik ankommt, die in den Rechtsordnungen des Ausstellungs- und des Vollstreckungsstaats zur Bezeichnung dieser Straftat verwendet wird.

    V – Ergebnis

    77.

    Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die ihm vom Krajský súd v Prešove (Regionalgericht Prešov) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

    Die Art. 7 Abs. 3 und 9 Abs. 1 Buchst. d des Rahmenbeschlusses 2008/909/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit erfüllt ist, wenn um Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion in Bezug auf eine Tat ersucht wird, die mit einem relativ hohen Grad an Abstraktion erfasst an sich nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsstaats strafbar ist, ohne dass es auf eine exakte Übereinstimmung der Systematik ankommt, die in den Rechtsordnungen des Ausstellungs‑ und des Vollstreckungsstaats zur Bezeichnung dieser Straftat verwendet wird.


    ( 1 ) Originalsprache: Englisch.

    ( 2 ) Rahmenbeschluss des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union (ABl. 2008, L 327, S. 27).

    ( 3 ) Urteil des NS vom 26. Januar 2010, sp. Zn. 2 Urto 1/2011, veröffentlicht im Zbierka stanovisk NS a sudov SR unter 2/2011, Nr. 17, S. 9, verfügbar unter http://www.supcourt.gov.sk/data/files/88_stanoviska_rozhodnutia_2_2011.pdf.

    ( 4 ) Beschluss des NS vom 5. September 2012, sp. zn. 3 Urto 1/2012, verfügbar unter http://www.supcourt.gov.sk/data/att/23S02_subor.pdf.

    ( 5 ) Nach tschechischem Recht werden bei der Verhängung einer „Gesamtfreiheitsstrafe“ („souhrnný trest“) vom Gericht zwei oder mehr, vom selben Täter begangene Straftaten mit einer einheitlichen Sanktion geahndet. Das Gericht hebt den tenorierten Strafausspruch des/der vorherigen Urteil/e auf und „integriert“ die bereits verhängte/n Sanktion/en dann gewissermaßen in eine neue einheitliche Sanktion.

    ( 6 ) Vgl. z. B. Plachta, M., „The Role of Double Criminality in International Cooperation in Penal Matters“, in Jareborg (Hrsg.), Double criminality: Studies in International Criminal Law, Kriminalistik Institut, 1989, S. 105; Wouter van Ballegooij, The Nature of Mutual Recognition in European Law: Re-examining the Notion from an Individual Rights Perspective with a View to Its Further Development in the Criminal Justice Area, Intersentia, 2015, S. 127; Flore, D., „Reconnaissance mutuelle, double incrimination et territorialité“ in La reconnaissance mutuelle des décisions judiciaires pénales dans l’Union européenne, Éditions de l’Université de Bruxelles, 2001, S. 69 bis 70; Keijzer, N., „The Double Criminality Requirement“ in Blekxtoon u. a. (Hrsg.), Handbook on the European Arrest Warrant, T.M.C. Asser Press, 2005, S. 137; Cahin, G., La double incrimination dans le droit de l’extradition, RGDIP, 2013, Nr. 3, S. 586; Cameron, L., „Double criminality under pressure“ in Festskrift Till Per Ole Traskman, Norstedts Juridik AB, 2011, S. 124.

    ( 7 ) Cameron, J., „Double criminality under pressure“ in Festskrift Till Per Ole Traskman, Norstedts Juridik AB, 2011, S. 122 bis 123.

    ( 8 ) Thouvenin, J.‑M., „L’extradition“ in Ascensio, Decaux, Pellet, Droit international pénal, Pedone, Paris, 2. überarbeitete Aufl., 2012, S. 1123 bis 1124.

    ( 9 ) Daillier und Pellet, Droit international public, LGDJ, Paris, 7. Aufl., 2008, S. 515, Rn. 337.

    ( 10 ) Erster Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909. Vgl. auch Schlussanträge des Generalanwalts Bot in der Rechtssache Ognyanov (C‑554/14, EU:C:2016:319, Nr. 13).

    ( 11 ) Plachta, M., „Cooperation in Criminal Matters in Europe“ in Bassiouni, International Criminal law, Third Edition, vol. II: Multilateral and Bilateral Enforcement Mechanisms, Martinus Nijhoff, 2008, S. 458. Vgl. auch fünfter Erwägungsgrund des Rahmenbeschlusses 2008/909.

    ( 12 ) Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung. Zur Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584, soweit dieser auf die Prüfung der beiderseitigen Strafbarkeit der Straftaten verzichtet, die in einer Art. 7 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909 entsprechenden Bestimmung aufgeführt sind, vgl. Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld (C‑303/05, EU:C:2007:261, Rn. 48 bis 61).

    ( 13 ) Art. 3 Abs. 2 des Rahmenbeschlusses 2003/577/JI des Rates vom 22. Juli 2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (ABl. 2003, L 196, S. 45); Art. 6 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2006/783/JI des Rates vom 6. Oktober 2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen (ABl. 2006, L 328, S. 59); Art. 5 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24. Februar 2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (ABl. 2005, L 76, S. 16); Art. 10 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/947/JI des Rates vom 27. November 2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen (ABl. 2008, L 337, S. 102); Art. 14 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI des Rates vom 23. Oktober 2009 über die Anwendung – zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union – des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (ABl. 2009, L 294, S. 20).

    ( 14 ) Vgl. Urteile vom 28. August 2015, Minister for Justice and Equality (C‑237/15 PPU, EU:C:2015:474, Rn. 27 bis 28 und die dort angeführte Rechtsprechung), sowie vom 6. Oktober 2009, Wolzenzburg (C‑123/08, EU:C:2009:616, Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

    ( 15 ) Siehe Art. 26 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses 2008/909.

    ( 16 ) Art. 3 Abs. 1 Buchst. e des Übereinkommens über die Überstellung verurteilter Personen vom 21. März 1983, ETS 112; Art. 5 erster Gedankenstrich Buchst. b des Übereinkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen vom 13. November 1991. Art. 4 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über die internationale Geltung von Strafurteilen vom 28. Mai 1970, ETS 70.

    ( 17 ) Es sei denn, der betreffende Mitgliedstaat hat eine gegenteilige Mitteilung nach Art. 7 Abs. 4 des Rahmenbeschlusses 2008/909 abgegeben.

    ( 18 ) Um auf das Beispiel der Auslieferung zurückzukommen, in deren Rahmen die Bedingung der beiderseitigen Strafbarkeit entstehungsgeschichtlich ihren Ursprung hat, könnte von Bedeutung sein, dass das Modell-Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Auslieferung („UN Model Treaty on Extradition“) in Art. 2 Abs. 2 ausdrücklich vorsieht, dass es „[f]ür die Feststellung, ob eine Straftat eine nach dem Recht beider Vertragsparteien strafbare Handlung darstellt, nicht darauf ankommt, ob a) in den Rechtsvorschriften der Vertragsparteien die Handlungen oder Unterlassungen, die die Straftat darstellen, in die gleiche Kategorie von Straftaten eingeordnet werden oder die Straftat mit den gleichen Begriffen benannt wird; b) sich in den Rechtsvorschriften der Vertragsparteien die Tatbestandsmerkmale der Straftat unterscheiden, wobei allerding die Gesamtheit der vom ersuchenden Staat dargelegten Handlungen oder Unterlassungen zu berücksichtigen ist“, Modell-Übereinkommen über die Auslieferung („Model Treaty on Extradition“), A/RES/45/116, 14. Dezember 1990.

    ( 19 ) § 21 Abs. 1 Straßenverkehrsgesetz (StVG) (BGBl. 2003 I, S. 310, 919), der den Straftatbestand des „Fahrens ohne Fahrerlaubnis“ regelt. „(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. ein Kraftfahrzeug führt, obwohl er die dazu erforderliche Fahrerlaubnis nicht hat oder ihm das Führen des Fahrzeugs … verboten ist …“

    ( 20 ) Offensichtliche Beispiele für diese Kategorie wären Handlungen, die in einem Mitgliedstaat als Straftaten angesehen werden mögen, in einem anderen Mitgliedstaat jedoch überhaupt nicht, wie etwa Sterbehilfe oder die Leugnung des Holocaust. Dasselbe müsste meines Erachtens auch für Handlungen gelten, die in einem Staat als Straftaten, in einem anderen jedoch nur als Ordnungswidrigkeiten (die z. B. nur behördlich, nicht aber strafrechtlich verfolgt werden) angesehen werden.

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