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Document 62011CC0116

Schlussanträge der Generalanwältin Kokott vom 24. Mai 2012.
Bank Handlowy w Warszawie SA und PPHU «ADAX»/Ryszard Adamiak gegen Christianapol sp. z o.o..
Ersuchen um Vorabentscheidung: Sąd Rejonowy Poznań-Stare Miasto w Poznaniu - Polen.
Coopération judiciaire en matière civile - Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 - Procédures d’insolvabilité - Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen - Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 - Insolvenzverfahren - Begriff ‚Beendigung des Verfahrens‘ - Möglichkeit für das Gericht des Sekundärinsolvenzverfahrens, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners zu beurteilen - Befugnis zur Eröffnung eines Liquidationsverfahrens als Sekundärinsolvenzverfahren, wenn das Hauptinsolvenzverfahren ein Sauvegarde-Verfahren ist.
Rechtssache C-116/11.

Court reports – general

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2012:308

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 24. Mai 2012 ( 1 )

Rechtssache C-116/11

Bank Handlowy und Ryszard Adamiak

gegen

Christianapol sp. z o.o.

(Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Rejonowy Poznań Stare Miasto w Poznań [Polen])

„Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 — Insolvenzverfahren — Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens — Prüfung der Zahlungsunfähigkeit im Sekundärverfahren — Verhältnis von Hauptverfahren und Sekundärverfahren, wenn das Hauptverfahren ein Sanierungsverfahren ist“

I – Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren ( 2 ) (im Folgenden: Insolvenzverordnung oder Verordnung). Diese Verordnung sieht im Fall einer Insolvenz mit Auslandsbezug grundsätzlich zwei Möglichkeiten vor: die Einleitung eines Hauptverfahrens und die Einleitung eines Partikular- bzw. Sekundärverfahrens. ( 3 )

2.

Das Hauptinsolvenzverfahren wird am Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners eingeleitet. Es erfasst das gesamte Vermögen des Schuldners in allen Mitgliedstaaten, hat universale Wirkung und richtet sich nach dem Recht des Staates, in dem es eingeleitet wurde. Partikular- bzw. Sekundärverfahren sind hingegen räumlich auf das Gebiet des Mitgliedstaats beschränkt, in dem sie eingeleitet wurden, und umfassen nur das in diesem Mitgliedstaat belegene Vermögen. Sie richten sich nach dem Recht dieses Staates. Im Fall des Nebeneinanders von Hauptverfahren auf der einen und Sekundär- bzw. Partikularverfahren auf der anderen Seite statuiert die Verordnung zahlreiche Kooperations- und Abstimmungspflichten zwischen den jeweiligen Verfahren.

3.

Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt darin, dass es sich bei dem in Frankreich eingeleiteten Hauptverfahren um eine procédure de sauvegarde (im Folgenden: Sauvegarde-Verfahren) handelt, das auf Restrukturierung abzielt. Aus dieser Besonderheit resultieren die drei Fragen, die das Sąd Rejonowy Poznań Stare Miasto w Poznaniu ( 4 ) dem Gerichtshof vorgelegt hat. Dieses Vorabentscheidungsersuchen gibt dem Gerichtshof damit Gelegenheit, das Verhältnis zwischen Hauptverfahren und Sekundärverfahren zu konkretisieren.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4.

Nach Art. 1 Abs. 1 gilt die Insolvenzverordnung für „Gesamtverfahren, welche die Insolvenz des Schuldners voraussetzen und den vollständigen oder teilweisen Vermögensbeschlag gegen den Schuldner sowie die Bestellung eines Verwalters zur Folge haben“.

5.

Art. 2 definiert für die Zwecke der Verordnung in Buchstabe a „Insolvenzverfahren“ als „die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Gesamtverfahren. Diese Verfahren sind in Anhang A aufgeführt;“ Buchst. c betrifft „Liquidationsverfahren“ und definiert diese als „ein Insolvenzverfahren im Sinne von Buchstabe a, das zur Liquidation des Schuldnervermögens führt, und zwar auch dann, wenn dieses Verfahren durch einen Vergleich oder eine andere die Insolvenz des Schuldners beendende Maßnahme oder wegen unzureichender Masse beendet wird. Diese Verfahren sind in Anhang B aufgeführt;“.

6.

Art. 3 bestimmt für die Internationale Zuständigkeit:

„(1)   Für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens sind die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dessen Gebiet der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat. Bei Gesellschaften und juristischen Personen wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort des satzungsmäßigen Sitzes ist.

(2)   Hat der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen im Gebiet eines Mitgliedstaats, so sind die Gerichte eines anderen Mitgliedstaats nur dann zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befugt, wenn der Schuldner eine Niederlassung im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats hat. Die Wirkungen dieses Verfahrens sind auf das im Gebiet dieses letzteren Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners beschränkt.

(3)   Wird ein Insolvenzverfahren nach Absatz 1 eröffnet, so ist jedes zu einem späteren Zeitpunkt nach Absatz 2 eröffnete Insolvenzverfahren ein Sekundärinsolvenzverfahren. Bei diesem Verfahren muss es sich um ein Liquidationsverfahren handeln.

(4)   Vor der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Absatz 1 kann ein Partikularverfahren nach Absatz 2 nur in den nachstehenden Fällen eröffnet werden:

a)

falls die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nach Absatz 1 angesichts der Bedingungen, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dem der Schuldner den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen hat, nicht möglich ist;

b)

falls die Eröffnung des Partikularverfahrens von einem Gläubiger beantragt wird, der seinen Wohnsitz, gewöhnlichen Aufenthalt oder Sitz in dem Mitgliedstaat hat, in dem sich die betreffende Niederlassung befindet, oder dessen Forderung auf einer sich aus dem Betrieb dieser Niederlassung ergebenden Verbindlichkeit beruht.“

7.

Art. 4 der Verordnung regelt unter der Überschrift „Anwendbares Recht“ Folgendes:

„(1)   Soweit diese Verordnung nichts anderes bestimmt, gilt für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen das Insolvenzrecht des Mitgliedstaats, in dem das Verfahren eröffnet wird, nachstehend ‚Staat der Verfahrenseröffnung‘ genannt.

(2)   Das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung regelt, unter welchen Voraussetzungen das Insolvenzverfahren eröffnet wird und wie es durchzuführen und zu beenden ist. Es regelt insbesondere:

j)

die Voraussetzungen und die Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich;

k)

die Rechte der Gläubiger nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens;

…“

8.

Art. 16 betrifft die Anerkennung von Insolvenzverfahren und lautet in Abs. 1:

„Die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht eines Mitgliedstaats wird in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt, sobald die Entscheidung im Staat der Verfahrenseröffnung wirksam ist.“

9.

Art. 26 enthält eine ordre public-Regelung und bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat kann sich weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen oder eine in einem solchen Verfahren ergangene Entscheidung zu vollstrecken, soweit diese Anerkennung oder diese Vollstreckung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des einzelnen, unvereinbar ist.“

10.

Art. 27 leitet Kapitel III mit dem Titel „Sekundärinsolvenzverfahren“ ein und bestimmt unter der Überschrift „Verfahrenseröffnung“:

„Ist durch ein Gericht eines Mitgliedstaats ein Verfahren nach Art. 3 Absatz 1 eröffnet worden, das in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt ist (Hauptinsolvenzverfahren), so kann ein nach Art. 3 Absatz 2 zuständiges Gericht dieses anderen Mitgliedstaats ein Sekundärinsolvenzverfahren eröffnen, ohne dass in diesem anderen Mitgliedstaat die Insolvenz des Schuldners geprüft wird. Bei diesem Verfahren muss es sich um eines der in Anhang B aufgeführten Verfahren handeln. Seine Wirkungen beschränken sich auf das im Gebiet dieses anderen Mitgliedstaats belegene Vermögen des Schuldners.“

11.

Art. 33 regelt die „Aussetzung der Verwertung“ und lautet:

„(1)   Das Gericht, welches das Sekundärinsolvenzverfahren eröffnet hat, setzt auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens die Verwertung ganz oder teilweise aus; dem zuständigen Gericht steht jedoch das Recht zu, in diesem Fall vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens alle angemessenen Maßnahmen zum Schutz der Interessen der Gläubiger des Sekundärinsolvenzverfahrens sowie einzelner Gruppen von Gläubigern zu verlangen. Der Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens kann nur abgelehnt werden, wenn die Aussetzung offensichtlich für die Gläubiger des Hauptinsolvenzverfahrens nicht von Interesse ist. Die Aussetzung der Verwertung kann für höchstens drei Monate angeordnet werden. Sie kann für jeweils denselben Zeitraum verlängert oder erneuert werden.

(2)   Das Gericht nach Absatz 1 hebt die Aussetzung der Verwertung in folgenden Fällen auf:

auf Antrag des Verwalters des Hauptinsolvenzverfahrens,

von Amts wegen, auf Antrag eines Gläubigers oder auf Antrag des Verwalters des Sekundärinsolvenzverfahrens, wenn sich herausstellt, dass diese Maßnahme insbesondere nicht mehr mit dem Interesse der Gläubiger des Haupt- oder des Sekundärinsolvenzverfahrens zu rechtfertigen ist.“

12.

Art. 34 betrifft „Verfahrensbeendende Maßnahmen“:

„(1)   Kann das Sekundärinsolvenzverfahren nach dem für dieses Verfahren maßgeblichen Recht ohne Liquidation durch einen Sanierungsplan, einen Vergleich oder eine andere vergleichbare Maßnahme beendet werden, so kann eine solche Maßnahme vom Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens vorgeschlagen werden.

Eine Beendigung des Sekundärinsolvenzverfahrens durch eine Maßnahme nach Unterabsatz 1 kann nur bestätigt werden, wenn der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens zustimmt oder, falls dieser nicht zustimmt, wenn die finanziellen Interessen der Gläubiger des Hauptinsolvenzverfahrens durch die vorgeschlagene Maßnahme nicht beeinträchtigt werden.

(2)   Jede Beschränkung der Rechte der Gläubiger, wie zum Beispiel eine Stundung oder eine Schuldbefreiung, die sich aus einer in einem Sekundärinsolvenzverfahren vorgeschlagenen Maßnahme im Sinne von Absatz 1 ergibt, kann nur dann Auswirkungen auf das nicht von diesem Verfahren betroffene Vermögen des Schuldners haben, wenn alle betroffenen Gläubiger der Maßnahme zustimmen.

(3)   Während einer nach Artikel 33 angeordneten Aussetzung der Verwertung kann nur der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens oder der Schuldner mit dessen Zustimmung im Sekundärinsolvenzverfahren Maßnahmen im Sinne von Absatz 1 des vorliegenden Artikels vorschlagen; andere Vorschläge für eine solche Maßnahme dürfen weder zur Abstimmung gestellt noch bestätigt werden.“

13.

Art. 37 regelt die Situation, dass vor Eröffnung des Hauptverfahrens ein Partikularverfahren eingeleitet wurde, und sieht vor:

„Der Verwalter des Hauptinsolvenzverfahrens kann beantragen, dass ein in Anhang A genanntes Verfahren, das zuvor in einem anderen Mitgliedstaat eröffnet wurde, in ein Liquidationsverfahren umgewandelt wird, wenn es sich erweist, dass diese Umwandlung im Interesse der Gläubiger des Hauptverfahrens liegt.“

14.

Anhang A der Verordnung nennt die mitgliedstaatlichen Verfahren, die Insolvenzverfahren nach Art. 2 Buchst. a sind. Anhang B enthält eine entsprechende Auflistung der Liquidationsverfahren nach Art. 2 Buchst. c.

B – Nationales Recht

15.

Das französische Recht kennt drei Arten von Insolvenzverfahren, die im Anhang A der Verordnung aufgeführt sind: das Sauvegarde-Verfahren, das Verfahren des Redressement judiciaire und das Verfahren der Liquidation judiciaire.

16.

Das Sauvegarde-Verfahren wird in den Art. L620-1 ff. des Handelsgesetzbuchs (Code de commerce) in der Fassung des Gesetzes Nr. 2005-845 vom 26. Juli 2005 geregelt. Diese sehen vor, dass die Einleitung eines solchen präventiven Sanierungsverfahrens ausschließlich vom Schuldner selbst beantragt werden kann, wenn und soweit er das Bestehen von Zahlungsschwierigkeiten nachweist.

17.

Ziel des Sauvegarde-Verfahrens ist es, die Fortsetzung der wirtschaftlichen Betätigung des Unternehmens (poursuite de l'activité économique de l'entreprise), den Erhalt von Arbeitsplätzen (maintien de l'emploi) und den Schuldenabbau (apurement du passif) zu begünstigen. Zum anderen soll das präventive Sanierungsverfahren jedoch auch eine Neuorganisierung (réorganisation) des Unternehmens ermöglichen.

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18.

Das Handelsgericht Meaux (Frankreich) eröffnete mit Urteil vom 1. Oktober 2008 gegenüber der in Polen ansässigen Schuldnerin Christianapol sp. z o.o. (im Folgenden: Christianapol) ein Insolvenzverfahren. Bei diesem Insolvenzverfahren handelte es sich um ein Sauvegarde-Verfahren nach französischem Recht.

19.

Das französische Gericht bestellte Beauftragte für die Gläubigerinteressen und einen Verfahrensverwalter ( 5 ), und stellte fest, dass bei Christianapol „keine Situation der Zahlungseinstellung vorliegt, da sich ihre geschätzten Zahlungsmittel im positiven Bereich befinden“. ( 6 ) Seine Zuständigkeit stützte das französische Gericht auf die Feststellung, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen der Schuldnerin in Frankreich liege. Diese Einschätzung begründete es mit der Tatsache, dass Christianapol einer Unternehmensgruppe angehört, deren Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sich in Frankreich befinde. Das gesamte Vermögen der Christianapol einschließlich ihrer Produktionsstätte befindet sich allerdings in Polen.

20.

Das vom Handelsgericht Meaux eingeleitete Verfahren stellt nach dessen Ansicht sowie nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ein Hauptinsolvenzverfahren im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Verordnung dar.

21.

Am 21. April 2009 beantragte eine in Polen sitzende Gläubigerin der Christianapol, die Bank Handlowy w Warszawie SA (im Folgenden: Bank Handlowy), beim Sąd Rejonowy Poznań (vorlegendes Gericht) die Eröffnung eines Sekundärverfahrens nach Art. 27 der Insolvenzverordnung. Hilfsweise, falls das Urteil des Handelsgerichts Meaux nach Art. 26 der Verordnung wegen Verstoßes gegen den ordre public in Polen nicht anerkannt würde, stellte sie am 26. Juni 2009 einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zur Liquidation des Schuldnervermögens. Dabei stellte die Bank Handlowy nicht klar, ob sie damit die Eröffnung eines Hauptverfahrens nach Art. 3 Abs. 1 oder eines Partikularverfahrens nach Art. 3 Abs. 4 Buchst. b der Verordnung anstrebte.

22.

Am 20. Juli 2009 bestätigte das Handelsgericht Meaux den von der Schuldnerin vorgelegten Schutzplan, wonach die von dem Zahlungsplan umfassten Gläubiger innerhalb von 10 Jahren in Raten befriedigt werden sollten. Des Weiteren ernannte das Gericht in dieser Entscheidung einen Beauftragten zur Überwachung der Durchführung des Plans (commissaire à l’execution du plan). Die zuvor erfolgte Einsetzung der Beauftragten für die Gläubigerinteressen wurde für die Zeit bis zur Beendigung des Verfahrens zur Feststellung der Forderungen und der Vorlage eines Abschlussberichts über ihre Tätigkeit aufrechterhalten.

23.

Am 2. August 2009 beantragte ein anderer Gläubiger der Christianapol, P.P.H.U. „Adax“ Ryszard Adamiak (mit Sitz in Polen), beim vorlegenden Gericht ebenfalls die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens nach polnischem Recht, gleichermaßen ohne klarzustellen, ob damit die Eröffnung eines Haupt- oder Partikularverfahrens gemeint war.

24.

Christianapol hatte ursprünglich beantragt, den Antrag auf Eröffnung eines Sekundärverfahrens in Polen abzulehnen, da dieses im Widerspruch zu den Zielen und dem Charakter des Sauvegarde-Verfahrens stehe. Nach Bestätigung des Schutzplanes beantragte Christianapol die Einstellung des Sekundärverfahrens, da das Hauptverfahren beendet sei. Darüber hinaus beantragte sie die weiteren Insolvenzanträge deshalb abzuweisen, weil sie ihren Verpflichtungen gemäß dem durch das französische Gericht bestätigten Vergleich nachkomme, so dass keine fälligen Geldforderungen gegen sie bestünden.

25.

In diesem Zusammenhang ersuchte das polnische Gericht das Handelsgericht Meaux um Auskunft, ob nach Bestätigung des Schutzplans weiterhin ein Hauptverfahren in Frankreich anhängig sei. Weder die Antwort des Handelsgerichts Meaux noch der zu dieser Frage erhobene Sachverständigenbeweis führten zur Klärung dieser Frage.

26.

Die weitere Vorgehensweise des polnischen Gerichts hängt jedoch nach dessen Ausführungen von der Beendigung des französischen Verfahrens ab: Sollte es beendet sein, sieht sich das polnische Gericht ggf. in der Lage, ein neues Hauptverfahren in Polen einzuleiten. Sollte das Verfahren in Frankreich noch nicht beendet sein, würde das polnische Gericht lediglich ein Sekundärverfahren einleiten.

27.

Mit Beschluss vom 21. Februar 2011 hat das vorlegende Gericht daraufhin das Verfahren ausgesetzt, und dem Gerichtshof folgende Fragen vorgelegt:

1.

Ist Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. j der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 dahin gehend auszulegen, dass der in dieser Vorschrift verwendete Begriff „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ unabhängig von den in den Rechtssystemen der einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Regelungen autonom zu interpretieren ist, oder entscheidet allein das innerstaatliche Recht des Staates der Verfahrenseröffnung darüber, wann die Beendigung des Insolvenzverfahrens eintritt?

2.

Ist Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 dahin gehend auszulegen, dass das innerstaatliche Gericht, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasst ist, nie die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners prüfen darf, über dessen Vermögen in einem anderen Staat ein Hauptinsolvenzverfahren eröffnet wurde, oder vielmehr dahin gehend, dass ein innerstaatliches Gericht in bestimmten Situationen das Vorliegen der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners prüfen darf, insbesondere dann, wenn das Hauptverfahren ein Schutzverfahren ist, in dem das Gericht festgestellt hat, dass der Schuldner nicht zahlungsunfähig ist (französisches Sauvegarde-Verfahren)?

3.

Erlaubt es die Auslegung von Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000, ein Sekundärinsolvenzverfahren, dessen Charakter in Art. 3 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung präzisiert wird, in dem Mitgliedstaat zu eröffnen, in dem sich das gesamte Vermögen des insolventen Schuldners befindet, wenn das der automatischen Anerkennung unterliegende Hauptverfahren Schutzcharakter hat (wie das französische Sauvegarde-Verfahren), in ihm ein Zahlungsplan angenommen und bestätigt wurde, dieser Plan vom Schuldner befolgt wird und das Gericht die Veräußerung des Vermögens des Schuldners untersagt hat?

Am Verfahren vor dem Gerichtshof haben sich die Bank Handlowy, die Christianapol, die französische, spanische und polnische Regierung sowie die Kommission beteiligt.

IV – Rechtliche Würdigung

A – Zur ersten Vorlagefrage

28.

Zunächst möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Zeitpunkt der Beendigung des Insolvenzverfahrens nach dem nationalen Recht bestimmt wird oder vielmehr unionsautonom definiert werden muss. Es bezieht sich dabei auf die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Eurofood ( 7 ) und fragt, ob die darin zur Eröffnung eines Insolvenzverfahrens aufgestellten Grundsätze auch auf dessen Beendigung zu übertragen sind.

29.

Die französische Republik und Christianapol sind der Ansicht, die Frage der Beendigung müsse unionsautonom dahin gehend ausgelegt werden, dass ein Insolvenzverfahren als beendet anzusehen ist, sobald der Schuldner die Verfügungsmacht über sein Vermögen zurückerlangt hat und der Insolvenzverwalter seine Funktionen beendet hat. Diese Ansicht teile ich jedoch nicht.

30.

Das auf Insolvenzverfahren anwendbare Recht wird in Art. 4 der Verordnung geregelt. Dieser bestimmt in seinem Abs. 1, dass das Recht des Mitgliedstaats anwendbar ist, in dem das Verfahren eröffnet wird (lex concursus). Abs. 2 präzisiert in einer nicht abschließenden Aufzählung ( 8 ) die Bereiche, die von der lex concursus umfasst werden. Dabei nennt Art. 4 Abs. 2 Buchst. j „die Voraussetzungen und die Wirkung der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich“. Seinem Wortlaut nach ist Art. 4 eine Kollisionsnorm, die die Frage der Beendigung eines Insolvenzverfahrens dem nationalen Recht überlässt.

31.

Das bestätigt auch der 23. Erwägungsgrund der Verordnung, der bestimmt, dass für den Insolvenzbereich „einheitliche Kollisionsnormen“ formuliert werden sollen, „die die Vorschriften des Internationalen Privatrechts der einzelnen Staaten ersetzen“. Die lex concursus regelt danach „alle verfahrensrechtlichen wie materiellen Wirkungen des Insolvenzverfahrens auf die davon betroffenen Personen und Rechtsverhältnisse; nach ihr bestimmen sich alle Voraussetzungen für die Eröffnung, Abwicklung und Beendigung des Insolvenzverfahrens“.

32.

Charakteristisch für eine Kollisionsvorschrift ist es, dass sie eine materiell-rechtliche Frage gerade nicht selbst beantwortet, sondern lediglich festlegt, nach welchem Recht sich die Antwort richtet. Eine unionsautonome Definition des Begriffs „Beendigung eines Insolvenzverfahrens“, wie sie Frankreich und der Christianapol vorschwebt, würde den Zeitpunkt, zu dem das Verfahren beendet ist, jedoch unmittelbar auf Unionsebene festlegen (und damit unmittelbar eine materielle Regelung treffen), anstatt lediglich auf das nationale Recht des Eröffnungsmitgliedstaats zu verweisen. Dies widerspräche dem Wortlaut von Art. 4 und dem 23. Erwägungsgrund der Verordnung.

33.

Zwar führt die französische Regierung zu Recht aus, dass unionsrechtliche Regelungen bei Zweifeln hinsichtlich ihres Wortlauts eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontextes der Vorschrift und des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss. ( 9 ) Im Fall von Kollisionsnormen darf dies jedoch nicht dazu führen, dass der kollisionsrechtliche Gehalt einer Vorschrift verloren geht, indem die materielle Rechtsfrage bereits auf Unionsebene beantwortet wird. Dementsprechend hat der Gerichtshof auch entschieden, dass der Grundsatz der einheitlichen Auslegung und Anwendung des Unionsrechts nur für solche Vorschriften gilt, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen. ( 10 ) Art. 4 ist jedoch aufgrund seiner ausdrücklichen Verweisung auf die lex concursus keiner unionsautonomen Auslegung zugänglich.

34.

Auch die Ziele der Verordnung sprechen gegen eine unionsautonome Auslegung der Verfahrensbeendigung. Wie sich aus dem elften Erwägungsgrund ergibt, zielt die Verordnung gerade nicht auf die Schaffung eines einheitlichen Insolvenzrechts ab – und zwar weder im Wege eines einheitlichen europaweiten Insolvenzverfahrens noch durch die Schaffung einheitlichen materiellen Rechts. Vielmehr geht sie davon aus, dass ein einheitliches Insolvenzverfahren mit universaler Geltung nicht realisierbar ist. Die Verordnung beschränkt sich daher, wie ihr sechster Erwägungsgrund zeigt, auf Vorschriften zur Zuständigkeit und zur Koordination parallel laufender Verfahren und des Nebeneinanders verschiedener mitgliedstaatlicher Regelungen sowie auf Regelungen zur Anerkennung von Entscheidungen, die im Zusammenhang mit Insolvenzverfahren ergehen. Würde man nun wesentliche Verfahrensfragen, wie etwa die Beendigung eines Verfahrens, autonom bestimmen, liefe dies auf eine schleichende Umwandlung hin zu einem einheitlichen Insolvenzrecht hinaus, das so von der Verordnung nicht vorgesehen ist.

35.

In der Rechtssache Eurofood hat der Gerichtshof zwar die Voraussetzungen für die „Eröffnung eines Insolvenzverfahrens“ unionsautonom definiert. ( 11 ) Diese Entscheidung ist jedoch entgegen der Ansicht Frankreichs und Christianapols nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar.

36.

Zunächst war Gegenstand der Vorlagefrage in der Rechtssache Eurofood der Begriff „Eröffnung des Insolvenzverfahrens“ im Sinne von Art. 16 der Verordnung und nicht im Sinne von Art. 4. Art. 16 selbst hat jedoch keinen kollisionsrechtlichen Gehalt, sondern trifft eine materielle Regelung, indem er die Priorität des zuerst eröffneten Insolvenzverfahrens anordnet. Somit ist Art. 16, im Gegensatz zu Art. 4, einer unionsautonomen Auslegung zugänglich.

37.

Ziel der Auslegung, wie sie in Eurofood gefunden wurde, war es nach dem eben Gesagten nicht, generelle Kriterien aufzustellen, nach denen ein Insolvenzverfahren grundsätzlich als eröffnet anzusehen ist. Dies bestimmt weiterhin die durch Art. 4 berufene lex concursus. Ziel war es vielmehr, die einheitliche Anwendung von Art. 16 sicherzustellen, was im Hinblick auf dessen Regelungsgehalt auch erforderlich war. Art. 16 dient dazu, die maßgebliche lex concursus zu identifizieren. Um die Verweisung in Art. 4 anwenden zu können, ist die Rechtsordnung, auf die verwiesen werden soll, zu bestimmen. Das regelt Art. 16, indem er dem zuerst eröffneten Verfahren Priorität einräumt. Diese Prioritätsregel wäre jedoch ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn in jedem Mitgliedstaat unterschiedlich beurteilt würde, welches Verfahren das zuerst eröffnete ist. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, war eine einheitliche Auslegung des Begriffs „Eröffnung“ in Art. 16 erforderlich, so wie sie in Eurofood vorgenommen wurde.

38.

Die Beendigung eines Insolvenzverfahrens ist jedoch nicht vergleichbar mit der Situation vor Verfahrenseröffnung. Sobald ein Insolvenzverfahren im Sinne der Insolvenzverordnung einmal eröffnet wurde, wird dieses nach Art. 16 Abs. 1 in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt und sperrt somit andere Hauptverfahren. Vor Verfahrenseröffnung kann es aufgrund der unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Regelungen zu Kompetenzkonflikten kommen, wie die Rechtssache Eurofood ( 12 ) gezeigt hat. Nach Eröffnung eines Hauptverfahrens können keine Kompetenzkonflikte mehr entstehen – die Verordnung hat in ihrem Art. 16 einen entsprechenden Mechanismus geschaffen, um eben dies zu verhindern.

39.

Dass es zu praktischen Schwierigkeiten führen kann, die Frage der Verfahrensbeendigung dem nationalen Recht zu überlassen, zeigt der vorliegende Fall. Aber auch eine autonome Auslegung des Begriffs der Verfahrensbeendigung würde diese Schwierigkeiten nicht beseitigen. Denn wenn man unionsautonome Kriterien aufstellen würde, müssten die Gerichte des Mitgliedstaats, in dem ein Sekundärverfahren eröffnet werden soll, feststellen, ob diese Kriterien im Mitgliedstaat des Hauptverfahrens erfüllt wurden. Dies kann in der Praxis ähnlich schwierig sein.

40.

Insoweit wäre es wünschenswert, wenn der Unionsgesetzgeber Klarheit schaffen würde, etwa dahin gehend, dass die Mitgliedstaaten dazu aufgefordert werden, mitzuteilen, wann die in Anhang A und Anhang B genannten Verfahren aus nationaler Sicht als beendet anzusehen sind, oder durch Schaffung eines entsprechenden Informationssystems. Die praktischen Schwierigkeiten rechtfertigen jedoch keine Abweichung vom Wortlaut und System der Verordnung.

41.

Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. j der Verordnung dahin gehend auszulegen ist, dass allein das innerstaatliche Recht entscheidet, wann die „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ eintritt. Demnach bestimmt im vorliegenden Fall allein das französische Recht, ob das dort anhängige Verfahren beendet ist oder nicht.

42.

Da das vorlegende Gericht in seinem Vorabentscheidungsersuchen eine derartige Andeutung gemacht hat, erlaube ich mir noch einen letzten Hinweis, um eine sachdienliche Antwort zu geben: Sollte das Verfahren in Frankreich beendet sein, wäre es dem vorlegenden Gericht unstreitig verwehrt, ein Sekundärverfahren zu eröffnen. Es wäre ihm jedoch auch verwehrt, ein neues Hauptverfahren zu eröffnen.

43.

Das französische Gericht hat seine Zuständigkeit darauf gestützt, dass der Mittelpunkt der tatsächlichen Interessen des Schuldners (Center of Main Interests – COMI) sich in Frankreich befindet und deshalb ein Hauptinsolvenzverfahren nach Anhang A der Verordnung eröffnet. Im vorliegenden Fall erscheint diese Feststellung jedoch zweifelhaft, befindet sich doch das gesamte Vermögen sowie die Produktionsstätte der Christianapol in Polen. In der Rechtssache Interedil ( 13 ) hat der Gerichtshof entschieden, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach objektiven und zugleich für Dritte feststellbaren Kriterien zu bestimmen ist, was sich auch aus dem 13. Erwägungsgrund der Verordnung ( 14 ) ergibt. Bei Gesellschaften stellt Art. 3 Abs. 1 S. 2 der Verordnung darüber hinaus eine Vermutung dafür auf, dass sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen am satzungsmäßigen Sitz befindet. Nach all dem eben gesagten spricht vieles dafür, dass das COMI der Christianapol in Polen lag.

44.

Dennoch darf das vorlegende Gericht sich nicht über die französische Feststellung, das COMI befinde sich in Frankreich, hinwegsetzen. Die Eröffnungsentscheidung des französischen Gerichts ist von allen anderen mitgliedstaatlichen Gerichten anzuerkennen ( 15 ) und darf nicht nachgeprüft werden. ( 16 ) Art. 25 erweitert diesen Anerkennungsgrundsatz auf alle zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens getroffenen Entscheidungen. Er umfasst damit auch die Entscheidung des eröffnenden Gerichts, das COMI befinde sich in Frankreich. Um ein Hauptverfahren eröffnen zu können, müsste das polnische Gericht aber nach Art. 3 Abs. 1 zunächst feststellen, dass sich das COMI der Schuldnerin in Polen befindet. Sofern sich die tatsächlichen Gegebenheiten seit Eröffnung des französischen Sauvegarde-Verfahrens jedoch nicht geändert haben, steht der eben erläuterte und vom Gerichtshof bereits mehrmals bestätigte Anerkennungsgrundsatz dieser Feststellung entgegen. Sie käme einer inzidenten Nachprüfung der französischen Entscheidung gleich, die die Verordnung nicht zulässt.

45.

Die Anerkennung kann auch nicht unter Rückgriff auf Art. 26 der Verordnung versagt werden. Art. 26 muss, wie der Gerichtshof bereits in der Rechtssache Eurofood ( 17 ) entschieden hat, eng ausgelegt werden. Ein ordre public-Verstoß kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz des Anerkennungsstaates verstößt und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung dieses Staates steht. ( 18 ) Dies ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich und wurde auch von keiner der Beteiligten vorgetragen.

B – Zur dritten Vorlagefrage

46.

Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht im Kern wissen, ob ein Sekundärverfahren auch unter den Umständen des vorliegenden Falles eröffnet werden kann, nämlich dann, wenn das Hauptverfahren ein Sanierungsverfahren ist und sich das gesamte Vermögen des Schuldners in dem Mitgliedstaat befindet, in dem die Eröffnung eines Sekundärverfahrens beantragt wurde. Da die Frage, ob in einem derartigen Fall überhaupt ein Sekundärverfahren eröffnet werden darf, der zweiten Vorlagefrage, nämlich wie dieses Verfahren gegebenenfalls eröffnet wird, logisch vorgeht, werde ich die dritte Vorlagefrage zuerst prüfen.

47.

Hintergrund dieser Vorlagefrage ist, dass sich das gesamte Vermögen der Christianapol in Polen befindet. Die Eröffnung eines Liquidationsverfahrens nach polnischem Recht würde nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts dazu führen, dass die Produktion der Christianapol eingestellt und der Betrieb geschlossen werden müsste und so eine Restrukturierung verhindert würde. Die Zwecke des französischen Sanierungsverfahrens würden dadurch vereitelt und die Erfüllung des Schutzplans gefährdet. Das vorlegende Gericht fragt sich daher, ob die Tatsache, dass es sich im Hauptverfahren um ein Sanierungsverfahren handelt, der Zulässigkeit von Sekundärverfahren widerspricht.

1. Anwendbarkeit der Verordnung

48.

Zunächst ist die Frage der Anwendbarkeit der Verordnung auch auf Sanierungsverfahren zu klären. Nach den Ausführungen der Bank Handlowy sei die Verordnung zwar auf die in Anhang A genannten Verfahren anwendbar, allerdings nur dann, wenn diese Verfahren im konkreten Fall die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 der Verordnung erfüllen. Da das Handelsgericht Meaux bei Eröffnung des Sauvegarde-Verfahrens festgestellt hat, dass Christianapol nicht zahlungsunfähig ist, sei die Verordnung nicht auf das in Frankreich geführte Verfahren anwendbar. Das polnische Gericht könne deshalb die Anerkennung des französischen Verfahrens verweigern und unabhängig davon ein neues Hauptverfahren eröffnen.

49.

Ich bin jedoch der Ansicht, dass die Insolvenzverordnung auch in diesem Fall, in dem das Hauptverfahren ein Sanierungsverfahren ist, anwendbar ist. Art. 2 Buchst. a definiert unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 1 die Insolvenzverfahren, die in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen, und verweist dafür auf die in Anhang A aufgeführten Verfahren. Sobald ein Verfahren dort aufgelistet ist, ist davon auszugehen, dass die Verordnung anwendbar ist. Das gilt somit auch für das französische Sauvegarde-Verfahren, das in Anhang A steht.

50.

Die Erwägungsgründe ( 19 ) und auch der Wortlaut von Art. 2 zeigen allerdings, dass darüber hinaus auch die Voraussetzungen von Art. 1 Abs. 1 erfüllt sein müssen, damit die Verordnung anwendbar ist. Die Verordnung enthält jedoch keine Definition des Begriffs „Insolvenz“. Eine solche konnte aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Insolvenzordnungen und des zum Teil sehr unterschiedlichen Verständnisses davon, was Insolvenz bedeutet, nicht gefunden werden. Ziel der Insolvenzverordnung ist darüber hinaus auch nicht eine Vereinheitlichung der Insolvenzverfahren. ( 20 ) Wie sich aus dem erläuternden Bericht zum Übereinkommen der Europäischen Union über Insolvenzverfahren ( 21 ) ergibt ( 22 ), ist demnach für die Anwendbarkeit der Verordnung maßgeblich, dass es sich bei dem in Frage stehenden Verfahren aus Sicht des jeweiligen Mitgliedstaats um ein Insolvenzverfahren handelt. Bei Zweifeln, ob es sich um ein Verfahren im Sinne des Art. 1 Abs. 1 der Verordnung handelt, insbesondere, ob das Verfahren auf der Insolvenz des Schuldners beruht, ist somit das Verständnis des Mitgliedstaats zugrunde zu legen, in dem dieses Verfahren durchgeführt wird.

51.

Die französische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners Voraussetzung für die Eröffnung eines Sauvegarde-Verfahrens ist. Aus Sicht des französischen Gesetzgebers handelt es sich daher vorliegend um einen insolventen Schuldner. Die Voraussetzungen des Art. 1 Abs. 1 sind demnach erfüllt.

52.

Die Verordnung ist somit auch auf das französische Sauvegarde-Verfahren anwendbar.

2. Zulässigkeit von Sekundärverfahren zu Haupt-Sanierungsverfahren

53.

Aufgrund der unterschiedlichen Zielsetzung von Sanierungs- und Liquidationsverfahren stellt sich nun jedoch die Frage, ob Sekundärverfahren möglicherweise ausgeschlossen sind, wenn das Hauptverfahren wie im vorliegenden Fall ein Sanierungsverfahren ist.

54.

Die Verordnung differenziert, wie auch die spanische Regierung ausführt, bei der Einleitung von Sekundärverfahren nicht nach der Natur des Hauptverfahrens. Sobald ein Verfahren nach Anhang A als Hauptverfahren anhängig ist, lassen Art. 3 Abs. 3 und Art. 27 die Eröffnung eines Sekundärverfahrens zu – unabhängig von der Verfahrensart des Hauptverfahrens. Dem Wortlaut nach erlaubt die Verordnung also auch im Fall von Hauptverfahren in Form von Sanierungsverfahren die Einleitung eines Sekundärverfahrens.

55.

Dass ein Sekundär-Liquidationsverfahren die Zwecke eines solchen Sanierungsverfahrens stören bzw. sogar vereiteln kann, zeigen die Ausführungen des vorlegenden Gerichts deutlich. Dabei handelt es sich in der Tat um ein unerwünschtes Ergebnis. Insbesondere angesichts des Wandels vieler mitgliedstaatlicher Insolvenzrechte weg von reinen Liquidationsverfahren hin zu Sanierungs- und Reorganisationsverfahren und im Hinblick auf die konsequenten Erweiterungen des Anhangs A der Verordnung in den letzten Jahren ( 23 ), mit denen zunehmend auch Sanierungsverfahren erfasst wurden, zeigt sich, dass diese von zunehmender Bedeutung sind und demnach ebenfalls von der Verordnung umfasst werden sollten.

56.

Abgesehen von den Erweiterungen des Anhangs blieb der Wortlaut der Verordnung im Übrigen jedoch unverändert, was im Einzelfall zu Widersprüchen und praktischen Problemen führen kann, wie der vorliegende Fall demonstriert. Um auch Sanierungsverfahren wirksam und effizient im Rahmen der Verordnung durchführen zu können, ist daher eine an den Zielen der Verordnung orientierte Auslegung der maßgeblichen Regelungen über die Verfahrenskoordination notwendig, die, wie die Christianapol zu Recht ausführt, die Entwicklung der Verordnung berücksichtigen muss. Durch eine entsprechende Auslegung können dabei die vom vorlegenden Gericht beschriebenen negativen Folgen der Einleitung eines Sekundärverfahrens abgeschwächt werden.

57.

Es ist meiner Meinung nach daher nicht erforderlich, Sekundärverfahren zu Haupt-Sanierungsverfahren generell zu verbieten.

58.

Eine Auslegung, so wie sie von der Christianapol und Frankreich vertreten wird, nach der im Falle von Sanierungsverfahren generell keine Sekundärverfahren eröffnet werden können, kommt im Übrigen im Hinblick auf die mit Sekundärverfahren verfolgten Zwecke nicht in Betracht. Sekundärverfahren dienen insbesondere dem Schutz der lokalen Gläubiger, denen die Durchführung eines ortsnahen Insolvenzverfahrens in ihrer Sprache und einer ihnen bekannten Rechtsordnung ermöglicht und so die Geltendmachung ihrer Rechte erleichtert werden soll. Eine generelles Verbot von Sekundärverfahren bei Sanierungs-Hauptverfahren würde die Verordnung in ihrem Kern berühren, indem ein wesentlicher, von ihr vorgesehener Verfahrenskomplex komplett ausgeschlossen würde. Diese Folge wäre mit dem Grundkonzept der Insolvenzverordnung nicht mehr vereinbar und würde über das zum Schutz von Sanierungsverfahren Notwendige hinausgehen.

3. Koordination von Haupt- und Sekundärverfahren bei Sanierungsverfahren

59.

Zu prüfen bleibt, wie eine Koordination von Haupt- und Sekundärverfahren im Sinne der Verordnung möglich ist, wenn das Hauptverfahren ein Sanierungsverfahren und das Sekundärverfahren ein Liquidationsverfahren ist.

60.

Zum einen sieht die Verordnung zahlreiche Maßnahmen vor, die es ermöglichen, die Ziele des Hauptverfahrens zu berücksichtigen und die Einheitlichkeit des Insolvenzverfahrens zu wahren ( 24 ), auch wenn das Sekundärverfahren als Liquidationsverfahren geführt wird. Darüber hinaus müssen die am jeweiligen Sekundärverfahren Beteiligten die Ziele der Verordnung achten und dazu beitragen, dass das Hauptverfahren nicht gestört und dessen Zwecke nicht vereitelt werden. Und zuletzt sind die materiellen Wirkungen des Hauptverfahrens auch im Sekundärverfahren zu beachten.

a) Maßnahmen in der Verordnung

61.

Die von der Verordnung vorgesehene dominierende Rolle des Hauptverfahrens ( 25 ) über das Sekundärverfahren erlaubt es dem Insolvenzverwalter des Hauptverfahrens, in vielfacher Weise auf das Sekundärverfahren Einfluss zu nehmen. So kann er nach Art. 33 Abs. 1 die Aussetzung der Verwertung beantragen ( 26 ), und zwar unabhängig von einer etwaigen Aussetzungsmöglichkeit im nationalen Recht. Art. 33 statuiert insoweit einen autonomen Aussetzungsgrund. Darüber hinaus räumt Art. 34 Abs. 1 auch dem Hauptverwalter das Recht ein, einen Sanierungsplan, einen Vergleich oder andere vergleichbare Maßnahmen zur Beendigung des Sekundärverfahrens vorzuschlagen. Während einer Aussetzung der Verwertung nach Art. 33 gewährt ihm die Verordnung in Art. 34 Abs. 3 dieses Recht sogar ausschließlich. Somit ist er zumindest teilweise in der Lage, eine Verwertung des Vermögens des Schuldners zu verhindern bzw. zu verzögern um dieses für das Sanierungsverfahren verwenden zu können. Auch kann er etwaige Sanierungslösungen im Sekundärverfahren initiieren.

62.

Zum anderen erlaubt es die Verordnung, unabhängig von einem Vorschlag des Hauptverwalters, auch im Sekundärverfahren Sanierungslösungen zu wählen. Wie die spanische Regierung zu Recht ausführt, sieht Art. 27 Satz 2 nämlich lediglich vor, dass das Sekundärverfahren eines der in Anhang B genannten Verfahren sein muss. Wie das jeweilige Verfahren konkret zu Ende geführt werden soll, regelt sie jedoch nicht. Es ist somit ausreichend, wenn das jeweilige Verfahren grundsätzlich mit der Liquidation des Schuldnervermögens enden kann. Sofern die jeweilige lex concursus ( 27 ) des Sekundärverfahrens jedoch auch Sanierungslösungen vorsieht, können diese ebenfalls genutzt werden. ( 28 ) Bestätigt wird diese Auslegung durch Art. 2 Buchst. c der Verordnung, der auch die Verfahren unter den Begriff „Liquidationsverfahren“ fallen lässt, die „durch einen Vergleich oder eine andere die Insolvenz beendende Maßnahme“ beendet werden können, und somit davon ausgeht, dass Liquidationsverfahren nicht unbedingt in der Verwertung des Vermögens enden müssen.

63.

Die Insolvenzverordnung ermöglicht es folglich mit den oben beschriebenen Mechanismen, die negativen Auswirkungen eines Sekundärverfahrens abzuschwächen. Eine abschließende und befriedigende Lösung der Problematik stellen sie jedoch nicht dar. Zum einen sind Sekundärverfahren zu bedenken, die in Mitgliedstaaten eröffnet werden, in denen es kein Einheitsverfahren gibt. Diese müssen, um den Anforderungen von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 zu genügen, auf Verfahren zurückgreifen, die in einer Liquidation enden können. Derartige Verfahren können möglicherweise aufgrund des nationalen Rechts nicht auf sanierende Beendigungsmöglichkeiten zurückgreifen. Somit kann es je nach Ausgestaltung der mitgliedstaatlichen Insolvenzordnungen zu divergierenden Ergebnissen führen. Dies widerspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit.

64.

Zum anderen können auch die bestehenden Koordinierungs- und Informationspflichten aufgrund ihrer lediglich fragmentarischen Regelung der Problematik eine Gefährdung der Gesamtsanierung nicht vollständig ausschließen. So hängt die Durchsetzung etwaiger auch im Sekundärverfahren möglicher Sanierungsmaßnahmen, wie beispielsweise einer Stundung oder Schuldbefreiung, von der Zustimmung aller betroffenen Gläubiger ab, wie Art. 34 Abs. 2 der Verordnung zeigt. Auch eine Aussetzung der Verwertung in Perioden von jeweils drei Monaten ist nicht mit einer endgültigen Aussetzung der Verwertung vergleichbar. Und auch ein Vorschlagsrecht des Insolvenzverwalters, wie es ihm in Art. 34 Abs. 1 eingeräumt wird, hindert eine Liquidation nicht, falls diese vom zuständigen Organ im Sekundärverfahren beschlossen würde.

65.

Eine ausdrückliche Regelung zur Verfahrenskoordination im Fall von Sanierungsverfahren wäre daher wünschenswert. Es spräche dabei meines Erachtens einiges dafür, auch Sanierungsverfahren als Sekundärverfahren zuzulassen. Die Verordnung ermöglicht parallele Sanierungsverfahren wie oben gezeigt bereits in weiten Teilen. Es wäre daher nur konsequent, sie auch ausdrücklich zuzulassen und entsprechende Regelungen zur Koordination aufzustellen. Diese Entscheidung obliegt jedoch dem Unionsgesetzgeber.

b) Pflicht zur Wahrung der Ziele des Hauptverfahrens

66.

Bis zu einer klarstellenden Änderung der Verordnung sind jedoch alle Beteiligten daran gehalten, mittels der bestehenden Instrumente und im Rahmen des nationalen Rechts, die Ziele des Hauptverfahrens zu wahren. Der Grundsatz der Unionstreue (Art. 4 Abs. 3 EUV) verpflichtet dabei das Gericht des Sekundärverfahrens, bei allen von ihm zu treffenden Maßnahmen die Ziele des Hauptverfahrens im Blick zu behalten und dem System der Verordnung Rechnung zu tragen, das vom Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, dem Gebot der Koordination von Haupt- und Sekundärverfahren, dem Ziel der Schaffung effizienter und wirksamer grenzüberschreitender Verfahren sowie einem Vorrang des Hauptverfahrens ausgeht. ( 29 )

67.

Dies gilt für alle Maßnahmen nach dem nationalen Recht, etwa für Ermessensentscheidungen oder für die Wahl zwischen mehreren Handlungsalternativen, bei denen stets die Maßnahme gewählt werden muss, die am besten geeignet ist, die Zwecke des Hauptverfahrens zu wahren. Auch die Beteiligung des Hauptverwalters am Sekundärverfahren muss durch das nationale Recht sichergestellt werden.

68.

Wie die Kommission zu Recht feststellt, verpflichtet die Verordnung auch nicht generell zur Eröffnung eines Sekundärverfahrens, sie erlaubt ein solches lediglich. Ob überhaupt ein Sekundärverfahren eröffnet wird, entscheidet also weiterhin das zuständige Gericht. Und auch bei dieser Entscheidung hat es die Ziele der Verordnung sowie die Wirkungen des Hauptverfahrens zu berücksichtigen, insbesondere im Hinblick darauf, ob die Gläubiger, die am Hauptverfahren beteiligt waren und einem Schutzplan zugestimmt haben, sich ihrer Verpflichtungen aus dem Schutzplan durch Einleitung eines Sekundärverfahrens entziehen würden.

c) Wirkungen des Hauptverfahrens

69.

Darüber hinaus müssen auch in materieller Sicht die Wirkungen des vom Handelsgericht Meaux gefassten Beschlusses beachtet werden. Art. 25 statuiert eine Anerkennungspflicht für alle „zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens ergangenen Entscheidungen eines Gerichts …“. Bei einem Schutzplan wie dem in Frankreich verabschiedeten handelt es sich zweifellos um eine Entscheidung in diesem Sinne. Den in diesem Schutzplan angeordneten Maßnahmen ist deshalb Rechnung zu tragen, und zwar in prozessualer und in materiell-rechtlicher Sicht.

70.

Maßgeblich sind dabei die Wirkungen, die das französische Recht dem Schutzplan beimisst. ( 30 ) Wie die Kommission betont, sind dessen Entscheidungen auf materieller Ebene zu berücksichtigen, beispielsweise im Hinblick auf die Frage, inwieweit der Schutzplan die Forderungen der Gläubiger, die einen Sekundär-Insolvenzantrag gestellt haben, inhaltlich geändert hat, oder ob etwa der Antrag auf Eröffnung eines Sekundärverfahrens durch einen am Hauptverfahren beteiligten und dem Schutzplan zustimmenden Gläubiger rechtsmissbräuchlich erfolgt.

71.

Die dritte Frage ist deshalb dahin gehend zu beantworten, dass Art. 27 der Verordnung die Eröffnung eines Sekundärverfahrens auch dann erlaubt, wenn das Hauptverfahren ein Sanierungsverfahren ist.

C – Zur zweiten Vorlagefrage

72.

Mit seiner zweiten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 27 der Verordnung, der die Eröffnung eines Sekundärverfahrens regelt, es dem Gericht des Sekundärverfahrens verbietet, die Insolvenz des Schuldners zu prüfen, oder ob vielmehr dieses Gericht in bestimmten Situationen das Vorliegen der Insolvenz des Schuldners prüfen darf.

73.

In manchen Sprachfassungen der Verordnung könne Art. 27 Satz 1 nach Ansicht des vorlegenden Gerichts dahin gehend verstanden werden, dass die Insolvenz des Schuldners bei Eröffnung eines Sekundärverfahrens nicht geprüft werden muss (jedoch geprüft werden kann), in anderen Sprachfassungen kann sie hingegen auch so gelesen werden, dass die Frage der Insolvenz des Schuldners vom zuständigen Gericht nicht geprüft werden darf.

74.

Ein Vergleich der Sprachfassungen zeigt in meinen Augen jedoch keine derartige Diskrepanz. Vielmehr beinhalten die von mir verglichenen Sprachfassungen ( 31 ) ein fakultatives Element. Die Kommission kommt im Bezug auf die von ihr geprüften Sprachfassungen auch zu diesem Ergebnis. Entgegen den Ausführungen des vorlegenden Gerichts ergibt sich ein solches auch insbesondere aus der deutschen („kann … eröffnen“) und französischen („permet d’ouvrir“) Fassung. Auch die finnische Fassung, der neben der deutschen Fassung im Hinblick darauf, dass die Verordnung auf der Initiative Finnlands und Deutschlands erlassen wurde, besonderes Gewicht zukommt ( 32 ), enthält eindeutig ein fakultatives Element („voi … aloittaa“).

75.

Damit ist jedoch nicht geklärt, ob das Gericht des Sekundärverfahrens die Insolvenz des Schuldners bei Eröffnung des Sekundärverfahrens prüfen darf. Es ist nämlich nicht eindeutig, worauf sich das „kann“ in Art. 27 bezieht. Damit kann sowohl die Möglichkeit gemeint sein, generell ein Sekundärverfahren zu eröffnen, als auch die Frage der Prüfung der Insolvenz bei Eröffnung des Sekundärverfahrens. Deshalb ist auf die Ziele der Verordnung und auf den Zweck der konkreten Vorschrift abzustellen ( 33 ), um ihre Bedeutung zu ermitteln.

76.

Zweck des Art. 27 ist es, eine nochmalige Prüfung der Insolvenz durch das Gericht des Sekundärverfahrens entbehrlich zu machen, um so zu einer Beschleunigung der Verfahren beizutragen. Dabei ging der Gesetzgeber augenscheinlich davon aus, dass eine erneute Prüfung deshalb entbehrlich ist, weil die Insolvenz des Schuldners bereits bei Eröffnung des Hauptverfahrens geprüft wurde. Das Sekundärverfahren umfasst zwangsläufig Vermögen des Schuldners, das bereits vom Vermögensbeschlag des Hauptverfahrens erfasst war, so dass eine erneute Prüfung der Insolvenz nicht notwendig ist. Im Hinblick auf den oben erwähnten Wandel der Insolvenzrechte hin zu Sanierungsverfahren und die entsprechenden Erweiterungen des Anhangs A ist dies jedoch nicht mehr stets der Fall.

77.

Art. 27 der Verordnung geht darüber hinaus davon aus, dass bei einer Prüfung der Insolvenz durch das Gericht des Sekundärverfahrens die Gefahr besteht, dass das zuständige Gericht zu einer abweichenden Beurteilung gelangt, etwa weil der Insolvenzgrund des Hauptverfahrens nicht bekannt ist, und deshalb die Eröffnung eines Sekundärverfahrens ablehnt. Die Verordnung enthält keine Definition dafür, was Insolvenz bedeutet. Diese Entscheidung bleibt, wie bereits erwähnt, allein den Mitgliedstaaten überlassen und divergiert unionsweit stark. Etwaige aus diesen Divergenzen resultierende Probleme soll Art. 27 vermeiden. Auf Sanierungsverfahren lässt sich dieses Ziel jedoch aufgrund der mit Sanierungsverfahren verfolgten Zwecke und deren Ablauf nicht uneingeschränkt übertragen.

78.

Auch das Ziel der Verfahrensbeschleunigung wird in einem Fall wie dem vorliegenden nicht notwendigerweise berührt. Es soll nämlich lediglich eine wiederholte Prüfung der Insolvenz vermieden werden. Wäre es dem polnischen Gericht jedoch verwehrt, die Insolvenz der Christianapol vor Eröffnung des Liquidationsverfahrens zu prüfen, könnte es dazu kommen, dass ein Liquidationsverfahren gegen einen möglicherweise inzwischen (auch aus französischer Sicht) wieder solventen Schuldner eröffnet wird. Dieses Ergebnis ist jedoch mit den Zielen der Verordnung nicht vereinbar und würde darüber hinaus zu sehr in die mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen eingreifen, indem ein Verfahren geschaffen wird, das nicht mehr nur ohne innerstaatlich bekannten Insolvenzgrund eingeleitet wird, sondern sogar ohne jeglichen Insolvenzgrund.

79.

Ein solches Verständnis von Art. 27 der Verordnung würde Schuldner darüber hinaus möglicherweise davon abhalten, frühzeitig ein Sanierungsverfahren zu beantragen. Sie würden dann nämlich Gefahr laufen, einem Liquidationsverfahren in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Prüfung der Insolvenz ausgesetzt zu sein, wenngleich sich die finanzielle Situation des Schuldners bis dahin möglicherweise wieder verbessert hat.

80.

Eine Prüfung der Insolvenz durch das Gericht des Sekundärverfahrens ist deshalb, und auch im Hinblick auf meine Ausführungen zur dritten Vorlagefrage ( 34 ), immer dann erforderlich, wenn es sich im Hauptverfahren um ein Sanierungsverfahren handelt. Wenn das Hauptverfahren dagegen kein Sanierungs- bzw. Restrukturierungs- sondern ein Liquidationsverfahren ist, ist dem Gericht des Sekundärverfahrens eine erneute Prüfung der Insolvenz aus den oben genannten Gründen verwehrt.

81.

Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass das Gericht des Sekundärverfahrens die Insolvenz des Schuldners dann prüfen darf, wenn es sich im Hauptverfahren um ein Sanierungsverfahren handelt, das die Insolvenz des Schuldners nicht voraussetzt.

V – Ergebnis

82.

Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten:

1.

Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. j der Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 ist dahin gehend auszulegen, dass allein das innerstaatliche Recht darüber entscheidet, wann die „Beendigung des Insolvenzverfahrens“ eintritt.

2.

Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 ist dahin gehend auszulegen, dass das innerstaatliche Gericht, das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens befasst ist, die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners prüfen darf, wenn es sich bei dem Hauptverfahren um ein Sanierungsverfahren handelt.

3.

Die Auslegung von Art. 27 der Verordnung Nr. 1346/2000 erlaubt es, auch dann ein Sekundärinsolvenzverfahren zu eröffnen, wenn das der automatischen Anerkennung unterliegende Hauptverfahren ein Sanierungs- oder Restrukturierungsverfahren ist (wie etwa das französische Sauvegarde-Verfahren).


( 1 ) Originalsprache: Deutsch.

( 2 ) ABl. L 160 S. 1, in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 603/2005 des Rates vom 12. April 2005 (ABl. L 100, S. 1) und durch die Verordnung (EG) Nr. 694/2006 des Rates vom 27. April 2006 (ABl. L 121, S. 1) geänderten Fassung.

( 3 ) Die Verordnung differenziert in ihrem Art. 3 zwischen diesen beiden Begriffen. Mit Sekundärverfahren sind nach Art. 3 Abs. 3 die Verfahren gemeint, die nach Eröffnung des Hauptverfahrens eingeleitet werden. Partikularverfahren sind hingegen nach Art. 3 Abs. 4 solche Verfahren, die vor Eröffnung des Hauptverfahrens eingeleitet werde. Diese Begrifflichkeit werde ich auch im Folgenden verwenden.

( 4 ) Rayongericht Posen Altstadt.

( 5 ) Mandataire judiciaire und administrateur judiciaire.

(

6

)

„Que Christianapol Sp. Z. o.o, n’est pas en état de cessation de paiements, puisque la trésorerie prévisionnelle s’avère positive.“

( 7 ) Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood IFSC (C-341/04, Slg. 2006, I-3813).

( 8 ) Vgl. Urteil vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia (C-444/07, Slg. 2010, I-417, Randnr. 25).

( 9 ) Vgl. meine Schlussanträge vom 10. März 2011, Interedil (C-396/09, Slg. 2011, I-9915, Nr. 39), sowie die Urteile vom 2. April 2009, A (C-523/07, Slg. 2009, I-2805, Randnr. 34), und vom 6. März 2008, Nordania Finans und BG Factoring (C-98/07, Slg. 2008, I-1281, Randnr. 17 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. Urteil vom 14. Februar 2012, Flachglas Torgau (C-204/09, Randnr. 37), und Urteil A (zitiert in Fn. 9, Randnr. 34 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

( 11 ) Zitiert in Fn. 7, Randnr. 54.

( 12 ) Zitiert in Fn. 7.

( 13 ) Urteil vom 20. Oktober 2011, Interedil (C-396/09, Slg. 2011, I-9915, Randnr. 49). Siehe hierzu auch meine Schlussanträge in dieser Rechtssache (zitiert in Fn. 9, Nr. 57).

(

14

)

„Als Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen sollte der Ort gelten, an dem der Schuldner gewöhnlich der Verwaltung seiner Interessen nachgeht und damit für Dritte feststellbar ist.“

( 15 ) Vgl. den 22. Erwägungsgrund der Verordnung „In dieser Verordnung sollte die unmittelbare Anerkennung von Entscheidungen über die Eröffnung, die Abwicklung und die Beendigung der in ihren Geltungsbereich fallenden Insolvenzverfahren … vorgesehen werden. … Die Anerkennung der Entscheidungen der Gerichte der Mitgliedstaaten sollte sich auf den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens stützen. … Die Entscheidung des zuerst eröffnenden Gerichts sollte in den anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden; …“

( 16 ) Vgl. auch Urteil vom 2. Mai 2006, Eurofood, zitiert in Fn. 7, Randnr. 42 und Urteil vom 21. Januar 2010, MG Probud Gdynia, zitiert in Fn. 8, Randnr. 29.

( 17 ) Zitiert in Fn. 7, Randnrn. 62 ff.

( 18 ) Vgl. auch den 22. Erwägungsgrund, der bestimmt, dass „… die zulässigen Gründe der Nichtanerkennung … auf das unbedingt notwendige Maß beschränkt sein [sollten]“.

( 19 ) Vgl. den 10. Erwägungsgrund: „… Damit diese Verordnung Anwendung findet, muss es sich aber um ein Verfahren … handeln, das … im Einklang mit dieser Verordnung steht …“

( 20 ) Vgl. den 11. Erwägungsgrund.

( 21 ) Virgós-Schmit-Bericht. Auf diesen beziehen sich zahlreiche Erwägungsgründe der Verordnung. Vgl. zu seiner Relevanz für die Auslegung der Verordnung die Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs vom 27. September 2005, Eurofood IFSC (C-341/04, Slg. 2006, I-3813, Nr. 2). Er wurde nicht im Amtsblatt veröffentlicht, existiert aber als Dokument des EU-Rates vom 8. Juli 1996 (6500/1/96).

( 22 ) Virgós/Schmit, Report on the Convention on Insolvency Proceedings, Rz. 49.

( 23 ) So wurde beispielsweise das französische Sauvegarde-Verfahren erst nachträglich durch die Verordnung (EG) Nr. 694/2006 in den Anhang A der Verordnung aufgenommen.

( 24 ) Vgl. den 12. Erwägungsgrund „… Zwingende Vorschriften für die Koordinierung mit dem Hauptinsolvenzverfahren tragen dem Gebot der Einheitlichkeit des Verfahrens in der Gemeinschaft Rechnung“.

( 25 ) Vgl. neben den Regelungen zur Verfahrenskoordination in der Verordnung auch den 20. Erwägungsgrund, der von einer „dominierenden Rolle“ des Hauptverfahrens spricht.

( 26 ) Zwar jeweils nur für einen Zeitraum von drei Monaten. Aus Art. 33 Abs. 1 Satz 4 geht jedoch hervor, dass dieser Zeitraum unbeschränkt verlängert werden kann. Vgl. insoweit auch die englische Sprachfassung „It may be continued or renewed for similar periods“, die französische Sprachfassung „Elle peut être prolongée ou renouvelée pour des périodes de même durée.“ oder die spanische Sprachfassung „Podrá prolongarse o renovarse por períodos de la misma duración.“.

( 27 ) Diese wird für Sekundärverfahren in Art. 28 bestimmt.

( 28 ) Dies ist beispielsweise bei all den Mitgliedstaaten der Fall, deren Insolvenzordnung von einem Einheitsverfahren ausgeht.

( 29 ) Vgl. den 23., 2. und 12. Erwägungsgrund.

( 30 ) Vgl. den 22. Erwägungsgrund: „… Die automatische Anerkennung sollte somit zur Folge haben, dass die Wirkungen, die das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung dem Verfahren beilegt, auf alle übrigen Mitgliedstaaten ausgedehnt werden …“

( 31 ) Vgl. die deutsche Fassung „so kann … eröffnen, ohne dass … die Insolvenz des Schuldners geprüft wird“, die französische Fassung „permet d'ouvrir, … une procédure secondaire d'insolvabilité sans que l'insolvabilité du débiteur soit examinée.“, die englische Fassung „shall permit … the opening of secondary insolvency proceedings without the debtor's insolvency being examined“, die spanische Fassung „permitirá abrir … sin que sea examinada en dicho Estado la insolvencia del deudor“, die italienische Fassung „permette di aprire … senza che in questo altro Stato sia esaminata l'insolvenza del debitore“, die griechische Fassung „καθιστά δυνατή“, sowie die finnische Fassung „voi … aloittaa sekundäärimenettelyn ilman, että velallisen maksukyvyttömyyttä tutkitaan tässä toisessa valtiossa“.

( 32 ) Vgl. den 2. Bezugsvermerk der Präambel der Verordnung.

( 33 ) Selbst wenn man das fakultative Element in Art. 27 allein auf die Frage der Eröffnung des Sekundärverfahrens bezieht und diese Vorschrift somit als generelles Verbot der Insolvenzprüfung auffasst, wäre dieses Verbot im Hinblick auf den Zweck und die Ziele der Verordnung auszulegen und anzuwenden.

( 34 ) Vgl. Randnrn. 56 ff.

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