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Document 62009CJ0546

Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 31. März 2011.
Aurubis Balgaria AD gegen Nachalnik na Mitnitsa Stolichna.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Varhoven administrativen sad - Bulgarien.
Zollkodex - Zölle - Einfuhrzollschuld - Säumniszinsen - Zeitraum für die Erhebung von Säumniszinsen - Ausgleichszinsen.
Rechtssache C-546/09.

Sammlung der Rechtsprechung 2011 I-02531

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2011:199

Rechtssache C‑546/09

Aurubis Balgaria AD

gegen

Nachalnik na Mitnitsa Stolichna, vormals Nachalnik na Mitnitsa Sofia

(Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven administrativen sad)

„Zollkodex – Zölle – Einfuhrzollschuld – Säumniszinsen – Zeitraum für die Erhebung von Säumniszinsen – Ausgleichszinsen “

Leitsätze des Urteils

1.        Zollunion – Entstehung und Erhebung der Zollschuld bei zollrechtlichen Verstößen – Erhebung von Säumniszinsen – Zulässigkeit – Kriterien

(Verordnung Nr. 12913/92 des Rates, Art. 202 bis 205, 210, 211, 220 und 232 Abs. 1 Buchst. b; Verordnung Nr. 2454/93 der Kommission)

2.        Zollunion – Entstehung und Erhebung der Zollschuld bei zollrechtlichen Verstößen – Erhebung von Ausgleichszinsen – Unzulässigkeit

(Verordnung Nr. 2913/92 des Rates, Art. 214 Abs. 3, Verordnung Nr. 2454/93 der Kommission, Art. 519 Abs. 1)

3.        Unionsrecht – Allgemeine Rechtsgrundsätze – Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Strafen – Tragweite

1.        Art. 232 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der Fassung der Verordnung Nr. 1791/2006 ist dahin auszulegen, dass Säumniszinsen auf den Betrag der noch einzuziehenden Zollabgaben nach dieser Bestimmung nur für den Zeitraum erhoben werden dürfen, der auf den Ablauf der Frist für die Begleichung dieses Betrags folgt.

Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex ist weder dazu bestimmt, das Entstehen finanzieller Ausfälle bei den Zollbehörden zu verhindern, noch dazu, die Vorteile auszugleichen, die den Wirtschaftsteilnehmern aus den aufgrund ihres eigenen Verhaltens eingetretenen Verzögerungen bei der buchmäßigen Erfassung der Zollschuld im Sinne des Zollkodex sowie bei der Ermittlung ihrer Höhe oder des Zollschuldners erwachsen.

Für den Fall, dass die Zollschuld auf der Grundlage der Art. 202 bis 205, 210, 211 und 220 des Zollkodex entsteht, die sich alle auf Sachverhalte beziehen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer gegen das Zollrecht der Union verstößt, sehen nämlich weder der Zollkodex noch die Verordnung Nr. 2454/93 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 2913/92 besondere Maßnahmen wie eine Zollabgabenerhöhung vor, deren Betrag den Säumniszinsen für den Zeitraum zwischen dem Entstehen der Zollschuld und dem der buchmäßigen Erfassung oder zwischen der Fälligkeit der ursprünglich buchmäßig erfassten Zollschuld und der buchmäßigen Erfassung der nachzuerhebenden Zollschuld entspricht.

(vgl. Randnrn. 32-34, Tenor 1)

2.        Art. 214 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der Fassung der Verordnung Nr. 1791/2006 ist in Ermangelung entsprechender Bestimmungen in der Verordnung Nr. 2454/93 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 2913/92 in der Fassung der Verordnung Nr. 214/2007 dahin auszulegen, dass die nationalen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmung beim Zollschuldner keine Ausgleichszinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zollanmeldung und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erheben dürfen.

Die Erhebung von Ausgleichszinsen ist nach Art. 519 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2454/93 nur für den Fall vorgesehen, dass für in die aktive Veredelung oder vorübergehende Verwendung übergeführte Einfuhrwaren oder Veredelungserzeugnisse eine Zollschuld entsteht.

Die Zollverwaltung kann sich daher nicht auf Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex stützen, um im Rahmen anderer Zollverfahren Ausgleichszinsen zu erheben.

(vgl. Randnrn. 37-39, Tenor 2)

3.        Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, verwehren es den nationalen Behörden, bei einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung eine im nationalen Recht nicht ausdrücklich vorgesehene Sanktion zu verhängen.

Aus diesem Grundsatz folgt nämlich, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen.

(vgl. Randnrn. 42-43, Tenor 3)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

31. März 2011(*)

„Zollkodex – Zölle – Einfuhrzollschuld – Säumniszinsen – Zeitraum für die Erhebung von Säumniszinsen – Ausgleichszinsen“

In der Rechtssache C‑546/09

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 20. Oktober 2009, beim Gerichtshof eingegangen am 23. Dezember 2009, in dem Verfahren

Aurubis Balgaria AD

gegen

Nachalnik na Mitnitsa Stolichna, vormals Nachalnik na Mitnitsa Sofia,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑J. Kasel sowie der Richter M. Ilešič und E. Levits (Berichterstatter),

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Januar 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Aurubis Balgaria AD, vertreten durch L. Ruessmann, avocat, und S. Yordanova, advokat,

–        des Nachalnik na Mitnitsa Stolichna, vormals Nachalnik na Mitnitsa Sofia, vertreten durch T. Popgeorgieva und S. Valkova, advokati,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch B.‑R. Killmann und S. Petrova als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 201 Abs. 1 Buchst. a und 2 in Verbindung mit den Art. 214, 222 Abs. 1 Buchst. a und 232 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 (ABl. L 363, S. 1, im Folgenden: Zollkodex).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Aurubis Balgaria AD (im Folgenden: Aurubis) und dem Nachalnik na Mitnitsa Stolichna, vormals Nachalnik na Mitnitsa Sofia (Leiter des Zollamts Sofia, im Folgenden: Nachalnik), über die Höhe der Zinsen auf die zusätzliche Mehrwertsteuerschuld, zu deren Begleichung diese Gesellschaft für verpflichtet erklärt worden war, sowie über den Zeitpunkt, von dem an diese Zinsen entstanden sind.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 201 Abs. 1 Buchst. a und 2 des Zollkodex sieht vor:

„(1)      Eine Einfuhrzollschuld entsteht,

a)      wenn eine einfuhrabgabenpflichtige Ware in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt wird oder

(2)      Die Zollschuld entsteht in dem Zeitpunkt, in dem die betreffende Zollanmeldung angenommen wird.“

4        Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex bestimmt:

„In den Fällen und unter Voraussetzungen, die nach dem Ausschussverfahren festgelegt werden, sind Ausgleichszinsen zu erheben, um zu verhindern, dass es aufgrund der Verschiebung des Zeitpunkts der Entstehung oder der buchmäßigen Erfassung der Zollschuld zu einem finanziellen Vorteil kommt.“

5        Art. 222 Abs. 1 Buchst. a Unterabs. 1 und 2 des Zollkodex sieht vor:

„Der nach Artikel 221 mitgeteilte Abgabenbetrag ist vom Zollschuldner innerhalb folgender Fristen zu entrichten:

a)      ist keine Zahlungserleichterung nach den Artikeln 224 bis 229 eingeräumt worden, so muss die Zahlung innerhalb der festgesetzten Frist geleistet werden.

Unbeschadet des Artikels 244 zweiter Absatz darf diese Frist zehn Tage, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Mitteilung des geschuldeten Abgabenbetrags an den Zollschuldner, nicht überschreiten; im Falle der Globalisierung der buchmäßigen Erfassung im Sinne des Artikels 218 Absatz 1 Unterabsatz 2 muss die Frist so festgesetzt werden, dass der Zollschuldner keine längere Zahlungsfrist erhält als er im Falle eines Zahlungsaufschubs erhalten hätte.“

6        Art. 232 des Zollkodex lautet:

„(1)      Ist der Abgabenbetrag nicht fristgerecht entrichtet worden,

b)      so werden zusätzlich zu dem Abgabenbetrag Säumniszinsen erhoben. Der Säumniszinssatz kann höher als der Kreditzinssatz sein. Er darf jedoch nicht niedriger sein.

(2)      Die Zollbehörden können auf die Säumniszinsen verzichten, wenn

c)      die Entrichtung des Abgabenbetrages innerhalb von fünf Tagen nach Ablauf der dafür festgesetzten Frist erfolgt.

…“

7        Art. 519 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 2913/92 (ABl. L 253, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 214/2007 der Kommission vom 28. Februar 2007 (ABl. L 62, S. 6, im Folgenden: Durchführungsverordnung) hat folgenden Wortlaut:

„Entsteht für in die aktive Veredelung oder vorübergehende Verwendung übergeführte Einfuhrwaren oder Veredelungserzeugnisse eine Zollschuld, so sind auf der Grundlage des Einfuhrabgabenbetrages für den in Frage stehenden Zeitraum Ausgleichszinsen zu zahlen.“

8        Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer.

9        In Bezug auf die Entrichtung der bei der Einfuhr von Waren geschuldeten Mehrwertsteuer bestimmt Art. 211 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, dass die Mitgliedstaaten selbst die Einzelheiten der Entrichtung der Mehrwertsteuer für die Einfuhr von Gegenständen festlegen.

 Nationales Recht

10      Art. 59 Abs. 2 des Zakon za danak varhu dobavenata stoynost (Mehrwertsteuergesetz, DV Nr. 63 vom 4. August 2006) in geänderter Fassung (DV Nr. 52 vom 29. Juni 2007, im Folgenden: ZDDS) sieht vor:

„Ist nach den Zollvorschriften eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf die sich aus der Zollschuld ergebenden Zollabgaben entstanden, entsteht auch eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf die nicht erhobene Steuer.“

11      Art. 60 („Entrichtung der Steuer bei der Einfuhr“) des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„(1)      Die von den Zollbehörden erhobene Steuer wird im Haushalt der Republik in der Weise und innerhalb der Fristen verbucht, die für die Entrichtung der Zollabgaben vorgesehen sind.

(2)      Die von den Zollbehörden bei der Einfuhr ins Inland erhobene Steuer kann von den Einkommensbehörden und den Zollbehörden nicht gegen andere Forderungen aufgerechnet werden.“

 Sachverhalt und Vorlagefragen

12      In der Zeit vom 6. bis zum 30. November 2007 führte Aurubis aus Mazedonien stammendes Kupferkonzentrat ein. Diese Waren wurden „in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt“.

13      Die Zollanmeldungen wurden auf der Grundlage eines vorläufigen Preises ausgefüllt, der in der Rechnung des Verkäufers ausgewiesen und anhand der Preisfestsetzungsmethode festgelegt war, die in dem zwischen diesem Verkäufer und Aurubis geschlossenen Handelsvertrag vorgesehen war.

14      Der endgültige Preis der Waren wurde mit der Schlussrechnung vom 18. Februar 2008 festgelegt.

15      Am 20. Juni 2008 richtete Aurubis auf eigene Initiative und auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 1 des Zollkodex ein Schreiben an die Zollbehörden, in dem sie diesen mitteilte, dass der Lieferant die Schlussrechnung für die eingeführten Waren ausgestellt habe, und diese Behörden aufforderte, falls sie eine nachträgliche Änderung des Zollwerts der Ware für erforderlich hielten, gemäß ihren gesetzlichen Befugnissen tätig zu werden.

16      Am 15. Juli 2008 erließ der Nachalnik eine Entscheidung, mit der eine zusätzliche Mehrwertsteuerforderung des Staates in Höhe von 113 822,82 BGN festgestellt wurde, die zusammen mit den gesetzlichen Zinsen zum Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld fällig geworden sei (im Folgenden: Entscheidung von 2008). Diese Entscheidung, mit der Aurubis eine Zahlungsfrist von sieben Tagen eingeräumt wurde, wurde dieser am 16. Juli 2008 zugestellt.

17      Aurubis beglich ihre mit der Entscheidung von 2008 festgesetzte Mehrwertsteuerschuld durch Zahlungsanweisung vom 23. Juli 2008. Diese Schuld wurde am 24. Juli 2008 buchmäßig erfasst.

18      Aurubis widersetzte sich der mit der Entscheidung von 2008 auferlegten Verpflichtung zur Zahlung von Säumniszinsen und befasste den Administrativen Sad – Sofia-grad (Verwaltungsgericht Sofia), der die Entscheidung von 2008 mit Urteil vom 19. März 2009 bestätigte.

19      Am 3. April 2009 legte Aurubis Kassationsbeschwerde zum Varhoven administrativen sad (Oberster Verwaltungsgerichtshof) ein, mit der sie die Rechtmäßigkeit dieses Urteils in Frage stellte.

20      Gestützt auf die Art. 201 und 214 des Zollkodex vertrat der Nachalnik die Auffassung, die Säumniszinsen auf nachträglich beglichene Zoll- und Mehrwertsteuerschulden würden von dem Zeitpunkt an geschuldet, zu dem die Waren „in den zollrechtlich freien Verkehr übergeführt“ würden. Aurubis vertritt demgegenüber die Ansicht, dass Säumniszinsen erst von einem späteren Zeitpunkt an geschuldet würden, und zwar ab dem – auf die buchmäßige Erfassung der Zollschuld und deren Mitteilung an den Zollschuldner folgenden – Zeitpunkt, zu dem die Frist für die Erfüllung der nachträglich buchmäßig erfassten Zollschuld ablaufe.

21      Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 232 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 2913/92 von den nationalen Gerichten dahin auszulegen, dass die Zollbehörden Säumniszinsen auf den Betrag der zusätzlichen Zollschulden nur für den Zeitraum erheben dürfen, der auf die buchmäßige Erfassung, die Mitteilung an den Zollschuldner und den Ablauf der von der Zollbehörde für die Begleichung der zusätzlichen Zollschulden gemäß Art. 222 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung festgesetzten Frist folgt?

2.      Ist Art. 214 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 in Ermangelung entsprechender Bestimmungen in der Verordnung Nr. 2454/93 dahin auszulegen, dass die nationalen Behörden keine Ausgleichszinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zollanmeldung und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erheben dürfen?

3.      Sind die Bestimmungen der Verordnung Nr. 2913/92 und der Verordnung Nr. 2454/93 dahin auszulegen, dass dann, wenn keine nationalen Rechtsvorschriften vorliegen, die im Fall der nachträglichen buchmäßigen Erfassung ausdrücklich eine Erhöhung des Zolls oder eine andere nationale Sanktion in Höhe des Betrags vorsehen, der als Säumniszins für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt des Entstehens der Zollschuld und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erhoben worden wäre, das Gemeinschaftsrecht den nationalen Gerichten nicht erlaubt, eine solche Erhöhung vorzunehmen oder eine solche Sanktion zu verhängen?

 Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

22      Da es im Ausgangsrechtsstreit um die Frage geht, ob in Bezug auf eine zusätzliche Mehrwertsteuerschuld Säumniszinsen gefordert werden dürfen, ist zunächst die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens zu prüfen, das die Auslegung zollrechtlicher Vorschriften der Union betrifft.

23      Diese Vorschriften finden auf diesen Rechtsstreit nämlich nur aufgrund von Bestimmungen des bulgarischen Rechts, insbesondere der Art. 59 Abs. 2 und 60 Abs. 1 ZDDS Anwendung, die auf das Zollrecht verweisen, indem sie festlegen, dass nach den Zollvorschriften das Entstehen einer Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf die sich aus der Zollschuld ergebenden Zollabgaben auch zum Entstehen einer Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf die nicht erhobene Mehrwertsteuer führt bzw. dass diese Steuer in der Weise und innerhalb der Fristen verbucht wird, die für die Entrichtung der Zollabgaben vorgesehen sind.

24      Hierzu genügt der Hinweis, dass nach ständiger Rechtsprechung der Gerichtshof auch dann, wenn der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens nicht in den Geltungsbereich des Unionsrechts fällt, für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zuständig ist, sofern sich die nationalen Rechtsvorschriften zur Regelung eines vom Unionsrecht nicht erfassten Sachverhalts nach den im Unionsrecht getroffenen Regelungen richten. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs besteht nämlich für die Unionsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, dass jede unionsrechtliche Bestimmung unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, einheitlich ausgelegt wird, um künftige Auslegungsunterschiede zu verhindern (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. Juli 1997, Giloy, C‑130/95, Slg. 1997, I‑4291, Randnrn. 19 bis 28, vom 11. Oktober 2001, Adam, C‑267/99, Slg. 2001, I‑7467, Randnrn. 23 bis 29, vom 15. Januar 2002, Andersen og Jensen, C‑43/00, Slg. 2002, I‑379, Randnrn. 15 bis 19, vom 16. März 2006, Poseidon Chartering, C‑3/04, Slg. 2006, I‑2505, Randnrn. 14 bis 19, sowie vom 21. Oktober 2010, Eredics und Sápi, C‑205/09, Slg. 2010, I‑0000, Randnr. 33).

25      Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

26      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass Säumniszinsen auf den Betrag der noch einzuziehenden Zollabgaben nach dieser Bestimmung nur für den Zeitraum erhoben werden dürfen, der auf den Ablauf der Frist für die Begleichung dieses Betrags folgt.

27      Hierzu ist festzustellen, dass nach dem Wortlaut des Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex zusätzlich zu dem Abgabenbetrag Säumniszinsen erhoben werden, wenn „der Abgabenbetrag nicht fristgerecht entrichtet worden [ist]“.

28      Die Erhebung von Säumniszinsen setzt daher voraus, dass der Abgabenbetrag nicht fristgerecht entrichtet worden ist, und sie dürfen nicht erhoben werden, wenn der Zollschuldner die Zollschuld innerhalb der festgesetzten Frist beglichen hat.

29      Die Säumniszinsen sollen somit die sich aus der Überschreitung der Zahlungsfrist ergebenden Auswirkungen mildern und insbesondere verhindern, dass der Zollschuldner einen ungebührlichen Vorteil daraus zieht, dass ihm die von ihm im Rahmen dieser Schuld zu entrichtenden Beträge über die zu deren Begleichung gesetzte Frist hinaus zur Verfügung stehen. In diesem Sinne sieht Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex vor, dass der Säumniszinssatz nicht niedriger sein darf als der Kreditzinssatz.

30      Diese sowohl grammatikalische als auch teleologische Auslegung wird durch die Systematik des Art. 232 des Zollkodex insoweit bestätigt, als dessen Art. 232 Abs. 2 Buchst. c vorsieht, dass die Zollbehörden auf die Säumniszinsen verzichten können, wenn die Entrichtung des Abgabenbetrags innerhalb von fünf Tagen nach Ablauf der dafür festgesetzten Frist erfolgt.

31      Da aber die Begleichung der Zollschuld innerhalb von fünf Tagen nach Fristablauf die Zollbehörden berechtigt, von der Erhebung von Säumniszinsen abzusehen, muss dieser Fristablauf zwangsläufig auch der Ausgangspunkt für deren Berechnung sein.

32      Daher dürfen gemäß Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex die Säumniszinsen nur für den Zeitraum erhoben werden, der auf den Ablauf der Frist für die Begleichung der Zollschuld folgt, da dieser Artikel weder dazu bestimmt ist, das Entstehen finanzieller Ausfälle bei den Zollbehörden zu verhindern, noch dazu, die Vorteile auszugleichen, die den Wirtschaftsteilnehmern aus den aufgrund ihres eigenen Verhaltens eingetretenen Verzögerungen bei der buchmäßigen Erfassung der Zollschuld im Sinne des Zollkodex sowie bei der Ermittlung ihrer Höhe oder des Zollschuldners erwachsen.

33      Für den Fall, dass die Zollschuld auf der Grundlage der Art. 202 bis 205, 210, 211 und 220 des Zollkodex entsteht, die sich alle auf Sachverhalte beziehen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass der betreffende Wirtschaftsteilnehmer gegen das Zollrecht der Union verstößt, sehen nämlich weder der Zollkodex noch die Durchführungsverordnung besondere Maßnahmen wie eine Zollabgabenerhöhung vor, deren Betrag den Säumniszinsen für den Zeitraum zwischen dem Entstehen der Zollschuld und dem der buchmäßigen Erfassung oder zwischen der Fälligkeit der ursprünglich buchmäßig erfassten Zollschuld und der buchmäßigen Erfassung der nachzuerhebenden Zollschuld entspricht (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Oktober 2003, Hannl-Hofstetter, C‑91/02, Slg. 2003, I‑12077, Randnrn. 19 und 23).

34      Nach allem ist daher auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 232 Abs. 1 Buchst. b des Zollkodex dahin auszulegen ist, dass Säumniszinsen auf den Betrag der noch einzuziehenden Zollabgaben nach dieser Bestimmung nur für den Zeitraum erhoben werden dürfen, der auf den Ablauf der Frist für die Begleichung dieses Betrags folgt.

 Zur zweiten Frage

35      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex in Ermangelung entsprechender Bestimmungen in der Durchführungsverordnung dahin auszulegen ist, dass die nationalen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmung beim Zollschuldner keine Ausgleichszinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zollanmeldung und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erheben dürfen.

36      Insoweit genügt der Hinweis, dass Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex ausdrücklich vorsieht, dass in den Fällen und unter Voraussetzungen, „die nach dem Ausschussverfahren festgelegt werden“, Ausgleichszinsen zu erheben sind.

37      Die Erhebung von Ausgleichszinsen ist nach Art. 519 Abs. 1 der Durchführungsverordnung nur für den Fall vorgesehen, dass für in die aktive Veredelung oder vorübergehende Verwendung übergeführte Einfuhrwaren oder Veredelungserzeugnisse eine Zollschuld entsteht.

38      Die Zollverwaltung kann sich daher nicht auf Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex stützen, um im Rahmen anderer Zollverfahren Ausgleichszinsen zu erheben.

39      Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 214 Abs. 3 des Zollkodex in Ermangelung entsprechender Bestimmungen in der Durchführungsverordnung dahin auszulegen ist, dass die nationalen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmung beim Zollschuldner keine Ausgleichszinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zollanmeldung und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erheben dürfen.

 Zur dritten Frage

40      Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es das Unionsrecht den nationalen Behörden verwehrt, bei einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung eine im nationalen Recht nicht ausdrücklich vorgesehene Sanktion zu verhängen.

41      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof hinsichtlich der zollrechtlichen Zuwiderhandlungen festgestellt hat, dass die Mitgliedstaaten mangels einer Harmonisierung der Unionsrechtsvorschriften auf diesem Gebiet befugt sind, die Sanktionen zu wählen, die ihnen geeignet erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung dieser Befugnis das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze zu beachten (vgl. Urteile vom 7. Dezember 2000, de Andrade, C‑213/99, Slg. 2000, I‑11083, Randnr. 20, und Hannl-Hofstetter, Randnr. 18).

42      Zu diesen Grundsätzen gehört der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen (vgl. Urteil vom 3. Mai 2007, Advocaten voor de Wereld, C‑303/05, Slg. 2007, I‑3633, Randnr. 46). Aus diesem Grundsatz folgt, dass das Gesetz die Straftaten und die für sie angedrohten Strafen klar definieren muss. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn der Rechtsunterworfene anhand des Wortlauts der einschlägigen Bestimmung und nötigenfalls mit Hilfe ihrer Auslegung durch die Gerichte erkennen kann, welche Handlungen und Unterlassungen seine strafrechtliche Verantwortung begründen (vgl. Urteile Advocaten voor de Wereld, Randnr. 50, und vom 22. Mai 2008, Evonik Degussa/Kommission, C‑266/06 P, Randnr. 39).

43      Demnach ist auf die dritte Frage zu antworten, dass es die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, den nationalen Behörden verwehren, bei einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung eine im nationalen Recht nicht ausdrücklich vorgesehene Sanktion zu verhängen.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 232 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 1791/2006 des Rates vom 20. November 2006 ist dahin auszulegen, dass Säumniszinsen auf den Betrag der noch einzuziehenden Zollabgaben nach dieser Bestimmung nur für den Zeitraum erhoben werden dürfen, der auf den Ablauf der Frist für die Begleichung dieses Betrags folgt.

2.      Art. 214 Abs. 3 der Verordnung Nr. 2913/92 in der Fassung der Verordnung Nr. 1791/2006 ist in Ermangelung entsprechender Bestimmungen in der Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zur Verordnung Nr. 2913/92 in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 214/2007 der Kommission vom 28. Februar 2007 dahin auszulegen, dass die nationalen Behörden auf der Grundlage dieser Bestimmung beim Zollschuldner keine Ausgleichszinsen für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt der ursprünglichen Zollanmeldung und dem Zeitpunkt der nachträglichen buchmäßigen Erfassung erheben dürfen.

3.      Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts, insbesondere der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, verwehren es den nationalen Behörden, bei einer zollrechtlichen Zuwiderhandlung eine im nationalen Recht nicht ausdrücklich vorgesehene Sanktion zu verhängen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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