Use quotation marks to search for an "exact phrase". Append an asterisk (*) to a search term to find variations of it (transp*, 32019R*). Use a question mark (?) instead of a single character in your search term to find variations of it (ca?e finds case, cane, care).
Judgment of the Court (Fifth Chamber) of 10 March 2005.#Criminal proceedings against Filomeno Mario Miraglia.#Reference for a preliminary ruling: Tribunale di Bologna - Italy.#Article 54 of the Convention implementing the Schengen Agreement - Principle ne bis in idem - Scope - Decision of a Member State's judicial authorities to discontinue prosecution by reason solely of the initiation of similar proceedings in another Member State.#Case C-469/03.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 10. März 2005. Strafverfahren gegen Filomeno Mario Miraglia. Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Bologna - Italien. Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen - Verbot der Doppelbestrafung - Anwendungsbereich - Entscheidung der Justizbehörden eines Mitgliedstaats, von der Strafverfolgung einer Person nur wegen der Eröffnung eines vergleichbaren Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat abzusehen. Rechtssache C-469/03.
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 10. März 2005. Strafverfahren gegen Filomeno Mario Miraglia. Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunale di Bologna - Italien. Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen - Verbot der Doppelbestrafung - Anwendungsbereich - Entscheidung der Justizbehörden eines Mitgliedstaats, von der Strafverfolgung einer Person nur wegen der Eröffnung eines vergleichbaren Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat abzusehen. Rechtssache C-469/03.
(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale di Bologna)
„Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Verbot der Doppelbestrafung – Anwendungsbereich – Entscheidung der Justizbehörden eines Mitgliedstaats, von der Strafverfolgung einer Person nur wegen der Eröffnung eines
vergleichbaren Verfahrens in einem anderen Mitgliedstaat abzusehen“
Urteil des Gerichtshofes (Fünfte Kammer) vom 10. März 2005.
Leitsätze des Urteils
Europäische Union – Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands
– Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen – Verbot der Doppelbestrafung – Anwendungsbereich – Entscheidung
der Justizbehörden eines Mitgliedstaats über die Beendigung des Verfahrens wegen der Eröffnung eines vergleichbaren Verfahrens
in einem anderen Mitgliedstaat und ohne Prüfung in der Sache – Ausschluss
(Artikel 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU; Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen, Artikel 54)
Das in Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen verankerte Verbot der Doppelbestrafung,
das verhindern soll, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren
Mitgliedstaaten verfolgt wird, findet keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats, mit der ein
Verfahren für beendet erklärt wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht
fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben
Tat eingeleitet worden sind, und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist. Denn eine solche Entscheidung ist keine
Entscheidung, mit der der Betreffende im Sinne von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt wird.
Die Anwendung dieses Verbots auf eine solche Entscheidung über die Beendigung des Strafverfahrens hätte zur Folge, dass die
konkrete Möglichkeit, das dem Beschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen Mitgliedstaaten zu ahnden,
beeinträchtigt oder sogar ausgeschlossen würde. Eine solche Konsequenz liefe offensichtlich dem Zweck der Vorschriften des
Titels VI des Vertrages über die Europäische Union zuwider, wie er in Artikel 2 Absatz 1 vierter Gedankenstrich EU zum Ausdruck
kommt.
(vgl. Randnrn. 30, 33-35 und Tenor)
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer) 10. März 2005(1)
In der Rechtssache C-469/03betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Artikel 35 EU, eingereicht vom Tribunale Bologna (Italien) mit Entscheidung
vom 22. September 2003, beim Gerichtshof eingegangen am 10. November 2003, in dem Strafverfahren gegen
Filomeno Mario Miraglia
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer),
unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter R. Schintgen (Berichterstatter) und P. Kūris,
Generalanwalt: A. Tizzano, Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 15. Dezember 2004,unter Berücksichtigung der Erklärungen
–
von F. M. Miraglia, vertreten durch Rechtsanwältin N. Trifirò,
–
der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von G. Aiello, avvocato dello
Stato,
–
der griechischen Regierung, vertreten durch M. Apessos, I. Bakopoulos und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,
–
der spanischen Regierung, vertreten durch M. Muñoz Pérez als Bevollmächtigten,
–
der französischen Regierung, vertreten durch R. Abraham, G. de Bergues und C. Isidoro als Bevollmächtigte,
–
der niederländischen Regierung, vertreten durch H. G. Sevenster und J. van Bakel als Bevollmächtigte,
–
der schwedischen Regierung, vertreten durch A. Kruse als Bevollmächtigten,
–
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. de March und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Artikel 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens
von Schengen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen
Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 19, im Folgenden:
Durchführungsübereinkommen), das am 19. Juni 1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichnet worden ist.
2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines gegen Filomeno Mario Miraglia eingeleiteten Strafverfahrens, der beschuldigt wird,
zusammen mit anderen Personen den Transport von Betäubungsmitteln (Heroin) nach Bologna organisiert zu haben.
Rechtlicher Rahmen
Das Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen
3
Nach Artikel 1 des Protokolls zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europäischen Union, das durch den
Vertrag von Amsterdam dem Vertrag über die Europäische Union und dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft als
Anhang beigefügt wurde (im Folgenden: Protokoll), sind dreizehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union, darunter die Italienische
Republik und das Königreich der Niederlande, ermächtigt, untereinander eine verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstands,
wie er im Anhang zu diesem Protokoll beschrieben ist, zu begründen.
4
Zu dem dort beschriebenen Schengen-Besitzstand gehören insbesondere das am 14. Juni 1985 in Schengen unterzeichnete Übereinkommen
zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik
betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13, im Folgenden: Schengener
Übereinkommen) sowie das Durchführungsübereinkommen.
5
Nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 1 des Protokolls ist ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Vertrages von Amsterdam der
Schengen-Besitzstand für die in Artikel 1 dieses Protokolls aufgeführten dreizehn Mitgliedstaaten sofort anwendbar.
6
Der Rat der Europäischen Union erließ nach Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 2 Satz 2 des Protokolls am 20. Mai 1999 den Beschluss
1999/436/EG zur Festlegung der Rechtsgrundlagen für die einzelnen Bestimmungen und Beschlüsse, die den Schengen-Besitzstand
bilden, nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft und des Vertrages
über die Europäische Union (ABl. L 176, S. 17). Aus Artikel 2 dieses Beschlusses in Verbindung mit dessen Anhang A ergibt
sich, dass der Rat die Artikel 34 EU und 31 EU, die zu dem mit „Bestimmungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit
in Strafsachen“ überschriebenen Titel VI des Vertrages über die Europäische Union gehören, als Rechtsgrundlagen für die Artikel
54 bis 58 des Durchführungsübereinkommens festgelegt hat.
7
Diese Artikel bilden das mit „Verbot der Doppelbestrafung“ überschriebene Kapitel 3 des Titels III des Durchführungsübereinkommens,
der die Überschrift „Polizei und Sicherheit“ trägt. Artikel 54 sieht vor:
„Wer durch eine Vertragspartei rechtskräftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben
Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade
vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann.“
Das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen
8
Artikel 2 Buchstabe b des am 20. April 1959 in Straßburg unterzeichneten Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe
in Strafsachen (im Folgenden: Europäisches Rechtshilfeübereinkommen) bestimmt:
„Die Rechtshilfe kann verweigert werden:
…
b) wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, dass die Erledigung des Ersuchens geeignet ist, die Souveränität, die Sicherheit,
die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen seines Landes zu beeinträchtigen.“
9
Das Königreich der Niederlande hat folgenden Vorbehalt hinsichtlich des Artikels 2 Buchstabe b des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens
formuliert:
„Die Regierung des Königreichs der Niederlande behält sich das Recht vor, einem Rechtshilfeersuchen keine Folge zu geben,
…
b) soweit es sich auf eine Strafverfolgung oder auf ein Verfahren bezieht, die mit dem Verbot der Doppelbestrafung unvereinbar
sind;
c)
soweit es sich auf ein Ermittlungsverfahren wegen Handlungen bezieht, derentwegen der Beschuldigte in den Niederlanden verfolgt
wird.“
Das niederländische Recht
10
Artikel 36 des niederländischen Strafverfahrensgesetzbuchs bestimmt:
„1. Wird die Strafverfolgung nicht fortgesetzt, so kann das Tatsachengericht, vor dem die Angelegenheit zuletzt verfolgt wurde,
auf Antrag des Beschuldigten feststellen, dass das Verfahren beendet ist.
2. Das Gericht kann die Entscheidung über den Antrag jeweils für eine bestimmte Zeit aussetzen, wenn die Staatsanwaltschaft glaubhaft
macht, dass noch weitere Verfolgungsmaßnahmen stattfinden werden.
3. Vor Erlass seiner Entscheidung lädt das Gericht die ihm bekannten unmittelbar Betroffenen vor, um sie zu dem Antrag des Beschuldigten
zu hören.
4. Die Entscheidung wird dem Beschuldigten unverzüglich bekannt gegeben.“
11
Artikel 255 desselben Gesetzbuchs bestimmt:
„1. Der Beschuldigte kann, nachdem das Verfahren gegen ihn eingestellt worden ist, nachdem ihm die Entscheidung über die Beendigung
des Verfahrens oder – vorbehaltlich des Artikels 12i oder des Artikels 246 – die Mitteilung, dass von weiterer Verfolgung
abgesehen wird, zugestellt worden ist, wegen derselben Tat nicht erneut belangt werden, es sei denn, dass neue belastende
Tatsachen bekannt geworden sind.
2. Als neue belastende Tatsachen gelten nur Erklärungen von Zeugen oder des Beschuldigten sowie Schriftstücke, Urkunden und Protokolle,
die später bekannt geworden oder nicht untersucht worden sind.
3. In diesem Fall kann der Beschuldigte nur zur Hauptverhandlung vor der Rechtbank geladen werden, nachdem eine gerichtliche
Voruntersuchung hinsichtlich der neuen belastenden Tatsachen stattgefunden hat. …“
12
In Bezug auf Rechtshilfeersuchen in Strafsachen schließlich bestimmt Artikel 552l des niederländischen Strafverfahrensgesetzbuchs:
„1. Dem Antrag wird nicht stattgegeben,
…
b.
sofern die Genehmigung auf eine Mitwirkung an einer Verfolgung oder Verurteilung hinausliefe, die mit dem Artikel 68 des Strafgesetzbuchs
und Artikel 255 Absatz 1 dieses Gesetzbuchs zugrunde liegenden Prinzip nicht vereinbar ist;
c.
sofern er gestellt wird, um Tatsachen zu ermitteln, derentwegen der Beschuldigte bereits in den Niederlanden verfolgt wird.
…“
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
13
Im Rahmen eines in Zusammenarbeit zwischen den italienischen und den niederländischen Behörden geführten Ermittlungsverfahrens
wurde Herr Miraglia am 1. Februar 2001 aufgrund eines vom Ermittlungsrichter des Tribunale di Bologna erlassenen Untersuchungshaftbefehls
in Italien festgenommen.
14
Ihm wurde vorgeworfen, zusammen mit anderen Personen den Transport von 20,16 kg Betäubungsmittel (Heroin) aus den Niederlanden
nach Bologna organisiert zu haben, ein Delikt, das durch Artikel 110 des italienischen Strafgesetzbuchs und durch Artikel
80 des Dekrets Nr. 309/90 des Präsidenten der Republik unter Strafe gestellt ist.
15
Am 22. Januar 2002 beschloss der für das Vorverfahren zuständige Richter am Tribunale di Bologna die Eröffnung des Hauptverfahrens
gegen Herrn Miraglia und bestimmte die Ersetzung der Untersuchungshaft durch Hausarrest. Das Tribunale di Bologna ersetzte
anschließend den Hausarrest durch eine Verpflichtung zum Aufenthalt in Mondragone (Italien) und hob schließlich jegliche Sicherungsmaßnahme
auf, so dass sich der Beschuldigte gegenwärtig auf freiem Fuß befindet.
16
Parallel dazu und wegen derselben Straftat wurde von den niederländischen Justizbehörden ein Strafverfahren gegen Herrn Miraglia
wegen des Transports von ungefähr 30 kg Heroin aus den Niederlanden nach Italien eingeleitet.
17
Wegen dieses Anklagepunkts wurde Herr Miraglia von den niederländischen Behörden am 18. Dezember 2000 festgenommen und am
28. Dezember 2000 wieder auf freien Fuß gesetzt. Am 17. Januar 2001 verwarf der Gerechtshof te Amsterdam (Niederlande) die
von der Staatsanwaltschaft eingelegte Berufung gegen den Beschluss der Rechtbank te Amsterdam (Niederlande), mit dem der Antrag
auf Fortdauer der Haft zurückgewiesen worden war.
18
Das Strafverfahren gegen den Beschuldigten wurde am 13. Februar 2001 eingestellt, ohne dass gegen ihn eine Strafe oder eine
andere Sanktion verhängt worden wäre. Im Rahmen dieses Verfahrens erhob der niederländische Staatsanwalt keine Strafklage
gegen den Beschuldigten. Es ergibt sich aus der Akte, dass diese Entscheidung deshalb getroffen wurde, weil eine Strafklage
wegen derselben Taten in Italien erhoben worden war.
19
Mit Beschluss vom 9. November 2001 entschädigte die Rechtbank te Amsterdam den Beschuldigten für die erlittene Untersuchungshaft
und ersetzte ihm die verauslagten Anwaltskosten.
20
Mit Schreiben vom 7. November 2002 wies die Staatsanwaltschaft bei der Rechtbank te Amsterdam den vom Tribunale di Bologna
gestellten Antrag auf Rechtshilfe zurück, wobei sie sich auf den vom Königreich der Niederlande erklärten Vorbehalt zu Artikel
2 Buchstabe b des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens stützte, da die Rechtbank das Verfahren „ohne Verhängung einer Strafe
eingestellt“ habe.
21
Am 10. April 2003 richtete die italienische Staatsanwaltschaft an die niederländischen Justizbehörden ein Ersuchen um Auskunft
über den Ausgang des Strafverfahrens gegen Herrn Miraglia und über die Art der Beendigung dieses Verfahrens, um zu beurteilen,
was sich daraus im Hinblick auf Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens ergebe.
22
Die niederländische Staatsanwaltschaft informierte mit Bescheid vom 18. April 2003 die italienische Staatsanwaltschaft über
die Einstellung der Strafverfolgung, ohne jedoch aus Sicht des vorlegenden Gerichts ausreichende Angaben zu der getroffenen
Maßnahme und zu ihrem Inhalt zu machen. Die niederländische Staatsanwaltschaft gab an, dass es sich um „eine abschließende
Entscheidung eines Richters“ gehandelt habe, die nach Artikel 255 des niederländischen Strafverfahrensgesetzbuchs jegliche
Strafverfolgung wegen derselben Straftat und jegliche justizielle Zusammenarbeit mit ausländischen Behörden verbiete, es sei
denn, es gebe neue Beweise gegen Herrn Miraglia. Die niederländischen Justizbehörden führten ergänzend aus, dass Artikel 54
des Durchführungsübereinkommens jeglichem Antrag des italienischen Staates auf Rechtshilfe entgegenstehe.
23
Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts beschlossen die niederländischen Behörden deshalb, keine Strafverfolgungsmaßnahmen
gegen Herrn Miraglia zu ergreifen, weil zwischenzeitlich in Italien ein Strafverfahren gegen den Beschuldigten wegen derselben
Straftat eingeleitet worden sei. Diese Beurteilung erkläre sich mit einer „vorbeugenden“ Anwendung des Verbotes der Doppelbestrafung.
24
Das Tribunale di Bologna hält diese Auslegung von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens jedoch für fehlerhaft, da sie
den beiden betroffenen Staaten jede konkrete Möglichkeit nehme, die Verantwortlichkeit des Beschuldigten wirklich zu prüfen.
25
Eine solche Auslegung von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens würde nämlich sowohl die niederländischen Behörden daran
hindern, Herrn Miraglia strafrechtlich zu verfolgen, weil in Italien ein Verfahren wegen derselben Taten anhängig sei, als
auch einer Prüfung der Schuld des Beschuldigten durch die italienischen Behörden entgegenstehen.
26
Das vorlegende Gericht führt ergänzend aus, dass es, selbst wenn es im Gegensatz zu den niederländischen Behörden feststellen
würde, dass das Verbot der Doppelbestrafung keine Anwendung fände, gezwungen wäre, die Verantwortlichkeit von Herrn Miraglia
ohne den wichtigen Beitrag des von den niederländischen Behörden erlangten Beweismaterials und ohne deren Rechtshilfe zu beurteilen.
27
Unter diesen Umständen hat das Tribunale di Bologna beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage
zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens anzuwenden, wenn die im ersten Staat erlassene Gerichtsentscheidung darin besteht,
von weiterer Strafverfolgung ohne Sachurteil und allein aufgrund der Annahme abzusehen, dass die Tat bereits in einem anderen
Staat verfolgt wird?
Zur Vorlagefrage
28
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob das in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens
verankerte Verbot der Doppelbestrafung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats anwendbar ist, mit der ein
Verfahren für beendet erklärt wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht
fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben
Tat eingeleitet worden sind, und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist.
29
Aus dem Wortlaut von Artikel 54 ergibt sich, dass niemand in einem Mitgliedstaat wegen derselben Tat, derentwegen er bereits
in einem anderen Mitgliedstaat „rechtskräftig abgeurteilt“ worden ist, verfolgt werden darf.
30
Eine gerichtliche Entscheidung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die erging, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen
hatte, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen
denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist, ist
keine Entscheidung, mit der der Betreffende im Sinne von Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens rechtskräftig abgeurteilt
wird.
31
Diese Auslegung des Artikels 54 ist umso mehr geboten, als nur sie dem Gegenstand und dem Ziel dieser Vorschrift den Vorrang
gegenüber verfahrensrechtlichen Aspekten – die im Übrigen in den betroffenen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind – einräumt
und eine zweckdienliche Anwendung dieses Artikels gewährleistet.
32
Denn es steht fest, dass Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verhindern soll, dass eine Person, die von ihrem Recht
auf Freizügigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird (Urteil vom 11. Februar 2003
in den verbundenen Rechtssachen C‑187/01 und C‑385/01, Gözütok und Brügge, Slg. 2003, I‑1345, Randnr. 38).
33
Die Anwendung dieses Artikels auf eine Entscheidung über die Beendigung des Strafverfahrens wie die im Ausgangsverfahren fragliche
hätte jedoch zur Folge, dass die konkrete Möglichkeit, das dem Beschuldigten angelastete rechtswidrige Verhalten in den betroffenen
Mitgliedstaaten zu ahnden, beeinträchtigt oder sogar ausgeschlossen würde.
34
Zum einen wird eine solche Entscheidung von den Gerichten eines Mitgliedstaats ohne jegliche Beurteilung des dem Beschuldigten
angelasteten rechtswidrigen Verhaltens erlassen. Zum anderen würde die Einleitung eines Strafverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat
wegen derselben Tat beeinträchtigt, obwohl gerade die Einleitung solcher Verfolgungsmaßnahmen die Rechtfertigung dafür wäre,
dass die Staatsanwaltschaft des ersten Mitgliedstaats auf die Strafverfolgung verzichtet. Eine solche Konsequenz liefe offensichtlich
dem Zweck der Vorschriften des Titels VI des Vertrages über die Europäische Union zuwider, wie er in Artikel 2 Absatz 1 vierter
Gedankenstrich EU zum Ausdruck kommt, nämlich der „Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf … die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität
der freie Personenverkehr gewährleistet ist“.
35
Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass das in Artikel 54 des Durchführungsübereinkommens verankerte Verbot der
Doppelbestrafung keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats findet, mit der ein Verfahren für
beendet erklärt wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen,
weil in einem anderen Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet
worden sind, und ohne dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist.
Kosten
36
Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem
Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:
Das Verbot der Doppelbestrafung, das in Artikel 54 des am 19. Juni 1990 in Schengen unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung
des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux‑Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik
Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen verankert
ist, findet keine Anwendung auf eine Entscheidung der Gerichte eines Mitgliedstaats, mit der ein Verfahren für beendet erklärt
wird, nachdem die Staatsanwaltschaft beschlossen hat, die Strafverfolgung nur deshalb nicht fortzusetzen, weil in einem anderen
Mitgliedstaat Strafverfolgungsmaßnahmen gegen denselben Beschuldigten wegen derselben Tat eingeleitet worden sind, und ohne
dass eine Prüfung in der Sache erfolgt ist. Unterschriften.