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Document 62002CC0159

Schlussanträge des Generalanwalts Ruiz-Jarabo Colomer vom 20. November 2003.
Gregory Paul Turner gegen Felix Fareed Ismail Grovit, Harada Ltd und Changepoint SA.
Ersuchen um Vorabentscheidung: House of Lords - Vereinigtes Königreich.
Brüsseler Übereinkommen - In einem Vertragsstaat eingeleitetes Verfahren - In einem anderen Vertragsstaat vom Beklagten des anhängigen Verfahrens eingeleitetes Verfahren - Beklagter, der wider Treu und Glauben zu dem Zweck handelt, das bereits anhängige Verfahren zu behindern - Vereinbarkeit einer Anordnung, mit der dem Beklagten das Weiterbetreiben des Verfahrens im anderen Vertragsstaat verboten wird, mit dem Übereinkommen.
Rechtssache C-159/02.

Sammlung der Rechtsprechung 2004 I-03565

ECLI identifier: ECLI:EU:C:2003:632

Conclusions

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
DÁMASO RUIZ-JARABO COLOMER
vom 20. November 2003(1)



Rechtssache C-159/02



Turner




(Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords [Vereinigtes Königreich])

„Brüsseler Übereinkommen – Gerichtliches Verbot, ein Verfahren zu betreiben [‚anti-suit injunction‘] – Vereinbarkeit“






Einführung

1.        Dieses Vorabentscheidungsersuchen des House of Lords soll jeden Zweifel an der Gültigkeit der allgemein so genannten „anti-suit injunctions“ im Licht des Brüsseler Übereinkommens (2) beseitigen. Es handelt sich um gerichtliche Anordnungen, mit denen es einer Partei verboten wird, ein Verfahren vor einem anderen Gericht, auch einem ausländischen, einzuleiten oder weiterzubetreiben; andernfalls begeht sie eine Missachtung des Gerichts. Im vorliegenden Fall soll mit der Anordnung verhindert werden, dass diese Partei das Verfahren dazu missbraucht, schikanöse Klagen zu erheben.

Der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

2.        Der Sachverhalt, der diesem Vorabentscheidungsverfahren zugrunde liegt, lässt sich, wie er in der Darstellung von Lord Hobhouse of Woodborough im Vorlagebeschluss festgehalten ist, wie folgt zusammenfassen.

3.        Gregory Paul Turner, der britischer Staatsbürger ist und die Erlaubnis hat, als englischer Solicitor zu praktizieren, wurde von einer Unternehmensgruppe als Rechtsberater für eine dieser angehörende Gesellschaft eingestellt.

Die Gruppe, die so genannte Chequepoint Group, wurde von Herrn Grovit geleitet und umfasste verschiedene Gesellschaften, die in verschiedenen Ländern gegründet worden waren und zu denen neben der China Security Ltd mit Sitz in Hongkong, die Herrn Turner eingestellt hatte, die Harada Ltd (im Folgenden: Harada) mit Sitz im Vereinigten Königreich und die Changepoint S.A. (im Folgenden: Changepoint) mit Sitz in Spanien gehörten.

Seine Tätigkeit als Rechtsberater umfasste die Mitarbeit und die Beratung bei Immobiliengeschäften und in kommerziellen Angelegenheiten, die Prozessvertretung im Vereinigten Königreich und weitere Aufgaben juristischer Art für die Gruppe.

4.        Herr Turner versah seine berufliche Tätigkeit in London. Im Mai 1997 beantragte er jedoch seine Versetzung in das Büro der Gruppe in Madrid, und sein Arbeitgeber stimmte dem zu. Im November 1997 wurde er von der Firma Harada übernommen, wobei seine Arbeitsbedingungen beibehalten wurden. Folglich hatte Herr Turner die gleichen Aufgaben wie vorher zu erfüllen.

5.        Nach 35 Tagen tatsächlicher Arbeit in Madrid kündigte Herr Turner seinen Vertrag mit Harada, und im März 1998 erhob er gegen diese Klage beim Employment Tribunal London, dem für arbeitsrechtliche Streitigkeiten zuständigen erstinstanzlichen Gericht. Zur Begründung machte er geltend, es hätten Versuche stattgefunden, ihn in rechtswidriges Verhalten in Bezug auf die missbräuchliche Behandlung von Abzügen für die Sozialversicherung zu verwickeln. Solche unerlaubte Machenschaften kämen einer unrechtmäßigen Entlassung gleich.

6.        Das Employment Tribunal wies die von Harada erhobene Einrede der Unzuständigkeit zurück, und seine Entscheidung wurde im Rechtsmittelverfahren bestätigt.

Zum Abschluss des Verfahrens sprach das Employment Tribunal Herrn Turner Ersatz des ihm entstandenen Schadens zu.

7.        Inzwischen hatten Changepoint und Harada im Juli 1998 Klagen gegen Herrn Turner bei einem Gericht erster Instanz der spanischen Hauptstadt auf Ersatz der Schäden erhoben, die ihnen sein angeblich mangelhaftes berufliches Verhalten verursacht haben soll.

Herr Turner erhielt die Ladung am 15. Dezember 1998, weigerte sich jedoch, die Zustellung entgegenzunehmen.

In der Klageschrift, die später in ordnungsgemäße Form gebracht wurde, wurde von ihm ein erheblicher Betrag (mehr als 85 Millionen ESP) wegen mangelhafter Erbringung der Leistungen verlangt, die er nach dem Vertrag Changepoint S.  A. zu erbringen hatte. Sieben Fälle von mangelhafter Erfüllung von Herrn Turners Verpflichtungen wurden geltend gemacht, und es wurde behauptet, er sei unrechtmäßig aus dem Büro in Madrid verschwunden, ohne dies vorher anzukündigen, und er habe sodann in Großbritannien eine Klage mit unbegründeten Forderungen erhoben, mit denen dem englischen Gericht die Wahrheit verschwiegen worden sei.

8.        Herr Turner nahm das spanische Verfahren niemals auf. Am 18. Dezember 1998 beantragte er beim High Court in London (3) , Herrn Grovit, Harada und Changepoint zu verbieten, das in Spanien eingeleitete Verfahren fortzusetzen. Am 22. Dezember 1998 gab der High Court dem Antrag im Wege der einstweiligen Verfügung statt.

Nachdem der High Court im Februar 1999 die Verlängerung der einstweiligen Verfügung abgelehnt hatte, befasste Herr Turner den Court of Appeal, der am 28. Mai 1999 eine Anordnung erließ. Danach haben die Antragsgegner gemeinsam und als Einzelne

1.
alle erforderlichen Schritte zu ergreifen, um die Klagen gegen den Antragsteller in dem von einem oder mehreren Beklagten beim Juzgado de Primera Instancia Nr. 67 Madrid mit dem Aktenzeichen 70/98 eingeleiteten Verfahren zurückzunehmen oder die Rücknahme dieser Klagen zu veranlassen;

2.
sich aller Schritte im Zusammenhang mit der von irgendeinem der Antragsgegner beim Juzgado de Primera Instancia Nr. 67 Madrid in den Verfahren mit dem Aktenzeichen 70/98 eingeleiteten Verfahren zu enthalten, außer um Nummer 3 Absatz 1 dieser Anordnung zu erfüllen;

3.
es zu unterlassen, ein weiteres Verfahren gegen den Antragsteller (im Zusammenhang mit seinem Arbeitsvertrag) in Spanien oder anderswo einzuleiten, weiterzubetreiben oder eine andere Person (einschließlich jeder von den Antragsgegnern unmittelbar oder mittelbar kontrollierten Gesellschaft oder jeder sonstigen Gesellschaft, die der Unternehmensgruppe Chequepoint angehört oder mit dieser verbunden ist, sowie, in Bezug auf den ersten Antragsgegner, jeder Gesellschaft, deren Leitung er angehört) damit zu betrauen, mit der Ausnahme, dass dieser Absatz nicht für in England und Wales eingeleitete oder fortgesetzte Verfahren gilt.

9.        Der Court of Appeal ging in diesem Zusammenhang davon aus, dass das in Madrid eingeleitete Verfahren ausschließlich dem Zweck diene, eine Partei zu bedrängen und unter Druck zu setzen, so dass er sich für befugt hielt, den Firmen Changepoint und Harada durch sanktionsbewehrte Anordnung das Weiterbetreiben des ausländischen Verfahrens zu untersagen. Aus der Entscheidung des Court of Appeal ergibt sich implizit, dass er der Ansicht war, wenn er das Verbot nicht erlasse, würden die Antragsgegner sich weiterhin missbräuchlich verhalten.

10.      Die erwähnten Gesellschaften legten Rechtsmittel beim House of Lords ein.

Anwendbares nationales Recht

11.      Unterlassungsanordnungen wie diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, haben gegenwärtig ihre Rechtsgrundlage in Section 37(1) des Supreme Court Act 1981 (Gesetz über den Supreme Court), wo umfassend Folgendes bestimmt ist:

„Der High Court kann durch Beschluss eine (einstweilige oder endgültige) Anordnung ... in allen Fällen erlassen, in denen ihm dies angezeigt erscheint.“

Der Court of Appeal hat entsprechende Befugnisse bei einem Rechtsmittel gegen eine Entscheidung des High Court.

12.      Die nationale Rechtsprechung beschränkt die Fälle, in denen derartige Anordnungen erlassen werden können. Das Vorliegen eines unrechtmäßigen Verhaltens seitens der Partei, an die sie gerichtet sind, und ein berechtigtes Interesse des Antragstellers, dieses abstellen zu lassen, sind nachzuweisen.

13.      Diesen Schutz verdienen Personen, denen gegenüber ein Verfahrensmissbrauch begangen wird, d. h. Personen, die einem sittenwidrigen Verhalten ausgesetzt sind, das die Form eines schikanösen oder unzumutbar belastenden Vorgehens annimmt, unabhängig davon, ob das Verfahren in England, in Wales oder im Ausland eingeleitet worden ist.

Die Vorlagefrage

14.      Das House of Lords hat mit Beschluss vom 13. Dezember 2001 dem Gerichtshof gemäß Artikel 3 Absatz 1 des Protokolls vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens von Brüssel von 1968 folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist es unvereinbar mit dem am 27. September 1968 unterzeichneten Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (dem das Vereinigte Königreich später beigetreten ist), gegen Antragsgegner, die die Einleitung oder das Weiterbetreiben gerichtlicher Verfahren in einem anderen Vertragsstaat androhen, gerichtliche Unterlassungsanordnungen zu erlassen, wenn diese Antragsgegner wider Treu und Glauben mit der Absicht und dem Zweck tätig werden, Verfahren, die ordnungsgemäß bei englischen Gerichten anhängig sind, zu vereiteln oder zu behindern?

Würdigung durch das House of Lords

15.      Wie im Vorlagebeschluss ausgeführt wird, soll mit der Befugnis, die der Court of Appeal im vorliegenden Fall ausgeübt hat, nicht die Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts bestimmt werden, sondern sie wird damit gerechtfertigt, dass die Partei, die Adressatin der Anordnung sei, in personam der Zuständigkeit des englischen Gerichts unterliege. Daher richte sich die Anordnung nur an die Partei in dem bei dem sie erlassenden Gericht anhängigen Verfahren, nicht an das ausländische Gericht.

Beleg dafür, dass die Anordnungen keine Beurteilung der Zuständigkeit des Gerichts eines anderen Staates beinhalteten, sei der Umstand, dass sie üblicherweise dann erlassen würden, wenn das ausländische Gericht seine Zuständigkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits annehme oder annehmen wolle.

Unbeschadet dessen sei, da eine Entscheidung dieser Art mittelbar das ausländische Gericht berühre, mit größter Sorgfalt vorzugehen, und es dürfe nur dann so vorgegangen werden, wenn eine geordnete Rechtspflege dies erfordere.

16.      Entsprechend müsse auch ein bei einem englischen Gericht anhängiges Verfahren ausgesetzt werden, wenn seine Betreibung durch eine der Parteien sich als sittenwidrig erweise.

Auch wenn sich aus den Ausführungen ableiten lässt, dass die getroffene Anordnung nicht auf der Erwägung beruht, dass die Klage an einem ungeeigneten Gerichtsstand erhoben worden sei (Lehre vom Forum non conveniens), geht der Vorlagebeschluss davon aus, dass die Frage, ob der ausländische Gerichtsstand geeignet ist, für den Nachweis des Missbrauchs erheblich ist und die Frage betrifft, ob die Anordnung als Schutzmaßnahme angebracht ist.

17.      Das House of Lords führt aus, wer eine sanktionsbewehrte Anordnung beantrage, müsse ein berechtigtes Interesse ähnlich wie ein Antragsteller dartun, der sich auf ein vertragliches Recht darauf berufe, nicht an einem bestimmten Gerichtsstand verklagt zu werden (z. B. aufgrund einer Klausel über einen ausschließlichen Gerichtsstand oder einer Schiedsklausel).

18.      Daher sind die wesentlichen Merkmale, die es dem Court of Appeal nach dem englischen Recht als angebracht erscheinen ließen, die in Rede stehende Anordnung zu erlassen, die folgenden:

a)
Der Antragsteller ist Partei in einem in diesem Land anhängigen Gerichtsverfahren.

b)
Die Antragsgegner haben wider Treu und Glauben ein weiteres Verfahren gegen den Antragsteller im Bereich einer anderen Gerichtsbarkeit eingeleitet und beabsichtigen, dieses Verfahren weiterzubetreiben, und zwar mit dem Ziel, das Gerichtsverfahren in England zu vereiteln oder zu behindern.

c)
Das Gericht hält es für notwendig, zum Schutz der berechtigten Interessen des Antragstellers im anhängigen englischen Gerichtsverfahren zu dessen Gunsten eine sanktionsbewehrte Anordnung gegenüber den Antragsgegnern auszusprechen.

19.      Im Übrigen stehe keine Bestimmung des Brüsseler Übereinkommens dem Erlass von Entscheidungen dieser Art entgegen. Vielmehr trage sie wirksam zur Verwirklichung eines seiner Ziele bei, nämlich zur Beschränkung des Risikos des Erlasses unvereinbarer Entscheidungen.

20.      Im Beschluss heißt es ferner, es sei Sache des englischen – und nicht des spanischen – Gerichts, nach Prüfung der ihm vorliegenden Angaben zu beurteilen, ob das im Ausland betriebene Verfahren eine Gefahr für den ordnungsgemäßen Ablauf des bei ihm anhängigen Verfahrens darstelle.

21.      Schließlich wird darin verneint, dass der Umstand, dass nicht alle Vertragsstaaten des Übereinkommens die Möglichkeit anerkannt hätten, sanktionsbewehrte Unterlassungsanordnungen zu treffen, den Grundsatz der Gleichheit der Gerichte der Vertragsstaaten verletze. Nach Ansicht des House of Lords ist es nicht Zweck des Übereinkommens, Einheitlichkeit herbeizuführen, sondern klare Regeln für die Bestimmung der internationalen gerichtlichen Zuständigkeit aufzustellen.

22.      Als Folge fügt das House of Lords hinzu, dass es keine Unvereinbarkeit mit dem Übereinkommen annehmen würde, wenn es über die Auslegungsfrage allein zu entscheiden hätte.

Verfahren vor dem Gerichtshof

23.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 30. April 2002 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen. Neben den angebrachten Verfahrensschritten hat am 9. September 2003 eine mündliche Verhandlung stattgefunden.

24.      Der Prozessbevollmächtigte der Antragsgegner des Ausgangsverfahrens, die britische, die deutsche und die italienische Regierung sowie die Kommission haben mündliche Erklärungen abgegeben.

Prüfung der Vorlagefrage

25.      Sowohl die Antragsgegner des Ausgangsverfahrens als auch die deutsche und die italienische Regierung sowie die Kommission sind der Ansicht, dass die vor dem Gerichtshof erörterten gerichtlichen Anordnungen mit dem Brüsseler Übereinkommen unvereinbar seien. Nur die Regierung des Vereinigten Königreichs übernimmt als einzige der Verfahrensbeteiligten die Ansicht des vorlegenden Gerichts, das für ihre Vereinbarkeit spricht.

26.      Diese Unterlassungsanordnungen gehen auf das 16. Jahrhundert zurück, auch wenn sich ihr Sinn, stets mit dem Begriff der Billigkeit verbunden und nach Maßgabe der Konzeption des Gerichts des „Common law“, weiterentwickelt hat. Nach Ansicht der britischen Regierung richten sich die anti-suit injunctions (dieser Ausdruck bezieht sich auf Anordnungen der Einstellung eines Verfahrens oder Verbotsanordnungen) nicht an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, sondern an eine Person, die der Zuständigkeit des Gerichts unterliegt, das sie erlässt. Daher ist sie mit dem House of Lords der Ansicht, dass ihre Bezeichnung mehrdeutig sei, und zieht es vor, sie als „restraining orders“ (beschränkende Anordnungen oder sanktionsbewehrte Unterlassungsanordnungen) zu bezeichnen. Sie stellen daher – nach ihrer Betrachtungsweise – keine Entscheidung eines englischen Gerichts über die Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts dar, sondern eine prozessuale Ordnungsmaßnahme von gleicher Natur wie diejenige, die der Gerichtshof im Urteil Van Uder (4) gutgeheißen hat. Das Brüsseler Übereinkommen beschränke nicht die Maßnahmen, die ein Gericht anordnen könne, um den Gegenstand eines bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu schützen.

27.      Im vorliegenden Fall sei es darum gegangen, zu verhindern, dass die Prüfung der von Herrn Turner eingereichten Klage durch die Vervielfältigung von den Antragsgegnern veranlasster prozessualer Behinderungsmaßnahmen gestört würde.

28.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs fügt hinzu, dass nur ein englisches Gericht über die Notwendigkeit entscheiden könne, den ungestörten Ablauf eines in England betriebenen Verfahrens zu wahren.

29.      Abschließend macht es geltend, dass die Anordnungen dieser Art dazu beitrügen, eines der Ziele des Brüsseler Übereinkommens zu verwirklichen, nämlich die Vielfalt der Gerichtsstände für die Prüfung eines einzigen Rechtsstreits zu verringern.

30.      Die Argumente gegen die Vereinbarkeit mit dem Übereinkommen, die im Laufe dieses Vorabentscheidungsverfahrens entwickelt worden sind, basieren auf dem Gedanken, dass einer der Eckpfeiler dieses internationalen Instruments im gegenseitigen Vertrauen bestehe, das zwischen den verschiedenen nationalen Verfahrensordnungen entstanden sei und das die englischen sanktionsbewehrten Anordnungen in Frage stellen könnte.

31.      Diese Feststellung erscheint mir entscheidend (5) . Die Zusammenarbeit der Gerichte in Europa, für die das Übereinkommen ein wichtiger Markstein ist, ist geprägt vom Begriff des gegenseitigen Vertrauens, der voraussetzt, dass jeder Staat die Fähigkeit der übrigen Rechtsordnungen anerkennt, in selbständiger, wenn auch harmonisierter Weise zur Erreichung der festgesetzten Integrationsziele beizutragen (6) . Es wurden über die Auslegungsrolle, die dem Gerichtshof zusteht, hinaus keine übergeordneten Kontrollstrukturen geschaffen, und noch viel weniger wurde zugelassen, dass sich die Einrichtungen eines bestimmten Mitgliedstaats die Befugnis anmaßen, die Schwierigkeiten zu lösen, die gerade mit der europäischen Initiative beseitigt werden sollten.

32.      Gegen diesen Geist würde es verstoßen, wenn ein Gericht eines Mitgliedstaats auch nur mittelbar die Zuständigkeit eines Gerichts eines anderen Vertragsstaats beeinflussen könnte, um über ein bestimmtes Verfahren entscheiden zu können (7) .

33.      Auch gehört es zum Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, dass die maßgeblichen Fragen der Zuständigkeit der Gerichte eines Mitgliedsstaats nach einheitlichen Bestimmungen behandelt werden oder, was das Gleiche ist, dass jedes Gericht für diese Zwecke dem anderen gleichgestellt ist.

Daher erscheint die Ansicht, dass das Brüsseler Übereinkommen nichts enthalte, was ausdrücklich gerichtliche Vorgehensweisen wie im vorliegenden Fall verbiete, nicht überzeugend. Das Übereinkommen soll eine vollständige Regelung darstellen, so dass es fraglich ist, ob eine Maßnahme, die seinen Anwendungsbereich beeinflusst, in der gemeinsamen Regelung, die es einführt, zulässig ist. Dies wird überwiegend verneint.

Eine rechtsvergleichende Betrachtung belegt, dass nur die Rechtsordnungen der „Common law“-Tradition diese Art von Anordnungen zulassen. Ein Ungleichgewicht dieser Art verkennt die Regelung des Übereinkommens, das keinen Mechanismus vorsieht, der einen Konflikt zwischen einer „Verbotsanordnung“ des englischen Gerichts, die auf den missbräuchlichen Charakter des ausländischen Verfahrens gestützt wird, und einer anderen Beurteilung lösen kann, die das spanische Gericht vornehmen könnte. Es ist schwer einzusehen, dass der Mitgliedstaat, der eine sanktionsbewehrte Anordnung dieser Art erlässt, einseitig der Zuständigkeit, die er für sich in Anspruch nimmt, Ausschließlichkeit zuweisen könnte. Wenn sich alle europäischen Gerichte eine derartige Befugnis anmaßten, wäre dies das Chaos. Wenn nur die englischen Gerichte davon Gebrauch machten, so würden sie eine Zuordnungsfunktion zu ihren eigenen Gunsten ausüben, für die das Brüsseler Übereinkommen weniger flexible, jedoch objektivere Kriterien vorsieht und die es allen in gleicher Weise auferlegt8  H. Muir-Watt, Des conceptions divergentes du droit fondamental d’accéder à la justice dans l’espace conventionnel européen, Revue général de procédures, Nr. 4, Oktober/Dezember 1999, S. 761..

Das Übereinkommen enthält auch keine Bestimmung, mit der in dem Fall entschieden werden könnte, dass zwei Gerichte von Staaten, die diese dazu ermächtigt haben, einander widersprechende sanktionsbewehrte Anordnungen erlassen9  Im gleichen Sinne W. Hau: Zum Verhältnis von Art. 21 zu Art. 22 EuGVÜ, IPrax, 1996, S. 44, Nr. 9.48. T. C. Hartley: Antisuit injunctions and the Brussels Jurisdiction and the Judgment Convention, International and Comparative Law Quarterly, Januar 2000, Band 49, Teil I, S. 171; auch wenn dieser Autor diese Anordnungen mit Nachdruck verteidigt, erkennt er ausdrücklich an, dass die Regeln des Übereinkommens ihren eigenen Anwendungsmechanismus enthalten, zu dem die erwähnten Maßnahmen nicht gehörten., auch wenn die Situation zwischen verschiedenen dem Common‑law‑Kreis zugehörigen Mitgliedstaaten aufgetreten ist. Das Paradebeispiel ist der Fall Laker Airways, bei dem verschiedene englische und nordamerikanische Gerichte einander gegenüberstanden10  Vgl. T. C. Hartley, „Comity and the Use of Antisuit injunctions in International Legitation“, American Journal of Comparative Law, Band 35, früher 1987, S. 486 ff. .

34.      Die britische Regierung folgt dem House of Lords selbstverständlich in der Ansicht, dass die in Rede stehenden Anordnungen nicht die Zuständigkeit des spanischen Gerichts zum Gegenstand hätten; sie richteten sich nur an die Partei, die eine Klage mit dem einzigen Ziel erhoben habe, den Ablauf des bei einem anderen Gericht anhängigen Verfahrens zu behindern.

Diese Argumentation ist der Form nach korrekt. Allerdings lässt es sich nicht leugnen, dass durch das an eine Partei gerichtete sanktionsbewehrte Verbot, ein Verfahren bei einem bestimmten Gericht weiterzubetreiben, diesem Gericht die Zuständigkeit für die Entscheidung des Rechtsstreits genommen wird und eine unmittelbare Einmischung in die Unabhängigkeit seiner Rechtsprechungsbefugnis stattfindet. Zwar hat die englische Lehre den oben dargelegten Gedanken eine Zeit lang verfolgt, doch erkennen die neueren Autoren an, dass dieses Argument nicht mehr gültig sei11  D. C. Jackson: Enforcement of Maritime Claims, LLP, 3. Auflage, 2000, räumt ein: „It is, however, now recognised that it does reflect indirect interference in the power of the relevant foreign court.“, da ein Gericht einen Rechtsstreit nur dann entscheiden könne, wenn der Kläger das entsprechende Verfahren betreibe. Werde ihm diese Möglichkeit genommen, so werde in die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts eingegriffen, da es diesem nicht ermöglicht werde, den Fall zu behandeln oder zu entscheiden. Die amerikanische Lehre12  G. A. Bermann, „The use of antisuit injunction in international litigation“, Columbia Journal of Transnational Law, Band 28, 1990, S. 630 f. und die amerikanische Rechtsprechung13  In der Rechtssache Peck v. Jennes, 48 U.S. (7 How.), S. 612, 624 f., zitiert bei L. Collins, Essays in International Litigation on the conflict of Laws, Clarendon Press, 1994, S. 112, heißt es: „... as the Supreme Court held over a century ago, there is no difference between addressing an injunction to the parties and addressing it to the foreign court itself“. haben anerkannt, dass die Unterscheidung zwischen einer Anordnung in personam, die an eine Partei ergeht, und einer an ein ausländisches Gericht gerichteten Anordnung mit Sicherheit gekünstelt ist.

35.      Die Wirkungen der Verbotsanordnungen stehen denjenigen gleich, die die Anwendung der Lehre vom Forum non conveniens entfaltet, die die Versagung der Entscheidung über Klagen zulässt, die an einem ungeeigneten Gerichtsstand eingereicht worden sind. Denn auch die Verbotsanordnungen setzen, selbst wenn sie an die Parteien und nicht an das Gericht gerichtet sind, eine bestimmte Wertung der Angebrachtheit der Erhebung einer Klage bei einem konkreten Gericht voraus. Doch lässt das Übereinkommen, abgesehen von bestimmten Ausnahmen, die auf den vorliegenden Fall nicht zutreffen, keine Nachprüfung der Zuständigkeit eines Gerichts durch ein Gericht eines anderen Vertragsstaats zu (14) .

36.      Ferner schließt die Regelung der gegenseitigen Anerkennung der in den Vertragsstaaten ergangenen Entscheidungen, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf, im Sinne von Artikel 26 des Übereinkommens, auch wenn es die erwähnte Ausnahme im Hinblick auf die öffentliche Ordnung gibt (Artikel 27 Absatz 1), von dieser Ausnahme ausdrücklich die Zuständigkeit aus (Artikel 28), so dass die paradoxe Situation eintreten kann, dass ein Gericht, das eine anti-suit injunction erlassen hat, verpflichtet sein kann, für ein trotz seines ausdrücklichen Verbotes erlassenes Urteil die Vollstreckungsklausel zu erteilen. Das englische Gericht hat in beiden Fällen die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts vor Erlass der sanktionsbewehrten Anordnung zu prüfen, was eindeutig gegen Geist, Buchstaben und Zielsetzung des Brüsseler Übereinkommens verstößt.

37.      Schließlich wird vorgetragen, dass die Verbotsanordnungen prozessuale Behelfe seien, die nicht von dem erwähnten internationalen Übereinkommen erfasst würden. Sie seien ähnliche Instrumente wie Schutzmaßnahmen, deren Vereinbarkeit mit der europäischen Regelung außerhalb jeden Zweifels stehe.

Es trifft zu, dass das Übereinkommen keine Prozessordnungsvorschriften enthält. Daher genießen die Vertragsstaaten die Freiheit, die Verfahren vor ihren Gerichten zu gestalten. Trotzdem müssen sie gewährleisten, dass die auf diese Weise erlassenen Bestimmungen die Philosophie der erwähnten Regelung nicht beeinträchtigen. Mit anderen Worten, die gesetzgeberische Autonomie, über die die Mitgliedstaaten im Verfahrensbereich verfügen, findet ihre Grenzen in der Beachtung der allgemeinen Regelung des Übereinkommens15  Vgl. Urteil vom 15. Mai 1990 in der Rechtssache C-365/88 (Hagen, Slg. 1990, I-1845, Randnr. 20)..

Entscheidungsvorschlag

38.      Nach allem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des House of Lords wie folgt zu beantworten:

Das Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil‑ und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass es den Gerichten eines Vertragsstaats untersagt, Anordnungen an Parteien mit dem Ziel zu erlassen, dass diese es unterlassen, Verfahren vor Gerichten anderer Vertragsstaaten einzuleiten oder weiterzubetreiben.


1
Originalsprache: Spanisch.


2
  Übereinkommen vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (im Folgenden: Brüsseler Übereinkommen oder einfach Übereinkommen). Veröffentlicht in der hier erheblichen konsolidierten Fassung im ABl. 1990, C 189, S. 2.


3
  Für den Erlass sanktionsbewehrter Anordnungen zuständiges oberes Gericht (vgl. im Folgenden Nr. 11).


4
  Urteil vom 17. November 1998 in der Rechtssache C-391/95 (Van Uden Maritime, Slg. 1998, I‑7091).


5
  Das Gleiche gilt für die herrschende Ansicht. Vgl. Ch. Dohm: „Die Einrede ausländischer Rechtsanhängigkeit im deutschen internationalen Zivilprozessrecht“, Berlin, 1996, S. 207; D. Jasper: Forum Shopping in England und Deutschland, Berlin, 1990, S. 90; E. Jayme und Ch. Kohler: „Europäisches Kollisionsrecht 1994: Quellenpluralismus und offene Kontraste“, Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrechts (IPRAX), 1994, S. 405, insbesondere S. 412.


6
  Zur Erläuterung heißt es in der sechzehnten Begründungserwägung der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12 S. 1): „Das gegenseitige Vertrauen in die Justiz im Rahmen der Gemeinschaft rechtfertigt, dass die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen, außer im Falle der Anfechtung, von Rechts wegen, ohne ein besonderes Verfahren anerkannt werden.“ Die siebzehnte Begründungserwägung fügt hinzu: „Aufgrund dieses gegenseitigen Vertrauens ist es auch gerechtfertigt, dass das Verfahren, mit dem eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung für vollstreckbar erklärt wird, rasch und effizient vonstatten geht. Die Vollstreckbarerklärung einer Entscheidung muss daher fast automatisch nach einer einfachen formalen Prüfung der vorgelegten Schriftstücke erfolgen, ohne dass das Gericht die Möglichkeit hat, von Amts wegen eines der in dieser Verordnung vorgesehenen Vollstreckungshindernisse aufzugreifen.“


7
  Diese Situation würde auch dem subjektiven Recht auf Bestimmung eines Gerichtsstands widersprechen, das eine Verfahrenspartei vom Übereinkommen herleiten kann. Vgl. in diesem Sinne J. Kropholler: Europäisches Zivilprozessrecht, 7. Aufl., Heidelberg, 2002, S. 345 und 396 ff.


8
          H. Muir-Watt, Des conceptions divergentes du droit fondamental d’accéder à la justice dans l’espace conventionnel européen, Revue général de procédures, Nr. 4, Oktober/Dezember 1999, S. 761.


9
          Im gleichen Sinne W. Hau: Zum Verhältnis von Art. 21 zu Art. 22 EuGVÜ, IPrax, 1996, S. 44, Nr. 9.48. T. C. Hartley: Antisuit injunctions and the Brussels Jurisdiction and the Judgment Convention, International and Comparative Law Quarterly, Januar 2000, Band 49, Teil I, S. 171; auch wenn dieser Autor diese Anordnungen mit Nachdruck verteidigt, erkennt er ausdrücklich an, dass die Regeln des Übereinkommens ihren eigenen Anwendungsmechanismus enthalten, zu dem die erwähnten Maßnahmen nicht gehörten.


10
          Vgl. T. C. Hartley, „Comity and the Use of Antisuit injunctions in International Legitation“, American Journal of Comparative Law, Band 35, früher 1987, S. 486 ff.


11
          D. C. Jackson: Enforcement of Maritime Claims, LLP, 3. Auflage, 2000, räumt ein: „It is, however, now recognised that it does reflect indirect interference in the power of the relevant foreign court.“


12
          G. A. Bermann, „The use of antisuit injunction in international litigation“, Columbia Journal of Transnational Law, Band 28, 1990, S. 630 f.


13
          In der Rechtssache Peck v. Jennes, 48 U.S. (7 How.), S. 612, 624 f., zitiert bei L. Collins, Essays in International Litigation on the conflict of Laws, Clarendon Press, 1994, S. 112, heißt es: „... as the Supreme Court held over a century ago, there is no difference between addressing an injunction to the parties and addressing it to the foreign court itself“.


14
  Urteil vom 27. Juni 1991 in der Rechtssache C-351/89 (Overseas Union Insurance u. a., Slg. 1991, I-3317, Randnr. 24).


15
          Vgl. Urteil vom 15. Mai 1990 in der Rechtssache C-365/88 (Hagen, Slg. 1990, I-1845, Randnr. 20).

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