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Document 61996CC0010
Opinion of Mr Advocate General Fennelly delivered on 7 November 1996. # Ligue royale belge pour la protection des oiseaux ASBL and Société d'études ornithologiques AVES ASBL v Région Wallonne, intervener: Fédération royale ornithologique belge ASBL. # Reference for a preliminary ruling: Conseil d'Etat - Belgium. # Council Directive 79/409/EEC on the conservation of wild birds - Prohibition of capture - Derogations. # Case C-10/96.
Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly vom 7. November 1996.
Ligue royale belge pour la protection des oiseaux ASBL und Société d'études ornithologiques AVES ASBL gegen Région wallonne, Beteiligte: Fédération royale ornithologique belge ASBL.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Belgien.
Richtlinie 79/409/EWG des Rates über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Fangverbot - Abweichungen.
Rechtssache C-10/96.
Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly vom 7. November 1996.
Ligue royale belge pour la protection des oiseaux ASBL und Société d'études ornithologiques AVES ASBL gegen Région wallonne, Beteiligte: Fédération royale ornithologique belge ASBL.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Conseil d'Etat - Belgien.
Richtlinie 79/409/EWG des Rates über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten - Fangverbot - Abweichungen.
Rechtssache C-10/96.
Sammlung der Rechtsprechung 1996 I-06775
ECLI identifier: ECLI:EU:C:1996:430
SCHLUßANTRÄGE DES GENERALANWALTS
NIAL FENNELLY
vom 7. November 1996 ( *1 )
1. |
Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Mitgliedstaat die Abweichung von dem Verbot des Fangens von wildlebenden Vögeln für sich in Anspruch nehmen kann, insbesondere ob eine solche Abweichung gerechtfertigt ist, wenn die unmittelbare Durchführung des Verbots zu Beeinträchtigungen einiger Vogelliebhaber führen würde oder wenn für die in Gefangenschaft lebenden Vogclbestände die Gefahr der Inzucht bestehen würde. |
I — Sachverhalt und nationale Rechtsvorschriften
2. |
Die Ausübung der „Tcnderic“, die im wesentlichen darin besteht, bestimmte kleine Vögel, insbesondere Finken, mit Schlingen und Netzen zu fangen ( 1 ), war lange ein Zeitvertreib in der wallonischen Region in Belgien. Nach Auffassung eines der Beteiligten des Verfahrens vor dem nationalen Gericht ist das Fangen und Halten wildlebender Vögel ein „tief verwurzelter angestammter Brauch in Wallonien, ... der von internationalen Vorschriften in keiner Weise mißbilligt wird“. Das Königreich Belgien machte daher bei der Hinterlegung der Ratifikationsurkunde ( 2 ) zu dem Übereinkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume (Berner Übereinkommen) vom 19. September 1979 ( 3 ) einen Vorbehalt gemäß Artikel 9 Absatz 1 des Übereinkommens (der weitgehend mit dem Wortlaut des Artikels 9 Absatz 1 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates vom 2. April 1979 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten [im folgenden: Richtlinie] übereinstimmt) ( 4 ) mit dem Inhalt, daß „das Fangen von Vögeln zu Freizeitzwecken ... in der wallonischen Region erhalten bleibt“, wenn auch selbstverständlich „unbeschadet der Gemeinschaftsbestimmungen“. |
3. |
Artikel 3 der Königlichen Verordnung vom 20. Juli 1972 über den Vogelschutz verbot u. a. den Fang aller Arten von wildlebenden Vögeln in den Benelux-Ländern. ( 5 ) Artikel 9 gab dem Minister für Landwirtschaft die Befugnis, aus Gründen der Wissenschaft oder des Naturschutzes zeitlich begrenzte Abweichungen von der Verordnung zur Vermeidung von Nachteilen oder zur Förderung eines örtlichen Interesses zuzulassen. Eine Ministerialverordnung, die das Halten und den Tausch von Vögeln regelt und die zeitweise Haltung eines Vogelbestands zuläßt, wurde am 17. September 1973 erlassen. ( 6 ) Deren einzige Bcgründungserwägung stellt fest, daß es „für den Fortbestand der Aufzucht und der Durchführung der Singwettstreite für Finken ... wünschenswert [ist], eine zeitweise Versorgung der Vogelzüchter und Finkensammler mit Vögeln, die in der Natur gefangen worden sind, zuzulassen, sofern eine ausreichende Zahl von Vögeln für die Aufzucht zur Verfügung steht“. Die Fangzeit wurde auf den 10. Oktober bis zum 15. November eines jeden Jahres festgelegt, während die Liste der Vogelarten und die Anzahl der Exemplare, die gefangen werden können, jährlich vom Minister zu bestimmen sind. |
4. |
Nach dem Inkrafttreten der Richtlinie erließ die Regionalregierung von Wallonien eine Verordnung vom 28. Juli 1982„über das Fangen und den Tausch von Vögeln und über die zeitlich begrenzte Zulässigkeit der Versorgung mit Vögeln“, die in dieser Region an die Stelle der Verordnung von 1973 trat. ( 7 ) Sie berechtigte den für die „Tenderle“ in der wallonischen Region zuständigen Minister, jährlich die Vogelarten, die gefangen werden können, das Datum und die Dauer der Fangzeit, sowie die Zahl der Ringe zu bestimmen, die jedem Fänger zugeteilt werden können; das Erfordernis, daß Vögel, die zur Versorgung gefangen werden, unverzüglich beringt werden, sollte gewährleisten, daß die festgelegte Höchstzahl, die in einer bestimmten Fangzeit gefangen werden kann, eingehalten wird. Die Ausübung dieser Tätigkeit unterlag dem Genehmigungsvorbehalt; höchstens 4300 solcher Genehmigungen konnten für das Gebiet der wallonischen Region erteilt werden. ( 8 ) Der Gerichtshof entschied mit Urteil vom 8. Juli 1987, daß diese Vorschriften über den Fang wildlebender Vögel gegen die Richtlinie verstoßen. ( 9 ) |
5. |
Am 13. September 1990 erließ die Regierung der wallonischen Region eine Verordnung über die Versorgung der Vogelzüchter, mit der gestattet wurde, aus jeder der 13 Arten eine festgelegte, sich insgesamt auf 40580 Exemplare belaufende Menge von wildlebenden Vögeln zu fangen. ( 10 ) Diese Verordnung wurde vom belgischen Conseil d'État mit Urteil vom 11. Juni 1991 einige Monate nach Ablauf der Fangzeit aufgehoben. Dasselbe Schicksal erfuhren die Verordnungen vom 26. September 1991 und 8. Oktober 1992, ( 11 ) die beide mit Urteilen vom 4. November 1994 aufgehoben wurden; in beiden Rechtsstreitigkeiten entschied der Conseil d'État, daß das fragliche Fangen von Vögeln aufgrund der Richtlinie verboten sei, daß die wallonische Regierung nachweisen müsse, daß es keine andere zufriedenstellende Lösung gebe, und daß sie dieser Verpflichtung nicht nachgekommen sei. Insbesondere war der Conseil d'État nicht der Ansicht, daß der Fang in der Natur bis zur Vorlage des Ergebnisses einer Studie über die Durchführbarkeit der Aufzucht, die die wallonische Regierung in Auftrag gegeben hatte, gerechtfertigt sei. |
6. |
Im Oktober 1992 wurde der Fakultät für Veterinärmedizin der Universität Liège vom zuständigen Minister der wallonischen Regierung der Auftrag für eine Studie über die Durchführbarkeit der Aufzucht einheimischer Vögel der Region in den Jahren 1993 und 1994 erteilt. Das Gutachten sollte auch das Ausmaß der Schwierigkeiten bei der Aufzucht bestimmter einheimischer Vogelarten untersuchen, die Bedingungen festlegen, die die Fortpflanzung in der Gefangenschaft erleichtern würden, und die Größe und die Verbreitung von Einrichtungen für die Aufzucht dieser Vögel in der wallonischen Region feststellen. Zu diesem Zweck sollte das Gutachten im Jahr 1993283 Paare in 30 Zuchtanlagen mit unterschiedlicher Qualität untersuchen, zu denen auch die angeschensten Einrichtungen der wallonischen Region gehörten; im Jahre 1994 sollte die Studie 71 Paare in sechs gut ausgestatteten Zuchtanlagcn und 74 Paare in einer vom Minister der wallonischen Region subventionierten Musterzuchtanlage prüfen. |
7. |
Der Conseil d'État setzte die Durchführung der Verordnung über die Versorgung mit Vögeln vom 16. September 1993 vorläufig am 8. Oktober 1993 und endgültig am 14. Oktober aus, was als „ein bedeutsamer Fortschritt im Vergleich zu der bisherigen Rechtsprechung“ ( 12 ) beschrieben wurde. Die Verordnung aus dem Jahre 1993 wurde am 27. Mai 1994 aufgehoben. |
8. |
Der von der wallonischen Regierung in Auftrag gegebene Bericht über die Durchführbarkeit der Aufzucht einheimischer Vögel wurde im Oktober 1993 von Dr. Brochier von der Fakultät für Veterinärmedizin der Universität Liège vorgelegt (im folgenden: Brochier-Bericht). Er kam u. a. zu dem Ergebnis,
|
9. |
Die Ergebnisse des Brochier-Berichts wurden vom Conseil Supérieur Wallon de Conservation de la Nature (im folgenden: CSWCN), der zu dem Entwurf der späteren Verordnung vom 14. Juli 1994 gehört wurde, nicht geteilt. In seiner vorläufigen Stellungnahme vom 12. Juli 1994 vertrat er die Auffassung, daß die Methoden zur Aufzucht der Vogelarten, deren Fang zugelassen werden sollte, seit langem bekannt seien und daß deshalb die Aufzucht in Gefangenschaft unter geeigneten Bedingungen eine zufriedenstellende Lösung sei, um das Auffüllen der Bestände zu gewährleisten. Er kam auch zu dem Ergebnis, daß die Einführung eines vollständigen Fangverbots dazu führen würde, daß die Vogelliebhaber, um die Fortpflanzung unter geeigneten Bedingungen sicherzustellen, die erforderlichen Änderungen an ihren Anlagen beschleunigt vornehmen würden; die sich dann ergebende verbesserte Fortpflanzungsrate bei Benutzung allein der jetzigen Bestände würde ihren Bedarf mehr als decken. ( 14 ) |
10. |
Am 14. Juli 1994 erließ die wallonische Regierung eine Verordnung über den Schutz der Vögel in der wallonischen Region, mit der die Verordnung vom 28. Juli 1982 aufgehoben wurde. ( 15 ) Gemäß den Artikeln 2 Absatz 1 und 3 Absatz 1 dieser Verordnung ist das Fangen und der Verkauf sämtlicher wildlebender Vogelarten, die im europäischen Gebiet heimisch sind, verboten. Kapitel IV des IV. Titels der Verordnung trägt die Überschrift „Über das Fangen zu Zuchtzwecken“. Die einschlägigen Bestimmungen lauten wie folgt: Artikel 26: „Der Fang von wildlebenden Vögeln zu dem Zweck, die Aufzucht als solche als zufriedenstellende Lösung zu ermöglichen, bedarf einer Genehmigung nach den Bestimmungen dieses Kapitels.“ Artikel 27 Absatz 1: „Die Arten wildlebender Vögel, deren Fang gestattet ist, sowie die Fangquoten je Art werden durch Regierungsverordnung jährlich degressiv für einen Zeitraum von fünf Jahren unter den in Anhang III Buchstabe b dieser Verordnung aufgeführten Arten und Unterarten festgelegt.“ Anhang III Buchstabe b enthält eine Liste mit zehn Arten wildlebender Vögel, die gefangen werden dürfen, und die Höchstmengen je Art, die jährlich entnommen werden dürfen, insgesamt 31090 Vögel. Für die Jahre 1994 bis 1998 legt Anhang XIII die jährliche Fanghöchstmenge je Art fest, die niedriger oder ebenso groß wie die in Anhang III Buchstabe b vorgesehenen Zahlen ist und sich jährlich verringert. |
11. |
Artikel 32 der Verordnung bestimmt die Voraussetzungen für die Erlangung einer Fangerlaubnis; der Antragsteller muß insbesondere selbst oder durch einen Teilhaber in der Vogelaufzucht tätig sein und während eines der Antragstellung vorhergehenden Zeitraums von 36 Monaten eine durchschnittliche Vermchrungsrate von Eins ( 16 ) erzielt haben. Gemäß Artikel 73 sind diese Erfordernisse für eine Übergangszeit von 1994 bis einschließlich 1997 nicht notwendig. Statt dessen muß der Antragsteller die erforderlichen, im Anhang XIV der Verordnung bestimmten Aufzuchteinrichtungen besitzen oder Zugang zu ihnen haben und die in diesem Anhang aufgestellten Richtlinien beachten. |
12. |
Die Anwendung der Verordnung vom 14. Juli 1994 wurde vom Conseil d'État am 7. Oktober 1994 ausgesetzt. Das Inkrafttreten einer weiteren Verordnung mit ähnlichem Inhalt vom 13. Oktober 1994 wurde vom Conseil d'État am 14. Oktober 1994 ausgesetzt. |
13. |
Da der Conseil d'État der Auffassung ist, daß eine fehlerfreie Anwendung des Gemeinschaftsrechts nicht so eindeutig sei, daß ernsthafte Zweifel ausgeschlossen seien, hat er dem Gerichtshof zwei sehr präzise Fragen über die Auslegung der Richtlinie vorgelegt:
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II — Die einschlägigen Gemeinschaftsbestimmungen
14. |
Die grundlegenden einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie haben bereits Anlaß zu einer Fülle von Entscheidungen des Gerichtshofes gegeben ( 18 ) es handelt sich um folgende Vorschriften. |
15. |
Das Ziel der Richtlinie wird in Artikel 1 Absatz 1 definiert: „Die Richtlinie betrifft die Erhaltung sämtlicher wildlebender Vogelarten, die im europäischen Gebiet der Mitgliedstaaten, auf welches der Vertrag Anwendung findet, heimisch sind. Sie hat den Schutz, die Bewirtschaftung und die Regulierung dieser Arten zum Ziel und regelt die Nutzung dieser Arten.“ |
16. |
Artikel 1 wird durch Artikel 2 ergänzt, der wie folgt lautet: „Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um die Bestände aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten auf einem Stand zu halten oder auf einen Stand zu bringen, der insbesondere den ökologischen, wissenschaftlichen und kulturellen Erfordernissen entspricht, wobei den wirtschaftlichen und freizeitbedingten Erfordernissen Rechnung getragen wird.“ |
17. |
Die Richtlinie begründet eine Reihe von allgemeinen Pflichten in bezug auf die Erhaltung des Populationsstands der geschützen Arten und in bezug auf Pflege, Erhaltung und Wiederherstellung der Lebensräume (Artikel 2 und 3). Andere Bestimmungen enthalten besondere Pflichten zum Schutz von gefährdeten Arten und von Zugvogelarten (Artikel 4) und zum Schutz wildlebender Vögel und ihres Geleges im allgemeinen einschließlich des Verbotes der Vermarktung wildlebender Vögel und der Beschränkungen in der Bejagung der geschützten Arten (Artikel 5 bis 8). |
18. |
Artikel 5 Buchstabe a verpflichtet die Mitgliedstaaten, „die erforderlichen Maßnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Artikel 1 fallenden Vogelarten [zu treffen], insbesondere das Verbot ... des ... Fangens, ungeachtet der angewandten Methode“. |
19. |
Gemäß Artikel 9 Absatz 1 können Mitgliedstaaten von dem in Artikel 5 bestimmten Verbot, Vögel zu fangen, nur abweichen, „sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt [und] aus den nachstehenden Gründen ...
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20. |
Artikel 9 Absatz 2 bestimmt: „In den abweichenden Bestimmungen ist anzugeben,
Gemäß Artikel 9 Absatz 3 müssen die Mitgliedstaaten einen Bericht über die Anwendung dieses Artikels der Kommission übermitteln, die „ständig darauf [achtet], daß die Auswirkungen dieser Abweichungen mit dieser Richtlinie vereinbar sind“ (Artikel 9 Absatz 4). |
21. |
Aus Artikel 5 ergibt sich, daß das Fangen wildlebender Vögel durch die Richtlinie verboten ist, sofern es nicht nach Artikel 9 gerechtfertigt ist. |
III — Erklärungen der Parteien
22. |
Schriftliche Erklärungen wurden von Belgien, gemeinsam von der Ligue Royale Belge pour la Protection des Oiseaux und der Société d'Études Ornithologiques AVES (im folgenden: Antragsteller), von der Fédération Royale Ornithologique Beige ( 19 ) (im folgenden: FROB) und von der Kommission abgegeben. |
Zur ersten Frage
23. |
Die Antragsteller bestreiten, daß „psycho-soziale Erwägungen“, die sich aus dem anhaltenden Widerstand gegenüber der Veränderung der der Aufzucht abträglichen Gewohnheiten ergeben, bei der Aufzuchtsmethode die Annahme einer zufriedenstellenden Lösung im Sinne von Artikel 9 Absatz 2 der Richtlinie verbieten könnten; daher sei der Rückgriff auf Artikel 9 ausgeschlossen. Nach dem Bericht des Referenten beim Conseil d'État, der von den Antragstellern zitiert wird, sei die fünfjährige Übergangszeit nicht dafür bestimmt, den Erwerb von Kenntnissen zu ermöglichen, sondern den Fang von wildlebenden Vögeln zu gestatten, um den mangelhaften Zustand der Einrichtungen vieler Vogelliebhaber auszugleichen. In dem Bericht des Referenten werde gleichfalls dargelegt, daß die fünfjährige Übergangszeit verlängert werden könne und daß das Erfordernis, daß der Züchter, um eine Erlaubnis für den Fang wildlebender Vögel zu erhalten, die Existenzfähigkeit seiner Einrichtung nachweisen müsse, erst im Jahr 1998 in Kraft trete; die Antragsteller kommen zum Ergebnis, daß die Übergangszeit nicht rechtmäßig sei, soweit die Aufzucht der fraglichen Vögel in Gefangenschaft bereits möglich sei. Sie tragen weiterhin vor, daß die Verordnung einen Verstoß gegen Artikel 18 der Richtlinie, mit dem die Frist zur Umsetzung festgesetzt werde, darstelle und daß die geforderte Abweichung einen Verletzungstatbestand mit genau denselben Merkmalen fortbestehen lasse, die der Gerichtshof im Jahre 1987 in der Rechtssache Kommission/Belgien ( 20 ) für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht erachtet habe. Darüber hinaus genüge die Menge der in der wallonischen Region in der Natur gefangenen Vögel, die die Antragsteller auf über eine halbe Million schätzen, nicht dem Erfordernis der „geringen Mengen“ in Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie. |
24. |
Zur zweiten Frage legen die Antragsteller wissenschaftliche Unterlagen vor, mit denen sie widerlegen wollen, daß sich Inzuchtprobleme ergeben könnten. Die Aufzucht von Vögeln werde in einer Reihe von Mitgliedstaaten, in denen der Fang vollständig verboten sei, in großem Umfang praktiziert, ohne daß derartige Probleme aufträten. Die Aufzucht sei eine völlig geeignete Lösung, und der Fang sei nicht gemäß Artikel 9 gerechtfertigt. |
25. |
Die Kommission trägt vor, eine Abweichung aufgrund von Artikel 9 sei schon dann nicht zulässig, wenn es grundsätzlich eine andere zufriedenstellende Lösung gebe; die tatsächliche Durchführung einer alternativen Lösung werde nicht verlangt, um eine solche Abweichung auszuschließen. Das Fangen wäre nur gerechtfertigt, wenn die „QuasiUnmöglichkeit“ der Aufzucht durch objektive wissenschaftliche und technische Faktoren nachgewiesen werden könnte, die unter Bezugnahme auf Vogelbestände in der Gefangenschaft und nicht auf einzelne Amateurzüchter ermittelt werden müßten. Daß zahlreiche Vogelliebhaber möglicherweise nicht über die erforderlichen Einrichtungen verfugten oder daß die Abweichung beschränkt und degressiv sei, sei unerheblich. Die Kommission meint, daß insbesondere im Lichte des Urteils des Gerichtshofes in der Rechtssache Vergy ( 21 ) eine umfassendere Zusammenarbeit der Züchter auf der Grundlage der existierenden Bestände eine solche Lösung darstellen würde. Sollte andererseits der Gerichtshof nicht zu dieser Auslegung des Artikels 9 Absatz 1 der Richtlinie kommen, müßte das nationale Gericht die Kriterien anwenden, die vom Gerichtshof für die Frage aufgestellt worden seien, ob der Fang eine „vernünftige Nutzung ... in geringen Mengen“ darstellen könne. |
26. |
Die Kommission ist jedoch der Auffassung, daß Artikel 9 Absatz' 1 Buchstabe c herangezogen werden könne, um den Fang von Exemplaren zur Sicherung der Zufuhr neuer Erbanlagen zu rechtfertigen, sofern die Gefahr der Inzucht wissenschaftlich begründet sei und die genetische Vielfalt nicht durch die Aufnahme von Exemplaren sichergestellt werden könne, die in der Gefangenschaft geschlüpft und aufgezogen worden seien. |
27. |
Belgien trägt vor, daß das von der Verordnung vom 14. Juli 1994 verfolgte Ziel darin bestehe, den Vogelliebhabern zu gestatten, ihre Anlagen zu ändern und die erforderlichen diätetischen, hygienischen, sanitären, biologischen und tiermedizinischen Kenntnisse zu erlangen, um die Aufzucht einer hinreichenden Menge von Vögeln zur Erhaltung des gegenwärtigen Bestandes in Gefangenschaft zu ermöglichen; dies sei ein Ziel, das mit den Artikeln 2 und 9 der Richtlinie übereinstimme. Eine Übergangszeit sei erforderlich in Anbetracht der begrenzten Lebenszeit der Vögel und der Anstrengungen, die von denen gefordert seien, die mit den fraglichen Tätigkeiten befaßt seien; während dieser Zeit müsse der Fang einer degressiven Zahl von Vögeln gestattet werden, um den Fortbcstand der Zucht zu erlauben. Die hier in Frage stehenden Fangregelungen seien nach Artikel 9 gerechtfertigt, da sie eine vernünftige Nutzung von Vögeln darstellten und weil sie die Nachteile der Inzucht verhinderten, die entstehen könnten, wenn das gegenwärtige Verbot des Vogelfangs aufrechterhalten werden müßte. |
28. |
Die FROB vertritt im wesentlichen dieselbe Auffassung wie Belgien. Die Praxis, bestimmte Arten in Gefangenschaft aufzuziehen, würde nach ihrer Ansicht in naher Zukunft verschwinden, wenn deren Fang in der Natur nicht gestattet sei. Sie zitiert insbesondere den Brochier-Bericht zur Stützung ihrer Behauptung, daß wallonische Züchter nicht in der Lage seien, eine ausreichende Menge an Exemplaren von fünf Arten in Gefangenschaft zu züchten: den wildlebenden Kanarienvogel, den Distelfink, den Dompfaff, den Buchfink und den Zeisig. Die Verordnung vom 14. Juli 1994 verringere die Zahl der Arten und Exemplare, die bis dahin hätten gefangen werden können, beträchtlich. Sie verkürze auch den Zeitraum, so daß der Fang erst erfolgen könne, nachdem alle Zugvogel- und Nestvogelarten der wallonischen Region bereits fortgezogen seien. |
IV — Prüfung der vom nationalen Gericht vorgelegten Fragen
A — Die erste Frage
29. |
Mit der ersten Frage möchte der Conseil d'État im wesentlichen wissen, ob die Tatsache, daß die Aufzucht von wildlebenden Vögeln in Gefangenschaft wegen des Zustande der Anlagen und wegen der tief verwurzelten Gewohnheiten der Vogelliebhaber noch nicht in großem Umfang durchführbar ist, ausreicht, um eine Abweichung vom Verbot des Fangens in der Natur zu rechtfertigen. |
30. |
Wie oben dargelegt, ist dies nicht das erste Mal, daß der Gerichtshof belgische Rechtsvorschriften zu prüfen hat, die den Fang von Exemplaren wildlebender Vogelarten zu dem Zweck gestatten, das Auffüllen der Bestände gefangener wildlebender Vögel zu erlauben. Obwohl der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Kommission/Belgien anerkannte, daß die Verordnung der wallonischen Regionalregierung vom 28. Juli 1982 ( 22 )„die zum Fang und zur Haltung berechtigten Personen sowie den Fang und die Haltung selbst strengen Regelungen und Kontrollen“ unterwirft, entschied er, daß die innerstaatlichen Bestimmungen, um unter die Abweichung gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie fallen zu können, gewährleisten müssen, daß „der Fang und die Haltung auf die Fälle beschränkt sind, in denen es keine andere zufriedenstellende Lösung, namentlich die Möglichkeit der Fortpflanzung der betreffenden Vogelarten in der Gefangenschaft, gibt“. ( 23 ) |
31. |
Erstens scheinen kaum Zweifel zu bestehen, daß der Fang wildlebender Vögel unter bestimmten Umständen grundsätzlich die Voraussetzungen für eine Abweichung aufgrund der Richtlinie erfüllen kann. In der Rechtssache Kommission/Italien hat der Gerichtshof entschieden, daß „der Fang und die Veräußerung von Vögeln auch außerhalb der Jagdzeiten im Hinblick auf ihre Haltung zur Benutzung als lebende Lockvögel oder zu Liebhaberzwecken auf traditionellen Messen und Märkten eine durch Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c gestattete vernünftige Nutzung sein kann“ ( 24 ). Es ist klar, daß eine solche Abweichung stets das in dieser Bestimmung aufgestellte Kriterium der „geringen Mengen“ erfüllen muß, das nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes „keine absolute Bedeutung hat, sondern sich auf die Erhaltung der Gesamtpopulation und die Vermehrung der fraglichen Art bezieht“ ( 25 ). |
32. |
Eine Abweichung vom Fangverbot ist jedoch nicht zulässig, wenn es irgendeine andere zufriedenstellende Lösung gibt. Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe a nennt eine geringe Zahl von Fällen, in denen ein öffentliches Interesse besteht, das dem des Schutzes wildlebender Vögel vorgeht, während die gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe b gestatteten Tätigkeiten auf lange Sicht zu diesem Schutz beitragen und daher eine Abweichung rechtfertigen. Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c unterscheidet sich geringfügig darin, daß er nicht wie die Buchstaben a und b das konkrete Problem oder die konkrete Erhaltungsmaßnahme benennt, für die eine Abweichung erforderlich sein kann, sondern eine Abweichung vom Verbot des Fangens wildlebender Vögel gestattet, wenn der „Fang, die Haltung oder jede andere vernünftige Nutzung“ erforderlich ist, um bestimmte Tätigkeiten, die nicht als solche mit der Richtlinie unvereinbar sind, zu ermöglichen. Durch die restriktiveren Bedingungen dieser Vorschrift („unter streng überwachten Bedingungen selektiv“, „vernünftige Nutzung“, „in geringen Mengen“) soll möglicherweise das Fehlen des Erfordernisses, daß die Abweichung auf einen der aufgeführten Gründe des öffentlichen Interesses gestützt wird, ausgeglichen werden. |
33. |
Das wesentliche gemeinsame Merkmal der Buchstaben a, b und c des Artikels 9 Absatz 1 ist, daß sich ein im Interesse des Vogelschutzes in der Richtlinie geregeltes Verbot gegebenenfalls anderen Erfordernissen unterzuordnen hat. Eine Abweichung nach dieser Bestimmung kann daher nur ein letzter Ausweg sein. In diesem Zusammenhang kann das Wort „zufriedenstellend“ so ausgelegt werden, daß damit eine Lösung bezeichnet wird, die das spezielle Problem löst, dem sich die nationalen Behörden gegenübersehen, und die zugleich soweit wie möglich die in der Richtlinie geregelten Verbote beachtet. Eine Abweichung kann nur erlaubt sein, wenn eine andere Lösung, die die Aufhebung dieser Verbote nicht zur Folge hat, nicht möglich ist. |
34. |
In der vorliegenden Rechtssache besteht das Problem, dem sich die Behörden der wallonischen Regierung gegenübersehen, in der Notwendigkeit, die Bestände wildlebender Vögel in der Gefangenschaft zu erhalten. Aus dem Wortlaut der ersten Frage ergibt sich, daß der Verordnung der Gedanke zugrunde liegt, daß „Aufzucht möglich ist“, aber nicht „zufriedenstellend“ ist, weil sie von den Vogelliebhabern die Änderung ihrer Anlagen und Gewohnheiten verlangen würde. Der Gesetzgeber erkennt daher ausdrücklich an, daß die Aufzucht in der Gefangenschaft eine zufriedenstellende Lösung ist ( 26 ), versucht aber wie St. Augustin, tugendhaftes Handeln auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. |
35. |
Der Gerichtshof hat ständig betont, daß Artikel 9 der Richtlinie als eine Ausnahme von einer Reihe allgemeiner Regelungen eng ausgelegt werden muß. Es entschied demgemäß in der Rechtssache Kommission/Belgien, daß die „in Absatz 2 dieses Artikels genannten genauen formalen Kriterien ... den Zweck haben, die Abweichungen auf das unbedingt Notwendige zu beschränken und ihre Überwachung durch die Kommission zu ermöglichen [Die Regelung über die Abweichung] sieht ... eine konkrete und gezielte Anwendung vor, um bestimmten Erfordernissen und besonderen Situationen Rechnung zu tragen.“ ( 27 ) Wie die formalen Erfordernisse des Artikels 9 Absatz 2 versuchen die Bestimmungen des Artikels 9 Absatz 1 die Abweichungen „auf das unbedingt Notwendige“ zu beschränken. Die Kommission macht daher meiner Ansicht nach zu Recht geltend, daß die Notwendigkeit, Vogelbestände aufzufüllen, nicht auf der Ebene der einzeln untersuchten Züchter, sondern im Hinblick auf den gesamten Bestand der wildlebenden Vögel in Gefangenschaft in dem betreffenden Mitgliedstaat ermittelt werden müsse. Dem einzelnen Züchter die Entnahme von Vögeln aus der Natur zu gestatten, wenn andere Quellen zur Verfügung stehen, wäre nicht wirklich erforderlich und würde daher dem Ausnahmecharakter der gemäß Artikel 9 erlaubten Abweichung nicht Rechnung tragen. |
36. |
Von seinem Wortlaut her gestattet Artikel 9 eine Abweichung nur, „sofern es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt“, und nicht, sofern die Durchführung des Verbots nur einige Unannehmlichkeiten für diejenigen hervorruft, die von ihm betroffen sind, oder von ihnen die Änderung ihrer Gewohnheiten oder, wie Belgien dargelegt hat, den Erwerb geeigneter Fertigkeiten für die Aufzucht verlangt. Es liegt in der Natur des Umweltschutzes, daß in Verfolgung des Gemeinwohls von bestimmten Personengruppen die Änderung ihres Verhaltens verlangt werden kann; ein Beispiel hierfür ist in der vorliegenden Rechtssache die nach dem Erlaß der Richtlinie gebotene Abschaffung der „Tenderle“ oder „des Fangens von Vögeln zu Freizeitzwecken“, die beide Belgien so hartnäckig bei der Ratifikation des Berner Übereinkommens zu verteidigen suchte. Daß solche Tätigkeiten „angestammt“ oder Teil einer „historischen und kulturellen Tradition“ sein können, reicht nicht aus, um eine Abweichung von der Richtlinie zu rechtfertigen. ( 28 ) |
37. |
Die praktischen Schwierigkeiten für bestimmte Züchter würden es nicht rechtfertigen, die vollständige Durchführung des Verbots des Fangens von wildlebenden Vögeln um weitere fünf Jahre ab 1994 zu verschieben, wie es das Ziel der innerstaatlichen Bestimmungen ist. Erst recht muß bezweifelt werden, daß die Möglichkeit, daß nach Ablauf dieser Übergangszeit Fangerlaubnisse erteilt werden, was nach dem Wortlaut der innerstaatlichen Bestimmungen nicht ausgeschlossen ist ( 29 ), grundsätzlich mit der Richtlinie vereinbar ist. Gerade um allen derartigen praktischen Schwierigkeiten Rechnung zu tragen und um den Betroffenen ausreichend Zeit für die Änderung ihrer Gewohnheiten zu geben, gewährte Artikel 18 der Richtlinie den Mitgliedstaaten eine Frist von zwei Jahren für das Inkraftsetzen der „erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften“, um ihren wesentlichen Verpflichtungen aufgrund der Richtlinie nachzukommen, ungeachtet der Tatsache, daß, wie in der zweiten Begründungserwägung festgestellt wird, viele wildlebende Vogelarten bereits 1979 bedroht waren. Diese Übergangszeit ist am 6. April 1981 abgelaufen und kann nicht noch einmal beginnen, um Schwierigkeiten Rechnung zu tragen, die Belgien in Übereinstimmung mit der Richtlinie vor mehr als 15 Jahren hätte angehen müssen. |
38. |
Meiner Ansicht nach sind die praktischen Schwierigkeiten, die vom nationalen Gericht in seiner ersten Frage genannt werden, grundsätzlich nicht geeignet, eine andere Lösung als die der Aufzucht von Vögeln zu rechtfertigen, ebensowenig wie „ein Miglicdstaat sich ... auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände seiner internen Rechtsordnung berufen kann, um die Nichteinhaltung der in [einer] Richtlinie festgelegten Verpflichtungen und Fristen zu rechtfertigen“ ( 30 ). Ich stimme mit der Kommission überein, daß das Bestehen einer Lösung, die sich an das in der Richtlinie bestimmte Verbot hält, ausreichend ist, um eine Regelung gemäß Artikel 9 auszuschließen; schon „die Möglichkeit der Fortpflanzung der betreffenden Vogelarten in der Gefangenschaft“ ( 31 ) reichte daher dem Gerichtshof, um das Verteidigungsvorbringen Belgiens, das auf diese Bestimmung gestützt war, zurückzuweisen. Ein Mitgliedstaat kann sich nicht auf die jahrelange Säumnis bei der Herbeiführung einer zufriedenstellenden Lösung berufen, um geltend zu machen, daß eine solche Lösung gegenwärtig nicht das Problem lösen könne, dem er sich als Folge der Säumnis gegenübersieht. |
39. |
Die Feststellung, ob eine andere zufriedenstellende Lösung bei einem gegebenen Sachverhalt besteht, ist natürlich Sache des nationalen Gerichts. Eine solche Feststellung muß meiner Ansicht nach auf objektiv überprüfbare Umstände, wie etwa auf die von der Kommission angesprochenen wissenschaftlichen und technischen Erwägungen gestützt werden. Die Tatsache, daß ein spezielles Problem, zu dem die Anwendung der Richtlinie in einem anderen Mitgliedstaat oder in anderen Teilen desselben Mitgliedstaates geführt hat, ohne Rückgriff auf eine Abweichung gelöst wurde, legt sehr nahe, daß eine ähnliche Lösung in dem Mitgliedstaat oder dem Teil des Mitgliedstaates möglich wäre, der die Abweichung in Anspruch nehmen will. Angesichts des Ausnahmecharakters einer abweichenden Regelung und angesichts der Verpflichtung der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EG-Vertrag, die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft zu erleichtern, wäre eine Abweichung unter solchen Umständen nur aufgrund einer objektiven Darlegung der Gründe zu rechtfertigen, aus denen Lösungen, die auf den ersten Blick zufriedenstellend sind, nicht möglich sein sollen. |
40. |
Wie mehrfach im Verlauf des Ausgangsverfahrens gezeigt worden ist, enthält die Verordnung vom 14. Juli 1994 einen gewissen Widerspruch. Einerseits erkennt die Verordnung ausdrücklich an, daß die Aufzucht wildlebender Vögel in Gefangenschaft möglich ist, und sieht zur Förderung dieser Tätigkeit eine Reihe von Bestimmungen vor; insbesondere haben nur diejenigen einen Anspruch auf eine Fangerlaubnis, die die im Anhang XIV der Verordnung enthaltenen Aufzuchtrichtlinien beachten (in den Jahren 1994 bis 1997) oder eine amtliche Bescheinigung einer erfolgreichen Zuchttätigkeit besitzen (nach der Übergangszeit). Andererseits ergibt sich aus dem Brochier-Report, daß erfolgreiche Züchter wildlebende Vögel nicht zu fangen brauchen, um ihre Bestände zu erhalten, und daß die Umsetzung der Empfehlungen des Berichts zu einem schnellen Anwachsen der Vermehrungsrate der betreffenden Vogelpopulationen führen müßte. Fangerlaubnisse können folglich nur denjenigen erteilt werden, die grundsätzlich keine wildlebenden Vögel zu fangen brauchen, um ihre Vogelbestände zu erneuern. |
41. |
Es ist auch nicht klar, weshalb eine Übergangszeit von mindestens fünf Jahren (und keine Höchstgrenze) bereits im voraus festgelegt worden ist; die CSWCN hat in ihrer Stellungnahme dargelegt, daß die Festlegung einer Fangquote fünf Jahre im voraus auf jeden Fall wissenschaftlich nicht gerechtfertigt sei und nicht gewährleiste, daß das Kriterium der „geringen Mengen“ von einem Jahr zum anderen beachtet werde ( 32 ). Falls die Übernahme geeigneter Zuchtpraktiken innerhalb eines kürzeren Zeitraums eine zufriedenstellende Lösung für das Problem der Erhaltung der Bestände wildlebender Vögel in der Gefangenschaft liefern kann, hat die Fangpraxis ihre Daseinsberechtigung und insbesondere jede Berechtigung gemäß Artikel 9 verloren, auf die sie sonst Anspruch erheben könnte. Da eine Abweichung außerdem „auf das unbedingt Notwendige“ beschränkt werden muß, muß das von Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c aufgestellte Kriterium der „geringen Mengen“ eher als Höchstgrenze denn als eine allgemein anwendbare Norm angesehen werden; diese Bestimmung gestattet daher nicht, die Fangquoten im voraus für einen Zeitraum von fünf Jahren ohne Rücksicht auf das in einem bestimmten Jahr „unbedingt Notwendige“ festzulegen. |
42. |
Die in der vorliegenden Rechtssache streitigen Bestimmungen setzen als feststehend voraus, daß das Aufstellen von Erfordernissen für die Aufzucht eine umgehende Lösung des Problems der Erhaltung von Beständen wildlebender Vögel in der Gefangenschaft bringt. Meiner Ansicht nach wäre der richtige Weg, zunächst eine Lösung zu finden, die mit der Richtlinie übereinstimmt, insbesondere eine solche, die sich als zufriedenstellend in anderen Teilen der Gemeinschaft herausgestellt hat, und erst dann auf eine Abweichung zurückzugreifen, sofern dargetan werden kann, daß das ursprüngliche Problem fortbesteht. Wird die Erteilung der Fangerlaubnis von der Beachtung der Aufzuchterfordernisse abhängig gemacht, so halte ich dies im übrigen keineswegs für die einzig gangbare Lösung. Die Kommission hat vorgeschlagen, die Züchter zur Zusammenarbeit anzuhalten, und die Beteiligte führte in ihren Anträgen an den Conseil d'État vom 15. Dezember 1994 aus, daß die wallonischen Vogelliebhaber ihre Bestände an wilden Kanarienvögeln im freien Austausch von Exemplaren mit ihren flämischen Partnern erworben hätten. Diese Möglichkeiten bleiben noch zu erkunden, bevor abschließend festgestellt werden kann, daß der Fang in der Natur gerechtfertigt ist. |
43. |
Die erste Frage sollte daher dahin beantwortet werden, daß unter den in der Vorlageentscheidung dargestellten Umständen aus der Tatsache, daß die Durchführung des Verbots des Fangens von Vögeln zahlreiche Züchter zwingen würde, ihre Anlagen zu verändern und bestimmte Gewohnheiten aufzugeben, nicht geschlossen werden darf, daß es an einer anderen zufriedenstellenden Lösung fehlt, um so eine Abweichung zu rechtfertigen. |
B — Die zweite Frage
44. |
Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Gefahr der Inzucht bei wildlebenden Vogelarten, die in Gefangenschaft für Freizeitzwecke aufgezogen worden sind, den Fang in der Natur rechtfertigen würde und bejahendenfalls in welchem Umfang. |
45. |
Wie der Gerichtshof in der Rechtssache Vergy entschieden hat ( 33 ), will die Richtlinie nicht Exemplare von Vögeln schützen, die in Gefangenschaft geschlüpft sind und aufgezogen wurden. Hieraus folgt, daß jede Abweichung vom Verbot des Fangens in der Natur, die mit der Gefahr der Inzucht bei Vogelbeständen in der Gefangenschaft begründet wird, nur gemäß Artikel 9 Absatz 1 Buchstabe c der Richtlinie als „vernünftige Nutzung“ und nur in „geringen Mengen“ gerechtfertigt sein kann. Da die Richtlinie nicht die Aufzucht von wildlebenden Vögeln in der Gefangenschaft verbietet, können Hilfstätigkeiten, die unbedingt für diese Aufzucht notwendig sind, wie der Fang zur Vermeidung der Inzucht, grundsätzlich eine „vernünftige Nutzung“ darstellen. |
46. |
Wie beim Fang zum Auffüllen der Bestände setzt eine Abweichung zur Vermeidung von Nachteilen der Inzucht voraus, daß es keine andere zufriedenstellende Lösung gibt. Der Mitgliedstaat ist daher verpflichtet, objektiv und wissenschaftlich nachzuweisen, daß tatsächlich die Gefahr der Inzucht besteht ( 34 ) und daß die Abweichung, auf die er sich stützen möchte, jede der nachweislich bestehenden Gefahren beseitigen würde. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wäre meiner Ansicht nach der Fang in der Natur in dem Maße gerechtfertigt, wie er als unbedingt notwendig nachgewiesen werden kann. Die Menge, die gefangen werden könnte, müßte daher, wie die Kommission dargelegt hat, genau dem entsprechen, was zur Vermeidung von Inzuchtproblemen notwendig ist, wobei das Kriterium der „geringen Mengen“, wie es vom Gerichtshof ausgelegt wird ( 35 ), die absolute Höchstgrenze wäre. |
47. |
Wie der Gerichtshof zudem in ständiger Rechtsprechung, zuletzt in der Rechtssache Associazione Italiana per il WWF u. a. ( 36 ), entschieden hat, müssen „die Kriterien, aufgrund deren die Mitgliedstaaten von den in der Richtlinie ausgesprochenen Verboten abweichen dürfen, in eindeutige innerstaatliche Bestimmungen übernommen werden“. Hieraus ergibt sich, daß der Fang zur Vermeidung von Inzucht nur gerechtfertigt sein könnte, wenn er in den einschlägigen, in dem Mitglicdstaat geltenden Rechtsvorschriften ausdrücklich vorgesehen wäre und gemäß Artikel 9 in engen Grenzen gehalten würde. Die Feststellung, ob die fraglichen innerstaatlichen Bestimmungen diesen Erfordernissen genügen, ist eindeutig Sache des vorlegenden Gerichts. |
V — Ergebnis
48. |
Nach alledem schlage ich vor, die vom belgischen Conseil d'État vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:
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( *1 ) Originalsprache: Englisch.
( 1 ) Verordnung der wallonischen Regierung vom 8. Oktober 1992 über die Versorgung der Züchter mit einheimischen Vogclarten, Moniteur Belge vom 10. Oktober 1992, S. 21818, fünfte Begründungserwägung.
( 2 ) Moniteur Belge vom 29. Dezember 1990, S. 24530.
( 3 ) ΛΒl.1982, L 38, S. 3.
( 4 ) ABl. 1979, L 103, S. 1.
( 5 ) Moniteur Belge vom 1, August 1972, S. 8530; die Zuständigkeiten für das Jagdwesen wurden 1980 den Regionen übertragen, die die in diesem Bereich geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften aufheben, ergänzen, ändern oder ersetzen können (Urteil in der Rechtssache 247/85, Kommission/Belgien, Slg. 1987, 3029, Randnr. 4).
( 6 ) Moniteur Belge vom 21. September 1973, S. 10669.
( 7 ) Moniteur Belge vom 18. September 1982, S. 10800.
( 8 ) In der mündlichen Verhandlung wurde dargelegt, daß die Zahl der erteilten Genehmigungen 1981 die Größenordnung von 50000 und 1994 die Größenordnung von 20000 oder 30000 erreichte; diese Zahlen stehen nicht im Einklang mit den in Artikel 7 Absatz 2 der Verordnung vom 28. Juli 1982 getroffenen Festlegungen.
( 9 ) Urteil in der Rechtssache 247/85, Kommission/Belgien, zitiert in Fußnote 5, Randnrn. 36 bis 43.
( 10 ) Moniteur Belge vom 29. September 1990, S. 18598.
( 11 ) Moniteur Belge vom 1. Oktober 1991, S. 21595, und vom 10. Oktober 1992, S. 21818.
( 12 ) Neuray, „La Suspension de la Tenderie en 1993: un Hommage à Aristophane?“, 1993, JLMB 1364, 1366.
( 13 ) Insbesondere zur materiellen und und sozialen Umgebung der Arten, zu gesundheitlichen und medizinischen Maßnahmen, zur Futtcrkontrolle und zur Auswahl der Brulpaarc.
( 14 ) D0C.94/CSWCN 111, Anhang B.
( 15 ) Moniteur Belge vom 21. September 1984, S. 23922.
( 16 ) Eine Vermchrungsrate von Eins bedeutet, daß die Zahl der in der Gefangenschaft geschlüpften und lebenden Vögel genau die Sterblichkeitsziffer des speziellen Vogclbcstanücs ausgleicht.
( 17 ) Der Begriff „endogen“ bedeutet nach Wahrig, Deutsches Wörterbucht „von innen kommend, im Innern entstehend, im Innern befindlich“; erscheint hier fehl am Platz. Gemeint ist wohl „endogam“.
( 18 ) Vgl. Wils, „The Bird Directive 15 years later: a survey of the case-law and a comparison with the habitats directive“, 6 Journal of Environmental Law 220, 1994, und in jüngerer Zeit die Rechtssache C-149/94 (Vergy, Slg. 1996, I-229), Rechtssache C-202/94 (Van der Feesten, Sig. 1996, I-355), Rechtssache C-118/94 (Associazione Italiana per il WWF u. a., Slg. 1996, I-1223), und Rechtssache C-44/95 (Royal Society for the Protection of Birds, Slg. 1996, I-3805).
( 19 ) Diese Organisation bezeichnet sich in ihren eigenen Erklärungen als „Fédération Royale Ornithologique Wallonne“, aïs „Fédération Royale Ornithologique Belge“ und als „Fédération Ornothologique Wallonne“. Aus Gründen der Vereinfachung wird hier die vom Conseil d'État benutzte Bezeichnung verwandt.
( 20 ) Rechtssache 247/85, zitiert in Fußnote 5.
( 21 ) Urteil in der Rechtssache C-149/94, zitiert in Fußnote 18, Randnrn. 12 bis 15.
( 22 ) Zitiert in Fußnote 7.
( 23 ) Urteil in der Rechtssache 247/85, zitiert in Fußnote 5, Randnrn. 40 und 41, Hervorhebung vom Verfasser.
( 24 ) Urteil in der Rechtssache 262/85, Slg. 1987, 3073, Randnr. 38.
( 25 ) Urteil in der Rechtssache 252/85, Kommission/Frankreich, Slg. 1988, 2243, Randnr. 28.
( 26 ) Die grundsätzliche Gültigkeit dieser Lösung ist tatsächlich zumindest seit 1973 anerkannt; vgl. oben, Nr. 3.
( 27 ) Urteil in der Rechtssache C-247/85, Kommission/Belgien, zitiert in Fußnote 5, Randnr. 7, Hervorhebung vom Verfasser; Urteil in der Rechtssache C-118/94 (Associazione Italiana per il WWF u. a. , zitiert in Fußnote 18, Randnr. 21).
( 28 ) Urteil in der Rechtssache 236/85, Kommission/ Niederlande, Slg. 1987, 3989, Randnrn. 21 und 23.
( 29 ) Der Rechtsberater der belgischen Regierung hat sich bemüht, dem Gerichtshof in der mündlichen Verhandlung zu versichern, daß die Regelung des Fangs auf Vorrat nach Ablauf der Übergangszeit auslaufen werde.
( 30 ) Urteil vom 19. September 1996 in der Rechtssache C-236/95 (Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-4459, Randnr. 18).
( 31 ) Urteil in der Rechtssache 247/85, zitiert in Fußnote 5, Randnr. 41, Hervorhebung vom Verfasser.
( 32 ) Stellungnahme vom 12. Juli 1994, zitiert in Fußnote 14, 2. Abschnitt.
( 33 ) Rechtssache C-149/94, a. a. O., zitiert in Fußnote 18.
( 34 ) Die CSWCN vertrat in ihrer Stellungnahme die Auffassung, daß die Zahl der in Gefangenschaft geschlüpften Vögel der am weitesten verbreiteten, hier in Frage stehenden Arten mehr als ausreichend war, um jede Gefahr der Inzucht auszuschließen (Anhang B der Stellungnahme vom 12. Juli 1994, zitiert in Fußnote 14); der Brochicr-Bericht hat diese Frage nicht angesprochen.
( 35 ) Vgl. oben, Nr. 31.
( 36 ) Urteil in der Rechtssache C-118/94, zitiert in Fußnote 18, Randnr. 22.