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Document 61994CV0002

Gutachten des Gerichtshofes vom 28. März 1996.
Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Gutachten 2/94.

Sammlung der Rechtsprechung 1996 I-01759

ECLI identifier: ECLI:EU:C:1996:140

GUTACHTEN DES GERICHTSHOFES

28. März 1996

Der Rat der Europäischen Union hat mit Antragsschrift, die am 26. April 1994 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingereicht worden ist, beim Gerichtshof einen Antrag gemäß Artikel 228 Absatz 6 EG-Vertrag gestellt, der wie folgt lautet:

„Der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat kann ein Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeit eines geplanten Abkommens mit diesem Vertrag einholen. Ist dieses Gutachen ablehnend, so kann das Abkommen nur nach Maßgabe des Artikels N des Vertrages über die Europäische Union in Kraft treten.“

Bericht zum Gutachtenantrag

I — Inhalt des Antrags

1.

Der Rat, vertreten durch den Generaldirektor des Juristischen Dienstes J.-C. Piris, den Direktor im Juristischen Dienst J.-P. Jacqué und A. Lo Monaco, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, hat ein Gutachten des Gerichtshofes zu folgender Frage beantragt:

„Ist der Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 [im folgenden: Konvention] mit dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vereinbar?“

2.

Der Rat erklärt, daß ein Grundsatzbeschluß über die Aufnahme von Verhandlungen erst gefaßt werden könne, wenn der Gerichtshof geprüft habe, ob der geplante Beitritt mit dem Vertrag vereinbar sei.

In seinen mündlichen Ausführungen hat der Rat eingeräumt, daß noch kein Text eines geplanten Abkommens vorliege; der Antrag sei aber gleichwohl statthaft. Der Rat begehe keinen Verfahrensmißbrauch, sondern sehe sich vor grundsätzliche Fragen der rechtlichen und institutionellen Ordnung gestellt. Darüber hinaus sei die Konvention, der die Gemeinschaft beitreten würde, bekannt, und die Rechtsfragen, die ein Beitritt aufwerfe, seien so hinreichend bestimmt, daß der Gerichtshof ein Gutachten erstatten könne.

3.

Der Rat legt Sinn und Zweck des geplanten Abkommens dar und nimmt Stellung zur Tragweite des Beitritts, zur Beteiligung der Gemeinschaft an den Kontrollorganen und zu den Änderungen, die an der Konvention und den Protokollen vorzunehmen wären.

4.

Zur Tragweite des Beitritts führt der Rat aus, daß jede Gemeinschaft im Rahmen ihrer Zuständigkeiten und in den Grenzen des Anwendungsbereichs ihres Rechts der Konvention beitreten sollte. Der Beitritt sollte zur Konvention und zu den Protokollen erfolgen, die in Kraft getreten und von allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft ratifiziert worden seien. Dieser Beitritt sollte keine Auswirkung auf die von den Mitgliedstaaten, die Parteien der Konvention seien, formulierten Vorbehalte haben, die in den Bereichen, die in die innerstaatliche Zuständigkeit fielen, weiterhin gelten sollten. Die Gemeinschaft würde es akzeptieren, sich dem Mechanismus der Gesuche von Einzelpersonen und zwischenstaatlicher Gesuche zu unterwerfen; Beschwerden zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten sollten jedoch ausgeschlossen werden, um das Monopol zu wahren, das Artikel 219 EG-Vertrag insoweit dem Gerichtshof übertrage.

5.

Für die Beteiligung der Gemeinschaft an den Kontrollorganen, insbesondere am künftigen einzigen Gerichtshof für Menschenrechte, gebe es verschiedene Möglichkeiten: Verzicht auf einen Richter aus der Gemeinschaft, Bestellung eines ständigen Richters mit demselben Status wie die anderen Richter, Bestellung eines Richters mit Sonderstatus, dessen Stimmrecht auf Rechtssachen, die das Gemeinschaftsrecht betreffen, beschränkt wäre. Dieser Richter könnte nicht zugleich Mitglied des Gerichtshofes sein. Das Verfahren der Ernennung dieses Richters würde durch die Konvention geregelt, wobei selbstverständlich die Benennung der von der Gemeinschaft vorgeschlagenen Kandidaten eine interne Angelegenheit der Gemeinschaft bliebe. Eine Beteiligung der Gemeinschaft am Ministerausschuß, der im übrigen in dem künftigen Rechtsprechungsmechanismus jede Zuständigkeit verlieren würde, sei nicht vorgesehen.

6.

Die Konvention und die Protokolle, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nur den Beitritt von Mitgliedstaaten des Europarats vorsähen, müßten geändert werden. Die Gemeinschaft beabsichtige jedoch nicht, Mitglied des Europarats zu werden. Ebenso müßten die technischen Bestimmungen über die Einschaltung der Mitgliedstaaten des Europarats in die Kontrollmechanismen der Konvention geändert werden. Im Fall des Beitritts wäre die Gemeinschaft nur in den Grenzen ihrer Zuständigkeiten rechtlich gebunden. Es sollte eine Regelung vorgesehen werden, die es der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten erlaubte, die Frage der Verteilung der Zuständigkeiten gegenüber den Gremien der Konvention klarzustellen.

7.

Im Rahmen der Untersuchung der Vereinbarkeit des Beitritts mit dem Vertrag prüft der Rat die Befugnis der Gemeinschaft zum Abschluß des geplanten Abkommens und die Vereinbarkeit des Rechtsprechungssystems der Konvention mit den Artikeln 164 und 219 des Vertrages.

8.

Der Vertrag verleihe der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Menschenrechte keine spezifische Handlungsbefugnis. Der Schutz dieser Rechte werde durch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts verwirklicht. Die durch die Rechtsprechung bekräftigte Notwendigkeit dieses Schutzes werde nunmehr durch Artikel F des Vertrages über die Europäische Union bestätigt. Der Schutz der Menschenrechte leite sich von einem horizontalen Prinzip her, das integrierender Bestandteil der Ziele der Gemeinschaft sei. Da ein besonderer Artikel fehle, würde Artikel 235 EG-Vertrag als Grundlage für den Beitritt dienen, sofern die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Artikels vorlägen.

9.

Zu prüfen sei auch, ob der Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention, insbesondere zum Rechtsprechungssystem, die ausschließliche Rechtsprechungszuständigkeit des Gerichtshofes nach den Artikeln 164 und 219 des Vertrages sowie die Autonomie der gemeinschaftlichen Rechtsordnung antaste.

10.

Der Rat hebt hervor, daß die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte keine unmittelbare Wirkung hätten; dieser Gerichtshof könne nämlich Bestimmungen des nationalen Rechts nicht aufheben oder ändern, sondern einer Vertragspartei nur die Verpflichtung auferlegen, ein bestimmtes Ergebnis herbeizuführen. Der Gerichtshof der Gemeinschaft wäre jedoch verpflichtet, in seiner eigenen Rechtsprechung die Urteile dieses Gerichtshofs zu beachten. Da die Individualbeschwerden der Voraussetzung der vorherigen Ausschöpfung innerstaatlicher Rechtsmittel unterlägen, müßten sich die internen Gerichte der Gemeinschaft, insbesondere der Gerichtshof, zu der Vereinbarkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts mit der Konvention äußern. Im Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991 (Slg. 1991,I-6079) habe der Gerichtshof anerkannt, daß sich die Gemeinschaft einem durch ein internationales Übereinkommen geschaffenen Rechtsprechungsmechanismus unterwerfen könne, sofern sich die darin vorgesehene Gerichtsbarkeit auf die Auslegung und Anwendung dieses Übereinkommens beschränke und die Autonomie der Rechtsordnung der Gemeinschaft nicht beeinträchtige. Es sei fraglich, ob diese Feststellung allein für den Fall gelte, daß sich die Urteile dieser Gerichtsbarkeit nur auf das internationale Übereinkommen erstreckten, oder auch für den Fall, daß sich diese Urteile auf die Vereinbarkeit des Gemeinschaftsrechts mit dem Übereinkommen erstrecken könnten.

II — Verfahren

11.

Gemäß Artikel 107 § 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes ist der Gutachtenantrag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften und den Mitgliedstaaten zugestellt worden. Schriftliche Stellungnahmen haben eingereicht die belgische Regierung, vertreten durch J. Devadder, Verwaltungsdirektor im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, die dänische Regierung, vertreten durch Botschafter L. Mikaelsen und Abteilungsleiter P. Biering, beide Rechtsberater im Außenministerium, als Bevollmächtigte, die deutsche Regierung, vertreten durch Ministerialrat E. Röder, Bundesministerium für Wirtschaft, und Regierungsdirektor A. Dittrich, Bundesministerium der Justiz, als Bevollmächtigte, die griechische Regierung, vertreten durch V. Rotis, Ehrenpräsident des Symvoulio tis Epikrateias, Rechtsberater S. Zisimopoulos, Ständige Vertretung der Griechischen Republik, und N. Dafniou, Sekretär in der Juristischen Sonderabteilung für Rechtsfragen der Gemeinschaften im Außenministerium, als Bevollmächtigte, die spanische Regierung, vertreten durch A. Navarro Gonzalez, Generaldirektor für die rechtliche und institutionelle Koordinierung in Gemeinschaftsangelegenheiten, und Abogado del Estado R. Silva de Lapuerta, Abteilung für Rechtsfragen der Gemeinschaften, als Bevollmächtigte, die französische Regierung, vertreten durch E. Belliard, Directeur adjoint in der Direktion für Rechtsfragen des Außenministeriums, C. de Salins, Sousdirecteur in dieser Direktion, und C. Chavance, Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten in dieser Direktion, als Bevollmächtigte, die niederländische Regierung, vertreten durch Rechtsberater A. Bos, Außenministerium, als Bevollmächtigten, die portugiesische Regierung, vertreten durch L. Fernandes, Direktor des Juristischen Dienstes der Generaldirektion für Gemeinschaftsangelegenheiten des Außenministeriums, und M. L. Duarte, Beraterin in dieser Direktion, als Bevollmächtigte, die Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. Collins, Treasury Solicitor's Department, als Bevollmächtigten, im Beistand der Barristers S. Richards und D. Anderson, sowie die Kommission, vertreten durch Hauptrechtsberater J. Amphoux, Rechtsberater J. Pipkorn und R. Gosalbo-Bono, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte.

12.

Nach dem Beitritt der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden zur Europäischen Union ist der Gutachtenantrag auch ihnen zugestellt worden. Die österreichische Regierung, vertreten durch den Universitätsdozenten K. Berchtold als Bevollmächtigten, und die finnische Regierung, vertreten durch den Abteilungsleiter im Außenministerium H. Rotkirch als Bevollmächtigten, haben schriftliche Stellungnahmen eingereicht.

13.

Das Europäische Parlament, vertreten durch seinen Rechtsberater G. Garzón Clariana und durch E. Perillo, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, ist auf seinen Antrag zur Abgabe einer Stellungnahme zugelassen worden.

14.

In der Sitzung vom 7. November 1995 haben mündliche Ausführungen gemacht die belgische Regierung, vertreten durch J. Devadder, die dänische Regierung, vertreten durch L. Mikaelsen und P. Biering, die deutsche Regierung, vertreten durch A. Dittrich, die griechische Regierung, vertreten durch A. Samoni-Rantou, stellvertretende Sonderrechtsberaterin in der Sonderabteilung für Rechtsfragen der Gemeinschaften im Außenministerium, als Bevollmächtigte, und N. Dafniou, die spanische Regierung, vertreten durch R. Silva de Lapuerta, die französische Regierung, vertreten durch J.-F. Dobelle, Directeur adjoint in der Direktion für Rechtsfragen des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, und C. Chavance, die irische Regierung, vertreten durch D. Gleeson, SC, als Bevollmächtigten, und M. Buckley, die italienische Regierung, vertreten durch Professor U. Leanza, Leiter der Abteilung für diplomatische, Vertrags- und Gesetzgebungsangelegenheiten des Außenministeriums, als Bevollmächtigten, die niederländische Regierung, vertreten durch den stellvertretenden Rechtsberater im Außenministerium M. Fiestra als Bevollmächtigten, die portugiesische Regierung, vertreten durch L. Fernandes und M. L. Duarte, die finnische Regierung, vertreten durch H. Rotkirch, die schwedische Regierung, vertreten durch L. Nordling, Beraterin in der Direktion für Rechtsfragen in Europäischen Angelegenheiten des Außenministeriums, die Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch J. E. Collins im Beistand von S. Richards und D. Anderson, der Rat der Europäischen Union, vertreten durch J.-C. Piris, J.-P. Jacqué und A. Lo Monaco, als Bevollmächtigte, die Kommission, vertreten durch J. Pipkorn und R. Gosalbo-Bono, und das Europäische Parlament, vertreten durch G. Garzon Clariana und E. Perillo.

III — Bisherige Entwicklung der Frage der Achtung der Menschenrechte durch die Gemeinschaft

15.

Der EG-Vertrag enthält, abgesehen von der Bekundung der Entschlossenheit der Mitgliedstaaten, „Frieden und Freiheit zu wahren“, im neunten Absatz der Präambel, ebensowenig wie der EGKS- und der EAG-Vertrag einen besonderen Hinweis auf die Grundrechte.

16.

Der Gerichtshof hat den Grundrechtsschutz über die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts unter Bezugnahme auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und internationalen Verträge, insbesondere die Konvention, in der Rechtsordnung der Gemeinschaft verankert.

17.

Unter dem Einfluß dieser Rechtsprechung bezieht sich die Einheitliche Europäische Akte in ihrer Präambel auf die Achtung der in den Verfassungen und Gesetzen der Mitgliedstaaten sowie in der Konvention und der Europäischen Sozialcharta anerkannten Grundrechte.

18.

In Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union heißt es: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der ... Konvention ... gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.“ Artikel J.1 Absatz 2 fünfter Gedankenstrich dieses Vertrages betrifft die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Artikel K.2 Absatz 1 dieses Vertrages enthält eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Beachtung der Konvention im Rahmen der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres.

19.

Außerdem war die Achtung der Grundrechte Gegenstand politischer Erklärungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaftsorgane. Zu nennen sind hier die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 1977 über die Grundrechte (Europäische Union, Textsammlung 1995, S. 877), die Gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates, der im Rat vereinigten Vertreter der Mitgliedstaaten und der Kommission vom 11. Juni 1986 gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit {Europäische Union, Textsammlung 1995, S. 889), die Entschließung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 29. Mai 1990 zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (ABl. C 157, S. 1), die vom Rat und den im Rat vereinigten Vertretern der Mitgliedstaaten am 28. November 1991 angenommene Entschließung über Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung {Bulletin der Europäischen Gemeinschaften II-1991, Ziffer 2.3.1) und die vom Rat und den Mitgliedstaaten am 18. November 1992 angenommenen Schlußfolgerungen zur Durchführung dieser Entschließung. Ferner ist hinzuweisen auf die Erklärungen der verschiedenen Europäischen Räte, wie die Erklärung über die europäische Identität vom 14. Dezember 1973(Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 12-1973, Ziffer 2501), die Demokratieerklärung vom 8. April 1978, die Erklärung zur internationalen Rolle der Gemeinschaft vom 2. und 3. Dezember 1988{Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 12-1988, Ziffer 1.1.10), die Erklärung über die Menschenrechte vom 29. Juni 1991(Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 6-1991, Anhang V) und die Erklärung über die Menschenrechte vom 11. Dezember 1993 aus Anlaß des 45. Jahrestages der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (Bulletin der Europäischen Gemeinschaften 12-1993, Ziffer 1.4.12).

20.

In einem dem Europäischen Parlament und dem Rat übermittelten Bericht vom 4. Februar 1976 mit dem Titel „Der Schutz der Grundrechte bei der Schaffung und Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts“{Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 5/76) hat die Kommission die Notwendigkeit eines Beitritts der Gemeinschaft als solcher zur Konvention verneint.

21.

Die Kommission hat dem Rat in dem „Memorandum betreffend den Beitritt der Europäischen Gemeinschaften zur Konvention über den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten“(Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 2/79) vom 4. April 1979 erstmals einen formellen Beitritt vorgeschlagen.

22.

Dieser Vorschlag wurde durch die Mitteilung der Kommission vom 19. November 1990 über den Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten erneuert.

23.

Am 26. Oktober 1993 veröffentlichte die Kommission ein Arbeitsdokument mit dem Titel „Der Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und die Gemeinschaftsrechtsordnung“, in dem sie insbesondere die Fragen der Rechtsgrundlage für den Beitritt und des Rechtsprechungsmonopols des Gerichtshofes untersucht.

24.

Das Europäische Parlament hat sich wiederholt für einen Beitritt ausgesprochen, zuletzt mit einer auf der Grundlage eines Berichts des Ausschusses für Recht und Bürgerrechte angenommenen Entschließung vom 18. Januar 1994 zum Beitritt der Gemeinschaft zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte (ABl. C 44, S. 32).

IV — Statthaftigkeit des Gutachtenantrags

25.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs und die irische Regierung machen geltend, der Gutachtenantrag sei nicht statthaft. Die dänische, die finnische und die schwedische Regierung werfen außerdem die Frage auf, ob der Antrag verfrüht sei.

In ihren mündlichen Ausführungen hat die irische Regierung betont, daß kein konkreter Vorschlag für ein Beitrittsabkommen vorliege, zu dem der Gerichtshof sein Gutachten erstatten könne. Es gebe zahlreiche technische Probleme, und es seien verschiedene Lösungen denkbar. Zur Bestimmung der zur Verhandlung berufenen Parteien liege noch kein Beschluß vor.

Nach Auffassung der Regierung des Vereinigten Königreichs liegt kein „geplantes“ Abkommen im Sinne von Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages vor. Der Gerichtshof könne erst nach eingehenden Verhandlungen über den Entwurf eines Abkommens angerufen werden. Im Gutachten 1/78 vom 4. Oktober 1979 (Slg. 1979, 2871) sei der Antrag zwar zugelassen worden, obwohl noch Verhandlungen hätten stattfinden müssen. Zum Zeitpunkt dieses Antrags habe das Abkommen jedoch als Entwurf vorgelegen; während des Verfahrens hätten Verhandlungen stattgefunden, und der Gerichtshof sei über den letzten Stand der Texte unterrichtet worden, bevor er sein Gutachten erstattet habe. Im vorliegenden Verfahren hingegen liege kein Entwurf eines Abkommens vor, und es seien vor Erstattung des Gutachtens keine Verhandlungen geplant. Der Gutachtenantrag 1/78 sei rechtserheblich gewesen, da die Frage der Rechtsgrundlage des Abkommens umstritten gewesen sei. Vorliegend herrsche jedoch Einigkeit über die einzig mögliche Rechtsgrundlage, nämlich Artikel 235 des Vertrages.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs führt außer den vom Rat dargelegten grundlegenden Problemen weitere Schwierigkeiten an. Sie erwähnt die Frage der Tragweite eines Beitritts angesichts der von den Mitgliedstaaten formulierten Vorbehalte, die Befugnis dieser Staaten, jederzeit von bestimmten Vorschriften der Konvention abzuweichen, und die Gefahr einer Diskrepanz zwischen den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft, das Problem der Beteiligung der Gemeinschaft an den Organen der Konvention, insbesondere an dem künftigen einzigen Gerichtshof, die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten, die Schwierigkeit eines Beitritts der Gemeinschaft zur Konvention ohne vorherigen Beitritt zum Europarat und das Schicksal des EGKS- und des EAG-Vertrags. Angesichts der Zahl und des Gewichts dieser Probleme könne der Gerichtshof zum gegenwärtigen Zeitpunkt kein sachdienliches Gutachten abgeben.

Nach Artikel 235 des Vertrages, der einzig möglichen Rechtsgrundlage, sei eine einstimmige Entscheidung des Rates erforderlich. Das Fehlen einer solchen Einstimmigkeit unterstreiche die hypothetische und wirklichkeitsferne Natur des Gutachtenantrags.

Im Rahmen der Vorabentscheidungsverfahren habe es der Gerichtshof jedoch immer abgelehnt, sich zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen zu äußern.

Die dänische Regierung weist darauf hin, daß kein ausgehandelter Abkommensentwurf vorliege. Im Rat sei nicht einmal eine Verständigung über die Aufnahme von Verhandlungen erreicht worden.

Die finnische Regierung weist darauf hin, daß sich das Gutachten nach Artikel 107 § 2 der Verfahrensordnung und nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes auf die Vereinbarkeit des beabsichtigten Abkommens mit dem Vertrag und auf die Zuständigkeit der Gemeinschaft erstrecken könne. Im vorliegenden Fall hänge die Statthaftigkeit des Gutachtenantrags von der Frage ab, ob die dem Antrag beigefügten oder in ihm genannten Unterlagen ein Ganzes bildeten, aus dem sich das geplante Abkommen mit so hinreichender Bestimmtheit ergebe, daß der Gerichtshof sein Gutachten abgeben könne. Sei dies der Fall, so wäre der Gerichtshof nicht dadurch, daß der Antrag möglicherweise verfrüht gestellt sei, daran gehindert, sich in allgemeiner und grundsätzlicher Weise zu äußern.

Die schwedische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen ebenfalls darauf hingewiesen, daß weder ein Textentwurf des Abkommens noch ein Beschluß des Rates über die Aufnahme der Verhandlungen vorliege. Selbst wenn der Gerichtshof den Gutachtenantrag für statthaft erklären sollte, wäre ein weiterer Antrag nicht zu verhindern, sobald die rechtlichen und technischen Fragen im Laufe der Verhandlungen behandelt würden.

26.

Die Kommission, das Parlament sowie die belgische, die deutsche, die französische, die italienische und die portugiesische Regierung führen aus, daß der Gutachtenantrag statthaft sei, da er ein geplantes Abkommen im Sinne von Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages betreffe.

Die Kommission weist auf die Änderung des Artikels 228 hin. Die Bestimmung, die es erlaubt habe, ein vorheriges Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeit des geplanten Abkommens einzuholen, sei früher als Unterabsatz 2 Teil des Artikels 228 Absatz 1 EWG-Vertrag gewesen, dessen Unterabsatz 1 den Abschluß von Abkommen zwischen der Gemeinschaft und Drittstaaten oder einer internationalen Organisation betroffen habe. Der neue Text des Artikels 228 Absatz 6 EG-Vertrag spreche nur noch von einem geplanten Abkommen und vermeide jeden Hinweis auf ein vor dem Abschluß eines bestimmten Abkommens zu erstattendes Gutachten. Bereits in dem erwähnten Gutachten 1/78 habe der Gerichtshof eine weite Auslegung des Begriffes des geplanten Abkommens vorgenommen; diese Rechtsprechung könne angesichts des neuen Textes gefestigt werden. Wie beim Gutachtenantrag 1/78 werde der Gerichtshof mit einer Zuständigkeitsfrage befaßt, und es bestehe keine Gefahr, daß er im Laufe möglicher Verhandlungen erneut angerufen werden müsse.

Das Parlament betont, wie aus dem Gutachten 1/75 vom 11. November 1975 (Slg. 1975, 1355) hervorgehe, sei es das Ziel von Artikel 228, zu verhindern, daß die Vereinbarkeit völkerrechtlicher Abkommen mit dem Vertrag bestritten werde. Im vorliegenden Fall gehe es darum, die Vereinbarkeit der von der Konvention geschaffenen Rechtsordnung mit der Gemeinschaftsrechtsordnung zu prüfen. Die konkrete Rechtsfrage gehe dahin, ob die Unterwerfung des Gerichtshofes unter eine außerhalb der Gemeinschaftsrechtsordnung stehende Rechtsprechungsinstanz mit dem Rechtsprechungsmonopol des Gerichtshofes vereinbar sei. Der Gerichtshof habe im Gutachten 1/78 festgestellt, daß es im Interesse aller betroffenen Staaten, einschließlich der Drittstaaten, liege, daß eine Zuständigkeitsfrage bereits zu Beginn der Verhandlungen geklärt werde.

Auch die belgische Regierung nimmt Bezug auf den Präzedenzfall des Gutachtens 1/78 und auf den neuen Wortlaut des Artikels 228 Absatz 6 des Vertrages. Sie geht auf drei Punkte ein. Die Mitgliedstaaten seien der Auffassung gewesen, daß die Vereinbarkeit des Beitritts mit dem Gemeinschafts-recht feststehen müsse, bevor Verhandlungen aufgenommen würden. Der Gerichtshof habe bereits im Gutachten 1/78 und im Gutachten 1/92 vom 10. April 1992 (Slg. 1992, I-2821) festgestellt, daß einem Gutachtenantrag stattzugeben sei, falls der Gegenstand des geplanten Abkommens bekannt sei und der Antragsteller ein Interesse an der Antwort habe, auch wenn der Inhalt des geplanten Abkommens noch nicht in allen Einzelheiten festliege. Würde man verlangen, daß bei dem Organ, das den Gutachtenantrag stelle, jeder Zweifel an der Vereinbarkeit des geplanten Abkommens mit dem Gemeinschaftsrecht zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofes ausgeräumt sei, so verstieße dies gegen die praktische Wirksamkeit des Artikels 228 Absatz 6 des Vertrages.

Die deutsche Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen erklärt, der Antrag sei statthaft, da bei seiner Einreichung die Diskussion über den Beitritt soweit fortgeschritten gewesen sei, daß ein Gutachten erforderlich und gerechtfertigt gewesen sei. Die Konvention, der Gegenstand des Beitritts, sei ebenso bekannt wie die Anpassungen, die ein solcher Beitritt erfordere. Wie der Gerichtshof im Gutachten 1/78 festgestellt habe, liege es im Interesse aller Mitgliedstaaten, daß die Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaft für einen Beitritt zur Konvention vor Beginn der Verhandlungen geklärt sei.

Die französische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen eingeräumt, daß dem Gerichtshof kein Abkommensentwurf vorliege, daß hinsichtlich des Inhalts der Verhandlungen vieles ungewiß sei und daß gegenwärtig im Rat keine Einigkeit darüber herrsche, ob ein Beitritt angebracht sei. Der Gerichtshof müsse dem Gutachtenantrag jedoch stattgeben, da die rechtlichen Fragen der Vereinbarkeit des Beitritts mit dem Vertrag klar bestimmt seien und ihre Erheblichkeit nicht bestritten werden könne.

Die italienische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen auf Artikel 107 § 2 der Verfahrensordnung verwiesen, wonach der Gutachtenantrag die Vereinbarkeit des beabsichtigten Abkommens mit dem Vertrag oder die Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Abschluß dieses Abkommens betreffen könne. Erstrecke sich der Antrag wie im vorliegenden Fall auf die Zuständigkeit, sei es nicht erforderlich, daß ein bereits hinreichend bestimmter Abkommenstext vorliege. Selbst wenn man einräume, daß sich der Antrag außerdem auf die Vereinbarkeit des Beitritts mit den materiell-rechtlichen Vorschriften des Vertrages erstrecke, könne ihn der Gerichtshof nicht zurückweisen, da die Konvention, zu der der Beitritt erfolgen solle, vorliege und ihre allgemeinen Aspekte bekannt seien.

Die portugiesische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen ebenfalls betont, daß das Ergebnis der zu führenden Verhandlungen und der Inhalt der Konvention, der die Gemeinschaft beitreten wolle, bekannt seien.

Rechtsgrundlage des geplanten Beitritts

27.

Die österreichische Regierung erinnert zunächst an die Rechtsprechung zur Außenkompetenz der Gemeinschaft und führt sodann aus, daß die Achtung der Grundrechte Bestandteil der Ausübung sämtlicher Kompetenzen der Gemeinschaft sei. Die Gewährleistung der Rechte der Konvention würde auf der Kompetenzgrundlage erfolgen, die die Basis für die Tätigkeit der Gemeinschaftsorgane in dem jeweiligen Bereich wäre. Diese interne horizontale Anwendung der von der Konvention garantierten Rechte stelle zugleich die Grundlage der Außenkompetenz der Gemeinschaft für den Beitritt zur Konvention dar.

28.

Die Kommission, das Parlament sowie die belgische, die dänische, die deutsche, die griechische, die italienische, die finnische und die schwedische Regierung sowie, hilfsweise, die österreichische Regierung führen aus, daß wegen fehlender besonderer Bestimmungen Artikel 235 des Vertrages die Rechtsgrundlage für den Beitritt darstelle. Die Anwendungsvoraussetzungen des Artikels 235, nämlich das Erfordernis eines Tátigwerdens der Gemeinschaft, die Verwirklichung eines ihrer Ziele und der Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Markt, seien erfüllt.

Die Kommission bezieht sich auf ihr Arbeitsdokument vom 26. Oktober 1993, in dem sie die Achtung der Menschenrechte als Querschnittsziel bewertet habe, das integrierender Bestandteil der Ziele der Gemeinschaft sei.

Aus dem Urteil vom 8. April 1976 in der Rechtssache 43/75 (Defrenne, Slg. 1976, 455) gehe hervor, daß die Ziele im Sinne von Artikel 235 des Vertrages in der Präambel des Vertrages genannt sein könnten. Die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte nehme Bezug auf die Wahrung der Menschenrechte und auf die Konvention.

Auch das Parlament ist der Auffassung, daß der Schutz der Menschenrechte zu den Zielen der Gemeinschaft gehöre. Die Verankerung der Unionsbürgerschaft stelle ein neues rechtliches Element zugunsten dieser These dar. Nach Artikel Β dritter Gedankenstrich des Vertrages über die Europäische Union in Verbindung mit Artikel 8 EG-Vertrag sei es nämlich Sache der Gemeinschaft, dem Unionsbürger einen Schutz seiner Grundrechte zu sichern, der demjenigen gleichwertig sei, den er als Staatsbürger gegenüber staatlichem Handeln genieße. Das Parlament unterstreicht die Notwendigkeit, die Gemeinschaft, einschließlich des Gerichtshofes, einer internationalen Rechtskontrolle zu unterwerfen, die mit derjenigen übereinstimme, der die Mitgliedstaaten und ihre obersten Gerichte unterlägen. Nach Auffassung des Parlaments muß die Wahl von Artikel 235 des Vertrages durch die Angabe von Artikel 228 Absatz 3 Unterabsatz 2 des Vertrages ergänzt werden, wonach für den Abschluß bestimmter völkerrechtlicher Verträge die Zustimmung des Parlaments erforderlich sei. Das Erfordernis einer solchen Zustimmung erkläre sich aus der Ratio legis dieser Bestimmung, da es darum gehe, zu verhindern, daß das Parlament in seiner Funktion als Mitgesetzgeber über einen völkerrechtlichen Vertrag gezwungen werde, aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen der Gemeinschaft einen im Mitentscheidungsverfahren angenommenen Rechtsakt zu ändern.

Die belgische, die deutsche, die griechische, die italienische, die österreichische, die finnische und die schwedische Regierung unterstreichen, daß der Schutz der Menschenrechte ein allgemeiner horizontaler Grundsatz sei, der für die Gemeinschaft bei der Ausübung ihrer gesamten Tätigkeit gelte, und daß dieser Schutz für das gute Funktionieren des Gemeinsamen Marktes wesentlich sei.

Nach Auffassung dieser Regierungen hat der Gerichtshof diesen Schutz durch die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts verwirklicht, wobei er sich von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und internationalen Verträgen, insbesondere der Konvention, habe leiten lassen. Die Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte, die Präambel des Vertrages über die Europäische Union sowie Artikel F Absatz 2, J.1 und K.2 dieses Vertrages verankerten die Achtung der Menschenrechte und in diesem Rahmen die Rolle der Konvention.

Die griechische Regierung zieht außerdem Artikel 130u Absatz 2 EG-Vertrag heran, der das Ziel der Wahrung der Menschenrechte bei der Entwicklungszusammenarbeit erwähne.

Die österreichische Regierung legt dar, daß zur Bestimmung der Ziele der Gemeinschaft auch die Präambel des Vertrages heranzuziehen sei, die sich auf die Wahrung von Frieden und Freiheit beziehe; dieses Ziel umfasse die von der Konvention verbürgten Rechte.

Die finnische Regierung ist der Meinung, daß der Schutz der Menschenrechte beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Gemeinschaft ein wirkliches Ziel der Gemeinschaft darstelle.

Nach Auffassung aller genannten Regierungen sind der Beitritt zur Konvention und die externe gerichtliche Kontrolle erforderlich, um die einzelnen vor Verstößen der Gemeinschaftsorgane gegen die Konvention zu schützen.

Die belgische Regierung betont die Notwendigkeit, Auslegungsunterschiede zwischen der Gemeinschaftsrechtsprechung und der Rechtsprechung der Organe der Konvention zu vermeiden. Sie weist darauf hin, daß das Rechtsbehelfssystem des Gemeinschaftsrechts, das die Nichtigkeitsklage eines einzelnen gegen einen Rechtsakt, der ihn nicht unmittelbar und individuell betreffe, ausschließe, weniger Schutz biete als das der Konvention.

Die italienische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen darauf hingewiesen, daß sich alle Mitgliedstaaten, was ihre Zuständigkeit betreffe, freiwillig den völkerrechtlichen Kontrollmechanismen des Menschenrechtsschutzes unterworfen hätten. Die Übertragung staatlicher Befugnisse auf die Gemeinschaft erfordere im Hinblick auf die Wiederherstellung des von den Mitgliedstaaten ursprünglich gewollten Gleichgewichts die Unterwerfung der Gemeinschaft unter diesselbe völkerrechtliche Kontrolle.

Die österreichische Regierung verweist auf die Notwendigkeit einer einheidichen Auslegung der Konvention, auf die mit dem Vertrag über die Europäische Union angestrebte schrittweise weitere Integration, bei der dem Schutz der Menschenrechte eine besondere Bedeutung zukomme, und auf die Streitsachen des öffentlichen Dienstes der Gemeinschaft.

Die finnische Regierung führt aus, daß der Beitritt im Hinblick auf die Stärkung des sozialen Aspekts des Vertrages erforderlich sei. Die neuen Kompetenzgrundlagen in der Einheitlichen Europäischen Akte und die Verankerung des Subsidiaritätsprinzips hätten jedoch den Anwendungsbereich des Artikels 235 des Vertrages eingeschränkt. Der Rückgriff auf diese Bestimmung hänge von Struktur und Inhalt des Beitrittsabkommens ab.

29.

Die spanische, die französische, die irische und die portugiesische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs führen aus, daß weder der EG-Vertrag noch der Vertrag über die Europäische Union eine Bestimmung enthielten, die der Gemeinschaft besondere Zuständigkeiten auf dem Gebiet der Menschenrechte verliehen, die als Rechtsgrundlage für den geplanten Beitritt dienen könnten. Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union verwirkliche nur eine verfassungsmäßige Verankerung des durch die Rechtsprechung auf dem Gebiet des Schutzes der Menschenrechte entwickelten Besitzstandes und sehe diesen Schutz im übrigen nur über die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts vor.

Die französische und die portugiesische Regierung fügen hinzu, daß Artikel J.1 Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union, der die Gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik betreffe, wie auch Artikel K.2 Absatz 1 dieses Vertrages über die Bereiche Justiz und Inneres, für die der Gerichtshof im übrigen nicht zuständig sei, nur Programmcharakter hätten und der Gemeinschaft keine besonderen Befugnisse verliehen. Die französische Regierung schließt außerdem Artikel 130u EG-Vertrag aus.

Die spanische, die französische, die irische und die portugiesische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sprechen sich zudem gegen eine mögliche Anwendung des Artikels 235 des Vertrages aus. Die Achtung der Menschenrechte zähle nämlich nicht zu den Zielen der Gemeinschaft, die in den Artikeln 2 und 3 des Vertrages aufgezählt seien. Die Regierung des Vereinigten Königreichs fügt hinzu, daß auch ein Hinweis auf Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union den Rückgriff auf Artikel 235 nicht rechtfertigen könne.

Die genannten Regierungen bestreiten, daß ein Rechtsvakuum oder ein Defizit beim Schutz der Menschenrechte den geplanten Beitritt gebiete. Der Gerichtshof habe eine materielle Übernahme der Konvention in die Gemeinschaftsrechtsordnung und ihre vollständige Eingliederung in den gemeinschaftlichen Normenkomplex vorgenommen. Die französische Regierung stellt eine Liste der in der Konvention verankerten Grundrechte auf, deren Achtung der Gerichtshof gewährleiste.

Die portugiesische Regierung fügt hinzu, daß die Gefahr einer unterschiedlichen Auslegung der Bestimmungen der Konvention durch den Gerichtshof und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nur theoretisch sei und sich durch die besonderen Ziele der wirtschaftlichen und politischen Integration der Gemeinschaft erklären lasse. Es gebe die Möglichkeit eines Vorabentscheidungsersuchens des Gerichtshofes an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über die Auslegung der Konvention.

Nach Auffassung der Regierungen umfaßt das Gemeinschaftsrecht ein vollständiges Rechtsbehelfssystem zugunsten des einzelnen. Im Rahmen des Gemeinsamen Marktes sei ein Beitritt nicht geboten.

30.

Die dänische Regierung bezieht eine differenzierte Position. Zwar gebe es eine Lücke im Schutz der Menschenrechte hinsichtlich des öffentlichen Dienstes der Gemeinschaft, doch sei diese Lücke nicht materiell-rechtlicher, sondern prozeßrechtlicher Natur. Die Beachtung der Konvention durch eine Art Selbstbeschränkung, die sich der Gerichtshof auferlege, unterscheide sich von der Beachtung aufgrund einer völkerrechtlichen Verpflichtung, auch wenn nur ein theoretischer Unterschied bestehe. Der Vorteil eines Beitritts wäre im wesentlichen politischer Natur, da dieser die Bedeutung unterstriche, die der Achtung der Menschenrechte beigemessen werde. Ein Beitritt würde es der Gemeinschaft außerdem erlauben, sich selbst zu verteidigen, wenn das Gemeinschaftsrecht vor den Organen der Konvention in Frage gestellt würde. In Rechtsstreitigkeiten gehe es im allgemeinen um eine Kombination von gemeinschaftsrechtlichen und nationalen Vorschriften, wobei grundsätzlich die nationalen Vorschriften angefochten würden; in dieser Situation könnten die Organe, insbesondere die Kommission, die nationale Regierung vor den Organen der Konvention unterstützen.

Diesem politischen Vorteil stellt die dänische Regierung praktische und rechtliche Probleme gegenüber. Gegenwärtig sei der Beitritt nur Staaten möglich; die Stellung anderer Vertragsparteien sei ungewiß. Ein Beitritt der Gemeinschaft hätte Probleme auf der Ebene der den Mitgliedstaaten gewährten Ausnahmen und der von ihnen formulierten Vorbehalte zur Folge. Ein Beitritt würde sich wahrscheinlich nicht auf die gesamte Konvention erstrecken; es müßte ein Mechanismus zur Ermittlung der Stelle, die für den Verstoß gegen die Konvention verantwortlich sei, geschaffen werden, wobei davon auszugehen sei, daß der angefochtene Rechtsakt a priori ein nationaler sei. Außerdem stelle sich die Frage nach der Vertretung der Gemeinschaft in den Kontrollorganen der Konvention, insbesondere im künftigen einzigen Gerichtshof. Im Hinblick auf das Gewicht dieser Probleme schlägt die dänische Regierung den Abschluß eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft und den Vertragsparteien der Konvention vor, das es dem Gerichtshof erlaube, den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte bei Fragen in bezug auf die Menschenrechte um eine Vorabentscheidung zu ersuchen, und das den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ermächtige, den Gerichtshof um eine Vorabentscheidung über das Gemeinschafts-recht zu ersuchen.

VI — Vereinbarkeit des Beitritts mit den Artikeln 164 und 219 des Vertrages

31.

Die Kommission und das Parlament sowie die belgische, die dänische, die deutsche, die griechische, die italienische, die österreichische, die finnische und die schwedische Regierung führen aus, daß der geplante Beitritt, insbesondere die Unterwerfung der Gemeinschaft unter das Rechtsprechungssystem der Konvention, nicht gegen die Artikel 164 und 219 des Vertrages verstoße.

Die Kommission bemerkt, anders als es beim Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum der Fall gewesen sei, stimmten die Ziele der Konvention und des Vertrages auf dem Gebiet der Menschenrechte überein. Die Konvention schaffe einen klassischen völkerrechtlichen Kontrollmechanismus, und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hätten in der innerstaatlichen Rechtsordnung keine unmittelbare Wirkung. Zwar enthalte die Konvention die Besonderheit der Individualbeschwerde. Es handele sich jedoch nur um eine Kontrollmodalität neben der den Vertragsparteien zustehenden Beschwerde; es wäre außerdem widersprüchlich, wenn dieser Kontrollmechanismus akzeptiert und die Beschwerde eines einzelnen abgelehnt würde. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte würde sich nicht zur Frage der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten äußern, da diese Frage allein durch die Gemeinschaftsrechtsordnung geregelt werde. Somit müßte die Möglichkeit eines Rechtsstreits zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ausgeschlossen werden.

Man könne auch nicht behaupten, daß der Kontrollmechanismus der Konvention dadurch, daß er sich auf sämtliche Gemeinschaftsbefugnisse erstrecke, die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage stelle. Die Konvention schreibe nämlich nur Mindeststandards vor. Der Kontrollmechanismus hätte keine unmittelbare Wirkung in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Schließlich könnte dieser Mechanismus, da er nicht als mit den Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten unvereinbar angesehen worden sei, kaum als mit den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts unvereinbar betrachtet werden.

Das Parlament erwähnt das Gutachten 1/91, in dem der Gerichtshof die Möglichkeit für die Gemeinschaft anerkannt habe, sich den Entscheidungen einer internationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Die Unterwerfung der Gemeinschaft unter eine für Menschenrechte zuständige Gerichtsbarkeit entspräche der Entwicklung des Gemeinschaftssystems, das nicht mehr auf den Wirtschaftsteilnehmer, sondern auf den Unionsbürger abstelle. Eine externe Kontrolle auf dem Gebiet der Menschenrechte würde die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht stärker beeinträchtigen, als sie die der Mitgliedstaaten beeinträchtigt habe. Das Parlament verweist auf seine erwähnte Entschließung vom 18. Januar 1994, in der es auf die Bedeutung der Möglichkeit hingewiesen habe, sich direkt an eine internationale Gerichtsinstanz zu wenden, um die Vereinbarkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts mit den Menschenrechten prüfen zu lassen, und in der es aufgezeigt habe, daß der geplante Beitritt nicht geeignet sei, die Zuständigkeit des Gerichtshofes in Fragen des Gemeinschaftsrechts zu beeinträchtigen.

Nach Auffassung der belgischen Regierung hat der Gerichtshof zu entscheiden, ob die in die Gemeinschaftsrechtsordnung aufgenommenen Grundrechte, wenn sie der Konvention entnommen seien, zu Gemeinschaftsrecht würden oder ihre besondere Natur behielten. Je nach der Antwort darauf habe der geplante Beitritt Einfluß auf die Autonomie des Gemeinschaftsrechts oder nicht.

Erstens besäßen die Rechte und Freiheiten der Konvention innerhalb der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts einen eigenen Status. Die Konvention schaffe nämlich nur einen Mindestschutz und beeinträchtige nicht die Weiterentwicklung dieses Schutzes anhand der anderen vom Gerichtshof anerkannten Quellen, nämlich des eigentlichen Gemeinschaftsrechts und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen. Nehme der Gerichtshof auf die Konvention Bezug, so berücksichtige er die von den Organen der Konvention vorgenommene Auslegung und unterstreiche somit den besonderen Platz der von der Konvention garantierten Rechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung. Insoweit sei die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung im Sinne der Gutachten 1/91 und 1/92 bereits jetzt nur relativ.

Zweitens wahre der geplante Beitritt die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung. Gemäß der durch Artikel 62 der Konvention eröffneten Möglichkeit wäre jeder Rechtsstreit zwischen der Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten ausgeschlossen, wodurch Artikel 219 des Vertrages eingehalten würde. Um jeden äußeren Einfluß auf die Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten zu vermeiden, könnten diese Staaten im Fall einer Individualbeschwerde dazu Stellung nehmen, wer für den behaupteten Verstoß verantwortlich sei; der einzuführende Mechanismus wäre durch die Anlage IX zum Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1982 inspiriert.

Drittens sei eine absolute Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung auf dem Gebiet der von der Konvention garantierten Rechte und Freiheiten nicht wünschenswert. Die Gefahr sei nämlich nicht auszuschließen, daß die Organe der Konvention ihre Befugnis zur Entscheidung über die Vereinbarkeit wenn nicht von Gemeinschaftsrechtsakten, so doch von nationalen Durchführungsmaßnahmen bejahten, falls der Schutz der Menschenrechte in der Gemeinschaftsordnung hinter dem der Konvention zurückbliebe.

Auch wenn der Gerichtshof die aus den Gutachten 1/91 und 1/92 abgeleiteten Kriterien in bezug auf die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung für anwendbar halten sollte, könnte der geplante Beitritt verwirklicht werden.

Die belgische Regierung weist insoweit darauf hin, daß es keine personelle oder funktionelle Verknüpfung zwischen dem Gerichtshof und den Organen der Konvention gäbe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte könnte nur die betreffende Partei verpflichten, seinen Urteilen nachzukommen, ohne den angefochtenen nationalen Rechtsakt aufheben oder für ungültig erklären zu können. Hinsichtlich der Wirkungen der Urteile dieses Gerichtshofs seien zwei Fälle zu unterscheiden. Sei die Bestimmung der Konvention hinreichend genau und vollständig, so werde ihre Einhaltung durch die bloße Anerkennung ihrer unmittelbaren Geltung verwirklicht. Gelte die verletzte Bestimmung nicht unmittelbar, so müsse der Staat die geeigneten Maßnahmen ergreifen, um den Verstoß zu beseitigen. In keinem Fall werde die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung in Frage gestellt.

Nach Auffassung der dänischen, der deutschen, der griechischen, der italienischen, der österreichischen und der finnischen Regierung hat der Gerichtshof im Gutachten 1/91 eingeräumt, daß sich die Gemeinschaft einer durch ein internationales Abkommen geschaffenen Gerichtsbarkeit für die Auslegung und Anwendung dieses Abkommens unterwerfen könne, sofern die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung nicht beeinträchtigt werde. Hierzu habe der Gerichtshof insbesondere die Notwendigkeit hervorgehoben, die Unabhängigkeit der Gemeinschaftsgerichte und das Monopol des Gerichtshofes für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu wahren.

Die dänische Regierung betont, daß beim Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum die Schwierigkeit in der Übereinstimmung dieses Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht bestanden habe. Im vorliegenden Fall wäre die Berücksichtigung der Rechtsprechung der Organe der Konvention durch die Gemeinschaftsorgane, einschließlich des Gerichtshofes, auf den Aspekt der Menschenrechte beschränkt. Ohne die Frage abschließend behandeln zu wollen, unterstreicht die dänische Regierung, daß ein Einfluß der Rechtsprechung nach der Konvention auf die des Gerichtshofes bereits heute bestehe, was für die Vereinbarkeit eines Beitritts mit dem Vertrag spreche.

Die deutsche Regierung führt ebenfalls aus, daß die Frage der Zuständigkeitsverteilung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten Sache des Gerichtshofes bliebe, da der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht über das interne Recht der Vertragsparteien entschiede. Der Gerichtshof gewährleiste die Grundrechte durch eine gleichzeitige Anknüpfung an die Verfassungstradition der Mitgliedstaaten und an die Konvention und gelange zu einem Schutzniveau, das über dem Standard der Konvention liege. Man könne daher nicht behaupten, daß die Autonomie des Gemeinschaftsrechts dadurch in Frage gestellt würde, daß gleiche Bestimmungen wegen ihrer unterschiedlichen Zielsetzungen unterschiedlich ausgelegt würden. Die einzige Verpflichtung, die die Konvention der Gemeinschaft auferlegen würde, nämlich die Einhaltung eines Mindeststandards, halte sich in dem durch das Gutachten 1/91 festgelegten Rahmen. Die deutsche Regierung meint außerdem, daß es keine personelle Verknüpfung zwischen den beiden Gerichten geben sollte.

Die griechische Regierung ist der Ansicht, daß sich ein möglicher Eingriff des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in die Gemeinschaftsrechtsordnung auf die Auslegung der von der Konvention garantierten Rechte beschränken würde. Die Beachtung der Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung verbiete nicht jeden Eingriff von außen, sondern erfordere die Wahrung der wesentlichen Grundsätze und des institutionellen Gleichgewichts des Gemeinschaftsrechts. Die Berücksichtigung der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte müßte durch die Beteiligung eines Richters aus der Gemeinschaft, der nicht zugleich Richter am Gerichtshof wäre, sichergestellt werden.

Die italienische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen dargelegt, daß das Beitrittsabkommen die Kriterien erfüllen müsse, die der Gerichtshof in den Gutachten 1/91 und 1/92 hinsichtlich der Wahrung der Gemeinschaftsrechtsordnung entwickelt habe. Zu beachten sei, daß die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den internen Rechtsordnungen keine unmittelbare Wirkung hätten und daß sie nicht bewirken könnten, daß interne Handlungen für rechtswidrig erldärt würden.

Die österreichische Regierung betont den Unterschied zum Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum. Der Beitritt würde keinen Normenkomplex von bereits im wesentlichen in der Gemeinschaftsrechtsordnung vorhandenen Bestimmungen schaffen, der in diese Ordnung eingefügt werden müßte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wäre nicht befugt, über Fragen des Gemeinschaftsrechts zu entscheiden, das insoweit dem Recht der Vertragsparteien der Konvention angeglichen würde.

Die schwedische Regierung ist der Auffassung, daß eine Unvereinbarkeit des Beitritts mit den Artikeln 164 und 219 des Vertrages nur vorliegen könne, falls die Gefahr bestehe, daß der bindende Charakter der Entscheidungen des Gerichtshofes verletzt und damit die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung beeinträchtigt werden könnte. Um diese Gefahr zu vermeiden, könne man durch ein Sonderabkommen Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der Gemeinschaft von der Regelung der Konvention über Rechtsstreitigkeiten ausnehmen. Außerdem sei an den Mechanismus eines Vorabentscheidungsersuchens des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an den Gerichtshof zu Fragen des Gemeinschaftsrechts zu denken.

Die finnische Regierung schließt nicht aus, daß der geplante Beitritt und die Unterordnung der Gemeinschaftsorgane unter die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Auswirkungen auf die Auslegung von Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts, soweit sie die Menschenrechte berührten, durch den Gerichtshof haben könnte. Bei Anwendung der vom Gerichtshof im Gutachten 1/91 entwickelten Grundsätze ergebe sich jedoch, daß die Menschenrechte, geschützt über die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, nicht zum wirtschaftlichen und kommerziellen Kern dieses Rechts gehörten und daß der Beitritt dessen Autonomie nicht beeinträchtige.

32.

Die spanische, die französische, die irische und die portugiesische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs führen aus, daß ein Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention mit dem Vertrag, insbesondere mit den Artikeln 164 und 219, unvereinbar sei. Unter Berufung auf die Gutachten 1/91 und 1/92 betonen sie, daß der geplante Beitritt die Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung und das Rechtsprechungsmonopol des Gerichtshofes in Frage stelle.

Die spanische Regierung nennt in diesem Zusammenhang die Artikel 24 und 25 der Konvention über die zwischenstaatliche und die Individualbeschwerde, Artikel 45, der dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Befugnis verleihe, über die Auslegung und Anwendung der Konvention zu entscheiden, die Artikel 32 und 46, die den Entscheidungen der Organe der Konvention bindenden Charakter verliehen, Artikel 52 über die Endgültigkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Artikel 53, der die Vertragsparteien verpflichte, sich nach den Urteilen zu richten, und Artikel 54, der dem Ministerausschuß die Funktion der Überwachung der Durchführung der Urteile zuweise. Artikel 62 der Konvention, der jeden Streit zwischen den Vertragsparteien um die Auslegung oder Anwendung der Konvention den in ihr vorgesehenen Verfahren unterwerfe, sei mit Artikel 219 des Vertrages unvereinbar; ein Vorbehalt oder eine besondere Schiedsklausel müsse vorgesehen werden, um Streitigkeiten zwischen den Mitgliedstaaten oder zwischen ihnen und der Gemeinschaft auszuschließen. Im Gegensatz zu den in den Gutachten 1/91 und 1/92 festgelegten Kriterien würden sich die Kontrollorgane der Konvention nicht darauf beschränken, die Konvention auszulegen, sondern würden die Rechtmäßigkeit des Gemeinschaftsrechts im Hinblick auf die Konvention prüfen, was die Rechtsprechung des Gerichtshofes beeinträchtigen würde.

Die französische Regierung legt dar, daß die Gemeinschaftsrechtsordnung über eine autonome spezifische Gerichtsverfassung verfüge. Außerhalb der dem Gerichtshof als allgemeiner Grundsatz zugewiesenen Wahrung des Rechts sei kein Rechtsbehelf geschaffen worden oder könne zur Zeit geschaffen werden, um über Menschenrechtsfragen zu entscheiden.

Die französische Regierung behandelt außerdem das Problem der vorherigen Erschöpfung der internen Rechtsmittelverfahren. In der Gemeinschaftsrechtsordnung seien die dem einzelnen zugänglichen Rechtsbehelfe beschränkt, und der Gerichtshof werde in der Mehrzahl der Fälle über die Vorabentscheidungsvorlage angerufen. Man müsse sich fragen, ob die Organe der Konvention nicht versuchen würden, die Gemeinschaft zu zwingen, den Zugang zum Vorabentscheidungsverfahren zu erweitern, oder ob sie sich im Gegenteil nicht vielleicht weigern könnten, dieses Verfahren zu berücksichtigen, wenn es um die Beurteilung der Frage gehe, ob die Voraussetzung der Erschöpfung der internen Rechtsmittelverfahren erfüllt sei. Es wäre somit einfacher, Artikel 173 Absatz 2 des Vertrages zu ändern, um es dem einzelnen zu erlauben, Gemeinschaftsrechtsakte anzufechten, die seine Grundrechte beeinträchtigten.

Es bestehe die Gefahr, daß mit dem Gemeinschaftsrecht zusammenhängende Rechtsstreitigkeiten den Organen der Konvention unterbreitet werden könnten, die aus Angehörigen von Mitgliedstaaten des Europarats, aber nicht der Gemeinschaft zusammengesetzt wären. Außerdem würde eine Beteiligung von Richtern der Gemeinschaft an den Kontrollorganen der Konvention Schwierigkeiten aufwerfen. Unter diesen Umständen könnte ein Beitritt erst nach einer Änderung des Vertrages, einschließlich des Protokolls über die Satzung des Gerichtshofes, bewerkstelligt werden.

Die irische Regierung hat in ihren mündlichen Ausführungen darauf hingewiesen, daß der Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofes, gemäß den Artikeln 164 und 219 des Vertrages über sämtliche Streitigkeiten in bezug auf die Anwendung und Auslegung des Vertrages zu entscheiden, in Frage stelle.

Die portugiesische Regierung hebt zudem hervor, daß die Kontrollorgane der Konvention befugt seien, Bestimmungen mit horizontaler Wirkung anzuwenden und auszulegen; diese Befugnis würde sich unausweichlich mit der Anwendung und der Auslegung des Gemeinschaftsrechts überlagern. Zwar würde es Artikel 62 der Konvention erlauben, die in Artikel 24 der Konvention vorgesehene zwischenstaatliche Beschwerde auszuschließen, um Artikel 219 des Vertrages einzuhalten. Die Ratio legis dieses Artikels sei jedoch nicht auf den Fall eines Rechtsstreits zwischen Mitgliedstaaten beschränkt, sondern bedeute, daß vermieden werden müsse, daß durch eine andere Art der gerichtlichen Entscheidung von Konflikten als die durch den Gerichtshof in die Auslegung und der Anwendung des Vertrages eingegriffen werde. Es würde nämlich dazu kommen, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte das Gemeinschaftsrecht auslegen und Entscheidungen über die Zuständigkeit der Gemeinschaft treffen würde. Ein Mechanismus, der es der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten erlaubte, die Zuständigkeitsfragen zu lösen, wäre schwer zu handhaben. Um festzustellen, ob die internen Rechtsmittelverfahren erschöpft seien, könnte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sogar über die Zuständigkeit des Gerichtshofes urteilen; so könnte es dazu kommen, daß er darüber entschiede, ob der einzelne eine Nichtigkeitsklage gegen den Gemeinschaftsrechtsakt hätte erheben können, weil dieser ihn unmittelbar und individuell betreffe.

Die spanische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs verweisen außerdem auf die Rechtsfolgen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des künftigen einzigen Gerichtshofes. Sie unterstreichen insbesondere, daß dieser Gerichtshof befugt sei, der geschädigten Partei eine gerechte Entschädigung zu gewähren, die die Form eines finanziellen Schadensersatzes annehmen könne. Im Fall des Beitritts würde der Gerichtshof im Anwendungsbereich der Konvention auf die oberste Autorität für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts verzichten. Im Gegensatz zu den im Gutachten 1/91 vorgesehenen Kriterien würde sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nicht darauf beschränken, ein internationales Abkommen auszulegen und anzuwenden. Er würde sich in die Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts einmischen und wäre veranlaßt, über die Befugnisse der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten zu entscheiden.

33.

Die niederländische Regierung beschränkt sich — ohne eindeutige Stellungnahme — auf einen Hinweis auf die Probleme, die geprüft werden müßten, bevor eine Entscheidung über die Zweckmäßigkeit eines Beitritts getroffen werde. Sie erwähnt insbesondere die Frage der Vereinbarkeit der Beziehungen zwischen dem Gerichtshof und den Organen der Konvention mit Artikel 164 des Vertrages, die Frage der Situation der Mitgliedstaaten als Vertragsparteien der Konvention und als Mitglieder der Gemeinschaft im Hinblick auf die Erfüllung ihrer Verpflichtungen aus den Gemeinschaftsverträgen und aus der Konvention, und das Problem der Feststellung der Verantwortlichkeiten der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten in bezug auf die Einhaltung der Konvention.

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GUTACHTEN DES GERICHTSHOFES

Zur Statthaftigkeit des Gutachtenantrags

1

Die irische Regierung und die Regierung des Vereinigten Königreichs wie auch die dänische und die schwedische Regierung halten den Gutachtenantrag für nicht statthaft oder zumindest für verfrüht. Es liege kein Abkommen vor, dessen Inhalt so hinreichend bestimmt sei, daß der Gerichtshof die Vereinbarkeit des Beitritts mit dem Vertrag prüfen könne. Von einem geplanten Abkommen könne nicht gesprochen werden, solange der Rat noch nicht einmal einen Grundsatzbeschluß über die Aufnahme von Verhandlungen über das Abkommen gefaßt habe.

2

Nach Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages kann der Rat, die Kommission oder ein Mitgliedstaat ein Gutachten des Gerichtshofes über die Vereinbarkeit eines geplanten Abkommens mit dem Vertrag einholen.

3

Diese Bestimmung soll, wie der Gerichtshof zuletzt im Gutachten 3/94 vom 13. Dezember 1995 (noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 16) festgestellt hat, Verwicklungen vermeiden, die entstehen könnten, wenn die Vereinbarkeit von völkerrechtlichen Abkommen, die die Gemeinschaft verpflichten, mit dem Vertrag vor einem Gericht bestritten werden sollte.

4

Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Gutachten 3/94 (Randnr. 17) ausgeführt, daß eine gerichtliche Entscheidung, die ein Abkommen wegen seines Inhalts oder der Form seines Zustandekommens für mit dem Vertrag unvereinbar erklären würde, nicht nur auf Gemeinschaftsebene, sondern auch auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen zu ernsten Schwierigkeiten führen müßte und möglicherweise für alle betroffenen Parteien, auch für die Drittstaaten, Nachteile mit sich brächte.

5

Zur Vermeidung derartiger Verwicklungen sieht der Vertrag das außerordentliche Verfahren einer vorherigen Anrufung des Gerichtshofes vor, damit vor Abschluß des Abkommens dessen Vereinbarkeit mit dem Vertrag geklärt werden kann.

6

Es handelt sich dabei um ein besonderes Verfahren des Zusammenwirkens zwischen dem Gerichtshof auf der einen sowie den weiteren Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten auf der anderen Seite, in dem der Gerichtshof gemäß Artikel 164 des Vertrages die Aufgabe hat, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages vor Abschluß eines Abkommens zu sichern, das zur Anfechtung der Rechtmäßigkeit einer zum Abschluß, zur Durchführung oder zur Anwendung dieses Abkommens erlassenen Gemeinschaftshandlung führen kann.

7

Zur Frage, ob ein Abkommensentwurf existiert, ist darauf hinzuweisen, daß die Verhandlungen im vorliegenden Fall zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofes wie auch zu dem der Abgabe dieses Gutachtens noch nicht aufgenommen sind und daß der genaue Inhalt des Abkommens, mit dem die Gemeinschaft der Konvention beitreten möchte, nicht feststeht.

8

Inwieweit diese fehlende Bestimmtheit des Inhalts des Abkommens die Statthaftigkeit des Antrags berührt, hängt vom Gegenstand des Antrags ab.

9

Wie aus den von den Regierungen der Mitgliedstaaten und von den Gemeinschaftsorganen abgegebenen Erklärungen hervorgeht, wirft ein Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zwei grundsätzliche Probleme auf: zum einen das der Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Abschluß eines solchen Abkommens und zum anderen das seiner Vereinbarkeit mit den Bestimmungen des Vertrages, insbesondere den Bestimmungen über die Befugnisse des Gerichtshofes.

10

Zur Frage der Zuständigkeit hat der Gerichtshof im Gutachten 1/78 vom 4. Oktober 1979 (Slg. 1979, 2871, Randnr. 35) entschieden, daß diese im Interesse der Gemeinschaftsorgane und der betroffenen Staaten, einschließlich der Drittländer, zu klären ist, -wenn mit den Verhandlungen begonnen, jedenfalls aber bevor über die wesentlichen Punkte des Abkommens verhandelt wird.

11

Insoweit hat der Gerichtshof in diesem Gutachten lediglich gefordert, daß der Gegenstand des geplanten Abkommens vor Eröffnung der Verhandlungen bekannt sein muß.

12

Zweifellos ist im vorliegenden Verfahren der Gegenstand des geplanten Abkommens bekannt. Denn unabhängig von den Bedingungen eines Beitritts der Gemeinschaft zur Konvention sind der allgemeine Gegenstand dieser Konvention, ihr Regelungsbereich und die institutionelle Tragweite eines solchen Beitritts für die Gemeinschaft genau bekannt.

13

Die Statthaftigkeit des Gutachtenantrags kann nicht mit der Begründung bestritten werden, daß der Rat noch keinen Beschluß über die Aufnahme der Verhandlungen gefaßt habe und somit ein Abkommen im Sinne des Artikels 228 Absatz 6 des Vertrages nicht geplant sei.

14

Auch wenn ein solcher Beschluß nicht gefaßt worden ist, war doch der Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention Gegenstand verschiedener Untersuchungen und Vorschläge der Kommission; auch stand er zum Zeitpunkt der Anrufung des Gerichtshofes auf der Tagesordnung des Rates. Die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages durch den Rat zeigt im übrigen, daß dieser die Möglichkeit von Verhandlungen über ein solches Abkommen und dessen Abschluß in Aussicht genommen hat. Dem Gutachtenantrag liegt damit das berechtigte Anliegen des Rates zugrunde, vor einer Beschlußfassung über die Aufnahme von Verhandlungen Klarheit über den Umfang seiner Befugnisse zu erlangen.

15

Zudem ist die Tragweite des Gutachtenantrags, soweit er die Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaft betrifft, hinreichend deutlich; ein förmlicher Beschluß des Rates über die Aufnahme von Verhandlungen war nicht unerläßlich, um diesen Gegenstand genauer festzulegen.

16

Schließlich erfordert es die praktische Wirksamkeit des Verfahrens nach Artikel 228 Absatz 6 des Vertrages, daß der Gerichtshof zur Frage der Zuständigkeit nicht erst zu Beginn von Verhandlungen angerufen werden kann (Gutachten 1/78, Randnr. 35), sondern auch schon bevor solche formell eröffnet worden sind.

17

Da sich unter diesen Umständen auf der Ebene des Rates vorab die Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaft für einen Beitritt stellt, liegt es im Interesse der Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und der übrigen Vertragsstaaten der Konvention, vor der Aufnahme von Verhandlungen Gewißheit über diese Frage zu haben.

18

Aus alledem folgt, daß der Gutachtenantrag statthaft ist, soweit er sich auf die Zuständigkeit der Gemeinschaft zum Abschluß eines Abkommens der geplanten Art bezieht.

19

Dies gilt jedoch nicht für die Frage der Vereinbarkeit des Abkommens mit dem Vertrag.

20

Der Gerichtshof kann nämlich die Frage nach der Vereinbarkeit des Beitritts der Gemeinschaft zur Konvention mit den Vorschriften des Vertrages, insbesondere mit den Artikeln 164 und 219 über die Befugnisse des Gerichtshofes, fundiert nur beantworten, wenn ihm in hinreichendem Umfang die Bedingungen bekannt sind, zu denen sich die Gemeinschaft den gegenwärtigen und künftigen gerichtlichen Kontrollmechanismen der Konvention zu unterwerfen beabsichtigt.

21

Vor dem Gerichtshof sind jedoch die Regelungen nicht konkretisiert worden, nach denen sich die Gemeinschaft einer internationalen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen beabsichtigt.

22

Folglich sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, ein Gutachten über die Vereinbarkeit des Beitritts zu der Konvention mit den Vorschriften des Vertrages abzugeben.

Zur Zuständigkeit der Gemeinschaft für einen Beitritt zur Konvention

23

Nach Artikel 3 b des Vertrages wird die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr in diesem Vertrag zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tätig; sie verfügt demnach nur über begrenzte Ermächtigungen.

24

Dieser Grundsatz der begrenzten Ermächtigung gilt sowohl für internes als auch für völkerrechtliches Gemeinschaftshandeln.

25

Die Gemeinschaft handelt im Regelfall aufgrund spezifischer Befugnisse, die, wie der Gerichtshof entschieden hat, sich nicht notwendig ausdrücklich aus spezifischen Bestimmungen des Vertrages ergeben müssen, sondern auch implizit aus ihnen abgeleitet werden können.

26

Im Bereich der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft, um die es im vorliegenden Gutachtenantrag geht, kann sich demgemäß nach ständiger Rechtsprechung die Zuständigkeit der Gemeinschaft zur Eingehung völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht nur aus ausdrücklichen Vertragsbestimmungen ergeben, sondern auch implizit aus diesen Bestimmungen folgen. Der Gerichtshof hat insbesondere festgestellt, daß die Gemeinschaft immer dann, wenn das Gemeinschaftsrecht ihren Organen im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel im Inneren eine Zuständigkeit verleiht, befugt ist, die zur Erreichung dieses Ziels erforderlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen einzugehen, auch wenn insoweit eine ausdrückliche Bestimmung fehlt (vgl. Gutachten 2/91 vom 19. März 1993, Slg. 1993,I-1061, Randnr. 7).

27

Allerdings verleiht keine Bestimmung des Vertrages den Gemeinschaftsorganen allgemein die Befugnis, Vorschriften auf dem Gebiet der Menschenrechte zu erlassen oder völkerrechtliche Verträge in diesem Bereich zu schließen.

28

Da somit ausdrückliche oder implizite spezifische Befugnisse fehlen, ist zu prüfen, ob Artikel 235 des Vertrages eine Rechtsgrundlage für den Beitritt sein kann.

29

Artikel 235 soll einen Ausgleich in Fällen schaffen, in denen den Gemeinschaftsorganen durch spezifische Bestimmungen des Vertrages ausdrücklich oder implizit verliehene Befugnisse fehlen und gleichwohl Befugnisse erforderlich erscheinen, damit die Gemeinschaft ihre Aufgaben im Hinblick auf die Erreichung eines der vom Vertrag festgelegten Ziele wahrnehmen kann.

30

Als integrierender Bestandteil einer auf dem Grundsatz der begrenzten Ermächtigung beruhenden institutionellen Ordnung kann diese Bestimmung keine Grundlage dafür bieten, den Bereich der Gemeinschaftsbefugnisse über den allgemeinen Rahmen hinaus auszudehnen, der sich aus der Gesamtheit der Vertragsbestimmungen und insbesondere denjenigen ergibt, die die Aufgaben und Tätigkeiten der Gemeinschaft festlegen. Sie kann jedenfalls nicht als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf eine Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür vom Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen.

31

Vor diesem Hintergrund ist zu prüfen, ob der Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention auf Artikel 235 gestützt werden kann.

32

Die Mitgliedstaaten und die Gemeinschaftsorgane haben in verschiedenen Erklärungen (aufgeführt in Nummer III. 5. des Berichts zum Gutachtenantrag) die Bedeutung der Wahrung der Menschenrechte betont. Auch in der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte sowie in der Präambel und in den Artikeln F Absatz 2, J.1 Absatz 2 fünfter Gedankenstrich und K.2 Absatz 1 des Vertrages über die Europäische Union wird auf sie Bezug genommen. Artikel F stellt zudem klar, daß die Union die Grundrechte achtet, wie sie insbesondere in der Konvention gewährleistet sind. Artikel 130u Absatz 2 EG-Vertrag sieht vor, daß die Politik der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit dazu beiträgt, das Ziel der Wahrung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verfolgen.

33

Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat. Dabei läßt sich der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. In diesem Rahmen kommt der Konvention, wie der Gerichtshof ausgeführt hat, besondere Bedeutung zu (vgl. insbesondere Urteil vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 41).

34

Zwar ist die Wahrung der Menschenrechte eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaft, doch hätte der Beitritt zur Konvention eine wesentliche Änderung des gegenwärtigen Gemeinschaftssystems des Schutzes der Menschenrechte zur Folge, da er die Einbindung der Gemeinschaft in ein völkerrechtliches, andersartiges institutionelles System und die Übernahme sämtlicher Bestimmungen der Konvention in die Gemeinschaftsrechtsordnung mit sich brächte.

35

Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch auf die Mitgliedstaaten hätte, wäre von verfassungsrechtlicher Dimension und ginge daher ihrem Wesen nach über die Grenzen des Artikels 235 hinaus. Sie kann nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden.

36

Daher ist festzustellen, daß die Gemeinschaft beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts nicht über die Zuständigkeit verfügt, der Konvention beizutreten.

Abschließend äußert sich

DER GERICHTSHOF

unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. N. Kakouris, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet und G. Hirsch, der Richter G. F. Mancini, F. A. Schockweiler (Berichterstatter), J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, C. Gulmann, J. L. Murray, P. Jann, H. Ragnemalm, L. Sevón und M. Wathelet,

nach Anhörung des Ersten Generalanwalts G. Tesauro sowie der Generalanwälte C. O. Lenz, F. G. Jacobs, A. La Pergola, G. Cosmas, P. Léger, Μ. B. Elmer, N. Fennelly und D. Ruiz-Jarabo Colomer,

gutachtlich wie folgt:

Beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts verfügt die Gemeinschaft nicht über die Zuständigkeit, der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beizutreten.

Rodríguez Iglesias

Kakouris

Edward

Puissochet

Hirsch

Mancini

Schockweiler

Moitinho de Almeida

Kapteyn

Gulmann

Murray

Jann

Ragnemalm

Sevón

Wathelet

Luxemburg, den 28. März 1996

Der Kanzler

R. Grass

Der Präsident

G. C. Rodríguez Iglesias

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