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Document 52023AE1455

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des spanischen Ratsvorsitzes)

    EESC 2023/01455

    ABl. C 349 vom 29.9.2023, p. 100–107 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    29.9.2023   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 349/100


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Maßnahmen zur Verbesserung der psychischen Gesundheit“

    (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des spanischen Ratsvorsitzes)

    (2023/C 349/16)

    Berichterstatterin:

    Milena ANGELOVA

    Ko-Berichterstatter:

    Ivan KOKALOV

    Befassung durch den spanischen Ratsvorsitz

    Schreiben vom 8.12.2022

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

     

    Sondierungsstellungnahme

    Zuständige Fachgruppe

    Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    21.6.2023

    Verabschiedung im Plenum

    13.7.2023

    Plenartagung Nr.

    580

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    205/0/2

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Die psychische Gesundheit ist komplex. Sie wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst: biologische, psychologische, pädagogische, soziale, wirtschaftliche, berufliche, kulturelle und ökologische. Die erfolgreiche Verbesserung und Förderung der psychischen Gesundheit (1) und die Prävention entsprechender Probleme erfordern einen komplexen, multidisziplinären, lebenslangen Ansatz, der fest eingebettet in die Politikgestaltung auf Ebene der EU sowie auf nationaler (regionaler und branchenspezifischer) Ebene als oberste bereichsübergreifende Priorität Anwendung finden sollte und die nachfolgend beschriebenen Ziele hat.

    1.1.1.

    Die Reform von Gesundheitssystemen in der gesamten EU sollte gefördert werden, um sicherzustellen, dass sie beim Einsatz multidisziplinärer Teams integrierte und geplante langfristige Interventionen und Versorgungsmaßnahmen nicht nur zur Behandlung, sondern auch zur Vorbeugung anbieten, anstatt auf episodische Versorgungsmodelle ausgerichtet zu sein. Letztlich sollte das Ziel darin bestehen, die für eine neue vorherrschende Ausrichtung des Gesundheitssystems im Bereich der psychischen Gesundheit auf komplexe biopsychosoziale und auf Menschenrechten basierende Verfahren zu sorgen und Prävention, Früherkennung und Screening psychischer Erkrankungen sowie ein wirksames Fallmanagement und einen ortsnahen personenzentrierten Ansatz sicherzustellen.

    1.1.2.

    Der Schwerpunkt sollte auf der ständigen Förderung der psychischen Gesundheit, der Prävention psychischer Erkrankungen und dem Aufbau von Resilienz liegen. Dies sollte in allen Strategien auf EU-Ebene, sowie auf nationaler, regionaler und branchenspezifischer Ebene durchgehend berücksichtigt werden. In Erwartung der angekündigten Mitteilung der Europäischen Kommission über einen ganzheitlichen Ansatz für die psychische Gesundheit begrüßt der EWSA deren Mitteilung über eine umfassende Herangehensweise im Bereich der psychischen Gesundheit (2), unterstützt mit Nachdruck das übergeordnete Ziel der öffentlichen Politik, dem zufolge sichergestellt werden sollte, „dass niemand auf der Strecke bleibt, dass Bürgerinnen und Bürger in der ganzen EU gleichberechtigten Zugang zur Vorsorge und zu Angeboten im Bereich der psychischen Gesundheit haben und dass Wiedereingliederung und soziale Inklusion der Leitgedanke jeglicher kollektiven Maßnahmen im Bereich psychischer Erkrankungen sind“, und fordert dessen zügige Umsetzung im Rahmen einer EU-Strategie für psychische Gesundheit, für die zeitliche Fristen vorgesehen werden, die mit ausreichenden Mitteln ausgestattet ist, in der Zuständigkeiten festgelegt werden und die Indikatoren zur Überwachung der Fortschritte in der EU und den Mitgliedstaaten enthält — unter anderem im Rahmen des Europäischen Semesters. In dessen Rahmen sollten die Auswirkungen sozioökonomischer und umweltbezogener Faktoren auf die psychische Gesundheit stärker berücksichtigt werden, einschließlich der wichtigen Vorteile eines verbesserten Zugangs zu erschwinglichen und hochwertigen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse (Wohnen, Energie, Abfall/Wasser usw.). Idealerweise würde dies der Lenkung der Arbeit auf nationaler Ebene dienen (indem die Mitgliedstaaten beispielsweise aufgefordert werden, regelmäßig von der Kommission zu überprüfende Aktionspläne zu entwickeln und umzusetzen) und die Länder so bewogen werden, zusammenzukommen, um sich auszutauschen und sich gegenseitig zu ehrgeizigen Maßnahmen zu inspirieren. Die wichtigsten umweltbedingten und sozialen Risikofaktoren sollten ständig überwacht werden, und es sollten zügig entsprechende Strategien und Maßnahmen zur Minimierung und Beseitigung dieser Risiken ergriffen werden.

    1.1.3.

    Auf der Grundlage der Achtung der persönlichen Würde, der Menschenrechte, der Freiheit und der Gleichheit sollten für Personen mit psychischen Erkrankungen und Einschränkungen Möglichkeiten zur Frühdiagnose, angemessenen Behandlung, Psychotherapie, Rehabilitation und sozialen Inklusion geschaffen werden.

    1.1.4.

    Die psychische Gesundheit sollte in allen Mitgliedstaaten als dringendes Anliegen wahrgenommen werden, das angemessene Beachtung sowie eine ganzheitliche, koordinierte, strukturierte und auf den Menschen ausgerichtete Herangehensweise erfordert. Nötigung, Stigmatisierung, Segregation und Diskriminierung im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen müssen überwunden werden. Eine angemessene Finanzierung von Gesundheitsdiensten zur Behandlung psychischer Erkrankungen ist von wesentlicher Bedeutung, um diese Dienste allgemein zugänglich und erschwinglich zu machen. Dazu gehören auch Investitionen in angemessen geschultes Gesundheitspersonal in ausreichender Zahl. Durch angemessene Gehälter, ständige Fortbildung und eine ausreichende Personalausstattung würde sichergestellt, dass nicht nur den Patienten, sondern auch den Menschen, die ärztlichen Rat, ein ärztliches Gutachten oder eine medizinische Behandlung brauchen, genügend Aufmerksamkeit und Zeit gewidmet wird. Der Aspekt der Finanzierung, sowohl der physischen als auch der sozialen Infrastruktur in der Gesundheitsbranche, sollte in den nationalen Aufbau- und Resilienzplänen besser entwickelt werden. Derzeit werden gesundheitsbezogene Projekte dort nur unzureichend behandelt und berücksichtigt. In vielen nationalen Aufbau- und Resilienzplänen wird nicht angemessen auf die zahlreichen Krisen der jüngsten Vergangenheit eingegangen, durch die das Risiko einer Kumulation von Problemen der psychischen Gesundheit verschärft wird. Daher sollten sie umgehend aktualisiert werden.

    1.1.5.

    Der Zugang zu Unterstützungsdiensten, Behandlungen, Psychotherapie, medizinischer und sozialer Rehabilitation, spezialisierter und allgemeiner Pflege sowie zu Aktivitäten im Zusammenhang mit psychosozialer Unterstützung sollte verbessert werden. Erfolgen sollte dies durch die Entwicklung und Umsetzung innovativer, personalisierter und evidenzbasierter Maßnahmen, die Verbesserung und Sicherstellung eines gleichberechtigten und sozialverträglichen Zugangs zu medikamentösen Behandlungen, die Unterstützung von Familien von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die Verbesserung der Kapazitäten und Qualifikationen derjenigen, die allgemeine und spezialisierte Pflege leisten, und den Aufbau eines Systems für integrierte Pflege — auch vor Ort — durch multidisziplinäre Teams.

    1.1.6.

    Es sollten ergänzende Ansätze entwickelt und umgesetzt werden, um in Krisen- und Notfallsituationen angemessene Unterstützung zu leisten. Es ist notwendig, eine „Maßnahmenpyramide“ zu schaffen, die darauf basiert, soziale und kulturelle Aspekte in die Kernmaßnahmen zur Bekämpfung von Erkrankungen einzubeziehen, die Bindungen vor Ort und die familiäre Hilfe durch gezielte allgemeine Unterstützung zu stärken sowie spezialisierte Dienste und Unterstützung durch verschiedene Angehörige der Gesundheitsberufe für Bürgerinnen und Bürger mit schwereren Erkrankungen bereitzustellen. Auf allen Bildungsebenen sollte in den Lehrplänen zur Gesundheitsförderung der Schwerpunkt auf der Entwicklung eines angemessenen Verhaltens und der Gewährleistung einer grundlegenden Gesundheitsfürsorge sowie auf psychischen Gesundheitsrisiken und der Vermeidung oder Verringerung ihrer Auswirkungen liegen, wobei Sonderfälle wie Pandemien oder Naturkatastrophen besondere Beachtung finden sollten.

    1.1.7.

    Es sollten auf Rechten basierende, personenzentrierte, genesungsorientierte, ortsnahe Systeme der psychischen Gesundheit ermöglicht werden, deren Schwerpunkt auf der Befähigung zur Selbstbestimmung und der aktiven Beteiligung an der eigenen Genesung liegt, mit dem letztendlichen Ziel, die Lebensqualität von Menschen mit psychischen Erkrankungen zu verbessern. Die Bemühungen zur Umsetzung einer inklusiven Pflege und Unterstützung innerhalb des Systems der psychischen Gesundheit mit Schwerpunkt auf den Bedürfnissen spezifischer und schutzbedürftiger Gruppen wie Kinder, ältere Menschen, Flüchtlinge und Migranten, LGBTIQ+-Personen sowie Menschen in benachteiligten sozioökonomischen Situationen, sollten gefördert werden.

    1.1.8.

    Im Bereich der psychischen Gesundheit sollten eine globale, zwischenstaatliche und branchenübergreifende Zusammenarbeit ermöglicht und die Kapazitäten der verschiedenen Interessenträger aufgebaut sowie eine inklusive Beteiligung an der Umsetzung der Initiativen sichergestellt werden. Dies sollte: die Koordinierung, den Austausch von Informationen, Erfahrungen und bewährten Verfahren umfassen; die wissenschaftliche Forschung und Innovation vorantreiben; auf positive gesundheitliche und soziale Ergebnisse sowie auf die Digitalisierung von Prozessen hinwirken; die Arbeit in Netzwerken/Plattformen von Sozialpartnern, Forschern und Wissenschaftlern, Angehörigen der Gesundheitsberufe, Sozialarbeitern, Patientenverbänden und Sozialdiensten fördern.

    1.1.9.

    Der Arbeitsplatz gilt als Dreh- und Angelpunkt für die Stärkung der psychischen Gesundheit und Unterstützung. Daher sollten gemeinsame Initiativen und Aktionen der Sozialpartner zur kontinuierlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen gefördert werden, auch durch ausreichende finanzielle Mittel. Psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz müssen bewertet und abgebaut werden, und es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um Gewalt und Mobbing zu verhindern (3).

    1.2.

    Angesichts der zunehmenden Bedeutung der psychischen Gesundheit fordert der EWSA die Europäische Kommission auf, ein deutliches Zeichen dafür zu setzen, wie wichtig eine starke Allianz zur Verbesserung und Förderung der psychischen Gesundheit ist, und das Jahr 2024 zum Europäischen Jahr der psychischen Gesundheit auszurufen.

    1.3.

    Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Menschenrechtsverstößen und psychischen Erkrankungen, da Menschen mit psychischen oder geistigen Behinderungen sowie Drogenmissbrauchsproblemen in der Gesundheitsversorgung häufig eine schlechte Behandlung, Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierung erfahren. In vielen Ländern ist die Qualität der Gesundheitsversorgung sowohl in stationären als auch in ambulanten Einrichtungen schlecht oder sogar schädlich und kann die Genesung aktiv behindern (4). Es ist notwendig, die bestehende soziale und psychische Gesundheitsfürsorge anhand der Standards des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu überprüfen, auf Rechten basierende Praktiken zu entwickeln und in Dienstleistungen und Unterstützung zu investieren, die die freie Einwilligung der Person nach vorheriger Aufklärung achten und in deren Rahmen Sicherheit vor Zwang und Zwangsbehandlung herrscht. Es ist erforderlich, Leitlinien und Verfahren anzunehmen und Schulungen zu auf Rechten basierenden Ansätzen für Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen anzubieten.

    2.   Hintergrund

    2.1.

    Die psychische Gesundheit wird in der gesamten EU immer wichtiger, da sie nicht nur einen Eckpfeiler des Wohlbefindens und der europäischen Lebensweise darstellt, sondern auch jährlich 4 % des BIP der EU beansprucht. Daher hat der EWSA beschlossen, ihr eine Initiativstellungnahme zu widmen. In ihrer Rede zur Lage der EU im September 2022 kündigte die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, an, dass die Kommission im Jahr 2023 ein neues (im Arbeitsprogramm der Kommission 2023 enthaltenes) umfassendes Konzept für die psychische Gesundheit vorlegen werde. Die wachsende Bedeutung der psychischen Gesundheit wurde auch in den Schlussfolgerungen der Konferenz zur Zukunft Europas hervorgehoben, in denen — auf besonderen Wunsch junger Menschen — Initiativen zur Verbesserung des Verständnisses von Problemen der psychischen Gesundheit und des Umgangs mit diesen Problemen gefordert wurden. Auch in dem überarbeiteten CultureForHealth-Bericht vom Dezember 2022 (5) wird die Kommission aufgefordert, die psychische Gesundheit zur strategischen Priorität zu erklären.

    2.2.

    Auf Drängen der europäischen Bürgerinnen und Bürger forderten auch das Europäische Parlament (6) und der Rat Maßnahmen in diesem Bereich. Kürzlich ersuchte der künftige spanische Ratsvorsitz den EWSA um eine Sondierungsstellungnahme, die mit dem ursprünglichen Vorschlag für eine Initiativstellungnahme zusammengeführt wurde.

    3.   Einflussfaktoren der psychischen Gesundheit

    3.1.

    Die wichtigsten Einflussfaktoren der psychischen Gesundheit sind das Mikro- und Makro-Umfeld, individuelle sozialpsychologische Faktoren und kulturell-umweltbedingte Faktoren, z. B. Familienstand, Geschlecht, Mangel an unterstützenden Beziehungen, niedriges Bildungsniveau, niedriges Einkommen und/oder niedriger sozioökonomischer Status, berufliche Probleme, schlechte oder prekäre Arbeitsbedingungen, Arbeitslosigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, empfundene Stigmatisierung und Diskriminierung, schlechte somatische Gesundheit, Einsamkeit, niedriges Selbstwertgefühl, schlechte Lebensbedingungen, fortschreitendes Alter, negative Lebensereignisse usw. Verletzbarkeit und das Gefühl einer ungewissen Zukunft — in Verbindung mit einer Verschiebung der Wertesysteme sowie deren Übernahme durch folgende Generationen — erhöhen ebenfalls das Risiko des Auftretens psychischer Probleme. Die Bewertung individueller psychosozialer Risiken ist in der Arbeitswelt von größter Bedeutung — vor allem, wenn Faktoren wie ein hohes Maß an Verantwortung, Unsicherheit, prekäre Beschäftigung, gefährliche Arbeitsumgebung oder atypische Arbeit gegeben sind. Berücksichtigung finden müssen auch individuelle Faktoren, wie z. B. Stresstoleranz, chronische Krankheiten usw.

    3.2.

    Bezüglich der Bevölkerung werden negative Kindheitserfahrungen, Armut, schlechte Staatsführung, Diskriminierung, Menschenrechtsverletzungen, schlechte Bildung, Arbeitslosigkeit, schlechte Gesundheitsversorgung, Mangel an Wohnraum und angemessenen Sozial- und Gesundheitsdiensten, schlechte Qualität der Sozialschutzmaßnahmen, fehlende Chancen usw. als Risikofaktoren angeführt. Zwischen Armut und psychischen Erkrankungen besteht eine Wechselwirkung in der Form eines Teufelskreises: Psychische Erkrankungen führen zu Armut, und Armut gilt als Risikofaktor für eine schlechte psychische Gesundheit.

    3.3.

    Umweltfaktoren haben ebenfalls Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Ihr Einfluss ist immer komplex und hängt vom jeweiligen Kontext oder Hintergrund ab, vor dem psychische Erkrankungen auftreten. Viele dieser Faktoren korrelieren mit dem Klima, Naturphänomenen und Katastrophen wie Wirbelstürmen oder Erdbeben. Andere dagegen mit der Verfügbarkeit und Qualität des Trinkwassers, der Abwasserentsorgung, dem Grad der Verstädterung usw.

    3.4.

    Die Einflussfaktoren der psychischen Gesundheit wirken sich auf verschiedene Gruppen von Menschen unterschiedlich stark aus. In der Regel gilt: Je stärker gefährdet eine Gruppe ist, desto gewichtiger sind die Auswirkungen der Einflussfaktoren. Zu den stärker gefährdeten Gruppen gehören Menschen, die jung oder alleinstehend und älter sind, die sich einsam fühlen, Vorerkrankungen, geistige Beeinträchtigungen oder motorischen Einschränkungen haben, sowie Migranten.

    3.5.

    Jede Form der Abhängigkeit stellt — unabhängig davon, ob sie substanzgebunden ist oder nicht — eine Gefahr für die psychische Gesundheit dar. Neben Alkohol, Tabak und Drogen können auch verschiedene Medikamente Abhängigkeiten verursachen, darunter auch Medikamente, die zur Behandlung von psychischen Erkrankungen verschrieben werden. Deshalb ist es wichtig, allen Menschen bei Bedarf einen zügigen Zugang zu qualifizierten Psychiatern und Psychotherapeuten zu ermöglichen, die dabei helfen können, diese Probleme von Grund auf anzugehen. Während der Suche nach professioneller Hilfe können Medikamente als vorübergehende Lösung dienen. Verhaltenssüchte bedürfen besonderer Aufmerksamkeit, vor allem solche, die auf die übermäßige Nutzung digitaler Geräte zurückzuführen sind („Nomophobie“ (7)), da sie vor allem Kinder und Jugendliche betreffen. Algorithmen, die in den sozialen Medien zur Personalisierung von Inhalten verwendet werden, können psychische Erkrankungen auch verstärken, indem weiterhin Inhalte vorgeschlagen werden, die psychische Probleme auslösen — am häufigsten Angststörungen und Depressionen. In Hinsicht auf Psychotherapien mit Psychedelika, die sich zu einer neuen Kategorie bahnbrechender Behandlungsmethoden für Erkrankungen wie schwere Depressionen, PTBS und Alkoholmissbrauch entwickeln, sind weitere Forschungsarbeiten in einem kontrollierten therapeutischen Umfeld erforderlich. Der EWSA sieht das Potenzial dieser Therapien und fordert eine gezielte Finanzierung zur Förderung der Forschung, Entwicklung und späteren wirtschaftlichen Nutzbarmachung dieser Therapien.

    3.6.

    Der „Headway Mental Health“-Index (8) nennt als Auswirkungen u. a. eine erhöhte Sterblichkeit, impulsive und aggressive Verhaltensweisen und höhere Selbstmordraten. Er belegt weiterhin, dass zuvor wenig diskutierte Faktoren wie ein durchschnittlicher monatlicher Temperaturanstieg von einem Grad mit einem Anstieg des Aufsuchens von psychiatrischen Notfallaufnahmen um 0,48 % und einem Anstieg der Selbstmorde um 0,35 % korreliert.

    3.6.1.

    Der Index zeigt, dass etwa 22,1 % der Menschen in einem Konfliktumfeld eine psychische Erkrankung entwickeln (13 % leichte Formen von Depressionen, Angstzuständen und PTBS; 4 % mittelschwere Formen; 5,1 % schwere Depressionen und Angstzustände, Schizophrenie oder bipolare Störungen). In der Folge von Konflikten entwickelt etwa eine von fünf Personen eine psychische Störung.

    3.6.2.

    Angesichts von 27 anhaltenden Konflikten in der ganzen Welt (9) und 68,6 Mio. Vertriebenen weltweit (10) ist die Berücksichtigung der psychischen Bedürfnisse der von Konflikten und Migration betroffenen Menschen eine wichtige Priorität und erfordert eine verstärkte Gesundheitsüberwachung für zumindest drei Jahre nach den entsprechenden Ereignissen.

    3.6.3.

    In dem Index wird darüber hinaus dargelegt, wie die Gesundheitssysteme in Zukunft die Ergebnisse im Bereich der psychischen Gesundheit verbessern oder auf dem aktuellen Stand halten können. Die Datenlage zeigt, dass es bei den Strategien, Maßnahmen und Gesetzen zur psychischen Gesundheitsfürsorge erhebliche Diskrepanzen gibt; so existieren zwischen den Ländern der EU erhebliche Unterschiede bei den Ausgaben für die Gesundheitsversorgung (z. B. Frankreich 14,5 % gegenüber Luxemburg 1 %) (11). Positiv zu vermerken ist, dass die Zahl der ambulanten psychiatrischen Einrichtungen pro Million Menschen von 3,9 auf 9,1 angestiegen ist.

    4.   Die Auswirkungen der gehäuften Krisen der jüngsten Vergangenheit auf die psychische Gesundheit

    4.1.

    Vor COVID-19 waren den Daten zufolge mehr als 84 Mio. Menschen (oder jeder sechste) in der EU von einer psychischen Erkrankung betroffen — eine Zahl, die seitdem zweifelsohne gestiegen ist (12). Etwa 5 % der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter hatten aufgrund einer psychischen Erkrankung einen hohen psychischen Versorgungsbedarf, und weitere 15 % hatten einen mittleren psychischen Versorgungsbedarf, der ihre Beschäftigungsfähigkeit, ihre Produktivität und ihr Gehalt beeinträchtigte. Psychische Erkrankungen und Verhaltensstörungen sind für etwa 4 % der jährlichen Todesfälle in Europa verantwortlich und stellen die zweithäufigste Todesursache bei jungen Menschen dar.

    4.2.

    Die psychische Gesundheit hat sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie insgesamt weiter verschlechtert. Aber am deutlichsten zeigen sich die Auswirkungen bei jungen oder älteren Personen, solchen, die einen geliebten Menschen durch COVID-19 verloren haben, wie auch anderen vulnerablen Gruppen. Soziale Isolation und gesellschaftlicher Stress wirken sich negativ auf die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden der Menschen aus. Menschen mit chronischen gesundheitlichen Problemen sind dem Risiko einer Verschlechterung ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit ausgesetzt. Während der Bedarf an psychischen Gesundheitsdiensten anstieg, war der Zugang zur Gesundheitsversorgung im Rahmen der Pandemie — zumindest in ihrer Anfangsphase — stark beeinträchtigt. Der gestiegene Bedarf an psychischer Versorgung verdeutlicht die wachsende Bedeutung der Telemedizin und digitaler Lösungen für die Prävention, Diagnose, Behandlung und Überwachung psychischer Probleme.

    4.3.

    Zu den belastenden Ereignissen, die mit der COVID-19-Pandemie einhergehen, gehören: das Risiko der Ansteckung und der Übertragung des Virus auf andere Menschen, die Angst vor den langfristigen Folgen der Pandemie (auch in wirtschaftlicher Hinsicht), Symptome anderer Krankheiten (vor allem der Atemwege), die fälschlicherweise als COVID-19-Symptome interpretiert werden, die Schließung von Schulen und Kindergärten, was wiederum den Stress von Eltern und Betreuern erhöht, Gefühle der Wut und Unzufriedenheit mit der Regierung und dem medizinischen Personal oder Misstrauen gegenüber den Informationen der Regierung und anderer offizieller Stellen.

    4.4.

    Darüber hinaus sind die Beschäftigten im Gesundheitswesen mit Patientenkontakt (einschließlich Krankenpfleger, Ärzte, Fahrer von Krankenwagen, Laboranten und Sanitäter) während der Pandemie zusätzlichen Stressfaktoren ausgesetzt, wie z. B. Stigmatisierung bei der Arbeit mit Risikopatienten, unzureichende persönliche Schutzausrüstung, mangelnde Ausrüstung für die Pflege schwerkranker Patienten, die Notwendigkeit ständiger Wachsamkeit, verlängerte Arbeitszeiten, erhöhte Patientenzahlen, das Erfordernis ständiger Weiterbildungen und Schulungen, sich ändernde Verfahren für die Diagnose und Behandlung von COVID-19-Patienten, geringe soziale Unterstützung, fehlende Kapazitäten für die eigenen Bedürfnisse, unzureichende medizinische Informationen über die Langzeitfolgen einer Infektion und die Angst, Familienangehörige und Bekannte anzustecken.

    4.5.

    Hinsichtlich der Lebensgrundlagen und der Ungewissheit mit Blick auf die Zukunft haben in der jüngsten Zeit die russische Aggression gegen die Ukraine und ihre Folgen zu neuen Schocks mit langfristigen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit geführt. Nicht-EU-Bürger wie die Flüchtlinge aus der Ukraine können aufgrund traumatischer Erlebnisse in ihrem Heimatland oder auf der Flucht in die EU vor besonderen psychischen Herausforderungen stehen. Der Krieg führt zudem zu Spillover-Effekten und zu einer sozioökonomischen Belastung der EU-Bevölkerung, wodurch zusätzliche langfristige Risiken für die psychische Gesundheit in der gesamten EU entstehen.

    5.   Gefährdete Gruppen

    5.1.

    Kinder und Jugendliche. Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit in der frühen Kindheit sollten ein fester Bestandteil der allgemeinen Gesundheitsversorgung für Kinder und ihre Eltern und Betreuer sein. Sie sollten bereits in der Schwangerschaft ansetzen und später die Unterstützung für eine verantwortungsvolle Elternschaft und die Beratung zur frühkindlichen Entwicklung umfassen. In den Bildungssystemen sollte der Schwerpunkt auf Information und Bewusstseinsbildung, Prävention und Screening von Gewalt (sowohl physisch als auch online), Alkohol-, Tabak- und Drogenmissbrauch usw. gelegt werden. Die übermäßige Nutzung sozialer Medien stellt eine Gefahr für die psychische Gesundheit dar; gleichzeitig bieten diese Medien aber auch Möglichkeiten zur Behandlung psychischer Erkrankungen. Auch der Einfluss von Schulstress und schulischer Leistung kann die psychische Gesundheit belasten.

    5.1.1.

    In Schulen sollten Programme zur Förderung des psychischen Wohlbefindens eingeführt werden. Außerdem sollten die psychische Gesundheitskompetenz gefördert und wirksame Zugangswege zum Gesundheitssektor entwickelt werden, um Kinder von klein auf darin zu unterstützen, eigene Gefühle und die anderer zu erkennen und mithilfe wirksamer Bewältigungsstrategien mit schwierigen Emotionen und Situationen umzugehen. Online-Plattformen zur Förderung der psychischen Gesundheit in Bildungseinrichtungen und interaktive, altersgerechte Websites für junge Menschen sind unerlässlich.

    5.1.2.

    Der Schutz der psychischen Gesundheit von Kindern erfordert nicht nur medizinische Maßnahmen, um das Ausbleiben klinischer Symptome sicherzustellen, sondern auch gezielte Bemühungen um eine gute Lebensqualität und eine umfassende soziale Anpassung. In den Schulen ist ein kooperativer Ansatz (Bündelung der Kräfte des Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesens) erforderlich, um die psychische Gesundheit zu fördern, Traumata zu bewältigen und psychische Probleme, Drogenkonsum und -missbrauch, Selbstmord, Jugendgewalt und verschiedene Formen von Mobbing zu verhindern und anzugehen.

    5.2.

    Menschen fortgeschrittenen Alters. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den Mitgliedstaaten steigt stetig an, wodurch das Thema Alter in den Vordergrund rückt. Häufig kommt es altersbedingt zu Veränderungen im Leben (auch betreffend die psychosensorische Wahrnehmung) und zur Entstehung von psychischen Problemen. Störungen im psychomotorischen und sensorischen Bereich sowie die allmähliche Abnahme der Schärfe der Wahrnehmung und Schwierigkeiten bei der Anpassung an die sich verändernde Umwelt führen zu Angstzuständen und Depressionen. Neurologische Störungen, die die Hirnrinde betreffen, eine Kombination aus altersbedingten Veränderungen im Gehirn sowie genetische, umweltbedingte und lebensstilbedingte Faktoren haben ebenfalls Auswirkungen auf die psychische Gesundheit. Immer komplexere Haushaltsgeräte erfordern die Aneignung stets umfangreicherer Fertigkeiten. Die Lernfähigkeit jedoch nimmt mit zunehmendem Alter ab, was wiederum im Alltag Stress verursachen kann. Darüber hinaus wird die psychische Gesundheit im Alter zusätzlich durch manche Veränderung der Lebensumstände, Schwierigkeiten, Verluste und Isolation belastet. Angesichts all dieser Herausforderungen müssen Standards für eine strukturierte Versorgung entwickelt werden, die über die institutionelle Ebene hinausgeht und in deren Rahmen auf die persönlichen Bedürfnisse älterer Menschen eingegangen wird. Die Entwicklung personenzentrierter Versorgungsprogramme im gewohnten Umfeld ist von entscheidender Bedeutung, damit sich die entsprechenden Dienstleistungen nicht nur auf Einrichtungen wie Altenheime oder Hospize beschränken. Es bedarf weiterer Maßnahmen, um aktiv auf Menschen zuzugehen, die insbesondere in Krisensituationen oder nach traumatischen Ereignissen Unterstützung benötigen.

    5.3.

    Geschlechtsspezifische Perspektiven. Im Zusammenhang mit der psychischen Gesundheit sind auch Missverhältnisse zwischen den Geschlechtern ein Problem. Das Europäische Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) hat im Rahmen des Gleichstellungsindexes 2022 (13) dargelegt, dass Frauen in jeder der drei Wellen der Pandemie ihr psychisches Wohlbefinden als geringer empfunden haben, als es bei den Männern der Fall war. Auch die häusliche Gewalt hat während der Pandemie im Rahmen der sogenannten „Schattenpandemie“ erheblich zugenommen. Darüber hinaus ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen unter Spätfolgen einer Coronainfektion („Long COVID“) mit neurologischen Symptomen und einem höheren Maß an Depression und Angstzuständen leiden, doppelt so hoch wie bei Männern (14). In der Europäischen Strategie für Pflege und Betreuung (15) wird, insbesondere mit Blick auf Frauen, auch auf Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben eingegangen (16).

    5.3.1.

    Bei allen Strategien zur psychischen Gesundheit sollte zur Sicherstellung des Gender-Mainstreamings sowohl auf Unionsebene als auch auf nationaler Ebene eine Bewertung der geschlechtsspezifischen Auswirkungen vorgenommen werden. Es gibt biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aber auch psychologische und soziale Faktoren spielen eine wichtige Rolle. Obwohl bereits einiges über Prävalenzdifferenzen bekannt ist, sind die Kenntnisse darüber, welchen Einfluss dies auf Prävention, Risiken, Diagnose und Behandlung haben kann, häufig gering. Daher ist mehr Forschung erforderlich. Ein wichtiges Beispiel ist die Tendenz, dass im Teenageralter bei Mädchen eine deutlich stärkere Verschlechterung hinsichtlich der psychischen Gesundheit zu beobachten ist als bei Jungen, und dass der Druck, der heutzutage auf Mädchen lastet, dreimal so hoch ist wie noch vor 20 Jahren.

    5.3.2.

    Im Bereich der psychischen Gesundheit besteht ein dringender Bedarf an geschlechtsspezifischer Unterstützung und Behandlung. Im Laufe des Lebenszyklus einer Frau gibt es viele Episoden, die zu psychischen Problemen führen können. Zu nennen sind hier bspw. die prämenstruelle dysphorische Störung (PMDS), mentale, physische, psychiatrische und pharmakokinetische Auswirkungen der Menopause oder der oralen Empfängnisverhütung; fehlende medikamentöse Therapien für schwangere und stillende Frauen; fehlende gezielte psychische und gesundheitliche Betreuung und Behandlung nach häuslicher und/oder sexueller Gewalt, früher Heirat und (frühem) Kontakt mit (Gewalt-)Pornografie oder Menschenhandel. All dies kann zu einer Verschlechterung der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens führen.

    5.4.

    Personen mit Suchterkrankungen. Besonderes Augenmerk sollte auf psychische Erkrankungen im Zusammenhang mit Alkohol- und/oder Drogenabhängigkeit gelegt werden. Aufgrund der weiten Verbreitung des Alkoholkonsums sind Risiken in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Die Vorstufe zur Alkoholabhängigkeit ist ein übermäßiger und schädlicher Alkoholkonsum, der zunächst mit Stressabbau entschuldigt wird, letztendlich aber häufig in die Abhängigkeit führt. Leider zeigt die Europäische Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen (ESPAD) diesen riskanten Konsum von Alkohol auch in der jüngeren Generation. Auch der Konsum anderer illegaler Drogen ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem ernsthaften Problem der öffentlichen Gesundheit geworden, wobei der Generationenaspekt besonders ausgeprägt ist.

    5.5.

    Personen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen. Personen mit einem hohen Bedarf an psychologischer Betreuung benötigen im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung eine qualitativ hochwertige und zugängliche personenzentrierte und rechtebasierte Dienstleistungskette in ihrem gewohnten Umfeld. Während der COVID-19-Pandemie waren in Einrichtungen lebende Personen mit Behinderungen „vom Rest der Gesellschaft abgeschnitten“. Es liegen Berichte vor, denen zufolge Bewohner derartiger Einrichtungen zu viele Medikamente erhielten oder sie sediert oder weggesperrt wurden. Auch von selbstverletzendem Verhalten wurde berichtet (17). Während der COVID-19-Pandemie wurden bei Personen mit geistiger Behinderung, deren Chancen zudem geringer sind, eine intensivmedizinische Behandlung zu erhalten, höhere Sterblichkeitsraten verzeichnet (18). In großen Einrichtungen ist es unter Krisenbedingungen wesentlich schwieriger, eine individualisierte personenzentrierte Versorgung und Betreuung zu leisten. Daher besteht für Personen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in der Pflege und in der medizinischen Versorgung ein erhebliches Risiko der Ungleichbehandlung (19). Darum müssen Segregationspraktiken aufgegeben werden. Kern der Sozialpolitik muss die Deinstitutionalisierung sein, damit Menschen mit Behinderungen ihr Recht auf ein Leben als Teil der Gemeinschaft wahrnehmen können.

    5.6.   Übermäßige Stressbelastung — z. B. durch Pandemien, Naturkatastrophen und Konflikte

    5.6.1.

    Durch die COVID-19-Pandemie und das Long-COVID-Syndrom wurden viele Risikofaktoren für Einzelpersonen noch weiter verstärkt, was zu einer schlechten psychischen Gesundheit, zur Aufweichung vieler Schutzmechanismen und zu einer beispiellosen Prävalenz von Angstzuständen und Depressionen geführt hat. In bestimmten Mitgliedstaaten hat sich diese Prävalenz verdoppelt (20). Zu den Hochzeiten der Pandemie war die psychische Gesundheit meist am schlechtesten, und Depressionssymptome waren während der strikten Lockdown-Maßnahmen am stärksten ausgeprägt.

    5.6.2.

    Die COVID-19-Pandemie hat aufgezeigt, wo positive Wechselwirkungen zwischen sicheren und gesunden Arbeitsbedingungen und der öffentlichen Gesundheit möglich sind (21). Auch hat sie gezeigt, dass es in einigen Berufsfeldern psychosoziale Faktoren gibt, die die Stressbelastung erhöhen (22) und negative Auswirkungen haben können. Im europäischen Gesundheitswesen beispielsweise sind Burnouts und demografische Veränderungen die Hauptursachen für einen drohenden dauerhaften Rückgang der Zahl der Beschäftigten (23). In manchen Berufsfeldern sind prekäre Arbeitsbedingungen (24) und das Risiko körperlicher Schikane häufiger anzutreffen als in anderen, so z. B. Gesundheitswesen und Bildung (14,6 %), Verkehr und Kommunikation (9,8 %), Gastgewerbe (9,3 %) und Einzelhandel (9,2 %). Auch über sexuelle Belästigung wird in den folgenden Branchen berichtet: Gastgewerbe (3,9 %), Gesundheitswesen und Bildung (2,7 %) sowie Verkehr und Kommunikation (2,6 %) (25). Derartig belastende Ereignisse können zu psychischen Problemen und Erkrankungen führen und müssen verhindert werden.

    5.6.3.

    Personen, die von den gefährlichen Auswirkungen unkontrollierbarer Naturkatastrophen, wie z. B. Erdbeben, Wirbelstürmen, Bränden und Überflutungen, betroffen waren, sowie Opfer von Menschenhandel und Personen, die um internationalen Schutz ersuchen. Es gibt zudem unterschiedliche Arten von Reaktionen (26) auf potenziell traumatische Ereignisse:

    Stress: wird nahezu sofort überwunden,

    Akute Belastung: verminderte Aufmerksamkeit, Bewusstseinstrübung, vorübergehende Amnesie, Orientierungslosigkeit, Zittern, Aggressivität und Angstzustände, die von mehreren Stunden bis zu vier Wochen anhalten können,

    Posttraumatische Belastungsstörung: Dieselben Symptome treten bis zu einem Monat nach dem Ereignis auf (z. B. Erdbeben).

    6.   Beispiele für bewährte Verfahren

    6.1.

    Während der Pandemie haben viele Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit ergriffen. In den meisten Staaten wurden neue Informationen zur psychischen Gesundheit entwickelt und/oder Telefonauskünfte eingerichtet, um Bewältigungsstrategien während der COVID-19-Krise aufzuzeigen, während viele Länder parallel dazu die Präventions- und Fördermaßnahmen intensivierten, den Zugang zur psychischen Gesundheitsversorgung verbesserten und die Finanzierung dieser Dienste erhöhten (27). Einige Beispiele beinhalten:

    Zypern — Ausweitung des Zuständigkeitsbereichs der epidemiologischen Ausschüsse vom Umgang mit physischen Gesundheitsrisiken auf die Beratung über Fragen der psychischen Gesundheit in spezialisierten Unterausschüssen (28),

    Finnland — angesichts der Weitläufigkeit des Landes sowie der großen Akzeptanz digitaler Technologien kann durch den Einsatz digitaler Instrumente ein einfacherer, kosteneffizienterer und niedrigschwelligerer Zugang zu psychosozialen Diensten (Prävention, Diagnose, Behandlung, Überwachung) ermöglicht werden. Bei dem Internetportal mielenterveystalo.fi handelt es sich beispielsweise um einen Online-Dienst, der im Bereich der psychischen Gesundheit in Finnland sowohl für die Bürgerinnen und Bürger als auch für die Fachkräfte im Sozial- und Gesundheitswesen Informationen und Dienstleistungen bereitstellt. Insbesondere in den Gebieten ohne psychische Gesundheitsdienste sowie in vulnerablen Gruppen wie junge Menschen, die digitale Programme und Geräte aktiv nutzen, oder Menschen mit körperlichen Behinderungen können digitale Lösungen die Inanspruchnahme entsprechender Dienstleistungen erhöhen und psychischen Problemen vorbeugen,

    Portugal — kostenlose ganztägig erreichbare Hotline für psychologische Unterstützung,

    Frankreich — Möglichkeit kostenloser Termine bei einem Psychologen oder Psychiater für Studierende,

    Irland — zusätzliche Mittel in Höhe von 50 Mio. EUR im Jahr 2021, um als Reaktion auf die Krise neue Dienstleistungen für die psychische Gesundheit zu schaffen, sowie zusätzliche Unterstützung für den bereits bestehenden Bedarf im Bereich der psychischen Gesundheit,

    Lettland — Aufstockung der Mittel für Fachkräfte im Bereich der psychischen Gesundheitsversorgung und Hausärzte, die psychologische Unterstützung leisten,

    Litauen — nationale Plattform für psychische Gesundheit mit Informationen über die Erhaltung der psychischen Gesundheit und Ressourcen zur Unterstützung,

    Tschechien — die meisten gesetzlichen Krankenkassen haben die teilweise Erstattung von Psychotherapie für all ihre Leistungsempfänger eingeführt.

    6.2.

    Weitere Mitgliedstaaten haben angesichts der Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit zudem nationale Strategien erstellt. Spanien beispielsweise hat den Herausforderungen im Bereich der psychischen Gesundheit aufgrund der COVID-19-Pandemie ein ganzes Kapitel seiner nationalen Strategie für die Jahre 2022-2026 gewidmet, in dem eine Reihe von Leitlinien zur Bewältigung dieser Herausforderungen während und nach der Krise eingeführt werden. In Litauen wurde 2020 als Reaktion auf COVID-19 ein Aktionsplan entwickelt, um die Bereitstellung psychologischer Betreuung zu stärken und die möglichen negativen Auswirkungen der Pandemie aufzufangen (29). In dem litauischen Aktionsplan wurden zudem eine Reihe von Maßnahmen festgelegt, um die vorhandenen Dienste auszuweiten und anzupassen, neue Dienste, wie zum Beispiel psychologische Kriseninterventionsteams und niedrigschwellige psychologische Beratung auf Gemeindeebene zu schaffen, und Dienste zur Förderung der psychischen Gesundheit zugänglicher zu machen.

    6.3.

    Psychotherapie, psychologische Beratung sowie verschiedene Gesprächs- und Gruppentherapien sind evidenzbasierte Behandlungen, die in größerem Umfang erschwinglich, zugänglich und für Menschen, die sie benötigen, verfügbar sein müssen, um eine Ausgewogenheit mit den vorherrschenden traditionellen Behandlungsmethoden herzustellen.

    6.4.

    Die mittel- bis langfristigen Auswirkungen der Pandemie auf den Bedarf an psychischer Gesundheitsversorgung bleiben weiterhin abzuwarten. Es gibt zwar Hinweise darauf, dass sich die psychische Gesundheit und das psychische Wohlbefinden in den ersten paar Monaten des Jahres 2022 verbessert haben, dennoch sind nach wie vor Anzeichen für eine schlechte psychische Gesundheit vorhanden. Die wenigen verfügbaren nationalen Daten zeigen eine höhere Depressions- und Angstsymptomatik unter Erwachsenen als vor der Pandemie (30).

    Brüssel, den 13. Juli 2023

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Oliver RÖPKE


    (1)  C. Winslow (1923) definierte Gesundheitsförderung als eine organisierte Anstrengung der Gesellschaft, den Einzelnen in persönlichen Gesundheitsfragen aufzuklären und ein soziales System zu entwickeln, das jedem Einzelnen einen Lebensstandard bietet, der zur Erhaltung und Verbesserung seiner Gesundheit geeignet ist.

    (2)  COM(2023) 298 final.

    (3)  Spezifische Elemente in Bezug auf prekäre Beschäftigungsverhältnisse und die psychische Gesundheit werden in der Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Prekäre Beschäftigung und psychische Gesundheit“ ausführlich behandelt (ABl. C 228 vom 29.6.2023, S. 28).

    (4)  WHO QualityRights Toolkit — Instrumentarium zur Bewertung und Verbesserung der Qualität und der Menschenrechte in Einrichtungen der psychischen Gesundheit und Sozialfürsorge. Genf, Weltgesundheitsorganisation, 2012.

    (5)  https://www.cultureforhealth.eu/knowledge/.

    (6)  Entschließung des Europäischen Parlaments vom 10. Juli 2020 zur Strategie der EU im Bereich der öffentlichen Gesundheit für die Zeit nach der COVID-19-Pandemie (ABl. C 371 vom 15.9.2021, S. 102), https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-9-2020-0205_DE.html.

    (7)  Die Angst, keinen Zugang zu einem Mobiltelefon oder einem anderen Gerät zu haben; diese steht auch im Zusammenhang mit der Abhängigkeit von sozialen Medien und dem Internet.

    (8)  https://eventi.ambrosetti.eu/headway/wp-content/uploads/sites/225/2022/09/220927_Headway_Mental-Health-Index-2.0_Report-1.pdf.

    (9)  https://eventi.ambrosetti.eu/headway/wp-content/uploads/sites/225/2022/09/220927_Headway_Mental-Health-Index-2.0_Report-1.pdf, S. 60.

    (10)  Daten der Vereinten Nationen.

    (11)  https://www.angelinipharma.at/presse/presseaussendungen/welttag-fur-psychische-gesundheit-der-neue-headway-bericht-hebt-die-bestimmenden-umweltfaktoren-psychischer-gesundheit-hervor/.

    (12)  https://health.ec.europa.eu/system/files/2022-12/2022_healthatglance_rep_en_0.pdf.

    (13)  Lesen Sie den Bericht unter https://eige.europa.eu/sites/default/files/documents/gender_equality_index_2022_corr.pdf. Siehe auch https://eige.europa.eu/publications/gender-equality-index-2021-report/women-report-poorer-mental-well-being-men.

    (14)  https://timesofindia.indiatimes.com/life-style/health-fitness/health-news/females-twice-more-likely-to-suffer-from-long-covid-who-releases-alarming-data-on-sufferers-and-symptoms/photostory/94194227.cms?picid=94194317.

    (15)  https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_22_5169.

    (16)  https://ec.europa.eu/social/main.jsp?langId=de&catId=89&furtherNews=yes&newsId=10382#navItem-relatedDocuments.

    (17)  Brennan, C.S., Disability Rights During the Pandemic: A Global Report on Findings of the COVID-19 Disability Rights Monitor. 2020, COVID-19 Disability Rights Monitor.

    (18)  https://www.who.int/news-room/fact-sheets/detail/disability-and-health.

    (19)  https://apps.who.int/iris/bitstream/handle/10665/333964/WHO-EURO-2020-40745-54930-eng.pdf.

    (20)  Health at a Glance: Europe 2022 © OECD/Europäische Union, 2022.

    (21)  https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52021DC0323.

    (22)  https://osha.europa.eu/de/themes/health-and-social-care-sector-osh.

    (23)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Strategie für das Gesundheitswesen und seine Arbeitskräfte für die Zukunft Europas“ (Initiativstellungnahme) (ABl. C 486 vom 21.12.2022, S. 37).

    (24)  Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Prekäre Beschäftigung und psychische Gesundheit“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des spanischen Ratsvorsitzes) (ABl. C 228 vom 29.6.2023, S. 28).

    (25)  https://osha.europa.eu/de/themes/health-and-social-care-sector-osh.

    (26)  Flore Gil Bernal, Iberoamerikanische Universität, Mexiko, www.fearof.net.

    (27)  Office for National Statistics (2021), Coronavirus and depression in adults, Great Britain: July to August 2021.

    (28)  Long Covid Syndrome — https://www.oeb.org.cy/egcheiridia-long-covid-cyprus.

    (29)  Wijker, Sillitti and Hewlett (2022), The provision of community-based mental health care in Lithuania, https://doi.org/10.1787/18de24d5-en.

    (30)  Sciensano, 2022; Santé publique France, 2022.


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