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Document 52020XC0807(01)

Leitlinien der Kommission für die Expertengremien für Medizinprodukte zur einheitlichen Auslegung der Entscheidungskriterien im Konsultationsverfahren im Zusammenhang mit der klinischen Bewertung (Text von Bedeutung für den EWR) 2020/C 259/02

C/2020/5264

ABl. C 259 vom 7.8.2020, p. 2–8 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

7.8.2020   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 259/2


Leitlinien der Kommission für die Expertengremien für Medizinprodukte zur einheitlichen Auslegung der Entscheidungskriterien im Konsultationsverfahren im Zusammenhang mit der klinischen Bewertung

(Text von Bedeutung für den EWR)

(2020/C 259/02)

Inhalt

1.

Einleitung 3

2.

Kriterium 1: Neuartigkeit und klinische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit 3

2.1.

Bewertung neuartiger Aspekte 4

2.2.

Bewertung der erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit 4

2.3.

Ungewissheiten 6

3.

Kriterium 2: wissenschaftlich fundierte Gesundheitsbedenken 6

3.1.

Indikationen für Gesundheitsbedenken auf der Grundlage der Kenntnisse und des Fachwissens des Expertengremiums 7

3.2.

Indikationen für Gesundheitsbedenken auf der Grundlage von Informationen des Kommissionssekretariats 7

4.

Kriterium 3: erheblich vermehrtes Auftreten schwerwiegender Vorkommnisse 8

5.

Revisionsklausel 8

1.   Einleitung

Mit dem vorliegenden Dokument stellt die Kommission den Expertengremien, die gemäß Artikel 106 der Verordnung (EU) 2017/745 (1) des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2017 über Medizinprodukte (Medical Devices Regulation, im Folgenden „MDR“) eingerichtet wurden, Leitlinien zur Verfügung. Mit diesen Leitlinien soll die einheitliche Auslegung der Kriterien sichergestellt werden, die bei der Entscheidung darüber anzuwenden sind, ob ein wissenschaftliches Gutachten gemäß Anhang IX Abschnitt 5.1 („Bewertungsverfahren bei bestimmten Produkten der Klasse III und der Klasse IIb“) Buchstabe c bzw. gemäß Anhang X Abschnitt 6 der genannten Verordnung vorgelegt wird oder nicht.

Nach Artikel 54 Absatz 1 der MDR ist die Konsultation von Expertengremien im Zusammenhang mit der klinischen Bewertung dann erforderlich, wenn bei folgenden Produkten eine Konformitätsbewertung durchgeführt wird:

implantierbare Produkte der Klasse III;

aktive Produkte der Klasse IIb, die dazu bestimmt sind, ein Arzneimittel an den Körper abzugeben und/oder aus dem Körper zu entfernen.

Nach Maßgabe von Artikel 54 Absatz 2 der MDR ist das Konsultationsverfahren im Zusammenhang mit der klinischen Bewertung für die vorgenannten Produkte jedoch nicht erforderlich, wenn

a)

eine gemäß der MDR ausgestellte Bescheinigung erneuert wird,

b)

die Produkte durch Änderung von Produkten ausgelegt wurden, die bereits vom selben Hersteller mit derselben Zweckbestimmung in Verkehr gebracht wurden, sofern der Hersteller der Benannten Stelle zu deren Zufriedenheit nachgewiesen hat, dass die Änderungen das Nutzen-Risiko-Verhältnis der Produkte nicht beeinträchtigen (2),

c)

die Grundsätze der klinischen Bewertung der entsprechenden Produktart oder -kategorie in einer Spezifikation festgelegt wurden und die Benannte Stelle bestätigt, dass die klinische Bewertung dieses Produkts durch den Hersteller mit der einschlägigen Spezifikation für die klinische Bewertung dieser Art von Produkt im Einklang steht.

Gemäß Anhang IX Abschnitt 5.1 Buchstaben c und d entscheidet das Expertengremium — unter Aufsicht der Kommission — innerhalb von 21 Tagen, ob es ein wissenschaftliches Gutachten zum Bericht der Benannten Stelle über die Begutachtung der klinischen Bewertung vorlegen wird, das sich auf den klinischen Nachweis des Herstellers insbesondere zur Nutzen-Risiko-Abwägung, zur Kohärenz dieses Nachweises mit der medizinischen Indikation oder den medizinischen Indikationen und zum Plan für die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen stützt. Die Entscheidung erfolgt auf der Grundlage der folgenden Kriterien:

i)

Neuartigkeit des betreffenden Produkts oder des damit verbundenen klinischen Verfahrens und seine möglichen erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit;

ii)

erhebliche nachteilige Änderung des Nutzen-Risiko-Profils einer speziellen Kategorie oder Gruppe von Produkten aufgrund wissenschaftlich fundierter Gesundheitsbedenken in Bezug auf ihre Komponenten oder ihr Ausgangsmaterial oder in Bezug auf die Gesundheitsauswirkungen bei Versagen des Produkts;

iii)

erheblich vermehrtes Auftreten schwerwiegender Vorkommnisse gemäß Artikel 87 der MDR bei einer speziellen Kategorie oder Gruppe von Produkten.

2.   Kriterium 1: Neuartigkeit und klinische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit

Dieser Abschnitt enthält Leitlinien zur Bewertung der Neuartigkeit des betreffenden Produkts oder des damit verbundenen klinischen Verfahrens und seiner möglichen erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit.

Das Kriterium der Neuartigkeit bezieht sich direkt auf das zu bewertende Produkt oder das damit verbundene klinische Verfahren und kann daher auf der Grundlage der verfügbaren Dokumente bewertet werden, d. h. des Berichts der Benannten Stelle über die Begutachtung der klinischen Bewertung sowie der Begleitdokumente, insbesondere des Berichts des Herstellers über die klinische Bewertung.

Neuartigkeit impliziert in der Regel, dass es an Erfahrung in Bezug auf die Sicherheit und Leistung des Produkts oder der spezifischen Merkmale des Produkts oder des damit verbundenen klinischen Verfahrens mangelt und dass es keine ähnlichen Produkte gibt oder die Erfahrung mit ähnlichen Produkten nicht ausreicht, um eine direkte Beurteilung der tatsächlichen Sicherheit und Leistung des Produkts zu ermöglichen. Bei Innovationen, die auf Änderungen früherer Varianten des Produkts beruhen, können jedoch relevante Angaben aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen verfügbar sein, die es zu berücksichtigen gilt. Zu diesem Zweck muss das Expertengremium die klinischen Auswirkungen bzw. die Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit abschätzen, die sich aus der Neuartigkeit ergeben. Neuartigkeit allein ist kein ausreichender Grund für die Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens. Vielmehr muss das Gremium alle möglichen erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit berücksichtigen, die sich aus der Neuartigkeit ergeben.

Umgekehrt führen mögliche klinische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die nicht mit einem neuartigen Produkt (oder neuartigen Merkmalen eines Produkts) oder einem neuartigen klinischen Verfahren in Zusammenhang stehen, nicht zu einem wissenschaftlichen Gutachten.

2.1.   Bewertung neuartiger Aspekte

Relevante Aspekte eines Produkts, in denen Neuartigkeit und Innovationen zum Tragen kommen könnten, sind unter anderem, aber nicht ausschließlich, die nachstehend aufgeführten. Um Kohärenz zu gewährleisten, sollten die Experten bei der Bewertung der möglichen Neuartigkeit eines Produkts die folgenden Aspekte gebührend und systematisch berücksichtigen:

A)   Verfahrensbezogene Aspekte

neuartiges klinisches oder chirurgisches Verfahren, das sich unter anderem auf eine Neuerung oder Änderung von Folgendem bezieht:

Anwendungsweise oder Behandlungsmöglichkeit;

Schnittstelle Produkt-Patient (einschließlich Wartung und Anpassung);

Interaktion und Steuerung (vorhandene Technologien mit einer neuen Schnittstelle oder einem neuen Verwendungskontext, neue Art der Produktanwendung);

Entwicklungsmethoden.

B)   Produktbezogene Aspekte

neuartige medizinische Zweckbestimmung, einschließlich einer neuen Zweckbestimmung des Produkts im Hinblick auf die klinischen Bedingungen, den Schweregrad und das Stadium der Krankheit, die Körperstelle, die Zielpopulation (Alter, Anatomie, Physiologie, Geschlecht) unter besonderer Berücksichtigung von Produkten, die in der Pädiatrie verwendet werden. Beispielsweise können neuartige Produkte darauf abzielen, bisher unerfüllte medizinische Bedürfnisse zu erfüllen, sei es für eine Krankheit als Ganzes oder für bestimmte Indikationen oder Patientenpopulationen, und zwar im Rahmen einer breiteren Zweckbestimmung;

neuartige Bauart, einschließlich neuer/geänderter Spezifikationen und Eigenschaften wie physikalisch-chemische Eigenschaften (z. B. mechanische Eigenschaften, Viskosität, Oberflächenbeschaffenheit, Wellenlänge, Energieart und -intensität), Form, Größe sowie Software-Algorithmen, sofern diese einen integralen Bestandteil der Funktion des Produkts darstellen;

neuartige Wirkungsweise, einschließlich aufgrund neuer/geänderter physikalischer oder chemischer Eigenschaften. Bei kombinierten Produkten müssen neue pharmakologische, immunologische oder metabolische Eigenschaften des Arzneimittels berücksichtigt werden;

neuartige Materialien, insbesondere einschließlich neuer/geänderter Materialien oder Stoffe im Kontakt mit menschlichen Geweben oder Körperflüssigkeiten, Änderungen der Dauer des Kontakts oder des Abgabeverhaltens der Stoffe einschließlich Abbauprodukten und herauslösbarer Bestandteile („leachables“) sowie der Oberflächenbeschaffenheit des Produkts, etwa spezifische Beschichtungen und Oberflächenbehandlungen;

neuartiges Körperteil, an dem ein gängiges Material angewandt wird, was zu einem neuen/veränderten Kontakt mit und/oder einer neuen/veränderten mechanischen Belastung von gleichen oder verschiedenen Geweben führt;

neuartige Komponenten, einschließlich Teilen, Stücken oder Software, die einen integralen Bestandteil der Funktion des Produkts bilden;

neuartige Herstellungsverfahren, einschließlich z. B. additiver Fertigung, 3D-Druck mit organischem Material (Bioprinting), Sterilisationsverfahren, nach dem neuesten Stand der Technik.

Es wird davon ausgegangen, dass die von der Benannten Stelle an die Expertengremien übermittelten Informationen in einigen Fällen in erster Linie die Bewertung von neuartigen Aspekten ermöglichen, die sich auf die medizinische Zweckbestimmung und das betreffende klinische Verfahren beziehen.

In der Regel ist kein wissenschaftliches Gutachten erforderlich, wenn der Grad der Neuartigkeit gering ist und es keine möglichen erheblichen negativen klinischen Auswirkungen und/oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit gibt. Ein wissenschaftliches Gutachten ist gleichwohl dann erforderlich, wenn unabhängig vom geschätzten Grad der Neuartigkeit erhebliche negative klinische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zu erwarten sind.

2.2.   Bewertung der erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit

Sobald das Expertengremium den Grad der Neuartigkeit beurteilt hat, müssen die möglichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit bewertet werden.

A)   Klinische Auswirkungen: Auswirkungen auf Ebene des Einzelnen

Ausgehend von der Definition des Begriffs „klinischer Nutzen“ in Artikel 2 Nummer 53 der MDR („die positiven Auswirkungen eines Produkts auf die Gesundheit einer Person, die anhand aussagekräftiger, messbarer und patientenrelevanter klinischer Ergebnisse einschließlich der Diagnoseergebnisse angegeben werden, oder eine positive Auswirkung auf das Patientenmanagement oder die öffentliche Gesundheit“) wird unter klinischen Auswirkungen in diesem Kontext die Gesamtheit von Nutzen, Gefahren und verbundenen Risiken auf Ebene des Einzelnen verstanden. Bei völlig neuen Geräten werden zur Abschätzung der klinischen Auswirkungen in der Regel die Informationen herangezogen, die in der Phase vor dem Inverkehrbringen gewonnen wurden. Bei Änderungen an bereits bestehenden Produkten kann bei der Bewertung der klinischen Auswirkungen zusätzlich auch auf verfügbare Informationen nach dem Inverkehrbringen, insbesondere den Bericht über die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen, zurückgegriffen werden.

Der Begriff „klinische Auswirkungen“ umfasst Folgendes:

klinische Ergebnisse, die zu Veränderungen im Hinblick auf folgende Aspekte führen: Mortalität, Morbidität, gesundheitsbezogene Lebensqualität, Behandlungslast, Dauer des Krankenhausaufenthalts, Art der Verabreichung, Schweregrad, Intensität, Dauer und Zeitpunkt der Wirkungen, Notwendigkeit einer medizinischen oder chirurgischen Neuintervention und gegebenenfalls Berücksichtigung von Präferenzen, Akzeptanz, Nutzbarkeit sowie Mitwirkung des Patienten bei der Behandlung (Patienten-Compliance);

einen klinischen Nutzen oder wesentlichen Beitrag zur Versorgung einzelner Patienten oder spezifischer Patientengruppen, d. h. Veränderungen der klinischen Leistung und/oder des Sicherheitsprofils, die zu klinischen Vorteilen im Vergleich zu bestehenden zeitgemäßen Methoden führen;

negative klinische Ergebnisse, klinische Gefahren und verbundene Risiken;

Risiken im Zusammenhang mit der potenziellen Schwere, mit der Art, Anzahl und Häufigkeit von unerwünschten Ereignissen bzw. Vorkommnissen sowie mit der Wahrscheinlichkeit und Dauer von schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen und schwerwiegenden Vorkommnissen (Artikel 2 Nummern 57, 58, 64 und 65 der MDR);

Risiken im Zusammenhang mit der Inkompatibilität mit der Verwendung anderer medizinischer Produkte;

Risiken im Zusammenhang mit bestimmten Patientengruppen, insbesondere gefährdeten Patientengruppen (z. B. Kinder, ältere Menschen, Schwangere usw.);

Risiken im Zusammenhang mit der Fehlfunktion des medizinischen Produkts aufgrund der nach vernünftigem Ermessen vorhersehbaren nicht bestimmungsgemäßen Verwendung bzw. Fehlanwendung.

B)   Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit: Auswirkungen auf Ebene der Bevölkerung

„Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit“ wird in diesem Zusammenhang verstanden als potenzieller Nettonutzen bzw. potenzielle Nettorisiken, der bzw. die sich aus den klinischen Auswirkungen auf Bevölkerungsebene und hauptsächlich aus der Anwendung des Produkts nach dem Inverkehrbringen unter realen Bedingungen ergibt bzw. ergeben. Insbesondere:

Auswirkungen auf Ebene des Einzelnen, kumulativ auf Bevölkerungsebene ausgedrückt, d. h. Bewertung des Ausmaßes der Auswirkungen, der potenziell exponierten Bevölkerung und der Dauer der Auswirkungen;

Wahrscheinlichkeit schwerwiegender Gefahren für die öffentliche Gesundheit (Artikel 2 Nummer 66 der MDR);

Antizipation einer vertretbar hohen Marktdurchdringung aufgrund von Innovationen, die zu einer größeren Akzeptanz des Produkts führen, d. h. zu einer höheren Anzahl von Patienten, bei denen das Produkt angewendet wird, woraus sich eine höhere Gesamtwahrscheinlichkeit des Auftretens von Schäden ergibt, die ein höheres Nettorisiko zur Folge haben.

Der Begriff „Risiko“ ist in Artikel 2 Nummer 23 der MDR als Kombination von Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und Schwere des Schadens definiert.

C)   Bewertung der klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit

Bei der Bewertung von möglichen erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, die mit der Neuartigkeit des betreffenden Produkts verbunden sind, sollte das Gremium im Hinblick auf die vorgenannten Leitlinienelemente

den Fokus richten auf Gefahren, Schäden und Risiken: Der Begriff „Auswirkungen“ ist a priori neutral und kann positive Auswirkungen (Nutzen) und negative Auswirkungen (Gefahren und verbundene Risiken) umfassen. Daher sollte sich die Bewertung der Auswirkungen auf die Beurteilung und Abschätzung der negativen Auswirkungen oder Ergebnisse konzentrieren, einschließlich der Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts und der Schwere spezifischer Schäden. Der Bericht über die Begutachtung der klinischen Bewertung sollte ausreichende Informationen in Bezug auf die klinischen Risiken enthalten. Andernfalls kann die Benannte Stelle ersucht werden, ihre Schlussfolgerungen zur Nutzen-Risiko-Abwägung darzulegen;

mögliche Auswirkungen prüfen: In Übereinstimmung mit Anhang IX Abschnitt 5.1 Buchstabe c der MDR sollten bei der Bewertung der klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit auch mögliche Ergebnisse berücksichtigt werden, d. h. Auswirkungen, für die es keine direkte Evidenz (z. B. aufgrund klinischer Daten) gibt, die jedoch unter realen Bedingungen häufig genug auftreten könnten, um zu erheblichen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit zu führen. Der Begriff „Risiko“ impliziert auch die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines (negativen) Ergebnisses, weswegen diese Wahrscheinlichkeit berücksichtigt werden sollte. Schließlich sollten die Experten Ungewissheiten bezüglich der Einschätzung der Schwere des Schadens und des Ausmaßes der Risiken sorgfältig bedenken;

die Schwere der Auswirkungen einschätzen: Gemäß Anhang IX Abschnitt 5.1 Buchstabe c der MDR müssen mögliche erhebliche klinische Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit berücksichtigt werden. Daher sollten die Expertengremien auf der Grundlage ihrer klinischen Erfahrung und der Erkenntnisse aus der veröffentlichten Fachliteratur betreffend vergleichbare Fälle eine Abschätzung des Schweregrades der Auswirkungen vornehmen. Darüber hinaus sollten, soweit nützlich und verfügbar, Informationen im Zusammenhang mit den in den Ziffern ii und iii genannten Kriterien in Bezug auf Gesundheitsbedenken und das vermehrte Auftreten schwerwiegender Vorkommnisse bei relevanten Gruppen oder Kategorien von Produkten berücksichtigt werden.

Bei der Einschätzung des Schweregrades gilt es folgende Fragen zu beachten:

Besteht ein mögliches erhebliches Risiko für die öffentliche Gesundheit im Zusammenhang mit Morbidität und Mortalität?

Als wie schwerwiegend werden die möglichen unerwünschten Nebenwirkungen und deren Auswirkungen auf die Mortalität, Morbidität und gesundheitsbezogene Lebensqualität eingeschätzt?

Gibt es Auswirkungen, die zu lebensbedrohlichen Krankheiten und Beschwerden führen können?

Inwieweit haben die Auswirkungen Folgen für die Sicherheit und die öffentliche Gesundheitsversorgung bzw. die Patientenversorgung?

2.3.   Ungewissheiten

Bei der Bewertung der Neuartigkeit und der daraus resultierenden klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit können Ungewissheiten bestehen bleiben. Auch wenn für alle Medizinprodukte klinische Nachweise in ausreichender Quantität und Qualität vorliegen sollten, um eine positive Nutzen-Risiko-Schlussfolgerung zu stützen, sind für neuartige Produkte möglicherweise nur begrenzte Daten aus der Praxis verfügbar. Dies kann zu einer Änderung der Nutzen-Risiko-Schlussfolgerung führen, sobald die Produkte einer breiteren Patientenpopulation zur Verfügung gestellt werden.

Das Gremium wird ermutigt, mögliche Ungewissheiten im Hinblick auf die endgültige Entscheidungsfindung bezüglich der Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Gutachtens zu erfassen.

Gibt es viele Ungewissheiten im Zusammenhang mit der Neuartigkeit oder den klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit, ist auf Einzelfallbasis zu prüfen, ob ein wissenschaftliches Gutachten erstellt wird. Beispielsweise kann ein hohes Maß an Ungewissheit die Entscheidung für ein wissenschaftliches Gutachten rechtfertigen, selbst wenn die Neuartigkeit und die daraus resultierenden negativen klinischen Auswirkungen oder Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit nicht als erheblich angesehen werden. Für den Fall, dass das Expertengremium es aufgrund eines hohen Maßes an Ungewissheit für notwendig erachtet, ein wissenschaftliches Gutachten zu erstellen, sollte es eine kurze Erklärung abgeben, in der insbesondere auf die verbleibenden Ungewissheiten hingewiesen und angegeben wird, warum diese als mit Risiken verbunden angesehen werden.

Auch wenn das Expertengremium sein Expertenwissen in vollem Umfang nutzt, wird von ihm nicht erwartet, dass es eine Risikobewertung für das entsprechende Produkt durchführt, sondern vielmehr dass es seine Entscheidung auf die von der Benannten Stelle bereitgestellten Informationen stützt.

3.   Kriterium 2: wissenschaftlich fundierte Gesundheitsbedenken

Medizinprodukte können aus verschiedenen Gründen mit gesundheitlichen Bedenken verbunden sein. Im Zusammenhang mit dem in Anhang IX Abschnitt 5.1 Buchstabe c dargelegten zweiten Entscheidungskriterium wird in der MDR unter anderem die erhebliche nachteilige Änderung des Nutzen-Risiko-Profils einer speziellen Kategorie oder Gruppe von Produkten aufgrund wissenschaftlich fundierter Gesundheitsbedenken in Bezug auf ihre Komponenten oder ihr Ausgangsmaterial oder in Bezug auf die Gesundheitsauswirkungen bei Versagen des Produkts genannt.

Gesundheitsbedenken werden häufig erst dann bekannt, wenn die Produkte schon auf dem Markt sind und unter realen Bedingungen verwendet werden. Informationen hinsichtlich solcher Bedenken können für das zu bewertende Produkt relevant sein, insbesondere wenn das Produkt aus Komponenten oder Ausgangsmaterialien besteht, die mit unannehmbar hohen unerwünschten Nebenwirkungen in Verbindung gebracht werden oder die von demselben Fehler betroffen sein können wie Produkte, von denen bekannt ist, dass sie zu unannehmbar hohen unerwünschten Nebenwirkungen führen. Informationen, die sich auf ein bestimmtes Produkt eines einzigen Herstellers unter verschiedenen Herstellern, die die gleichen Komponenten und Ausgangsmaterialien verwenden, oder auf einen einzelnen Fall beziehen, bieten in der Regel keinen ausreichenden Grund für die Notwendigkeit der Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens. Die verfügbaren Informationen müssen hinreichend zuverlässig und zutreffend sein, um ein wissenschaftliches Gutachten auslösen zu können.

3.1.   Indikationen für Gesundheitsbedenken auf der Grundlage der Kenntnisse und des Fachwissens des Expertengremiums

In bestimmten Fällen können die Experten in den Gremien über Informationen zu Gesundheitsbedenken in Bezug auf Gruppen oder Kategorien von Produkten verfügen, wenn diese Bedenken aus der einschlägigen wissenschaftlichen und klinischen Fachliteratur, einschließlich Beobachtungsstudien und Daten aus einschlägigen Registern, bekannt sind und/oder dort erörtert wurden. Auch der Bericht über die klinische Bewertung und der Bericht über die Begutachtung der klinischen Bewertung, der die Grundlage für die Beurteilung bildet, können Verweise auf einschlägige Publikationen enthalten.

In Fällen, in denen Experten der Auffassung sind, dass es Nachweise gibt, die auf fundierte Gesundheitsbedenken hinweisen, sollten die Zuverlässigkeit dieser Nachweise sowie die Relevanz für das zu bewertende Produkt berücksichtigt werden.

 

In Bezug auf die Zuverlässigkeit sollte Folgendes berücksichtigt werden:

die Qualität der Daten, die auf bestimmte Gesundheitsbedenken schließen lassen;

die Anzahl der dokumentierten Fälle und insbesondere, ob diese im Zeitverlauf systematisch beobachtet wurden;

die wissenschaftliche Plausibilität der geltend gemachten kausalen Zusammenhänge zwischen der Anwendung des Produkts und den jeweiligen Gesundheitsbedenken;

die Robustheit dieser kausalen Zusammenhänge.

 

In Bezug auf die Relevanz sollte Folgendes berücksichtigt werden:

ob das Produkt aus den gleichen oder aus ähnlichen Ausgangsmaterialien und/oder Komponenten wie für die Gruppe oder Kategorie von Produkten verwendeten besteht;

ob der für die Gruppe oder Kategorie von Produkten gemeldete Fehler auch auf das zu bewertende Produkt zutrifft;

ob das Produkt in einem klinischen Verfahren verwendet wird, das einem klinischen Verfahren ähnelt, bei dem Vorkommnisse für die Gruppe oder Kategorie von Produkten gemeldet wurden.

Wenn das Gremium davon überzeugt ist, dass die verfügbaren Informationen hinreichend zuverlässig und relevant sind, um ein wissenschaftliches Gutachten zu erstellen, sollte es seine Entscheidung entsprechend begründen.

3.2.   Indikationen für Gesundheitsbedenken auf der Grundlage von Informationen des Kommissionssekretariats

Alternativ können dem Gremium relevante Informationen vom Kommissionssekretariat der Expertengremien zur Verfügung gestellt werden. Diese Informationen stammen in der Regel aus den folgenden Quellen:

a)

Überwachung nach dem Inverkehrbringen durch den Hersteller und verbundene Vigilanzaktivitäten, insbesondere Meldung schwerwiegender Vorkommnisse (einzeln oder unter Verwendung periodischer Sammelmeldungen) sowie Sicherheitskorrekturmaßnahmen im Feld. Schwerwiegende Vorkommnisse und Sicherheitskorrekturmaßnahmen im Feld müssen in der Europäischen Datenbank für Medizinprodukte (Eudamed) gemeldet werden, sobald diese voll funktionsfähig und den Mitgliedstaaten und der Kommission zugänglich ist (Artikel 87 der MDR). Diese Informationen können es dem Expertengremium ermöglichen, Schlussfolgerungen zu relevanten Gesundheitsbedenken zu ziehen, insbesondere wenn sie für Gruppen oder Kategorien von Produkten und in einer Weise verfügbar sind, die es ermöglicht, plausible Kausalzusammenhänge zu erkennen.

b)

Je nach Klasse müssen die Hersteller regelmäßig aktualisierte Berichte über die Sicherheit vorlegen. Während der gesamten Lebensdauer des betreffenden Produkts werden in diesen Sicherheitsberichten die Schlussfolgerungen aus der Überwachung nach dem Inverkehrbringen aufgeführt. Sie müssen Aktualisierungen der Nutzen-Risiko-Abwägung, die wichtigsten Ergebnisse der Studien über die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen sowie die Gesamtabsatzmenge enthalten, um unter anderem die Berücksichtigung spezifischer Risiken auf Bevölkerungsebene zu ermöglichen. Für implantierbare Produkte der Klasse III kann der Sicherheitsbericht somit eine für die Expertengremien relevante Informationsquelle darstellen.

c)

Trendmeldungen (Artikel 88 der MDR) sind eine weitere Quelle für Informationen. Bei jedem statistisch signifikanten Anstieg der Häufigkeit oder des Schweregrades nicht schwerwiegender Vorkommnisse oder erwarteter unerwünschter Nebenwirkungen, die

a.

erhebliche Auswirkungen auf die Nutzen-Risiko-Abwägung haben könnten und

b.

die zu erheblichen Risiken für die Gesundheit oder Sicherheit der Patienten, Anwender oder anderer Personen führen oder führen könnten, die in Anbetracht des beabsichtigten Nutzens nicht akzeptabel sind,

müssen die Hersteller eine Trendmeldung abgeben. Trendmeldungen können daher auf spezifische Gesundheitsbedenken hinweisen, die im vorliegenden Kontext von Relevanz sind.

d)

Für implantierbare Produkte und Produkte der Klasse III müssen die Hersteller einen Kurzbericht über Sicherheit und klinische Leistung erstellen. Dieser Kurzbericht muss eine Zusammenfassung der klinischen Bewertung und der Studien über die klinische Nachbeobachtung nach dem Inverkehrbringen sowie Informationen über frühere Generationen und Varianten des Produkts enthalten. Diese Informationen können in Bezug auf mögliche Gesundheitsbedenken im Zusammenhang mit implantierbaren Produkten der Klasse III von Relevanz sein (siehe Artikel 54 Absatz 2 Buchstabe b der MDR).

4.   Kriterium 3: erheblich vermehrtes Auftreten schwerwiegender Vorkommnisse

Informationen über jeden signifikanten Anstieg der Meldungen schwerwiegender Vorkommnisse gemäß den gesetzlichen Verpflichtungen für Hersteller (Artikel 87 der MDR) können, sofern verfügbar, vom Kommissionssekretariat bereitgestellt werden, wenn diese Informationen für die Tätigkeit der Expertengremien als relevant erachtet werden.

Das Expertengremium sollte von Fall zu Fall prüfen, ob ein bestimmter Satz von Informationen über schwerwiegende Vorkommnisse für das zu bewertende Produkt relevant ist. Das Gremium sollte seine Argumentation begründen, falls die vom Sekretariat zur Verfügung gestellten Informationen als für die Erstellung eines wissenschaftlichen Gutachtens nicht ausreichend erachtet werden.

5.   Revisionsklausel

Auf der Grundlage der während der ersten Amtszeit des Expertengremiums gesammelten Erfahrungen kann die Kommission eine Überarbeitung dieser Leitlinien in Erwägung ziehen.


(1)  ABl. L 117 vom 5.5.2017, S. 1.

(2)  MDCG 2019-3 Interpretation of Article 54(2)b rev 1; abrufbar unter https://ec.europa.eu/docsroom/documents/40661?locale=de.


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