Choose the experimental features you want to try

This document is an excerpt from the EUR-Lex website

Document 52012IE0474

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge“ ( Initiativstellungnahme )

    ABl. C 143 vom 22.5.2012, p. 10–16 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    22.5.2012   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 143/10


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge“ (Initiativstellungnahme)

    2012/C 143/03

    Berichterstatter: Carmelo CEDRONE

    Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2011 gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung, eine Initiativstellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten:

    "Wachstum und Staatsverschuldung in der EU: zwei innovative Vorschläge" (Initiativstellungnahme).

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Wirtschafts- und Währungsunion, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt nahm ihre Stellungnahme am 2. Februar 2012 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 478. Plenartagung am 22./23. Februar 2012 (Sitzung vom 23. Februar) mit 121 gegen 46 Stimmen bei 11 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Wesentliche Empfehlungen

    J. Monnet: "Die Krisen sind der Ansporn für Europa, voranzukommen und sich zu vereinen".

    1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ist der Auffassung, dass das Problem des Euro weniger wirtschaftlicher, sondern vielmehr politischer Natur ist. Seine Glaubwürdigkeit ist geschwächt, seit die Ratingagenturen das Vertrauen auf ein entschlossenes Handeln der Regierungen zur Vermeidung des Zahlungsausfalls überschuldeter Mitgliedstaaten verloren haben. Jüngste Initiativen wie der Vorschlag der Kommission zur Einführung von Stabilitätsanleihen (1) beschäftigen sich nur mit dem Aspekt der Stabilität und nicht mit Wachstum. Der Entwurf eines Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung des Rates (2) indes leidet unter einem eklatanten "demokratischen Defizit", da das Europäische Parlament und andere Institutionen der Union übergangen werden.

    1.2   Der EWSA ist außerdem davon überzeugt, dass die systemische Krise des Euro-Raums nicht durch die Rückkehr zu nationalen Egoismen und die Beschneidung von Rechten überwunden werden kann, sondern vielmehr durch einen wirtschaftspolitischen Wandel, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit und mehr Gerechtigkeit, Solidarität und Zusammenhalt. Dadurch ließe sich das Vertrauen der Öffentlichkeit in das Projekt Europa und die Wiederherstellung des Europäischen Sozialmodells wiedergewinnen. Ansonsten besteht für alle die Gefahr, dass die Krise nicht gelöst werden kann, was zum Bruch und sogar zum Scheitern der europäischen Idee führen könnte.

    1.3   Der EWSA ist der Ansicht, dass die EU-Institutionen nicht in die Falle tappen sollten, nur auf die Ratingagenturen zu reagieren – auch wenn diese mitunter die Schwächen des Marktes aufdecken. Die Institutionen müssen den Unionsbürgern eine wirkungsvolle Möglichkeit zur Überwindung der Krise aufzeigen, die zum einen ein Projekt für die Zukunft der EU enthält, das Vertrauen und Zuversicht einflößen kann, und die zum anderen das Gefühl der Zugehörigkeit und der Teilhabe an der Verwirklichung eines gemeinsamen Ideals des sozialen Fortschritts und eines hohen Beschäftigungsniveaus stärkt. Insbesondere müssen die Wähler sehen können, dass Stabilität mit Wachstum anstatt nur mit Einsparungen einhergeht, und robustes Wirtschaftswachstum könnte das Vertrauen der Finanzmärkte in den Euro-Raum und seine Glaubwürdigkeit wiederherstellen.

    1.4   Der EWSA begrüßt in diesem Sinne die von den Organen der EU unternommenen Schritte für eine gemeinsame Haushalts- und Fiskalpolitik, auch wenn es sich bislang nur um unvollständige und begrenzte Maßnahmen handelt. Unbeschadet der unverzüglichen Umsetzung und Nutzung der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und dann des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) erachtet er es für notwendig, rasch zwei konkrete Vorschläge zur Lösung der Frage des Wachstums (Eurobonds) und der Stabilisierung der Schulden (Unionsanleihen) (3) vorzulegen. Mit diesen Vorschlägen würde es möglich, dass einige Mitgliedstaaten und die EU nicht nur eine auf Sparpolitik beruhende Rettung des Euro verfolgen, die zu einer Verschlechterung der sozialen Bedingungen führt, das Wachstum erstickt und eine Rezession auszulösen droht.

    1.5   Für eine rasche Belebung des Wachstums ist es insbesondere erforderlich, einen – mit dem US-amerikanischen "New Deal" vergleichbaren "neuen europäischen Pakt", einen Plan zur wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Erholung aufzulegen. Mit diesem sollen die Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werden, ein robustes und anhaltendes Wachstum auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit und Wohlstand und vor allem demokratischem Konsens zu erzielen. Dadurch würden auch die Voraussetzungen geschaffen für eine wirkungsvolle gemeinsame wirtschafts- und fiskalpolitische Steuerung.

    1.6   Eine Vielzahl von Anleihen und Bonds wurden als mögliche Lösungen für die gegenwärtige Krise vorgeschlagen – zusammen mit den erforderlichen Strukturreformen (4), zu deren Verabschiedung die Mitgliedstaaten aufgefordert und motiviert werden sollten–. Dennoch liegt eine der politischen Schwächen dieser Vorschläge – wie auch im Grünbuch der Kommission – darin, dass sie entweder gesamtschuldnerische Bürgschaften der Mitgliedstaaten beinhalten, was sie für einige zentrale Regierungen – nicht zuletzt für die deutsche Bundesregierung – unakzeptabel werden ließ.

    1.7   Der EWSA ist hingegen der Auffassung, dass solche Bürgschaften und Transfers nicht erforderlich sind, weder um einen Teil der nationalen Schuldtitel in Schuldtitel der Union umzuwandeln noch um Nettoemissionen von Eurobonds durchzuführen. Er gibt auch zu bedenken, dass eine anleihebasierte Finanzierung nicht zu einer laxen Verwaltung der öffentlichen Finanzen führt, wenn die Umwandlung nationaler Schulden in Schuldtitel der Union im Rahmen eines Schuldenkontos anstatt eines Kreditkontos erfolgt. Die Nettoemission von Anleihen würde nicht den Zweck der Defizitfinanzierung haben, sondern vielmehr Sparguthaben und globale Überschüsse für Investitionen anziehen, die den Zusammenhalt und die Wettbewerbsfähigkeit steigern können.

    1.8   Der EWSA schlägt deshalb vor, zwei unterschiedliche, aber sich ergänzende Schuldtitel der Europäischen Union einzuführen: Unionsanleihen zur Stabilisierung der Verschuldung, und Eurobonds für Konjunkturbelebung und Wachstum. Der EWSA empfiehlt auch die Verwendung eines Teils des Nettokapitalstroms der Eurobonds zur Finanzierung eines europäischen Risikokapitalfonds, eines der ursprünglichen Ziele des Europäischen Investitionsfonds (EIF) (5).

    1.9   Unionsanleihen: Der – auch sukzessive – in Unionsanleihen umgewandelte Anteil staatlicher Schuldtitel bis zur Schuldengrenze von 60% des BIP könnte im Rahmen eines konsolidierten, aber nicht gehandelten Schuldenkontos gehalten werden (6). Da diese Titel nicht gehandelt werden, wären sie gegen Spekulation im Zusammenhang mit den Bewertungen durch Ratingagenturen abgeschirmt. Fiskaltransfers wären hierfür jedoch nicht erforderlich. Mitgliedstaaten, deren Schulden in Unionsanleihen gehalten werden, würden selbst für den Schuldendienst ihres Anteils aufkommen. Die Umwandlung würde auch bedeuten, dass der Hauptteil der Schuldtitel – in Bezug auf die verbleibenden nationalen Schuldtitel – dann den Maastricht-Kriterien entsprechen würde. Griechenland wäre zwar immer noch ein besonderes, aber nicht mehr ein unlösbares Problem, das nicht in den Griff gebracht werden könnte.

    1.10   Um dieses Ziel zu erreichen, müsste der Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht überarbeitet werden, sondern würde vielmehr an Glaubwürdigkeit gewinnen, die ihm derzeit auf den Märkten und bei den Wählern abhanden gekommen ist, da Stabilität ohne einschneidende Sparmaßnahmen erreicht würde. Außerdem könnte die Umwandlung eines erheblichen Teils (bis 60%) der Schulden der Mitgliedstaaten in Schulden der Union im Rahmen des Verfahrens der "verstärkten Zusammenarbeit" erfolgen. Mitgliedstaaten, die sich diesem Verfahren nicht anschließen möchten, könnten ihre eigenen Anleihen behalten (7).

    1.11   Im Unterschied zu Unionsanleihen könnten zur Finanzierung von Aufschwung und Wachstum aufgelegte Eurobonds gehandelt werden und der EU Kapital zuführen. Wie die BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) im September 2011 bestätigten, sind sie daran interessiert, Reserven in Euro zu halten, um zur Stabilisierung des Euro-Raums beizutragen. Werden diese Reserven in Eurobonds anstatt ausschließlich in nationalen Schuldtiteln gehalten, könnte die Rolle des Euro als internationale Reservewährung gestärkt und die Schwellenländer in ihrem Streben nach einem pluralistischeren globalen Währungsreservesystem erfolgreich unterstützt werden.

    1.12   Eurobonds müssen nicht die Staatsschulden Deutschlands oder anderer Mitgliedstaaten belasten und bedürfen keiner gesamtschuldnerischen staatlichen Bürgschaften. Die Europäische Investitionsbank (EIB) legt seit über 50 Jahren Schuldtitel auf, ohne dafür auf staatliche Bürgschaften zurückgreifen zu müssen, und sie ist dabei so erfolgreich, dass sie bereits doppelt so groß wie die Weltbank ist.

    1.13   Der Zufluss globaler Überschüsse in Eurobonds würde das Wachstum wieder ankurbeln. Wie das Beispiel der zweiten Amtsperiode der Regierung Clinton verdeutlicht, in der jedes Jahr ein Überschuss des Bundeshaushalts erzielt wurde, ist Wachstum das wirkungsvollste Mittel zum Schuldenabbau und zur Senkung des Defizits. Eurobonds könnten zur Finanzierung von Investitionen der EIB beitragen, die von den Einkünften der Mitgliedstaaten, die von diesen Investitionen profitieren, bedient werden, anstatt auf Fiskaltransfers unter den Mitgliedstaaten zu basieren.

    1.14   Ein solches anleihefinanziertes und investitionsgeführtes Wachstum im Rahmen der seit dem Amsterdamer Sonderaktionsprogramms von 1997 bestehenden Zuständigkeitsbereiche Konvergenz und Kohäsion der EIB-Gruppe könnte das makroökonomische Niveau von Fiskaltransfers erreichen.

    1.15   Förderung des Zusammenhalts: Mit Eurobonds könnten die Investitionsprojekte der EIB kofinanziert werden. Die EIB hat bereits seit 1997 das Mandat für solche Projekte, um den Zusammenhalt und die Konvergenz in folgenden Bereichen zu fördern: Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, Umwelt, umweltfreundliche Technologien sowie Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen und Unternehmensgründungen im Bereich der neuen Technologien.

    1.16   Die Wettbewerbsfähigkeit würde verbessert werden, indem ein Teil des Kapitalszustroms infolge der Emission von Eurobonds für die Finanzierung eines Risikokapitalfonds für KMU eingesetzt würde. Dies könnte eine europäische Mittelstandspolitik ermöglichen, die zu den ursprünglichen Zielen des nun zur EIB-Gruppe gehörenden Europäischen Investitionsfonds (EIF) gehörte.

    1.17   Ist die Europäische Zentralbank die Hüterin der Stabilität, so kann die EIB-Gruppe das Wachstum sichern, wenn ihre Investitionsvorhaben durch Eurobonds mitfinanziert werden. Unmittelbar nach der Finanzkrise 2008 wurde die EIB gefragt, ob sie Anleihen zur Stabilisierung der Schulden begeben und halten würde. Die Antwort lautete damals verständlicherweise "Nein". Doch die für den EIF konzipierte parallele zentrale Aufgabe, wie von Jacques Delors im Weißbuch "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung" der Europäischen Kommission 1993 vorgeschlagen, war die Emission von Unionsanleihen. Als Teil der EIB-Gruppe und gestützt auf die Erfahrung der EIB bei der erfolgreichen Emission von Anleihen könnte der EIF die Nettoemission von Eurobonds durchführen (siehe Ziffern 5.2 bis 5.8 weiter unten).

    1.18   Eurobonds könnten folglich zur Finanzierung eines "europäischen Wachstumsprogramms" und eines "Europäischen Wachstumspakts" beitragen, an dem die besten Kräfte der EU beteiligt sind: Unternehmen, Gewerkschaften und Verbände – ein Pakt, von dem konkrete Antworten auf die aktuelle Krise ausgehen. Dies wäre ein europäischer "New Deal" nach amerikanischem Vorbild, der dabei hilft, Wachstum und Beschäftigung zu beleben, die Schulden abzubauen, das Vertrauen und die Hoffnung in die Zukunft der EU wiederzugewinnen und vor allem die Jugendarbeitslosigkeit zu senken.

    1.19   Gleichzeitig muss ein Prozess in Gang gesetzt werden, um die Grundfragen der EU unverzüglich anzugehen: die wirtschafts- und fiskalpolitische Dimension, wie sie auf dem Brüsseler Gipfel vom 8./9. Dezember 2011 behandelt wurde und die auch die Stärkung der EZB als Garant der Finanzstabilität vorsehen sollte; die soziale und die politische Dimension, um das derzeitige demokratische Defizit zu überwinden und den Entscheidungsprozess zu beschleunigen. Praktisch handelt es sich um die Beseitigung all der Einschränkungen (insbesondere die Hemmnisse bei der Entscheidungsfindung und die politische Schwäche), die einem raschen und effizienten Handeln der EU entgegenstanden und stehen – nicht nur zur Stützung des Euro, sondern auch um zu verhindern, dass die Existenz der EU selbst gefährdet und ihre Daseinsberechtigung in Frage gestellt und dadurch ihr Niedergang beschleunigt wird.

    2.   Hintergrund

    2.1   Die vorliegende Stellungnahme verfolgt mithin das Hauptziel, ein unmittelbar umsetzbares Aktionsprogramm zu erarbeiten, bei dem keine neuen Institutionen oder Änderungen der Verträge erforderlich sind, und das die Grundlagen für eine gemeinsame Verwaltung der Schulden im Euro-Raum legt. Angesichts der erforderlichen Senkung nicht tragbarer nationaler Schuldenstände fügt sich diese Stellungnahme damit ein in den Rahmen bereits erarbeiteter oder sich gegenwärtig in Erarbeitung befindlicher Stellungnahmen des EWSA zur Frage des Wachstums, industrie- und finanzpolitischer Maßnahmen, der Produktivität und der Wettbewerbsfähigkeit.

    2.2   Nach der Finanzkrise von 2007/2008 wurde gehofft, dass das Gröbste überstanden sei. Die Beendigung der Krise kam die Unionsbürger teuer zu stehen und führte zum Anstieg der Staatsschulden. Doch nach zwei Jahren – und trotz des kurzfristigen Anstiegs der öffentlichen Schulden aufgrund der Kosten der Bankenrettungen – standen nicht mehr die privaten, sondern die öffentlichen Schulden im Fadenkreuz der Kritik.

    2.3   Der Angriff auf die schwächsten Länder hat die Verletzlichkeit des Euro-Raums offenbart. Dieser hat einen Gesamtstand aller nationalen Schulden, der zwar in jedem Fall gesenkt und unter Kontrolle gebracht werden muss, gleichwohl aber unter dem der Vereinigten Staaten liegt. Die – wenngleich spät – ergriffenen Maßnahmen sind ein großer Schritt nach vorne, aber immer noch nicht ausreichend, weil es sich um eine systemische Krise handelt, die mithin nicht von den Schulden dieses oder jenes Landes abhängt.

    2.4   Dadurch wurde ein für das Überleben des Euro-Raums und des europäischen Projekts selbst zentrales Problem schonungslos ans Licht gebracht: Wer gibt den Ton an, wer hat das letzte Wort? Die europäische Zivilgesellschaft hat inzwischen klar verstanden, dass die Lage nicht mehr von den durch gewählte Regierungen kontrolliert wird, sondern dass vielmehr nicht gewählte Einrichtungen deren Funktion usurpiert haben: Daher liegt das Risiko nicht nur in der Legitimität einzelner Regierungen, sondern auch im Überleben des demokratischen Prozesses auf europäischer Ebene.

    2.5   Der Euro blieb bis 2008 von Währungsturbulenzen verschont und hatte gegenüber dem Dollar an Stärke gewonnen, er war zur zweiten weltweiten Reservewährung aufgestiegen. Einer der Gründe für diesen Wandel und für die Angriffe auf den Euro liegt darin, dass die Ratingagenturen bis zur Griechenlandkrise angenommen hatten, die EU werde die Pleite eines Mitglieds des Euro-Raums nicht zulassen. Als keine rasche Lösung der griechischen Krise zu erkennen war, schoss der Spread bei Neuemissionen von Anleihen in die Höhe. Über zwei Jahre fehlte der politische Wille, eine Lösung für die Staatsschuldenkrise in Europa zu vereinbaren, und dies bewog die Ratingagenturen zur Herabstufung einer Reihe von Mitgliedstaaten des Euroraums, was nun die Kernländer genauso wie die Peripherie betrifft.

    2.6   Die EU – die gleichwohl darauf achten sollte, die Schulden abzubauen (und zwar sukzessive, damit der "schuldige" Kranke nicht stirbt, anstatt gesund zu werden) – muss entschlossener handeln. Den Staaten, und nicht nur denen mit dem höchsten Schuldenstand, sind die Hände gebunden, weil das Defizit nicht erhöht werden darf, und erschöpft durch ein niedriges Wachstum sind sie, zusammen mit der EU, antriebs- oder zumindest entscheidungsschwach geworden. Die Rentenmärkte wurden auch nicht von einer durch Einschränkungen, Sparzwänge und Kürzungen geprägten politischen Antwort besänftigt, da dadurch die Gefahr eines niedrigen oder negativen Wachstums steigt.

    2.7   Ein Problem liegt darin, dass die Überschüsse des einen Landes den Defiziten anderer Länder entsprechen. Ein anderes liegt in einer falschen Auffassung der "Crowding-out"-Hypothese (Verdrängung privatwirtschaftlicher Investitionen durch staatliche Aktivitäten) und des damit einhergehenden Irrglaubens, dass Kürzungen der öffentlichen Investitionen und Ausgaben notwendigerweise zu einem "Crowding-in" privater Investitionen und Ausgaben führen würde. Ebenso wurde übersehen, dass in einigen EU-Staaten, in denen früheren Sparprogrammen ein Konjunkturaufschwung folgte, dies im Kontext einer insgesamt expandierenden Nachfrage nach Exporten der EU geschah und in zahlreichen Fällen durch Währungsabwertungen flankiert wurde. Diese Möglichkeit steht den Mitgliedstaaten des Euro-Raums nun nicht mehr zur Verfügung.

    2.8   Die EU muss das Vertrauen der Unionsbürger in die gemeinsame Währung wiedergewinnen und sie davon überzeugen, dass sie für alle von Nutzen ist. Das macht ein wirtschaftliches, soziales und kulturelles Aktionsprogramm, einen "neuen europäischen Pakt" nach Vorbild des US-amerikanischen "New Deal" erforderlich, dessen Erfolg Präsident Truman ermutigte, den Marshall-Plan und die Wiederaufbauhilfe nach dem Weltkrieg zu unterstützen. Dadurch wurden alle europäischen Länder in die Lage versetzt werden, ein dauerhaftes Wachstum auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit und Wohlstand und vor allem Konsens (Teilhabe und Sozialpartnerschaft) zu erzielen.

    2.9   Eine solche, sowohl Stabilität als auch Wachstum umfassende Perspektive würde auch den politischen Konsens für weitere Instrumente der gemeinsamen wirtschafts- und fiskalpolitischen Steuerung ermöglichen. Es ist bar jeder Logik, zwar eine gemeinsame Währung, aber 17 unterschiedliche nationale Schuldenpolitiken zu haben. Eine auf Sparmaßnahmen basierende Haushaltspolitik zu betreiben macht es aber nicht besser. Was jetzt erforderlich ist sind sowohl fundierte Strategien für das Schuldenmanagement als auch gemeinsame Finanzinstrumente, die ein europäisches Wachstum schaffen können, während gleichzeitig übermäßige nationale Schuldenstände abgebaut werden.

    2.10   Ungeachtet der Folgen darf die Antwort der EU auf die Krise nicht nur lauten: "Einschränkungen, Sparzwänge, Kürzungen, Opfer usw." Ganz zu schweigen von der Bewertung und der Unterscheidung zwischen "Musterschülern" und "Schlusslichtern", die häufig nicht der Wahrheit entspricht und der tatsächlichen Verantwortungsverteilung nicht gerecht wird. Ein solcher Ansatz führt zu Zwietracht, Egoismus, Groll und Verbitterung – auch in kultureller Hinsicht – und letztlich zu engherziger Überheblichkeit und einem für Europa gefährlichen Populismus. Dem zugrunde liegen eine falsche Diagnose und eine moralistische Sicht der Krise, die es den sog. "Musterschülern" unmöglich macht, den anderen zu helfen.

    2.11   Der Spagat zwischen Sparen und Wachstum ist ein Dilemma, das die EU überwinden muss – auch mit dem Konsens seiner Bürger. Dabei muss, wie in den beiden folgenden Ziffern ausgeführt, gleichzeitig auf zwei Ebenen gehandelt werden.

    2.12   Zum einen ist ein neuer, ausgereifterer Vorschlag zu den Staatsschulden erforderlich, der die Rückführung der Schuldenstände auf der Grundlage gemeinsamer Solidarität und auf der Basis der Grundsätze des Vertrags ermöglicht, die Mitgliedstaaten nicht aus ihrer Verantwortung entlässt und spekulative Angriffe abwehrt. Die Verteidigung des Euro, die in erster Linie eine politische Frage ist, käme allen Ländern zugute, insbesondere den reicheren. Die paradoxe Situation einer anfänglich herbeigesehnten gemeinsamen Währung, die zum Alptraum der Unionsbürger geworden ist, würde damit vermieden werden.

    2.13   Der zweite Vorschlag sollte darauf abzielen, das Vertrauen der Unionsbürger zu wecken. Dafür muss ein Programm für den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufschwung umgesetzt werden, das entsprechender Mittel bedarf. Außerdem gilt es, eine große Idee, eine Art "neuer Pakt" für Europa – z.B. nach dem Modell des "New Deal" der USA – zu konzipieren. Auch der Marshallplan galt bekanntlich nicht nur dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern er hat auch allen europäischen Ländern eine dauerhafte Entwicklung auf der Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit, Produktivität, Beschäftigung, sozialer Sicherheit, Wohlstand und vor allem Konsens (Teilhabe und Sozialpartnerschaft) ermöglicht.

    2.14   Die EU muss sich deshalb nach Kräften darum bemühen, mit einer Stimme die von den Märkten aufgeworfenen Fragen zu beantworten, sind doch die Märkte mit ihrem regellosen und unkontrollierten Handeln an ihre Grenzen gestoßen. Dennoch hängt dies nicht von der einstimmigen Zustimmung aller Mitgliedstaaten zu den neuen Finanzinstrumenten ab. In diesem Bereich kann das Prinzip der "verstärkten Zusammenarbeit" zum Tragen kommen. Anstatt den Euro-Raum auf einen harten Kern einer Gruppe von Ländern zu reduzieren, für die das von Schaden sein könnte, sollte es den Ländern, die spekulativen Angriffen ausgesetzt sind, gestattet sein, einen maßgeblichen Teil ihrer Schulden zum Vorteil aller Mitgliedstaaten in ein europäisches Schuldenkonto einzubringen.

    3.   Unionsanleihen zur Stabilisierung der Staatsverschuldung

    3.1   In Europa sind Staatsschulden nicht mehr allein Angelegenheit des souveränen Staats. Die eingeschränkten Möglichkeiten und die Fehler der EU und fehlende wirksame Strukturen zur Überwachung und Beaufsichtigung der Finanzinstitute haben Beutezüge gegen nationale Währungen erleichtert (8). Auch aufgrund des Missmanagements der öffentlichen Hand wurde die Souveränität einiger gefährdeter Mitgliedstaaten beeinträchtigt.

    3.2   Der EWSA hält Haushaltsdisziplin in einigen Mitgliedstaaten – auch mittels gerechter und konsensbasierter Strukturreformen – für unerlässlich. Langfristig sollte es zu einer Fiskalunion mit einem Wirtschafts- und Finanzminister für den Euro-Raum kommen. Es ist bar jeder Logik, zwar eine gemeinsame Währung, aber 17 unterschiedliche nationale Schuldenpolitiken zu haben. Neben einer gemeinsamen Steuerung der Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten mittels Überwachung durch die EU müssen jetzt aber unverzüglich Sofortmaßnahmen zur Stabilisierung der Staatsschulden ergriffen werden.

    3.3   Der Tatsache, dass die Union selbst – im Gegensatz zu den hoch verschuldeten Mitgliedstaaten – praktisch keine eigentlichen Schulden aufweist, sollte mehr politische Bedeutung geschenkt werden. Bis Mai 2010 und dem Beginn der Übernahme von Staatsschulden hatte sie überhaupt keine Schulden. Selbst nach dem Aufkauf staatlicher Schuldtitel und den Bankenrettungen betragen die Schulden der Union nur etwas mehr als 1% des BIP der EU. Das ist weniger als ein Zehntel der Schulden im Verhältnis zum BIP in den USA der Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, als sich die Regierung Roosevelt daran machte, mittels Ausweitung der US-Schatzwechsel Ersparnisse in Investitionen umzuleiten (9). Im Unterschied zu den USA verfügt die EU über den Vorteil des späten Einstiegs in Anleihen.

    3.4   Die Souveränität der Mitgliedstaaten kann über die EU wieder hergestellt werden, indem die Regierungen – und nicht die Ratingagenturen – dazu befähigt werden, das Steuer wieder in die Hand zu nehmen, was durch eine strengere Aufsicht und Bewertung der Verantwortlichkeiten der Finanzmarktteilnehmer einschließlich der Ratingagenturen flankiert werden kann. Dies kann jedenfalls ohne Übernahme der Schulden, gemeinsame Staatsbürgschaften oder Fiskaltransfers erfolgen. Bei der Finanzierung des "New Deal" z.B. kaufte die US-Regierung unter Roosevelt weder Schulden von Teilstaaten der amerikanischen Union auf, noch verpflichtete sie diese, für Staatsanleihen des Bundesstaates zu bürgen oder Fiskaltransfers durchzuführen. Die USA finanzieren ihre Staatsanleihen über Bundessteuern – Europa indes kennt keine gemeinsame Steuerpolitik. Gleichwohl können die EU-Mitgliedstaaten den Anteil ihrer in Unionsanleihen umgewandelten nationalen Schuldtitel finanzieren, ohne dass dafür Fiskaltransfers zwischen den Mitgliedstaaten erforderlich wären.

    3.5   Das Europäische Konjunkturprogramm wurde in Reaktion auf die Finanzmärkte von einer Sparpolitik verdrängt. Die meisten Wähler sind sich nicht einmal der Verpflichtungen gewahr, die die Union bezüglich des Konjunkturprogramms eingegangen ist, sie sind sich aber sehr wohl bewusst, dass ihnen Opfer zur Rettung von Banken und Hedgefonds abverlangt werden. Die breite Öffentlichkeit weiß wenig über das Europäische Konjunkturprogramm.

    3.6   Die Umwandlung eines Teils nationaler Schuldtitel in Schuldtitel der Union könnte auch im Rahmen einer verstärkten Zusammenarbeit erfolgen, wobei wichtige Mitgliedstaaten wie u.a. Deutschland ihre eigenen Schuldtitel behalten. Nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon findet verstärkte Zusammenarbeit zwischen einer Minderheit von Mitgliedstaaten statt. Dennoch war die Einführung des Euro de facto das Beispiel für eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Mehrheit der Mitgliedstaaten. Das Institut Bruegel schlug vor, dass die in Anleihen der Union umgewandelten nationalen Schuldtitel von einer neuen Institution gehalten werden sollten (10). Doch eine neue Institution ist nicht erforderlich.

    3.7   Der in Unionsanleihen umgewandelte Teil nationaler Schuldtitel könnte von der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF), dann vom Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) in einem entsprechenden Umwandlungskonto gehalten anstatt in den Handel gebracht zu werden (11). Dadurch wären die umgewandelten Schuldtitel vor Spekulation geschützt. Die Investoren könnten ihre Anlagen bis zur Fälligkeit der Anleihen zur jeweiligen Zinsrate halten. Dadurch ließe sich das moralische Risiko vermeiden, da in einem Schuldenkonto gehaltene Anleihen nicht zur Kreditschöpfung verwendet werden können. Der Vorteil für die Regierungen und die Anleiheinhaber liegt darin, dass die Gefahr einer Staatsinsolvenz einiger Mitgliedstaaten dadurch erheblich gesenkt würde.

    4.   Eurobonds für den Wiederaufschwung und anhaltendes Wachstum

    4.1   Die jüngsten Entwicklungen haben deutlich gemacht, dass die EU gemäß der mit der Währungsunion geschaffenen Einheitswährung auch eine gemeinsame wirtschafts- und sozialpolitische Steuerung anstreben muss, um makroökonomische Ungleichgewichte besser bewältigen zu können. Bislang haben sich die Kommission und der Europäische Rat nur um Stabilität gekümmert und verdrängt, dass das Wachstum wieder angekurbelt werden muss.

    4.2   Dabei werden sowohl die sozialen als auch die globalwirtschaftlichen Aspekte fortgesetzter Sparpolitik sowie die Bedeutung anhaltender europäischer Nachfrage für die Exporte der Schwellenländer verkannt. Es wird auch übersehen, dass die Wiederankurbelung des Wachstums nicht mittels Fiskaltransfers zwischen den Mitgliedstaaten, sondern vielmehr durch die Verwendung des Überschusses der Schwellenländer zu finanzieren ist.

    4.3   So wurde z.B. in verschiedenen in der Presse veröffentlichten Vorschlägen als Antwort auf den Vorschlag des Bruegel-Instituts und einen früheren Vorschlag aus dem Jahr 1993 von Delors bezüglich Unionsanleihen – deutlich darauf hingewiesen, dass Nettoemissionen von Eurobonds Überschüsse der Zentralbanken von Schwellenländern und staatlicher Investitionsfonds anziehen und einen Multiplikatoreffekt haben würden.

    4.4   Dank dieser Kapitalzuflüsse in die Eurobonds könnte die seit 2008 von den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament eingegangene Verpflichtung für ein Europäisches Konjunkturprogramm Realität werden lassen. Wenngleich die Ausgabe anfänglich gestaffelt erfolgen würde, wäre der kumulative Zufluss eines Teils des fast 3 Billionen US-Dollar umfassenden Überschusses der Zentralbanken von Schwellenländern und staatlicher Investitionsfonds erheblich.

    4.5   Die Zuflüsse könnten den Eigenmitteln der Kommission durchaus entsprechen bzw. diese übertreffen, ohne dass die von Deutschland und einigen anderen Mitgliedstaaten abgelehnten Fiskaltransfers erforderlich wären. Sie könnten auch zur Finanzierung von Investitionen der EIB-Gruppe in den Bereichen der Kohäsionsziele Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung und Umwelt beitragen.

    4.6   Die EIB erhielt im Zuge des Amsterdamer Sonderaktionsprogramms von 1997 ein Mandat bezüglich der Kohäsions- und Konvergenzziele. Seitdem hat sie mit Erfolg den Umfang ihrer Investitionsdarlehen vervierfacht. Eine weitere Vervierfachung der Investitionen der EIB entspräche den Marshallplan-Hilfen (12) der USA in der Nachkriegszeit. Trotzdem würde diese Finanzierung, im Unterschied zum Marshallplan oder den Strukturfonds, nicht auf Anleihen, sondern vielmehr auf der Umleitung von Ersparnissen in Investitionen beruhen. Solche Investitionen würden durch wirtschaftliche Multiplikatoren zu anhaltender Nachfrage des Privatsektors und Beschäftigungszuwachs führen. Das Vertrauen sowohl der Märkte als auch der Öffentlichkeit darauf, dass Sparmaßnahmen durch höhere Lebensstandards und mehr Wohlstand ersetzt werden können, würde wiederhergestellt. Wachstum und höhere Beschäftigungsquoten würden direkte und indirekte Steuereinnahmen erzeugen, die zur Senkung von Schulden und Defizit beitragen könnten.

    5.   Der rechtlich-institutionelle Rahmen des Vorschlags

    5.1   Unionsanleihen und die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität

    5.1.1

    Die Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) könnte den in Unionsanleihen umgewandelten Anteil nationaler Schuldtitel in einem entsprechenden Umwandlungskonto verwahren, was ihrer Aufgabe der Stabilisierung entsprechen würde. Dass der EFSF im Juli 2012 durch den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ersetzt wird, wäre kein Hinderungsgrund, da dieser dann die umgewandelten Schulden übernehmen würde.

    5.1.2

    Der Grundsatz, dass in Unionsanleihen umgewandelte Schulden nicht in den Handel gebracht werden sollen, hätte die EFSF davor geschützt, von den Ratingagenturen und den Rentenmärkten herabgestuft zu werden. Die Verwahrung der Schulden in einem Schuldenkonto dürfte Deutschland und andere Mitgliedstaaten beruhigen, dass in Unionsanleihen umgewandelte nationale Schulden nicht für die Aufnahme neuer Schulden eingesetzt werden könnten.

    5.2   Die Konzeption des EIF und Eurobonds

    5.2.1

    Die EZB muss an Nettoanleiheemissionen nicht beteiligt werden. Das ursprüngliche Konzept für die Emission von eigenen Anleihen der Union bestand darin, dass dies über den 1994 gegründeten und seit 2000 zur EIB-Gruppe gehörenden EIF erfolgen soll. Die ursprüngliche Hauptaufgabe des EIF sollte darin bestehen, die Gemeinschaftswährung mit Gemeinschaftsanleihen auszustatten. In zweiter Linie sollte der EIF finanzielle Unterstützung für kleine und mittlere Unternehmen und für Unternehmensgründungen im Hochtechnologiebereich leisten, was seit 1994 indes seine einzige Funktion ist (13).

    5.2.2

    Beim ursprünglichen Konzept des EIF wurde berücksichtigt, dass eine Einheitswährung die Mitgliedstaaten der Möglichkeit berauben würde, die Zahlungsbilanz im Zuge einer Abwertung anzupassen, und es gab keine politische Unterstützung für Fiskaltransfers in der im MacDougall-Bericht (14) empfohlenen Größenordnung. Aber in diesem Bericht wurde mit Verweis auf den New Deal auch anerkannt, dass europäische Anleihen zur Finanzierung von struktur-, sozial- und regionalpolitischen Maßnahmen beitragen könnten, was das Ziel des Spaak-Berichts über den Gemeinsamen Markt war (15). Dies stand auch im Einklang mit den Zielen des MacDougall-Berichts bezüglich struktureller und zyklischer beschäftigungs- und regionalpolitischer Maßnahmen zur Minderung der Unterschiede zwischen den Regionen in puncto Kapitalausstattung und Produktivität.

    5.3   Die Konzeption des EIF und Risikokapital

    5.3.1

    Die Empfehlung von 1993, der EIF solle kleine und mittlere Unternehmen unterstützen, bezog sich nicht nur auf Kapitalbürgschaften oder Kredite für KMU, sondern auch auf einen mit bis zu 60 Mrd. ECU ausgestatteten Europäischen Risikokapitalfonds mit der besonderen Aufgabe, Unternehmensgründungen im Hochtechnologie-Bereich zu finanzieren.

    5.3.2

    Diese mittels EU-Anleihen finanzierten Investitionen würden über mehrere Jahre laufen, hätten aber gesamtwirtschaftliches Potenzial. Eine solide Bewirtschaftung der Mittel in Zusammenarbeit mit nationalen Kreditinstituten und regionalen Entwicklungsbehörden, die sich mit lokalen KMU auskennen, sollte sicherstellen, dass die Anleihen über die Renditen des Beteiligungskapitals finanziert werden könnten, sobald dies der geschäftliche Erfolg dieser Unternehmen gestattet.

    5.3.3

    Ziel war es, den Mangel an privatem Risikokapital in Europa – im Unterschied zu den USA – wettzumachen. Außerdem sollte die Abhängigkeit von KMU von festverzinslichen Krediten – die Unternehmensgründungen, die sich noch nicht auf dem Markt etabliert haben, benachteiligen – gesenkt und dadurch Innovation und Wettbewerbsfähigkeit auf mikroökonomischer Ebene gestärkt werden, was sich auf der makroökonomischen und der sozialen Ebene positiv auswirkt.

    5.3.4

    Der Aufgabenbereich Risikokapital wurde nach der Einrichtung des EIF im Jahr 1994 gegenüber dem der Kreditbürgschaften vernachlässigt und führte zu dem Ergebnis, dass der EIF bis zu seiner Eingliederung in die EIB-Gruppe Bürgschaften für KMU über lediglich 1 Mrd. ECU übernommen hatte. Das ursprüngliche Konzept eines mikroökonomischen Instruments mit makroökonomischer Wirkung wurde erst im September 2008 wiederentdeckt, als auf der Sitzung des Rates (Wirtschaft und Finanzen) in Nizza 30 Mrd. EUR zur KMU-Unterstützung vorgesehen wurden, allerdings nach wie vor mittels Darlehen und nicht in Form von Beteiligungen.

    5.3.5

    Die Rolle des EIF bei der Bereitstellung von Risikokapital und nicht nur von Darlehen sollte im Lichte der Nettoemission von Eurobonds überdacht erwogen werden – als ergänzende Maßnahme bei der Umwandlung eines Teils nationaler Schulden in Schulden der Union.

    5.4   Die EIB

    5.4.1

    Die EIB hat immer schon eigene Anleihen emittiert und hat sich eindeutig für die Bewahrung deren Identität, die sich von der der Eurobonds unterscheidet, ausgesprochen. Dieser Ansatz ist gerechtfertigt. Erstens legt die EIB ihre eigenen Anleihen vorwiegend zur Projektfinanzierung auf und möchte diese spezifische Identität wahren. Zweitens wurde angenommen, dass das Bedienen von Eurobonds Fiskaltransfers erforderlich macht, wobei die EIB ihre eigenen Anleihen jedoch mittels Einnahmen aus der Projektfinanzierung bedient. Drittens könnten Fiskaltransfers eine – wenig wahrscheinliche – Erhöhung der Eigenmittel der Kommission erforderlich machen. Die EIB war auch darüber besorgt, dass ihr eigenes Rating herabgestuft werden könnte, wenn sie in die Schuldenstabilisierung verwickelt wird.

    5.5   Ergänzender Charakter von EIB und EIF

    5.5.1

    Diese Vorbehalte würden indes nicht für die Nettoemissionen von Eurobonds durch den EIF gelten. Wenngleich sie ein und derselben Gruppe angehören, sind EIB und EIF verschiedene Institutionen. EIF-Eurobonds würden sich sowohl von den EIB-Anleihen als auch von den von der EFSF gehaltenen Unionsanleihen zur Schuldenstabilisierung unterscheiden.

    5.5.2

    Von der EIF aufgelegte Eurobonds könnten von der EIB emittierte Anleihen für gemeinsame Projektfinanzierungen ergänzen. Die Schuldenbedienung der Anleihen könnte über die Einnahmen aus Investitionsprojekten anstatt durch Fiskaltransfers erfolgen. Die EIB würde die Kontrolle behalten, die Projekte wären von ihrer Zustimmung abhängig und würden von ihr geleitet, was ein einheitliches Projektmanagement gewährleisten würde.

    5.5.3

    Sollte das – durchaus wichtige – Engagement lokaler Partner erforderlich sein, könnte die EIB dies über die Zusammenarbeit beim Projektmanagement mit nationalen Kreditinstituten wie z.B. der Caisse des Depôts et Consignations, der Cassa Depositi e Prestiti oder der Kreditanstalt für Wiederaufbau erreichen.

    5.6   Die Verwaltung der Anleihen durch die EIF

    5.6.1

    Der EIF würde einen neuen Geschäftsplan für die Steuerung der Emission frei handelbarer Anleihen, die in der ursprünglichen Zielsetzung der EIF eine zentrale Rolle spielten, benötigen. Dafür ist beruflich hoch qualifiziertes Personal erforderlich, das von der EIB rekrutiert und in Verbindung mit nationalen, für die Verwaltung der Schulden zuständigen Behörden bereitgestellt werden könnte. Da die Emissionen von Eurobonds schrittweise erfolgen würden, könnte das Team auch nach und nach aufgebaut werden.

    5.6.2

    Der Rat (Wirtschaft und Finanzen) ist das Leitungsgremium der EIB-Gruppe. Es wäre keine Überarbeitung der Verträge erforderlich, um die Emission von Eurobonds durch die EIF zu beschließen, wie dies auch nicht für die Einrichtung des EIF im Jahr 1994 erforderlich war.

    5.7   Die Kriterien für ein Europäisches Konjunkturprogramm müssen nicht vom Rat (Wirtschaft und Finanzen) festgelegt werden und bedürfen auch keines Vorschlags der Kommission. Die EIB wurde vom Europäischen Rat im Rahmen des "Amsterdam-Sonderaktionsprogramms" und auf seinen Tagungen in Luxemburg 1997 und Lissabon 2000 mit den beiden Aufgabenbereichen "Zusammenarbeit" und "Konvergenz" betraut. Damit kann sie Investitionen in folgenden Bereichen vornehmen: Gesundheit, Bildung, Stadterneuerung, städtische Umwelt, grüne Technologien, finanzielle Unterstützung für KMU und Unternehmensgründungen im Hochtechnologie-Bereich sowie transeuropäische Verkehrs- und Kommunikationsnetze.

    5.8   Seit 1997 hat die EIB ihre jährlichen Mittel für Investitionen erfolgreich vervierfacht, die nunmehr ein Niveau erreicht haben, das zwei Dritteln der Eigenmittel der Kommission entspricht. Würden diese Mittel bis 2020 – mithilfe einer Kofinanzierung durch Investitionen in Eurobonds von Zentralbanken und Staatsfonds Überschüsse erzielender Volkswirtschaften – erneut vervierfacht, könnte das Europäische Konjunkturprogramm konkrete Gestalt annehmen. Dies ist besonders deshalb zutreffend, da Investitionsmultiplikatoren erwiesenermaßen den Faktor 3 erreichen und deshalb ca. doppelt bis dreifach so hoch sind wie fiskalische Multiplikatoren (16).

    Brüssel, den 23. Februar 2012

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Staffan NILSSON


    (1)  Europäische Kommission, Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen vom 23. November 2011, COM(2011) 818 final.

    (2)  Europäischer Rat, Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, 10. Januar 2012.

    (3)  Es ist anzumerken, dass die in dieser Stellungnahme verwendete Definition von "Eurobonds" nicht genau der in anderen Quellen erarbeiteten Definition entspricht. Im Grünbuch der Kommission wird die Durchführbarkeit von "Stabilitätsanleihen" untersucht, ein Begriff, der mit den "Unionsanleihen" in dieser Stellungnahme verglichen werden kann – jedoch mit dem Unterschied, dass solche Bonds gesamtschuldnerische Bürgschaften benötigen würden. In anderen Beiträgen, wie z.B. von Lorenzo Bini Smaghi, wird der Begriff "Eurobonds" im gleichen Sinne des Erreichens von Stabilität verwendet. In dieser Stellungnahme indes beziehen sich "Eurobonds" auf die Nettoemission von Anleihen zur Erholung und Unterstützung der Konjunktur. Siehe außerdem: J. DELPLA und J. VON WEIZSÄCKER, The Blue Bond Proposal, in: Bruegel Policy Brief 2010/03; C.M. Schmidt u.a., Proposal for a European Redemption Pact, 9. November 2011, Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.

    (4)  Diese Reformen sollten, wie im Monti-Bericht vorgeschlagen, von der Vollendung des Binnenmarkts ausgehen.

    (5)  Holland, Stuart, The European Imperative: Economic and Social Cohesion in the 1990s, (Der europäische Imperativ: wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt in den 1990er Jahren), mit einem Vorwort von Jacques Delors, Nottingham (Spokesman Press) 1993.

    (6)  Die privaten Besitzer von Anleihen hätten dadurch erhebliche Vorteile in Bezug auf Zahlungsausfälle, da einzelstaatliche Schuldtitel eins zu eins und zu den ursprünglichen Zinsraten in Unionsanleihen umgewandelt würden.

    (7)  Die Mitgliedstaaten, die untereinander eine Verstärkte Zusammenarbeit im Rahmen der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Union begründen wollen, können, in den Grenzen und nach Maßgabe von Artikel 20 EUV und der Artikel 326 bis 334 AEUV, die Organe der Union in Anspruch nehmen und diese Zuständigkeiten unter Anwendung der einschlägigen Bestimmungen der Verträge ausüben. Eine Verstärkte Zusammenarbeit ist darauf ausgerichtet, die Verwirklichung der Ziele der Union zu fördern, ihre Interessen zu schützen und ihren Integrationsprozess zu stärken. Sie steht allen Mitgliedstaaten jederzeit offen. Der Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, und sofern an der Zusammenarbeit mindestens neun Mitgliedstaaten beteiligt sind. Der Rat beschließt nach dem in Artikel 329 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union vorgesehenen Verfahren. An die im Rahmen einer Verstärkten Zusammenarbeit erlassenen Rechtsakte sind nur die an dieser Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten gebunden. Sie gelten nicht als Besitzstand, der von beitrittswilligen Staaten angenommen werden muss (Artikel 20 EUV). Alle Mitglieder des Rates können an dessen Beratungen teilnehmen, aber nur die Mitglieder des Rates, die die an der Verstärkten Zusammenarbeit beteiligten Mitgliedstaaten vertreten, nehmen an der Abstimmung teil (Artikel 330 AEUV).

    (8)  Siehe Stellungnahme des EWSA zu dem "Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1060/2009 über Ratingagenturen", ABl. C 54 vom 19. Februar 2011, S. 37.

    (9)  Bis zu Roosevelts zweiter Amtszeit gab es in den USA keine Defizitfinanzierung. Die Erholung von der Großen Depression wurde jedoch sowohl in seiner ersten als auch seiner zweiten Amtszeit hauptsächlich durch anleihefinanzierte Investitionen im Sozial- und Umweltbereich vorangetrieben, wie sie jetzt auch Europa für die Konjunkturbelebung einsetzen könnte.

    (10)  Von Weizsäcker, J. und Delpla, J.: The Blue Bond Proposal, Institut Bruegel, Policy Brief 2010/03.

    (11)  Privaten Besitzer von auf den Märkten nicht handelbaren Titeln könnten diese erforderlichenfalls zum Nennwert und bis zum Erreichen der vereinbarten Höchstgrenze an die EMS verkaufen.

    (12)  Aus einer Meinungsumfrage Mitte der 1950er Jahre, bei der 2 000 Personen in Frankreich, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden, Österreich und Italien befragt wurden, gaben 80% an, den Marshallplan zu kennen, und zwischen 25 % und 40 % hatten Kenntnisse über seine Funktionsweise.

    (13)  Stuart Holland (1993), The European Imperative: Economic and Social Cohesion in the 1990s, a.a.O.

    (14)  Zwischen 5-7% des BIP - Europäische Kommission, 1977. Bericht der Sachverständigengruppe zur Untersuchung der Rolle der öffentlichen Finanzen bei der Europäischen Integration.

    (15)  Regierungsausschuss zur Europäischen Integration (1956), Bericht über den Gemeinsamen Markt (Spaak-Bericht).

    (16)  J. Creel, P. Monperrus-Veroni und F. Saraceno (2007), "Has the Golden Rule of public finance made a difference in the United Kingdom?", in: Arbeitspapiere des "Observatoire Français des Conjonctures Économiques", 2007, Nr. 13.


    Top