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Document 52012AE0827

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen“ COM(2011) 866 final — 2011/0421 (COD)

    ABl. C 181 vom 21.6.2012, p. 160–162 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    21.6.2012   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 181/160


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen“

    COM(2011) 866 final — 2011/0421 (COD)

    2012/C 181/28

    Alleinberichterstatterin: Béatrice OUIN

    Der Rat und das Europäische Parlament beschlossen am 19. bzw. 17. Januar 2012, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 304 AEUV um Stellungnahme zu folgender Vorlage zu ersuchen:

    Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen

    COM(2011) 866 final — 2011/0421 (COD).

    Die mit den Vorarbeiten beauftragte Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft nahm ihre Stellungnahme am 29. Februar 2012 an.

    Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 479. Plenartagung am 28./29. März 2012 (Sitzung vom 28. März) mit 149 gegen 2 Stimmen bei 4 Enthaltungen folgende Stellungnahme:

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1   Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss unterstützt den Vorschlag für einen Beschluss zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen.

    1.2   Er befürwortet den Ansatz, sich auf die Verfahrensweisen, die sich bei übertragbaren Krankheiten bewährt haben (1), und auf eine Analyse der jüngsten Krisen zu stützen, um die Lücken des geltenden Instrumentariums nach Maßgabe des Vertrags von Lissabon zu schließen.

    1.3   Um wirkungsvoller gegen Gesundheitsgefahren vorgehen zu können, die keine Grenzen kennen, bedarf es einer europaweiten, sektorübergreifenden Koordinierung.

    1.4   Der EWSA fordert jedoch nachdrücklich, alle Akteure der Zivilgesellschaft an der Bereitschaftsplanung und an der Kommunikation im Krisenfall zu beteiligen. Die Koordinierung allein den Fachkräften des Gesundheitswesens und den Katastrophenschutzexperten zu überlassen, entspricht nicht mehr der Funktionsweise der heutigen Gesellschaft, in der die Medien eine wichtige Rolle bei der Information der Bevölkerung übernommen haben.

    2.   Hintergrund

    2.1   Die großen Pest-, Cholera- oder Grippeepidemien der vergangenen Jahrhunderte sind im kollektiven Gedächtnis haften geblieben als weitverbreitete schwere Krankheiten, die anscheinend in der Lage waren, die Menschheit in nur wenigen Wochen zu dezimieren.

    2.2   Im Europa des 20. Jahrhunderts glaubte man, diesen Risiken dank der modernen Medizin den Rücken gekehrt zu haben. Die Staaten richteten Gesundheitssysteme zum Schutz der Bevölkerung ein (Pflichtimpfungen, Gesundheitsüberwachung), und Europa führte Rechtsvorschriften und ein wirksames Netz zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten ein. Dieses System funktioniert, solange es sich um bekannte, schon seit längerem identifizierte Viren handelt. Neuen Krankheiten wie Aids oder SARS gegenüber hat es sich als weniger wirksam erwiesen (2).

    2.3   Weitere Bedrohungen sind aufgekommen, die ebenfalls die Bevölkerung ganzer Regionen in Gefahr bringen können. Die allgemeine Mobilität von Menschen, Lebensmitteln, Produkten usw. führt zu neuen Anfälligkeiten. Viren, die bisher nur örtlich bekannt waren, können sich sehr rasch ausbreiten und in Regionen gefährlich werden, in denen sie unbekannt sind.

    2.4   Die Entdeckung und massenhafte Herstellung neuer chemischer Produkte haben es zwar ermöglicht, Krankheiten zu bekämpfen, landwirtschaftliche Erträge zu steigern, Bau und Beförderung zu erleichtern, Produkte in größerer Menge bereitzustellen und die Kommunikation in all ihren Formen zu beschleunigen und allgemein zugänglich zu machen – sie haben aber auch ihre Kehrseite. Die Menschen leben heute in einer „Chemiesuppe“, in der Schadstoffe aller Art in Luft, Wasser und Lebensmitteln vorkommen.

    2.5   Flüsse, Regen, Wind und Viren machen vor Grenzen nicht halt. Wenn es einen Bereich gibt, in dem ein Schulterschluss auf europäischer Ebene wesentlich ist, dann ist es der Gesundheitsschutz.

    2.6   Eine der Konsequenzen der industriellen Massenproduktion ist der Klimawandel mit seinen mannigfaltigen Auswirkungen. Und hinzukommen noch Industrieunfälle, neue Viren usw.: Der Schutz der Gesundheit darf sich nicht mehr auf den alleinigen Aspekt übertragbarer Krankheiten oder der medizinischen Überwachung der Bevölkerung beschränken.

    2.7   In einer eng verflochtenen Gesellschaft kann von überall her Gefahr für die Gesundheit kommen. Gesundheitskrisen beginnen mit industriebedingter Umweltverschmutzung, einer Tierseuche oder einer Naturkatastrophe. Deshalb müssen nicht nur die geografischen, sondern auch die Grenzen zwischen einzelnen Bereichen beseitigt werden.

    2.8   Im Fall übertragbarer Krankheiten gibt es einen von der Weltgesundheitsorganisation gesteuerten wirksamen weltweiten Mechanismus (3).

    2.9   Europa fängt nicht bei null an. Auch für übertragbare Krankheiten ist das System gut eingefahren und effizient; bei der H1N1-Epidemie hat es jedoch Lücken im Zusammenhang mit dem Kauf von Impfstoffen gezeigt, die erst beim Auftreten des neuen Virus entwickelt werden können. Die Produktion des Impfstoffs in industriellem Maßstab und die Aushand–lung der Preise haben die EU-Mitgliedstaaten zu unterschiedlichen Haltungen gegenüber der Impfung veranlasst, was schwerwiegende Auswirkungen auf die Ausbreitung des Virus gehabt haben könnte, wenn es ansteckender gewesen wäre.

    2.10   Nach den Anschlägen des 11. September 2001 und den Briefsendungen mit Anthrax-Sporen in den USA wurde auf europäischer Ebene ein für alle Risiken außer übertragbaren Krankheiten zuständiger Gesundheitssicherheitsausschuss (4) eingerichtet, der jedoch nicht institutionalisiert ist und daher keine politischen Entscheidungen treffen kann, falls sich dies als notwendig erweisen sollte.

    3.   Verbesserungsbedarf

    3.1   Der vorliegende Vorschlag ermöglicht die Schließung der bestehenden Lücken auf der Grundlage des Vertrags von Lissabon (5), der in diesem Bereich neue Zuständigkeiten verleiht, sowie ausgehend von der Analyse der bei den jüngsten Gesundheitskrisen aufgetretenen Schwierigkeiten.

    3.2   Diese Schwierigkeiten waren zahlreich: BSE-Krise, H1N1-Pandemie, E.-coli-/STEC-O104-Ausbruch, Terroranschläge mit Chlor im Irak, Kontamination mit Melamin, toxischer roter Schlamm, Ölpest, Vulkanaschewolke. Jede Krise ermöglicht es, die Schwächen des aktuellen Systems zu erkennen und Verbesserungen vorzuschlagen. Der vorliegende Vorschlag für einen Beschluss zielt darauf ab, aufbauend auf dem bereits bestehenden Fundament einen kohärenten Rahmen zu schaffen und die nationale und sektorspezifische Zusammenarbeit zu verbessern.

    3.3   Nicht angegangen wird in dem Vorschlag auf die Frage der radiologischen und nuklearen Risiken, die bereits in anderen EU-Rechtsvorschriften behandelt werden.

    3.4   Die derzeitige EU-Gesetzgebung bezieht sich nur auf die Gesundheitsbedrohungen durch übertragbare Krankheiten (6). Das Netz für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten, das Warnungen ausspricht und die Reaktion auf europäischer Ebene koordiniert, wird den heutigen Standards und Anforderungen nicht gerecht. Daher wird vorgeschlagen, es mit den in dem Vorschlag enthaltenen Bestimmungen zu ersetzen.

    3.5   Das bestehende System durch seine Ausweitung auf weitere Risiken zu verstärken, würde einen Effizienzgewinn ohne erhebliche Zusatzkosten ermöglichen.

    3.6   Der EWSA billigt die Ziele des Vorschlags:

    Im Bereich der Bereitschaftsplanung: Koordinierung der Bemühungen der Mitglied–staaten im Hinblick auf verbesserte Bereitschaft und Kapazitätsaufbau: „Dazu wird die Kommission die Koordinierung zwischen nationalen Planungsstellen und zwischen Schlüsselsektoren wie Verkehr, Energie und Katastrophenschutz sicherstellen und die Mitgliedstaaten dabei unterstützen, einen gemeinsamen Beschaffungsmechanismen für medizinische Abwehrmaßnahmen einzurichten.“

    Aufbau eines Ad-hoc-Netzes zur Bereitstellung relevanter Informationen und Daten für die Risikobewertung und das Monitoring neu auftretender Bedrohungen, sobald ein Mitgliedstaat eine andere schwerwiegende Bedrohung als eine übertragbare Krankheit meldet. Übertragbare Krankheiten werden weiterhin nach dem bisherigen Verfahren überwacht.

    Das derzeitige Frühwarn- und Reaktionssystem wird auf alle schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsbedrohungen ausgeweitet und nicht nur auf übertragbare Krankheiten angewandt werden.

    Koordinierte Entwicklung nationaler oder europäischer Risikoabschätzungsverfahren für Gesundheitsbedrohungen biologischer, chemischer, umweltbedingter oder unbekannter Herkunft in einer Krisensituation.

    Schließlich wird mit dem Beschluss ein kohärenter Rahmen für die EU-Reaktion auf Gesundheitskrisen geschaffen. Konkret wird die EU mit der Formalisierung des bestehenden Ausschusses für Gesundheitssicherheit besser in der Lage sein, im Falle einer Gesundheitskrise die nationalen Krisenreaktionen zu koordinieren.

    3.7   Den in diesem Vorschlag postulierten Absichten – besser zu koordinieren, effizienter zu sein, ein europäisches Beschaffungswesen einzusetzen, um mit pharmazeutischen Unternehmen Preise auszuhandeln, die einen Schutz aller Europäer ermöglichen, ein Warnsystem auf europäischer und nicht nur auf internationaler Ebene (WHO) einzurichten und die bestehenden Mechanismen auf chemische, bakteriologische, umweltbedingte usw. Risiken auszudehnen – steht der EWSA selbstverständlich sehr positiv gegenüber.

    3.8   Die Risiken mithilfe eines europäischen Netzes von Spezialisten zu bewerten, sich über den Schweregrad zu einigen, um eine angemessene Reaktion vorzusehen und gemeinsame Botschaften festzulegen, sensible Daten unter Einhaltung der Regeln (insbesondere derer zum Schutz personenbezogener Daten) sowohl mit vergleichbaren Daten zwischen Mitgliedstaaten als auch mit Nachbarländern auszutauschen sowie gemeinsame Hinweise für Reisende zu erarbeiten, trägt alles dazu bei, die bereits bestehenden Verfahrensweisen leistungsfähiger zu machen, ohne das System durch die Schaffung neuer Mechanismen zu überfrachten.

    4.   Die neueren Entwicklungen berücksichtigen

    4.1   Die EWSA möchte die Behörden der EU und der Mitgliedstaaten jedoch darauf aufmerksam machen, wie die jüngsten Krisen verlaufen sind.

    4.2   Sowohl bei der H1N1-Pandemie als auch dem E.-coli-/STEC-O104-Ausbruch war festzu–stellen, dass Informationen nicht nur von den Behörden verbreitet werden und dass ein Teil der Bevölkerung nichtverifizierten Informationen, die im Internet zirkulieren, mehr Glauben schenkt. Diese Informationsflut kann das Krisenmanagement erschweren und gravierende Auswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung sowie auf ganze Wirtschaftszweige haben, etwa wenn bestimmte Ärzte Kritik am Impfstoff üben oder wenn die Informationen zur Herkunft des Bakteriums falsch sind.

    4.3   Eine unzulängliche Informationsverbreitung kann zu einer enormen Verschwendung von Ressourcen führen und die Wirkung des Instrumentariums beeinträchtigen. Der pädagogische Aspekt muss ebenso wichtig sein wie wirtschaftliche Erwägungen.

    4.4   Dies veranlasst den EWSA zu der Empfehlung, dass alle Akteure der Zivilgesellschaft als Informationsvermittler an den Krisenmechanismen beteiligt werden und dass außerhalb der Krisenzeiten schon in der Schule und am Arbeitsplatz eine Sensibilisierung stattfindet, um den europäischen Bürgerinnen und Bürgern zu erklären, wie sie vor den Risiken geschützt werden, wie die Monitoring- und Alarmierungssysteme funktionieren und wem sie im Krisenfall glauben können, d.h. wer befugt ist, zuverlässige Informationen zu verbreiten.

    4.5   Die Kommunikation ist zu einem wesentlichen Faktor in Gesundheitskrisen geworden und ist von gleicher Bedeutung wie die Bereitstellung von Impfstoffen, denn was nützen im Endeffekt gute Impfstoffe, wenn die Bevölkerung nicht vom Nutzen einer Impfung überzeugt ist?

    4.6   Die Bürgerinnen und Bürger zur Verantwortung aufzurufen, hat nur dann Sinn, wenn sie auch über die Mittel verfügen, diese wahrzunehmen. Dazu ist es erforderlich, dass sie im Vorfeld über die bestehenden Mechanismen und die Rolle des Einzelnen aufgeklärt und informiert wurden. Die Bürgerinnen und Bürger können sowohl aktiv am gemeinsamen Schutz mit–wirken als auch die Situation verschlechtern, wenn sie nicht in die Verantwortung genommen und richtig informiert wurden. Die Behörden müssen im Allgemeininteresse sämtliche am Gemeinwohl interessierten Organisationen in den Schutz aller einbeziehen, indem sie zu einer angemessenen wechselseitigen Information animieren.

    Brüssel, den 28. März 2012

    Der Präsident des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Staffan NILSSON


    (1)  Entscheidung Nr. 2119/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 1998 über die Schaffung eines Netzes für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Gemeinschaft (ABl. L 268 vom 3.10.1998, S. 1).

    (2)  Schweres akutes Atemwegssyndrom.

    (3)  Internationale Gesundheitsvorschriften (IHR): http://www.who.int/ihr/fr/.

    (4)  Siehe die Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 15. November 2001 zum Bioterrorismus (13826/01) und die Schlussfolgerungen des Rates vom 22. Februar 2007 über die vorübergehende Verlängerung und Ausdehnung des Mandats des Ausschusses für Gesundheitssicherheit (HSC) (6226/07).

    (5)  Artikel 6 Buchstabe A und Artikel 168 Absatz 1 Aeuv.

    (6)  Entscheidung Nr. 2119/98/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. September 1998 über die Schaffung eines Netzes für die epidemiologische Überwachung und die Kontrolle übertragbarer Krankheiten in der Gemeinschaft (ABl. L 268 vom 3.10.1998, S. 1).


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