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Document 52006IE0753

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft

ABl. C 195 vom 18.8.2006, p. 104–109 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/104


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“

(2006/C 195/25)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 14. Juli 2005, gemäß Artikel 29 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu erarbeiten: „Vorrang für Afrika: Der Standpunkt der europäischen Zivilgesellschaft“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Außenbeziehungen nahm ihre Stellungnahme am 4. Mai 2006 an. Berichterstatter war Herr BEDOSSA.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 125 Ja-Stimmen bei 1 Stimmenthaltung folgende Stellungnahme:

Zusammenfassung

Die vorliegende Initiativstellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses (EWSA) beruht auf den Erfahrungen des Begleitausschusses AKP/EU, der seit mehreren Jahren die Anwendung des Abkommens von Cotonou mitverfolgt und aktiv an der Vorbereitung und der Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) mit den Organisationen der Zivilgesellschaft der AKP-Staaten beteiligt ist.

Die Mitteilung der Europäischen Kommission (1) veranlasst den EWSA, diese Politiken nun hinsichtlich der Einbindung von Nichtregierungsorganisationen in die Umsetzung des Cotonou-Abkommens sowie die Entwicklungshilfepolitik der EU zu bewerten. Der Ausschuss bedauert sagen zu müssen, dass die im Rahmen dieser Politiken gegebenen Versprechen zu selten eingelöst wurden, und zwar sowohl von europäischer als auch von afrikanischer Seite. In der Vergangenheit klafften die Absichtserklärungen und die konkreten, vor Ort ergriffenen Maßnahmen weit auseinander, aber Entwicklungspolitik bleibt wirkungslos, wenn nicht vor Ort die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden.

Das Abkommen von Cotonou ist insbesondere ein zwischenstaatliches Abkommen, das der Tätigkeit der Zivilgesellschaft vor Ort zu wenig Raum lässt. Außerdem wurden die in diesem Rahmen trotz allem vorgesehenen Hilfen und Instrumentarien nur selten tatsächlich bereitgestellt. Angesichts der Versäumnisse der zivilgesellschaftlichen Organisationen beim Aufbau von Kapazitäten für ein effizientes und unabhängiges Handeln ist es nicht verwunderlich, dass die unmittelbare Zukunft der WPA Fragen aufwirft, Sorgen bereitet und in Zweifel gezogen wird.

Da die Gesellschaftsmodelle Afrikas eigene, tief verwurzelte soziale und politische Besonderheiten aufweisen, die es bei der Verwirklichung der vom EWSA beschriebenen Ziele zu berücksichtigen gilt, ist der Ausschuss der Auffassung, dass er mit seiner Unterstützung der Zivilgesellschaft, des wichtigsten Akteurs der Entwicklungspolitik, zum Erfolg dieser neuen und ehrgeizigen europäischen Afrikastrategie beitragen kann, und stellt zwei wesentliche Bereiche heraus, in denen die Organisationen der Zivilgesellschaft etwas bewegen können:

Gewährleistung einer Regierungsführung, die der Entwicklung des Kontinents verpflichtet ist.

Diese müsste insbesondere folgende Aufgaben in Angriff nehmen:

Einhaltung der Menschenrechte;

Recht auf unabhängige und dezentrale Information;

Schaffung von Transparenz in den Organisationen und den Verwaltungen der afrikanischen Staaten;

Kampf gegen die Korruption, die größte Hürde auf dem Weg zu einer guten Regierungsführung;

Recht auf Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie Bildung für alle;

Recht auf Ernährungssicherheit.

Zu diesem Zweck fordert der EWSA einen erweiterten und leichteren Zugang der Organisationen der afrikanischen Zivilgesellschaft zu den gemeinschaftlichen Mitteln sowie ihre systematische Beteiligung an der Festlegung und Umsetzung der Strategien und Politiken im Bereich der Zusammenarbeit.

Bekämpfung von AIDS

Den zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt bei der Bekämpfung von AIDS (Vorbeugung, Diagnose, Behandlung usw.) eine überaus bedeutende Rolle zu, weil sie zu den Kranken vor Ort besonders guten Zugang haben. Es bedarf eines integrierten Ansatzes zur Bekämpfung der drei Pandemien, wobei Patientenverbände ein wichtiges Glied in diesem Kampf sind.

Durch den Ausbau der technischen Kapazitäten und die Ausbildung sämtlicher Akteure muss die Europäische Union die Überwindung der Krise im Bereich der Humanressourcen ermöglichen. Der Ausschuss ruft alle führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und im sozialen Bereich auf, im Hinblick auf dieses Ziel an einem Strang zu ziehen.

Der EWSA ist der Auffassung, dass die Bereitstellung von Medikamenten („all-in-one“) zu von internationalen Gremien kontrollierten Preisen oberste Priorität hat, und die EU sich für die Beschleunigung der Forschung und Entwicklung eines universellen Impfstoffes einsetzen muss.

1.   Einleitung

1.1

Am 12. Oktober 2005 hat die Europäische Kommission eine Mitteilung an den Europäischen Rat, das Europäische Parlament und den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss zum Thema „Eine Strategie der Europäischen Union für Afrika: Wegbereiter für einen Europa-Afrika-Pakt zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas“ angenommen.

1.2

Der Ausschuss stimmt der generellen Ausrichtung und der Sorge um die Kohärenz dieses ehrgeizigen europäisch-afrikanischen Vorhabens zu, das allerdings von den afrikanischen Nichtregierungsorganisationen (NRO) unterschiedlich aufgenommen wird. Sie sind desillusioniert und stellen sich die Frage, weshalb ausgerechnet dieses neue Programm dort erfolgreich sein soll, wo andere gescheitert sind.

1.3

Die Mitteilung ist Ergebnis der ausdauernden, vom Kommissar Louis Michel seit seinem Amtsantritt im November 2004 geleisteten Arbeit. Ausgehend vom Bestehen einer großen Vielfalt der politischen Verhältnisse und großer Unterschiede beim erreichten Entwicklungsniveau in Afrika, die aus tief verwurzelten Gegebenheiten herrühren und eine neue Ausrichtung erfordern, wird den 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Mitteilung eine gemeinsame Politik der Zusammenarbeit mit Afrika vorgeschlagen.

1.4

Diese Strategie ist insofern besonders anspruchsvoll, als sie die zahlreichen für die Entwicklung des afrikanischen Kontinents maßgeblichen Bereiche zwar nicht vollständig, aber doch größtenteils skizziert.

1.5

Von hohem Belang in diesem Zusammenhang ist auch, dass diese Strategie wieder die Politik in den Mittelpunkt der Entwicklung stellt und möglicherweise dazu beitragen kann, dass die Europäische Union einflussreichster Partner in Afrika wird.

1.6

Die vorgeschlagene Methode zielt auch auf eine bessere europäische Koordinierung und die Vergemeinschaftung des praktischen Vorgehens ab, was der Vertiefung der Europäischen Union dient (zu einem Zeitpunkt, an dem das Fehlen einer solchen Vertiefung vielfach bedauert wird).

2.   Allgemeine Bemerkungen

2.1

Es erheben sich zahlreiche warnende Stimmen, die für Afrika das Schlimmste befürchten, wenn Europa und die übrige Welt nicht schnell handeln.

2.2

Wenn Afrika nicht eine unabhängige Entwicklung einschlägt, wird dies in Bezug auf Wanderbewegungen, Krankheiten oder Umweltprobleme zu immer schwerwiegenderen Folgen führen — ob wir dies wollen oder nicht.

2.3

Folglich gilt es den Schluss zu ziehen, dass hinsichtlich der Hilfe der Industrieländer für Afrika ein Umdenken erforderlich ist. Nicht zum ersten Mal wird diesbezüglich Alarm geschlagen, und manche Verantwortungsträger in Politik und Wirtschaft verweisen offen auf die von ihnen beobachtete „Heuchelei“ der Industrieländer.

2.4

Es ist absehbar, dass sich aufgrund der ständig zunehmenden Wanderbewegungen der Druck in den nächsten Jahren weiter erhöhen wird. Die afrikanische Bevölkerung wird in starkem Maße wachsen, während die Aussichten für das Wirtschaftswachstum nach wie vor düster sind. Das Streben der Menschen nach einem gewissen Wohlstand ist berechtigt, solange die Probleme im Zusammenhang mit dem Wasser, der Gesundheit, der Bildung und der Ernährungssicherheit langfristig nicht gelöst werden. Auch der Kommissionspräsident teilt diese Sorge, erklärte er doch, dass man sich mit den strukturellen Ursachen des Entwicklungsrückstands in Afrika beschäftigen müsse. Die seit Monaten geplante Ankündigung dieser neuen Strategie fiel zeitlich mit der Krise von Ceuta und Melilla zusammen.

2.5

Die mit dieser Mitteilung verfolgten Ziele sind für den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss klar erkennbar:

Verbesserung der Kohärenz der Entwicklungspolitik in Afrika;

der ausdrückliche Wille, die Milleniums-Entwicklungsziele in Afrika bis zum Jahr 2015 durch besondere Anstrengungen und die Konzentration auf die wesentlichen Ziele zu verwirklichen. Europa und Afrika müssen zu einem Konsens finden, um Ergebnisse zu erzielen. In diesem Sinne bedeutet Handeln, nach Lösungen für die wesentlichen Probleme wie die Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie das Bildungsangebot und die Beschäftigungslage zu suchen. Die Kommission hofft, dass ihre neue Strategie rasch zu positiven Ergebnissen führen wird, da sie — und dies muss betont werden — in Absprache mit den Afrikanern selbst erarbeitet wurde.

2.6

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss überlegt allerdings, ob dieses Projekt nicht gar zu anspruchsvoll ist, insbesondere unter Berücksichtigung folgender Aspekte:

die große Zahl nicht gehaltener Versprechen. Nach wie vor klaffen die Absichtserklärungen und die konkreten, vor Ort ergriffenen Maßnahmen weit auseinander, da Entwicklungspolitik wirkungslos bleiben muss, wenn sie nicht in Abstimmung mit den vor Ort tätigen Organisationen gestaltet wird. Die im Abkommen von Cotonou vorgesehene Direkthilfe für die Zivilgesellschaft ist viel zu lange ein nicht eingelöstes Versprechen geblieben, ist das Abkommen von Cotonou doch in erster Linie ein zwischenstaatliches Abkommen, das das Maß an Präsenz und Aktivität der Zivilgesellschaft vor Ort nicht von Anfang an berücksichtigt hat;

AIDS als die für den Kontinent dringlichste Frage. Es bedurfte eines Zeitraums von 15 Jahren, bis es uns gelungen ist, unsere Möglichkeiten, Afrika wirklich zu helfen, richtig einzuschätzen;

alle mit dem Fehlen einer guten Regierungsführung in diesen Ländern einhergehenden Schwierigkeiten, insbesondere das Problem der häufig von nicht demokratisch legitimierten Regierungen verursachten Überschuldung.

2.7

Um dem ursprünglichen Ziel gerecht zu werden, müssen folglich drei Voraussetzungen erfüllt werden:

Gewährleistung von mehr Sicherheit für die Bürgerinnen und Bürger, im weitesten Sinne des Wortes,

Schaffung eines ausreichenden Wirtschaftswachstums, insbesondere mit Hilfe des Abkommens von Cotonou und der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen,

Verwirklichung einer allerorts besseren Regierungsführung.

2.8

Hierzu sei angemerkt, dass die von der Europäischen Union und der G8 aufgebrachten Mittel eine deutliche Zunahme verzeichnen. In zehn Jahren werden sie das Doppelte betragen, und die Hälfte davon soll Afrika zugute kommen. Aufgrund der vielen leeren Versprechen, die in der Vergangenheit wahrscheinlich von allen Beteiligten gemacht worden sind, ist jedoch Vorsicht geboten. Auch wenn mehr Gelder zugesagt werden — Tatsache ist, dass die von gewissen Industrieländern für Entwicklungshilfe tatsächlich zur Verfügung gestellten Mittel in den letzten Jahren gesunken sind.

2.9

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmt mit dem Grundanliegen dieser Mitteilung insbesondere im Hinblick auf die dort enthaltene Definition der Menschenrechtspolitik überein. Zwar sind bezüglich der Menschenrechtskriterien und des Demokratisierungsprozesses seit 2001 in einigen Ländern Fortschritte zu verzeichnen, aber es muss auch weiterhin auf die Stärkung der Menschenrechte und der Demokratie gedrängt werden. Im Interesse der Förderung des Rechtswesens und der Rechtsstaatlichkeit gilt es, die Stärkung und Mobilisierung der Zivilgesellschaft und insbesondere die Sozialpartner zu unterstützen, deren Dialog in Übereinstimmung mit den Regeln der ILO gewährleistet werden muss.

2.10

Der Ausschuss weist jedoch darauf hin, dass Prioritäten gesetzt werden müssen und dies eine Vertiefung der bedeutendsten Fragestellungen erfordert:

Koordinierung der Gemeinschaftspolitiken, wobei vor allem festzulegen ist, wie die Politiken der einzelnen Mitgliedstaaten aufeinander abgestimmt werden sollen;

Fortsetzung der Überlegungen bezüglich neuer Finanzierungsformen für Entwicklungsprojekte sowie deren konkrete Umsetzung, insbesondere durch Unterstützung des Arbeitskreises „Suche nach neuen Finanzierungsformen als Ergänzung zu öffentlicher Hilfe“ (der auf der Konferenz in Paris im Februar 2006 eingerichtet wurde);

Überlegungen zur Gestaltung der erforderlichen regionalen Integration und interregionalen Politiken und deren Umsetzung sowie in erster Linie Schaffung interregionaler Infrastruktur mittels Ausschreibungen, wobei präzise Sozial- und Umweltnormen einzuhalten sind. Dies würde den regionalen Institutionen dabei helfen, sich zu etablieren;

Konzentration auf das Problem der Auswanderung, vor allem durch die Schaffung von Möglichkeiten, die der Stabilisierung der Bevölkerung in Afrika dienen. Dazu muss sich die Europäische Union zunächst ganz eindeutig dieses Problems bewusst werden, und da es sich bei den Wanderungsbewegungen aus Subsahara-Afrika vor allem um Landflucht handelt, muss sie sich in Absprache mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen mit allen Mitteln für die Gestaltung und Umsetzung einer Politik der ländlichen Entwicklung einsetzen, um diese Region nach und nach von Lebensmittelhilfe unabhängig zu machen;

um schließlich die Rolle der Regierungsführung besser nutzbar zu machen, bedarf es der wirksamen Einbeziehung der Zivilgesellschaft, denn leider muss man zugeben, dass das Abkommen von Cotonou hierin gescheitert ist und das Europa-Afrika-Forum keine entscheidenden Ergebnisse gebracht hat. Um in den Partnerstaaten eine gute Regierungsführung zu gewährleisten, sollte daher folgender, mehrere Bereiche umfassender Aufgabenkatalog umgesetzt werden:

Einhaltung der Menschenrechte;

Gleichstellung von Mann und Frau;

Recht auf unabhängige und dezentrale Information;

Schaffung von Transparenz in den Organisationen und den Verwaltungen der afrikanischen Staaten;

Kampf gegen die Korruption, die größte Hürde auf dem Weg zu einer guten Regierungsführung;

Recht auf Wasser- und Gesundheitsversorgung sowie Bildung für alle;

schrittweiser Abbau der informellen Wirtschaft, die in manchen Staaten bis zu 80 % der Wirtschaftsleistung ausmacht.

2.11

Der Ausschuss verweist ferner auf den absoluten Vorrang des Problems der Entwicklung des ländlichen Raums, das häufig falsch eingeschätzt wurde und nach wie vor großer Aufmerksamkeit bedarf. Die Bedeutung der Landwirtschaft für Afrika liegt aus bereits zur Genüge erörterten Gründen auf der Hand: Es geht um Nahrungsmittelselbstversorgung, ein Schlüsselbereich der Entwicklungspolitik, sowie die Stabilisierung der Bevölkerungszahl. Die partizipative Zivilgesellschaft besteht zum Großteil aus Bauern und Tierzüchtern; die Berücksichtigung der Anliegen dieser Berufsgruppen bei der Gestaltung der Politik zur Entwicklung des ländlichen Raumes sowie deren Einbindung bei der Umsetzung sind daher für den Erfolg dieser Politik ausschlaggebend.

2.12

Der EWSA verweist auf die weiterhin bestehende Dringlichkeit des Problems der fehlenden Infrastruktur und Kreativität in diesem Bereich, sowohl was nationale bzw. interregionale Verkehrsmittel als auch die Wasserversorgung betrifft, wobei letzterer zweifellos auch geopolitische Bedeutung zukommt.

2.13

Der Ausschuss fordert ferner, keinerlei direkte Haushaltszuschüsse mehr zu gewähren.

2.14

All dies wird nur durch eine stärkere Mitwirkung der Vertreter der Zivilgesellschaft und bessere Rahmenbedingungen mit einer umfassenden Regierungsführung erreicht werden können, in die alle öffentlichen Stellen sowie die wirtschaftlichen und sozialen Akteure eingebunden sind.

3.   Besondere Bemerkungen

Im Jahr 2005 stand das Thema Afrika weltweit auf dem Veranstaltungskalender an vorderster Stelle. Im Zeitraum zwischen dem G8-Gipfel in Schottland im Juli letzten Jahres, den Feierlichkeiten anlässlich des 60. Jahrestages der UNO in New York und der jüngsten Jahrestagung der Bretton-Woods-Institutionen haben alle — von Tony Blair über Horst Köhler bis Paul Wolfowitz, den neuen Weltbankpräsidenten — einmütig festgestellt, dass Afrika vor dem Untergang gerettet werden muss.

An dieser Stelle will der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss auf die dringlichen Fragen verweisen, zu denen er sich bereits in seinen früheren Stellungnahmen geäußert hat:

Vorrang für Afrika, allerdings unter der Bedingung, dass die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt im Rahmen der neuen Regierungsführung breiten Raum erhält.

Der Bekämpfung von AIDS ist ausdrücklich absolute Dringlichkeit beizumessen, da derzeit unter unseren Augen und bei relativ geringer Anteilnahme eine weitere Tragödie ihren Lauf nimmt.

3.1   Vorrang für Afrika

3.1.1

Der EWSA unterstützt das Vorhaben der Europäischen Kommission, die Entwicklungshilfe der EU vorrangig Subsahara-Afrika zukommen zu lassen. Damit mit dieser Maßnahme die gewünschte Wirkung erzielt werden kann, muss sie aber auf nationaler wie auch auf regionaler Ebene mit einer besseren Regierungsführung in Afrika einhergehen: Dies betrifft sowohl die zwischenstaatlichen afrikanischen Organisationen als auch die afrikanischen Staaten und die Organisationen der Zivilgesellschaft. Letztere sind aufgrund ihrer weiter zu stärkenden Unabhängigkeit, ihrer Nähe zur Bevölkerung und ihrer Reaktionsfähigkeit in der Lage, die Übernahme echter Verantwortung für die Entwicklungspolitik durch die direkt betroffene Bevölkerung zu fördern. Afrikas Entwicklungsrückstand hat sicherlich mehrere Ursachen, aber die fehlende Unabhängigkeit der Zivilgesellschaft und deren mangelnder Rückhalt sind zweifellos nicht zu unterschätzende Faktoren. Das im Abkommen von Cotonou zur Lösung dieses Problems entwickelte Konzept der Delegierung funktioniert nicht, da die im Cotonou-Abkommen vorgesehene Zuweisung von Direkthilfen an Vereinigungen — die allerdings an Bedingungen gekoppelt war — sich nur schwer verwirklichen lässt.

3.1.2

Daher schlägt der Ausschuss folgendes vor:

Den zivilgesellschaftlichen Organisationen Afrikas muss ein besserer und einfacherer Zugang zu den Finanzhilfen der EU gewährt werden. Auf einzelstaatlicher Ebene sollten Möglichkeiten des direkten Zugangs sichergestellt werden. In Ergänzung zu den einzelstaatlichen Programmen sollte darüber hinaus ein horizontales Programm zur Finanzierung nichtstaatlicher Akteure aufgestellt werden;

Die Zivilgesellschaft sollte stärker und systematischer in die Festlegung und Umsetzung der Strategien und der Politik der Zusammenarbeit einbezogen werden, um sie bei der Übernahme von Verantwortung für den Entwicklungsprozess zu unterstützen und so zur Herausbildung einer guten Regierungsführung beizutragen. Wenn hier und da Fortschritte zu verzeichnen sind, so deshalb, weil sich die Menschen unaufhaltsam und nachdrücklich über alle verfügbaren Kanäle Gehör verschaffen: Die Sozialpartner und die anerkannten Verbände, vor allem diejenigen, die sich um die Förderung der Gleichstellung von Mann und Frau, die lokale Wirtschaft sowie um Bildung und Information kümmern.

3.1.3

Nach Auffassung der EU sind die Menschenrechte im Rahmen der beiden Bewertungsprozesse unantastbar. Der EWSA fordert daher, dass die EU ihre Unterstützung der Zivilgesellschaft unter Berücksichtigung der Menschenrechtsproblematik in die Tat umsetzt:

bei der Definition ist ein pragmatischer Ansatz zu verfolgen;

kompetente Gesprächspartner sind zu finden, die in der Lage sind, einen Dialog mit den Regierungen zu führen, insbesondere durch die Errichtung unabhängiger NRO-Netzwerke;

der Zugang zu Finanzmitteln ist durch Aufrufe zur Einreichung von Projektvorschlägen und die Durchführung kleinerer lokaler Projekte sicherzustellen.

3.1.4

Die gleiche Schwierigkeit gilt es bei der Umsetzung der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (WPA) zu berücksichtigen. Bei der Durchführung eines Programms zur Schaffung eines echten Binnenmarkts sowie eines umfassenden Reformprogramms ist folgendes zu beachten:

Der Bildungsstand und die technischen Möglichkeiten der Zivilgesellschaft und der afrikanischen Bevölkerung lassen noch sehr zu wünschen übrig, insbesondere betrifft dies Frauen.

Zur Ankurbelung der Produktionsfaktoren ist der zielgerichtete Einsatz der europäischen Hilfe erforderlich, diese muss aber stärker an Bedingungen geknüpft werden. Im Rahmen der WPA muss deutlich gemacht werden, dass es einheitlicher transnationaler Netze bedarf.

3.1.5

Der Ausschuss hat die Aufnahme von Verhandlungen über den Abschluss von Wirtschaftspartnerschaftsabkommen mit verschiedenen regionalen Blöcken zur Kenntnis genommen und hofft, dass dieser Prozess zu einer Belebung des Handels mit günstigen Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit der Entwicklung und die Beseitigung der Armut führen wird. Damit diese Abkommen auch tatsächlich der Bevölkerung zugute kommen, müssen nach Auffassung des Ausschusses folgende Punkte umgesetzt werden:

Sicherstellung eines möglichst umfassenden Informationsflusses, um eine systematische Einbindung der zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Verhandlungen und die Erarbeitung von Folgenabschätzungen auf nationaler und regionaler Ebene zu gewährleisten.

Einbeziehung des privatwirtschaftlichen Sektors in die Verhandlungen und Unterstützung beim Ausbau seiner Leistungsfähigkeit.

Berücksichtigung der sozialen Folgen und der geschlechtsspezifischen Dimension in den Folgenabschätzungen.

Flexibilität der Handelsverträge durch die Einführung von Übergangszeiten bei ihrer Durchführung, sodass die Unternehmen der Unterzeichnerstaaten geschützt werden können. Besonderer Schutz für die im Entstehen befindlichen Industriezweige sowie Schutzmaßnahmen, um dem Wettbewerb mit den Schwellenländern standhalten zu können.

Die afrikanischen Staaten müssen nach Auslaufen der zeitlich begrenzten finanziellen Entschädigungen eigene Ressourcen aufbauen, aber möglicherweise auch in den Genuss flexiblerer Regelungen kommen, um sich ein Minimum an Entscheidungsfreiheit in Zollfragen zu bewahren. Tatsächlich stecken die Staaten, bei denen durch Zollsenkungen die Staatseinnahmen zurückgehen, ohnehin häufig in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten und haben Mühe, für das Bildungs- und Gesundheitswesen ein Mindestmaß an öffentlichen Finanzmitteln bereitzustellen.

3.1.6

Damit aber die wirtschaftliche Entwicklung möglichst vielen zugute kommt und kein Missbrauch stattfindet, setzt sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss dafür ein, dass bei den Entwicklungshilfemaßnahmen der Europäischen Union in Afrika die Grundsätze des sozialen Zusammenhalts und menschenwürdiger Arbeitsbedingungen für alle berücksichtigt werden. Zur Wahrung dieser Grundsätze bedarf es eines echten sozialen Dialogs und — im weiteren Sinne — eines Dialogs zwischen den Akteuren der Zivilgesellschaft.

3.1.7

Der Ausschuss schlägt daher vor, mit den afrikanischen Wirtschafts-, Sozial- und Kulturräten im Interesse eines Austauschs von Erfahrungen und Wissen zusammenzuarbeiten, wie dies in der Mitteilung der Europäischen Kommission (2) gefordert wird, um diese zu verlässlichen Partnern bei der sektorbezogenen bzw. geografischen Zuweisung von Investitionen und Hilfsmitteln zu machen;

seine Erfahrungen und sein Know-how erforderlichenfalls auf einzelstaatlicher Ebene einzubringen, und in all jenen Ländern, die bislang nicht über eine solche Einrichtung verfügen, die Errichtung von an die afrikanische Kultur angepassten Wirtschafts- und Sozialräten zu unterstützen bzw. im Bedarfsfall die Reformierung bereits bestehender WSR, die an Profil bzw. Glaubwürdigkeit verloren haben, voranzutreiben. Der EWSA sieht ermutigende Anzeichen, etwa die positive Entwicklung des stetig wachsenden Einflusses der Afrikanischen Union, den Konsens zwischen Rat, Europäischem Parlament und Kommission bezüglich der EU-Entwicklungspolitik und, in bestimmten Regionen, die Vernetzung zivilgesellschaftlicher Organisationen zur Vertretung der Landwirte, KMU, Sozialpartner usw.

Möglicherweise ist sich die Europäische Union bewusst geworden, dass die Zivilgesellschaft bislang nur unzureichend eingebunden war, und sie im Rahmen der neuen Strategie entsprechend einbezogen werden muss.

3.2   Bekämpfung von Pandemien

3.2.1

Der Ausschuss ruft alle führenden Persönlichkeiten in Politik, Wirtschaft und im sozialen Bereich auf, im Hinblick auf das Thema AIDS an einem Strang zu ziehen. Er begrüßt, dass die Hauptverantwortlichen des Internationalen Arbeitgeberverbands (OIE) und des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften (IBFG) dem EWSA jüngst einen Besuch abstatteten und ihn zur Zusammenarbeit bei den verschiedenen, 2003 in acht Ländern des südlichen Afrika in die Wege geleiteten AIDS-Bekämpfungsprogrammen aufforderten.

3.2.2

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sollte sich in allen Instanzen — bei regionalen und lokalen Seminaren und auf Plenartagungen — für diesen Kampf einsetzen. Dank des Bildungswesens und der Mobilisierung der Familie durch die zivilgesellschaftlichen Akteure gibt es zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer. So ist im Senegal, in Uganda und Zimbabwe ein Absinken der Aids-Durchseuchungsrate und ein Anstieg der Lebenserwartung festzustellen. Wir dürfen also nicht aufgeben. Außerdem hat die Kommission angekündigt, dass sie mit den nationalen Partnern Leitlinien für die Programmplanung bei der Aids-Bekämpfung vorlegen wird.

3.2.3

Der Ausschuss ist der Auffassung, dass es in diesem Kampf bedeutender finanzieller Mittel bedarf, um dauerhaft angelegte Vorbeugestrategien und Behandlungsstrategien mit wirksamen und vereinfachten Therapien verwirklichen zu können, deren Kosten in vollem Umfang im Rahmen der TRIP-Übereinkommen (Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte des Urheberrechts) der WTO getragen werden müssen. Darüber hinaus muss die Erforschung eines zuverlässigen und universell anwendbaren Impfstoffs finanziell unterstützt werden.

3.2.4

Angesichts der heute schon katastrophalen menschlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen ist der Unterstützungsbedarf der Entwicklungsländer bei der Bewältigung der großen Pandemien, vor allem von HIV/AIDS in Subsahara-Afrika, enorm. Diese Unterstützung muss absoluten Vorrang haben, da sich in manchen Staaten, in denen die Aids-Durchseuchungsrate extrem hoch ist (45-49 %), bereits Hungersnöte abzeichnen. Der EWSA empfiehlt der EU daher, Maßnahmen auf zwei Ebenen zu ergreifen:

auf internationaler Ebene:

Im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde der WTO unterstützt der Ausschuss wie bereits in der Vergangenheit den Standpunkt der Europäischen Kommission, wonach den von den großen Pandemien betroffenen Ländern der Zugang zu Medikamenten erleichtert werden soll. Neue Instrumente führen die EU überdies dazu, an einem umfassenden Dialog mit dem UN-AIDS-Programm, dem Welt-Aids-Fonds, dem Hohen Flüchtlingskommissar der UNO und der Weltgesundheitsorganisation teilzunehmen.

auf einzelstaatlicher Ebene:

Der Ausschuss geht von dem Grundsatz aus, dass die zivilgesellschaftlichen Organisationen besonders gut geeignet sind, die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten jener Länder zu erreichen, in denen es an Infrastruktur mangelt und die Behörden nicht über genügend Mittel verfügen, um auf ihrem gesamten Hoheitsgebiet ein Mindestmaß an Leistungen zu erbringen.

Er greift daher ein Anliegen der Wirtschafts- und Sozialpartner der AKP-Länder auf und fordert die Bereitstellung gesonderter europäischer Finanzmittel, um die zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Lage zu versetzen, für die Verbreitung von Informationen über die Pandemien in der Bevölkerung zu sorgen.

Nach Ansicht des EWSA sollte im Hinblick auf die drei großen Pandemien (AIDS, Malaria und Tuberkulose) ein integrierter Ansatz verfolgt werden, der sich auf die Zivilgesellschaft stützt, vor allem auf mit der Krankheit lebende Personen, die von Patientenvereinigungen vertreten werden, die in den Empfängerländern als Mittler für die Zivilgesellschaft fungieren können.

Die EU muss durch Qualifizierungsmaßnahmen und einen Ausbau der technischen Kapazitäten zur Lösung der Krise im Bereich der Humanressourcen beitragen.

Sobald diese Organisationen über die erforderlichen personellen Ressourcen und Qualifikationen verfügen, sollten sie zur Errichtung von Bündnissen und Partnerschaften mit allen mit der Bekämpfung der Pandemien befassten Akteuren ermutigt werden.

Der EWSA fordert, vorbeugende Maßnahmen, vor allem der Zugang von Frauen zu Verhütungsmitteln sowie die Begleitung der Kranken und deren Umfeld, durch europäische Finanzmittel wirksam zu unterstützen.

3.2.5

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss ist der Auffassung, dass sämtliche Akteure — die NRO, die Sozialpartner und die politischen Verantwortungsträger — in noch viel größerem Maße mobilisiert werden müssten, und er selbst in diesem entscheidenden Kampf die Koordinierung der Akteure übernehmen sollte. Der EWSA möchte in diesem Kampf, der in allen betroffenen Ländern von höchster Priorität und entscheidender Bedeutung ist, eine Überwachungsfunktion wahrnehmen, da nicht mehr darüber hinweggesehen werden kann, dass AIDS aufgrund des Fehlens geeigneter Akteure bereits Ursache von Hungersnöten geworden ist.

3.2.6

Die Europäische Union sollte sich im Rahmen einer eigens zu diesem Zweck einzugehenden Partnerschaft mit der WTO vor allem um eine Senkung der Arzneimittelkosten bemühen. Der Ausschuss fordert die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, sich der Initiative zur umfassenden und dauerhaften Finanzierung von Arzneimitteln (Konferenz in Paris im Februar 2006) anzuschließen. Er ist der Auffassung, dass die Einbindung der nationalen WSR durch ihre Einbeziehung in die Umsetzung, Bewertung und auch Kontrolle dieser neuen Initiative gestärkt werden sollte, um die Rückverfolgbarkeit zu gewährleisten.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Eine Strategie der Europäischen Union für Afrika: Wegbereiter für einen Europa-Afrika-Pakt zur Beschleunigung der Entwicklung Afrikas, KOM(2005) 489 endg.

(2)  KOM(2005) 132 „Beschleunigte Verwirklichung der entwicklungspolitischen Millenniumsziele - Der Beitrag der Europäischen Union“, April 2005.


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