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Document 62022CJ0547
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Juni 2024.
INGSTEEL spol. s. r. o. gegen Úrad pre verejné obstarávanie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Schadensersatz, der einem rechtswidrig von einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossenen Bieter gewährt wird – Umfang – Verlust einer Chance.
Rechtssache C-547/22.
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Juni 2024.
INGSTEEL spol. s. r. o. gegen Úrad pre verejné obstarávanie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Schadensersatz, der einem rechtswidrig von einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossenen Bieter gewährt wird – Umfang – Verlust einer Chance.
Rechtssache C-547/22.
Court reports – general
ECLI identifier: ECLI:EU:C:2024:478
Rechtssache C‑547/22
INGSTEEL spol. s r. o.
gegen
Úrad pre verejné obstarávanie
(Vorabentscheidungsersuchen des Okresný súd Bratislava II)
Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 6. Juni 2024
„Vorlage zur Vorabentscheidung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665/EWG – Art. 2 Abs. 1 Buchst. c – Schadensersatz, der einem rechtswidrig von einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ausgeschlossenen Bieter gewährt wird – Umfang – Verlust einer Chance“
Rechtsangleichung – Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge – Richtlinie 89/665 – Schadensersatzklagen – Pflicht zum Ersatz des dem Einzelnen entstandenen Schadens – Anwendungsbereich – Rechtswidriger Ausschluss von einem Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge – Verlust der Chance, am genannten Verfahren teilzunehmen – Einbeziehung
(Richtlinie 89/665 des Rates in der durch die Richtlinie 2007/66 geänderten Fassung, sechster Erwägungsgrund und Art. 1 Abs. 3 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. c)
(vgl. Rn. 33, 36-39, 41-44)
Zusammenfassung
Im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Okresný súd Bratislava II (Bezirksgericht Bratislava II, Slowakei) legt der Gerichtshof Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 ( 1 ) aus. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob dieser Artikel dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, nach der es ausgeschlossen ist, dass ein aufgrund einer rechtswidrigen Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossener Bieter für den Schaden entschädigt wird, der ihm durch den Verlust der Chance entstanden ist, an diesem Verfahren teilzunehmen, um den betreffenden Auftrag zu erhalten. Genauer ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Klarstellung, ob diese Bestimmung dahin auszulegen ist, dass zu den Personen, die durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geschädigt wurden und somit Anspruch auf Schadensersatz haben, nicht nur diejenigen gehören, denen dadurch ein Schaden entstanden ist, dass sie einen öffentlichen Auftrag nicht erhalten haben, nämlich ihren entgangenen Gewinn, sondern auch diejenigen, die einen Schaden im Zusammenhang mit der verlorenen Chance erlitten haben, an dem Verfahren zur Vergabe dieses Auftrags teilzunehmen und einen Gewinn aus einer solchen Teilnahme zu erzielen. Vorliegend nennt § 17 des Gesetzes Nr. 514/2003 ( 2 ) als ersatzfähige Schäden ausdrücklich nur den „tatsächlichen Schaden“ sowie den „entgangenen Gewinn“ und nicht den „Verlust einer Chance“.
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der INGSTEEL spol. s r. o. und der Slowakischen Republik, die durch den Úrad pre verejné obstarávanie (Amt für öffentliches Beschaffungswesen, Slowakei, im Folgenden: Beklagter des Ausgangsverfahrens) handelt, über eine Schadensersatzklage, die diese Gesellschaft nach dem rechtswidrigen Ausschluss des Konsortiums, dem sie angehörte (im Folgenden: Bietergemeinschaft), von einem vom Slovenský futbalový zväz (Slowakischer Fußballverband, im Folgenden: öffentlicher Auftraggeber) eingeleiteten Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags erhoben hat.
Im Einzelnen beschloss der öffentliche Auftraggeber, die Bietergemeinschaft von dieser Vergabe eines öffentlichen Auftrags auszuschließen, da sie die Anforderungen der Bekanntmachung insbesondere hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit nicht erfüllt habe. Auf eine von der Bietergemeinschaft eingereichte Klage hob der Najvyšší súd Slovenskej republiky (Oberstes Gericht der Slowakischen Republik), nachdem er dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorgelegt hatte, das zum Urteil Ingsteel und Metrostav ( 3 ) führte, die Entscheidungen auf, mit denen dieser Ausschluss bestätigt worden war. Der Beklagte des Ausgangsverfahrens erließ sodann eine neue Entscheidung, mit der er dem öffentlichen Auftraggeber auftrug, den Ausschluss der Bietergemeinschaft von dem in Rede stehenden Verfahren aufzuheben. Da dieses Verfahren in der Zwischenzeit beendet worden war, erhob die Klägerin des Ausgangsverfahrens beim vorlegenden Gericht Klage auf Ersatz des Schadens, der ihr entstanden sein soll.
Würdigung durch den Gerichtshof
Im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung legt der Gerichtshof die in Rede stehende Unionsvorschrift nicht nur unter Berücksichtigung ihres Wortlauts, sondern auch des Zusammenhangs, in den sie sich einfügt, und der Ziele aus, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.
Was erstens den Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 betrifft, stellt der Gerichtshof fest, dass diese weit gefasste Bestimmung vorsieht, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass denjenigen, die durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geschädigt worden sind, Schadensersatz zuerkannt wird, was mangels Angaben zur Unterscheidung zwischen verschiedenen Schadenskategorien jede Art des diesen Personen entstandenen Schadens erfassen kann, einschließlich des Schadens, der sich aus dem Verlust der Chance ergibt, an dem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilzunehmen.
Diese Feststellung wird laut dem Gerichtshof zweitens durch den Zusammenhang bestätigt, in den sich diese Bestimmung einfügt. Die durch einen einem Mitgliedstaat zurechenbaren Verstoß gegen das Unionsrecht Geschädigten haben nämlich einen Ersatzanspruch, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen wurde, muss ihnen Rechte verleihen, der Verstoß gegen diese Norm muss hinreichend qualifiziert sein, und zwischen ihm und dem entstandenen Schaden muss ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen. Im Übrigen muss der Ersatz der Schäden, die durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, dem erlittenen Schaden angemessen sein, und zwar in dem Sinne, dass damit die tatsächlich erlittenen Schäden gegebenenfalls in vollem Umfang ausgeglichen werden können. Bei Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 handelt es sich um eine Konkretisierung dieser der Unionsrechtsordnung innewohnenden Grundsätze.
In dieser Hinsicht müssen gemäß Art. 1 Abs. 3 der Richtlinie 89/665 die in dieser Richtlinie vorgesehenen Nachprüfungsverfahren zumindest jeder Person zur Verfügung stehen, die ein Interesse an einem bestimmten Auftrag hat oder hatte und der durch einen vorgebrachten Verstoß ein Schaden entstanden ist bzw. zu entstehen droht. Die Richtlinie 89/665 sieht keine Möglichkeit vor, diesen Zugang zu beschränken. Die in Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 vorgesehene Klage auf Schadensersatz hat der Unionsgesetzgeber somit als letztes Mittel vorgesehen, das den durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht geschädigten Personen weiterhin zur Verfügung stehen muss, wenn diesen tatsächlich jede Möglichkeit genommen wird, die praktische Wirksamkeit eines der anderen in dieser Bestimmung vorgesehenen Rechtsbehelfe in Anspruch zu nehmen.
Dies gilt insbesondere für den Fall eines rechtswidrig ausgeschlossenen Bieters, der die Aufhebung seines Ausschlusses von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden beantragt und erwirkt hat, aber aufgrund des zwischenzeitlichen Abschlusses dieses Verfahrens trotzdem nicht mehr die Möglichkeit hat, von den Wirkungen dieser Aufhebung zu profitieren. Zwar kann sich nämlich ein Schaden aus dem Umstand als solchem ergeben, dass man einen öffentlichen Auftrag nicht erhält, doch kann der rechtswidrig ausgeschlossene Bieter einen gesonderten Schaden erleiden, der dem Verlust der Chance entspricht, an dem betreffenden Vergabeverfahren teilzunehmen, um diesen Auftrag zu erhalten. Ein solcher Schaden muss nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 ersetzt werden können.
Drittens wird laut dem Gerichtshof die weite Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 durch das mit dieser Richtlinie verfolgte Ziel bestätigt, keinerlei Schäden vom Anwendungsbereich der genannten Richtlinie auszuschließen.
In dieser Hinsicht führt der Gerichtshof aus, dass zwar nicht davon ausgegangen werden kann, dass die Richtlinie 89/665 eine vollständige Harmonisierung vornimmt und somit alle möglichen Rechtsbehelfe im Bereich des öffentlichen Auftragswesens erfasst, doch ändert dies nichts daran, dass, wie es in ihrem sechsten Erwägungsgrund heißt, diese Richtlinie auf dem Willen des Unionsgesetzgebers beruht, sicherzustellen, dass in allen Mitgliedstaaten geeignete Verfahren nicht nur die Aufhebung rechtswidriger Entscheidungen, sondern auch die Entschädigung der durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht Geschädigten ermöglichen. Um dieses Ziel nicht zu gefährden, kann folglich, wie der Gerichtshof in Bezug auf den entgangenen Gewinn entschieden hat, der vollständige Ausschluss des Verlusts der Chance, an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilzunehmen, um diesen zu erhalten, vom ersatzfähigen Schaden bei einem Verstoß gegen das Unionsrecht nicht zulässig sein, da ein solcher vollständiger Ausschluss dieses Verlusts einer Chance, insbesondere bei Rechtsstreitigkeiten wirtschaftlicher oder kommerzieller Natur, geeignet ist, den Ersatz des Schadens tatsächlich unmöglich zu machen.
Folglich ist Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 dahin auszulegen, dass der Schadensersatz, den die durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geschädigten Personen nach dieser Bestimmung verlangen können, den durch den Verlust einer Chance entstandenen Schaden umfassen kann. Allerdings schreibt dieser Art. 2 Abs. 1 Buchst. c zwar vor, dass den durch einen Verstoß gegen das Unionsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens geschädigten Personen Schadensersatz zuerkannt werden kann, es ist jedoch in Ermangelung einschlägiger Unionsvorschriften in diesem Bereich Sache jedes Mitgliedstaats, in seiner internen Rechtsordnung die Kriterien zu bestimmen, auf deren Grundlage der Schaden, der sich aus dem Verlust der Chance, an einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags teilzunehmen, um diesen zu erhalten, ergibt, festzustellen und zu bemessen ist, sofern der Äquivalenz- und der Effektivitätsgrundsatz beachtet werden.
Im vorliegenden Fall stellt der Gerichtshof fest, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass § 17 des Gesetzes Nr. 514/2003 als ersatzfähige Schäden ausdrücklich nur den „tatsächlichen Schaden“ und den „entgangenen Gewinn“ nennt. Er weist daher darauf hin, dass nach seiner Rechtsprechung zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts u. a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, und dass dieses Erfordernis einer unionsrechtskonformen Auslegung den nationalen Gerichten die Verpflichtung auferlegt, eine gefestigte oder ständige Rechtsprechung gegebenenfalls abzuändern, wenn sie auf einer Auslegung des innerstaatlichen Rechts beruht, die mit den Zielen einer Richtlinie nicht vereinbar ist.
Zum Schluss urteilt der Gerichtshof, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 89/665 einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, nach der es grundsätzlich ausgeschlossen ist, dass ein aufgrund einer rechtswidrigen Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers von einem Verfahren zur Vergabe eines öffentlichen Auftrags ausgeschlossener Bieter für den Schaden entschädigt wird, der ihm durch den Verlust der Chance entstanden ist, an diesem Verfahren teilzunehmen, um den betreffenden Auftrag zu erhalten.
( 1 ) Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge (ABl. 1989, L 395, S. 33) in der durch die Richtlinie 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 (ABl. 2007, L 335, S. 31) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 89/665).
( 2 ) Zákon č. 514/2003 Z. z. o zodpovednosti za škodu spôsobenú pri výkone verejnej moci (Gesetz Nr. 514/2003 über die Haftung für in Ausübung der öffentlichen Gewalt verursachte Schäden) vom 28. Oktober 2003 (Nr. 215/2003 Z. z) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 514/2003).
( 3 ) Urteil vom 13. Juli 2017, Ingsteel und Metrostav (C‑76/16, EU:C:2017:549).