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Document 62019CJ0335

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. Oktober 2020.
    E. Sp. z o.o. Sp. k. gegen Minister Finansów.
    Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 90 – Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises – Bedingungen, die von einer nationalen Regelung für die Ausübung des Rechts auf Verminderung vorgeschrieben sind – Bedingung, dass sich der Schuldner nicht in einem Insolvenz- oder Liquidationsverfahren befindet – Bedingung, dass der Gläubiger und der Schuldner mehrwertsteuerpflichtig sind.
    Rechtssache C-335/19.

    ECLI identifier: ECLI:EU:C:2020:829

    Rechtssache C‑335/19

    E. Sp. z o.o. Sp. k.

    gegen

    Minister Finansów

    (Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny)

    Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 15. Oktober 2020

    „Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 90 – Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage – Vollständige oder teilweise Nichtbezahlung des Preises – Bedingungen, die von einer nationalen Regelung für die Ausübung des Rechts auf Verminderung vorgeschrieben sind – Bedingung, dass sich der Schuldner nicht in einem Insolvenz- oder Liquidationsverfahren befindet – Bedingung, dass der Gläubiger und der Schuldner mehrwertsteuerpflichtig sind“

    Harmonisierung des Steuerrechts – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Besteuerungsgrundlage – Verminderung bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung – Abweichende nationale Maßnahmen – Berichtigung der Besteuerungsgrundlage und der geschuldeten Mehrwertsteuer – Nationale Regelung, nach der die Verminderung der Besteuerungsgrundlage davon abhängt, dass der Gläubiger und der Schuldner mehrwertsteuerpflichtig sind und sich der Schuldner nicht in einem Insolvenzverfahren befindet – Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2006/112 des Rates, Art. 90 Abs. 1 und Art. 273)

    (vgl. Rn. 21-23, 33-35, 46, 48, 50, 53 und Tenor)

    Zusammenfassung

    E., eine mehrwertsteuerpflichtige Gesellschaft mit Sitz in Polen, übt eine Steuerberatungstätigkeit aus und macht für ihre in Polen erbrachten Dienstleistungen den normalen Mehrwertsteuersatz geltend. Sie stellte einem ihrer Kunden, der als Mehrwertsteuerpflichtiger registriert war, eine Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer für in Polen steuerbare Dienstleistungen aus. Der Kunde wurde nach dem Ablauf der Zahlungsfrist in Liquidation gesetzt, blieb aber weiterhin mehrwertsteuerpflichtig. Da diese Rechnung nicht beglichen wurde, stellte E. beim Finanzminister einen Antrag auf Erteilung eines Steuervorbescheids, um zu erfahren, ob sie im Hinblick darauf, dass die anderen Voraussetzungen gemäß der nationalen Mehrwertsteuervorschriften erfüllt waren, trotz der nach der Ausführung der betreffenden Dienstleistung eingeleiteten Liquidation ihres Kunden eine Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage wegen der Nichtzahlung der auf der Rechnung beruhenden Forderung geltend machen konnte.

    Mit einem Steuervorbescheid beschied der Finanzminister diesen Antrag negativ. Art. 90 der Richtlinie 2006/112 ( 1 ) verleihe dem Steuerpflichtigen nur unter den vom jeweiligen Mitgliedstaat bestimmten Voraussetzungen das Recht, die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage zu vermindern. Diese seien in der nationalen Mehrwertsteuergesetzgebung festgelegt. Der Steuerpflichtige könne, wenn eine dieser Voraussetzungen, wie das Erfordernis, dass sich der Schuldner nicht in einem Liquidationsverfahren befinden dürfe, nicht erfüllt sei, sich nicht auf ein Recht auf Verminderung berufen, indem er es unmittelbar aus dem Unionsrecht herleite.

    Nachdem E. diese Steuervorbescheide vor dem polnischen Gericht, das im ersten Rechtszug zuständig war, erfolglos angefochten hatte, erhob sie beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberstes Verwaltungsgericht, Polen) eine Kassationsbeschwerde. Mit dieser machte sie geltend, das erstinstanzliche Gericht habe zu Unrecht entschieden, dass die beanstandeten Bestimmungen der Mehrwertsteuervorschriften nicht gegen die unionsrechtlichen Anforderungen verstießen.

    Nach den maßgeblichen nationalen Rechtsvorschriften ist das Recht des Steuerpflichtigen, im Fall einer wahrscheinlich uneinbringlichen Forderung die Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage zu vermindern, davon abhängig, dass der Schuldner am Tag der Lieferung des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung sowie am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung zur Geltendmachung dieser Verminderung als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist, er sich weder in einem Insolvenzverfahren noch in Liquidation befindet und der Gläubiger am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung selbst weiterhin als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist. Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112, der u. a. die Fälle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises nach der Bewirkung des der Zahlung der Steuer zugrunde liegenden Umsatzes betrifft, verpflichtet die Mitgliedstaaten, unter den Bedingungen, die von ihnen festgelegt werden, die Steuerbemessungsgrundlage und mithin den Betrag der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Mehrwertsteuer immer dann zu vermindern, wenn der Steuerpflichtige nach der Bewirkung eines Umsatzes die gesamte Gegenleistung oder einen Teil davon nicht erhält. Art. 90 Abs. 2 der Richtlinie 2006/112 gestattet den Mitgliedstaaten, im Fall der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung des Preises des Umsatzes von der Regel des Art. 90 Abs. 1 dieser Richtlinie abzuweichen.

    Das vorlegende Gericht hegt Zweifel hinsichtlich des Gestaltungsspielraums, der den Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 90 der Richtlinie 2006/112 in ihrem nationalen Recht eingeräumt wird, so dass es dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung, die die Auslegung dieser Bestimmung betreffen, vorgelegt hat.

    Mit seinem Urteil vom 15. Oktober 2020 hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 90 der Richtlinie 2006/112 einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage davon abhängig ist, dass der Schuldner am Tag der Lieferung des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung sowie am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung zur Geltendmachung dieser Verminderung als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist, er sich weder in einem Insolvenzverfahren noch in der Liquidation befindet und der Gläubiger am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung selbst weiterhin als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist.

    In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof geprüft, ob die Beschränkungen, die diese in den nationalen Rechtsvorschriften festgelegten Voraussetzungen für Steuerpflichtige wie E. beinhalten, durch die Notwendigkeit gerechtfertigt sind, die Ungewissheit über die Endgültigkeit der Nichtzahlung zu berücksichtigen.

    Der Gerichtshof hat hierzu entschieden, dass durch diese Notwendigkeit die Voraussetzungen nicht gerechtfertigt sind, wonach die Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass der Schuldner am Tag der Lieferung des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung als mehrwertsteuerpflichtig registriert ist sowie dass der Gläubiger und der Schuldner am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung weiterhin als mehrwertsteuerpflichtig registriert sind. Er hat ferner ausgeführt, dass zwar das Recht des Steuerpflichtigen, die Steuerbemessungsgrundlage nach der Bewirkung eines Umsatzes zu vermindern, eine Verpflichtung des anderen an diesem Umsatz Beteiligten bedeutet, seinerseits den Betrag der abzugsfähigen Mehrwertsteuer zu vermindern, dass aber die Sicherstellung einer symmetrischen Verminderung der Bemessungsgrundlage für die geschuldete Mehrwertsteuer und des abzugsfähigen Mehrwertsteuerbetrags nicht davon abhängt, dass beide Beteiligte mehrwertsteuerpflichtig sind. Zudem kann das Erfordernis, dass der Gläubiger und der Schuldner der Mehrwertsteuer unterliegen, weder mit der Verhinderung von Unregelmäßigkeiten oder Missbrauch noch mit Blick auf die Bestimmungen von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 gerechtfertigt werden.

    Was die Voraussetzung betrifft, nach der die Verminderung der Steuerbemessungsgrundlage davon abhängt, dass sich der Schuldner am Tag der Lieferung des Gegenstands oder der Erbringung der Dienstleistung und am Tag vor der Abgabe der Berichtigung der Steuererklärung weder in einem Insolvenzverfahren noch in der Liquidation befindet, hat der Gerichtshof festgestellt, dass diese Voraussetzung, indem dem Gläubiger sein Recht auf Verminderung deshalb entzogen wird, weil die Endgültigkeit der Nichteinbringung der Forderung vor dem Abschluss des Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens nicht nachgewiesen werden kann, die Ungewissheit, die der Endgültigkeit der Nichtzahlung innewohnt, berücksichtigt. Dieser Unsicherheit könnte aber auch dadurch Rechnung getragen werden, dass eine Verminderung der Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage gewährt wird, wenn der Gläubiger vor dem Abschluss des Insolvenz- oder Liquidationsverfahrens eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für den Forderungsausfall darlegt, auch auf die Gefahr hin, dass die Besteuerungsgrundlage heraufgesetzt wird, wenn die Zahlung dennoch erfolgt sein sollte. Eine solche Ausgestaltung wäre auch zur Erreichung des verfolgten Ziels wirksam und zugleich weniger belastend für den Gläubiger.

    Schließlich hat der Gerichtshof festgestellt, dass aufgrund der unmittelbaren Wirkung von Art. 90 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ein Steuerpflichtiger wie E., der die ausschließlich nationalen Voraussetzungen, die mit dieser Bestimmung nicht im Einklang stehen, nicht erfüllt, sich vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmung berufen kann, um die Verminderung seiner Besteuerungsgrundlage gewährt zu bekommen, und es obliegt dem damit befassten nationalen Gericht, unter Anwendung des Grundsatzes des Vorrangs des Unionsrechts diese nicht im Einklang stehenden Voraussetzungen nicht anzuwenden.


    ( 1 ) Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

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