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Document 62013CJ0554

Zh. und O.

Rechtssache C‑554/13

Z. Zh.

gegen

Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie

und

Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie

gegen

I. O.

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Raad van State [Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 7 Abs. 4 — Begriff ‚Risiko für die öffentliche Ordnung‘ — Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen können“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 11. Juni 2015

  1. Recht der Europäischen Union — Auslegung — Bestimmung mit Ausnahmecharakter — Enge Auslegung

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung — Tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung — Nationale Praxis, nach der ein solcher Drittstaatsangehöriger bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, weil er der Begehung einer als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat straftrechtlich verurteilt wurde — Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung — Drittstaatsangehöriger, der einer als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde — Beurteilungskriterien

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung — Einwanderungspolitik — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Richtlinie 2008/115 — Voraussetzungen für die Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise oder für die Einräumung einer Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen — Pflicht zur erneuten Prüfung der Kriterien, die für die Feststellung des Bestehens einer Gefahr für die öffentliche Ordnung als maßgeblich erachtet wurden — Fehlen — Voraussetzungen — Beachtung der Grundrechte

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 42)

  2.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde.

    Ein Mitgliedstaat ist nämlich gehalten, den Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift im Einzelfall zu beurteilen, um zu prüfen, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Stützt sich ein Mitgliedstaat auf eine allgemeine Praxis oder irgendeine Vermutung, um eine solche Gefahr festzustellen, ohne dass das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen und die Gefahr, die dieses Verhalten für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden, verkennt er die Anforderungen an eine individuelle Prüfung des in Rede stehenden Falles und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

    (vgl. Rn. 50, 54 und Tenor 1)

  3.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien wie die Art und die Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde, im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können. Im Rahmen dieser Beurteilung ist gegebenenfalls auch jedes Kriterium maßgeblich, das die Stichhaltigkeit des Verdachts der dem betreffenden Drittstaatsangehörigen vorgeworfenen Straftat betrifft.

    Der Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung, wie er in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehen ist, setzt nämlich jedenfalls voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Daraus folgt, dass im Rahmen der Beurteilung dieses Begriffs jedes tatsächliche oder rechtliche Kriterium zur Situation des Drittstaatsangehörigen maßgeblich ist, das geeignet ist, die Frage zu klären, ob sein persönliches Verhalten eine solche Bedrohung begründet.

    (vgl. Rn. 60, 61, 65 und Tenor 2)

  4.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, keine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen. Jede Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats in diesem Bereich muss jedoch gewährleisten, dass im Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer Frist für die freiwillige Ausreise mit den Grundrechten dieses Drittstaatsangehörigen vereinbar ist.

    Ein Mitgliedstaat darf nämlich nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Gleichwohl steht es dem betreffenden Mitgliedstaat frei, diese Kriterien zu berücksichtigen, die u. a. von Bedeutung sein können, wenn dieser Mitgliedstaat beurteilt, ob eine Frist von weniger als sieben Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist.

    (vgl. Rn. 70, 74, 75 und Tenor 3)

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Rechtssache C‑554/13

Z. Zh.

gegen

Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie

und

Staatssecretaris voor Veiligheid en Justitie

gegen

I. O.

(Vorabentscheidungsersuchen, eingereicht vom Raad van State [Niederlande])

„Vorlage zur Vorabentscheidung — Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts — Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Art. 7 Abs. 4 — Begriff ‚Risiko für die öffentliche Ordnung‘ — Voraussetzungen, unter denen die Mitgliedstaaten davon absehen können, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, oder eine Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen einräumen können“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 11. Juni 2015

  1. Recht der Europäischen Union – Auslegung – Bestimmung mit Ausnahmecharakter – Enge Auslegung

  2. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung – Tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung – Nationale Praxis, nach der ein solcher Drittstaatsangehöriger bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, weil er der Begehung einer als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat straftrechtlich verurteilt wurde – Unzulässigkeit

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  3. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung – Drittstaatsangehöriger, der einer als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde – Beurteilungskriterien

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  4. Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung – Einwanderungspolitik – Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger – Richtlinie 2008/115 – Voraussetzungen für die Gewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise oder für die Einräumung einer Ausreisefrist von weniger als sieben Tagen – Pflicht zur erneuten Prüfung der Kriterien, die für die Feststellung des Bestehens einer Gefahr für die öffentliche Ordnung als maßgeblich erachtet wurden – Fehlen – Voraussetzungen – Beachtung der Grundrechte

    (Richtlinie 2008/115 des Europäischen Parlaments und des Rates, Art. 7 Abs. 4)

  1.  Siehe Text der Entscheidung.

    (vgl. Rn. 42)

  2.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115/EG über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Praxis entgegensteht, nach der ein Drittstaatsangehöriger, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, bereits deshalb eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift darstellt, weil er der Begehung einer nach nationalem Recht als Straftat geahndeten Handlung verdächtigt wird oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde.

    Ein Mitgliedstaat ist nämlich gehalten, den Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Vorschrift im Einzelfall zu beurteilen, um zu prüfen, ob das persönliche Verhalten des betreffenden Drittstaatsangehörigen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Stützt sich ein Mitgliedstaat auf eine allgemeine Praxis oder irgendeine Vermutung, um eine solche Gefahr festzustellen, ohne dass das persönliche Verhalten des Drittstaatsangehörigen und die Gefahr, die dieses Verhalten für die öffentliche Ordnung darstellt, gebührend berücksichtigt werden, verkennt er die Anforderungen an eine individuelle Prüfung des in Rede stehenden Falles und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

    (vgl. Rn. 50, 54 und Tenor 1)

  3.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass im Fall eines Drittstaatsangehörigen, der sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält und verdächtigt wird, eine nach nationalem Recht als Straftat geahndete Handlung begangen zu haben, oder wegen einer solchen Tat strafrechtlich verurteilt wurde, andere Kriterien wie die Art und die Schwere dieser Tat, der Zeitablauf seit der Tatbegehung sowie der Umstand, dass dieser Drittstaatsangehörige dabei war, das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu verlassen, als er von den nationalen Behörden festgenommen wurde, im Rahmen der Beurteilung der Frage, ob dieser Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne dieser Bestimmung darstellt, maßgeblich sein können. Im Rahmen dieser Beurteilung ist gegebenenfalls auch jedes Kriterium maßgeblich, das die Stichhaltigkeit des Verdachts der dem betreffenden Drittstaatsangehörigen vorgeworfenen Straftat betrifft.

    Der Begriff der Gefahr für die öffentliche Ordnung, wie er in Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie vorgesehen ist, setzt nämlich jedenfalls voraus, dass außer der sozialen Störung, die jeder Gesetzesverstoß darstellt, eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Daraus folgt, dass im Rahmen der Beurteilung dieses Begriffs jedes tatsächliche oder rechtliche Kriterium zur Situation des Drittstaatsangehörigen maßgeblich ist, das geeignet ist, die Frage zu klären, ob sein persönliches Verhalten eine solche Bedrohung begründet.

    (vgl. Rn. 60, 61, 65 und Tenor 2)

  4.  Art. 7 Abs. 4 der Richtlinie 2008/115 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ist dahin auszulegen, dass der Rückgriff auf die in dieser Bestimmung vorgesehene Möglichkeit, gar keine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn der Drittstaatsangehörige eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt, keine erneute Prüfung der Kriterien erfordert, die bereits geprüft wurden, um das Bestehen dieser Gefahr festzustellen. Jede Regelung oder Praxis eines Mitgliedstaats in diesem Bereich muss jedoch gewährleisten, dass im Einzelfall geprüft wird, ob das Fehlen einer Frist für die freiwillige Ausreise mit den Grundrechten dieses Drittstaatsangehörigen vereinbar ist.

    Ein Mitgliedstaat darf nämlich nicht automatisch auf normativem Weg oder durch die Praxis davon absehen, eine Frist für die freiwillige Ausreise zu gewähren, wenn die betreffende Person eine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt. Gleichwohl steht es dem betreffenden Mitgliedstaat frei, diese Kriterien zu berücksichtigen, die u. a. von Bedeutung sein können, wenn dieser Mitgliedstaat beurteilt, ob eine Frist von weniger als sieben Tagen für die freiwillige Ausreise zu gewähren ist.

    (vgl. Rn. 70, 74, 75 und Tenor 3)

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