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Document 62013CJ0129

Kamino International Logistics

Verbundene Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13

Kamino International Logistics BV

und

Datema Hellmann Worldwide Logistics BV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Erhebung einer Zollschuld — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Anspruch auf rechtliches Gehör — Adressat der Entscheidung über die Zollerhebung, der von den Zollbehörden nicht vor Erlass dieser Entscheidung, sondern erst in der darauffolgenden Stufe des Einspruchs angehört wurde — Verletzung der Verteidigungsrechte — Bestimmung der Rechtsfolgen der Nichtwahrung der Verteidigungsrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 3. Juli 2014

  1. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Verpflichtung zur Beachtung dieser Grundsätze durch die nationalen Verwaltungen im Rahmen von Verfahren zur Erhebung von Zöllen – Möglichkeit, sich vor den nationalen Gerichten auf die Nichtbeachtung dieser Grundsätze zu berufen

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung)

  2. Zollunion – Anwendung des Zollrechts – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Auslegung im Licht der Grundrechte

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung)

  3. Eigenmittel der Europäischen Union – Nacherhebung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben – Verteidigungsrechte – Nationale Regelung, die die vorherige Anhörung des Empfängers einer Zahlungsaufforderung nicht erlaubt – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Recht des Empfängers, die Aussetzung der Vollziehung der Zahlungsaufforderungen zu erlangen

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung, Art. 244 Abs. 2)

  4. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Missachtung dieser Rechte durch eine Verwaltungsentscheidung – Folgen – Erlass von Maßnahmen des nationalen Rechts – Voraussetzungen – Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung, Art. 245)

  1.  Der Einzelne kann sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den daraus für jedermann folgenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, so wie diese im Rahmen der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vorgesehen sind, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen.

    Die Verpflichtung, diesen Grundsatz zu beachten, trifft die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht.

    (vgl. Rn. 31, 35, Tenor 1)

  2.  Unionsrechtsbestimmungen wie die des Zollkodex sind im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.

    (vgl. Rn. 69)

  3.  Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht jeder Person, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, sind dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem der Adressat einer Zahlungsaufforderung im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben gemäß der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vor Erlass dieser Entscheidung nicht von der Verwaltung angehört worden ist, seine Verteidigungsrechte verletzt sind, auch wenn er die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend zu machen, sofern es die nationale Regelung im Fall der fehlenden vorherigen Anhörung den Adressaten solcher Zahlungsaufforderungen nicht ermöglicht, die Aussetzung von deren Vollziehung bis zu ihrer etwaigen Abänderung zu erlangen. So verhält es sich jedenfalls, wenn das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2913/92 durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung in einem Fall einschränkt, in dem begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.

    (vgl. Rn. 73 und Tenor 2)

  4.  Die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte sichergestellt werden muss, und die Folgen der Missachtung dieser Rechte richten sich nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).

    Da das nationale Gericht verpflichtet ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss es, wenn es die Folgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, würdigt, berücksichtigen, dass ein solcher Verstoß nur dann zur Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung führt, wenn ohne diese Unregelmäßigkeit dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

    Diese Beurteilung ist auf den Zollbereich anzuwenden, da Art. 245 des Zollkodex ausdrücklich auf das nationale Recht verweist.

    (vgl. Rn. 76, 82, Tenor 3)

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Verbundene Rechtssachen C‑129/13 und C‑130/13

Kamino International Logistics BV

und

Datema Hellmann Worldwide Logistics BV

gegen

Staatssecretaris van Financiën

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden)

„Erhebung einer Zollschuld — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Anspruch auf rechtliches Gehör — Adressat der Entscheidung über die Zollerhebung, der von den Zollbehörden nicht vor Erlass dieser Entscheidung, sondern erst in der darauffolgenden Stufe des Einspruchs angehört wurde — Verletzung der Verteidigungsrechte — Bestimmung der Rechtsfolgen der Nichtwahrung der Verteidigungsrechte“

Leitsätze – Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 3. Juli 2014

  1. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Recht auf Anhörung – Verpflichtung zur Beachtung dieser Grundsätze durch die nationalen Verwaltungen im Rahmen von Verfahren zur Erhebung von Zöllen – Möglichkeit, sich vor den nationalen Gerichten auf die Nichtbeachtung dieser Grundsätze zu berufen

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung)

  2. Zollunion – Anwendung des Zollrechts – Recht zur Einlegung eines Rechtsbehelfs – Auslegung im Licht der Grundrechte

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung)

  3. Eigenmittel der Europäischen Union – Nacherhebung von Einfuhr- oder Ausfuhrabgaben – Verteidigungsrechte – Nationale Regelung, die die vorherige Anhörung des Empfängers einer Zahlungsaufforderung nicht erlaubt – Zulässigkeit – Voraussetzungen – Recht des Empfängers, die Aussetzung der Vollziehung der Zahlungsaufforderungen zu erlangen

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung, Art. 244 Abs. 2)

  4. Recht der Europäischen Union – Grundsätze – Verteidigungsrechte – Missachtung dieser Rechte durch eine Verwaltungsentscheidung – Folgen – Erlass von Maßnahmen des nationalen Rechts – Voraussetzungen – Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität

    (Verordnung Nr. 2913/92 des Rates in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung, Art. 245)

  1.  Der Einzelne kann sich auf den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die Verwaltung und den daraus für jedermann folgenden Anspruch, vor Erlass jeder Entscheidung, die seine Interessen beeinträchtigen kann, gehört zu werden, so wie diese im Rahmen der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vorgesehen sind, vor den nationalen Gerichten unmittelbar berufen.

    Die Verpflichtung, diesen Grundsatz zu beachten, trifft die Behörden der Mitgliedstaaten, wenn sie Entscheidungen erlassen, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auch dann, wenn die anwendbare Regelung eine solche Formalität nicht ausdrücklich vorsieht.

    (vgl. Rn. 31, 35, Tenor 1)

  2.  Unionsrechtsbestimmungen wie die des Zollkodex sind im Licht der Grundrechte auszulegen, die nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern hat.

    (vgl. Rn. 69)

  3.  Der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte und insbesondere das Recht jeder Person, vor Erlass einer nachteiligen individuellen Maßnahme angehört zu werden, sind dahin auszulegen, dass in einem Fall, in dem der Adressat einer Zahlungsaufforderung im Rahmen eines Verfahrens zur Nacherhebung von Einfuhrabgaben gemäß der Verordnung Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften in der durch die Verordnung Nr. 2700/2000 geänderten Fassung vor Erlass dieser Entscheidung nicht von der Verwaltung angehört worden ist, seine Verteidigungsrechte verletzt sind, auch wenn er die Möglichkeit hat, seinen Standpunkt auf einer späteren Stufe in einem verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren geltend zu machen, sofern es die nationale Regelung im Fall der fehlenden vorherigen Anhörung den Adressaten solcher Zahlungsaufforderungen nicht ermöglicht, die Aussetzung von deren Vollziehung bis zu ihrer etwaigen Abänderung zu erlangen. So verhält es sich jedenfalls, wenn das nationale Verwaltungsverfahren, das Art. 244 Abs. 2 der Verordnung Nr. 2913/92 durchführt, die Gewährung einer solchen Aussetzung in einem Fall einschränkt, in dem begründete Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung bestehen oder dem Beteiligten ein unersetzbarer Schaden entstehen könnte.

    (vgl. Rn. 73 und Tenor 2)

  4.  Die Bedingungen, unter denen die Wahrung der Verteidigungsrechte sichergestellt werden muss, und die Folgen der Missachtung dieser Rechte richten sich nach nationalem Recht, sofern die in diesem Sinne getroffenen Maßnahmen denen entsprechen, die für den Einzelnen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz).

    Da das nationale Gericht verpflichtet ist, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, muss es, wenn es die Folgen eines Verstoßes gegen die Verteidigungsrechte, insbesondere gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, würdigt, berücksichtigen, dass ein solcher Verstoß nur dann zur Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung führt, wenn ohne diese Unregelmäßigkeit dieses Verfahren zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.

    Diese Beurteilung ist auf den Zollbereich anzuwenden, da Art. 245 des Zollkodex ausdrücklich auf das nationale Recht verweist.

    (vgl. Rn. 76, 82, Tenor 3)

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