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Document 52021AE5429

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: Bedingungen für die soziale Akzeptanz der Energiewende und des Übergangs zu einer Niedrigemissionswirtschaft (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des französischen EU-Ratsvorsitzes)

    EESC 2021/05429

    ABl. C 290 vom 29.7.2022, p. 22–29 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, GA, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    29.7.2022   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 290/22


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses: Bedingungen für die soziale Akzeptanz der Energiewende und des Übergangs zu einer Niedrigemissionswirtschaft

    (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des französischen EU-Ratsvorsitzes)

    (2022/C 290/04)

    Berichterstatter:

    Arnaud SCHWARTZ

    Mitberichterstatter:

    Pierre Jean COULON

    Befassung

    Französischer Ratsvorsitz, 20.9.2021

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    10.3.2022

    Verabschiedung im Plenum

    23.3.2022

    Plenartagung Nr.

    568

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    224/6/5

    1.   Schlussfolgerungen und Empfehlungen

    1.1.

    Um die gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus den Planungs- und Umsetzungsphasen zu gewährleisten, fordert der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) alle beteiligten Akteure auf, in folgenden Bereichen für Verbesserungen zu sorgen: Unabhängigkeit des Prozesses, Qualität und Zugänglichkeit von Informationen, freiwillige und vielfältige Beteiligung, Klarheit der Modalitäten, Rechenschaftspflicht und Einbindung in Entscheidungsverfahren, Transparenz und Überwachung eines Plans bzw. Projekts vom Anfang bis zum Ende, aber auch Erschwinglichkeit und Funktionalität der Energiewende (d. h. mit verfügbaren Lösungen, etwa günstig gelegene Ladestationen für Elektrofahrzeuge in ausreichender Zahl).

    1.2.

    Der EWSA fordert die EU auf, im Wege finanzieller Anreize die Verteilungsgerechtigkeit und den Prosum wesentlich stärker zu fördern, da dies der wichtigste Faktor für die lokale Akzeptanz der Energiewende ist. Informationen über diese Anreize sollten leicht zugänglich und auch die entsprechenden Verfahren sollten unkompliziert sein. Das Ziel der Energieunion, die Bürger in den Mittelpunkt der Politik zu stellen und dafür zu sorgen, dass sie leicht selbst zu Energieerzeugern werden und von neuen Technologien profitieren können, muss viel schneller als bisher vorgesehen erreicht werden. Des Weiteren betont der EWSA, dass eine gerechte Verteilung sowohl des Nutzens als auch der Kosten eines Projekts innerhalb einer Gemeinschaft wichtig ist.

    1.3.

    Der EWSA schlägt vor, dass die EU die gegebenenfalls für die geringe öffentliche Beteiligung und Akzeptanz verantwortlichen Hindernisse ermittelt und beseitigt. In der Regel kann die gesellschaftliche Akzeptanz verbessert werden, wenn die betroffenen Bevölkerungsgruppen und Organisationen der Zivilgesellschaft die Möglichkeit erhalten, an der Ausarbeitung von Projekten und an Planungsentscheidungen mitzuwirken. Ansatzpunkte eines Aktionsplans zur Förderung der Partizipation sollten daher unter anderem der Zeitmangel, die fehlende politische Bildung sowie die mangelnde Rechenschaftspflicht der zuständigen Behörden sein.

    1.4.

    Der EWSA spricht sich dafür aus, die Öffentlichkeit, insbesondere die Sozialpartner und die zivilgesellschaftlichen Organisationen, bereits in der Planungsphase stärker als bisher zu konsultieren oder gar in die Gestaltung einzubeziehen. Außerdem sollten auf allen territorialen Ebenen bis hin zur lokalen Umsetzung der Wende Ziele und Planung sorgfältig aufeinander abgestimmt werden. Dies ist unerlässlich, wenn auf dem Weg zu einer besseren gesellschaftlichen Akzeptanz Fortschritte erzielt und die Ziele der Energiewende in angemessenem Tempo erreicht werden sollen.

    1.5.

    Der EWSA macht deutlich, dass eine bessere Akzeptanz in der Bevölkerung und bei den vom Wandel und den damit verbundenen technischen Veränderungen betroffenen Akteuren auch besondere Aufmerksamkeit und spezifische Maßnahmen in Bereichen wie lebenslanges Lernen, Umschulung und Weiterqualifizierung von Arbeitskräften, Unterstützung für Unternehmen und auf die verschiedenen vom Wandel betroffenen Gruppen ausgerichtete Informationskampagnen erfordert. Hierbei muss als Kernbotschaft hervorgehoben werden, dass die Energiewende notwendig ist, weil sie sowohl individuell als auch kollektiv gesehen gerechter und sauberer und langfristig für die Bürgerinnen und Bürger auch günstiger ist.

    1.6.

    Der EWSA bekräftigt jedoch, dass die Energiewende den Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen, Kommunen usw. individuelle und kollektive Veränderungen abverlangen wird. Da die negativen externen Effekte fossiler Energieträger im Rahmen der Energiepolitik bisher nicht berücksichtigt wurden, kommt es im Zuge der Dekarbonisierung kurzfristig zu einer Kostensteigerung für die Erzeuger und zu höheren Verbraucherpreisen. In diesem Zusammenhang bedarf es einer größeren Transparenz. Angesichts der derzeitigen Energiepreise fällt es den Verbraucherinnen und Verbrauchern schwer, freiwillig höhere Preise zu akzeptieren. Dieser Tatsache muss man sich unbedingt bewusst sein. Es ist deshalb auch wichtig, dass der Öffentlichkeit die Erfolge beim gerechten Übergang vermittelt werden. In der aktuellen Debatte stehen nämlich nur allzu oft negative Aspekte im Vordergrund. Ein Schlüsselelement für einen sozialverträglichen und erfolgreichen Übergang ist die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der EU-Unternehmen auf dem Weltmarkt, um eine übermäßige Belastung der Wirtschaft sowie Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

    1.7.

    Der EWSA mahnt an, dass mit den früheren Steuern auf fossile Energie und den neuen grünen Steuern einkommensschwächere Haushalte verhältnismäßig stärker belastet werden als einkommensstarke Haushalte. Umweltschädliche Subventionen und Steuern müssen schrittweise, aber rasch abgeschafft werden, wie es von der Politik häufig versprochen wird. Die Einnahmen aus diesen neuen grünen Steuern sollten daher insbesondere in die soziale Innovation, die finanzielle Unterstützung finanziell schwächerer Haushalte bei der Umstellung auf saubere Energie und die Erhaltung ihrer Kaufkraft fließen.

    1.8.

    Der EWSA weist außerdem darauf hin, dass im Rahmen des Übergangs zu einer emissionsarmen Gesellschaft das Konzept eines gerechten Übergangs in den Mittelpunkt der Überlegungen und Maßnahmen gestellt werden muss. Der gerechte Übergang muss mehr als eine Reihe politischer Ziele sein, da er die Grundlage für die gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende bildet. Auf europäischer Ebene sollte das Paket „Fit für 55“ durch einen Rechtsrahmen für einen gerechten Übergang ergänzt werden, der beispielsweise konkrete Vorschläge enthält, die in dieser Stellungnahme erwähnt werden und die sich in nationalen Energie- und Klimapläne niederschlagen können.

    1.9.

    Der EWSA fordert eine Neubewertung des Pakets „Fit für 55“, um die Fähigkeit zur Bewältigung von Energiepreisschwankungen und Problemen infolge von Notlagen — einschließlich Krieg — zu verbessern, sowie die Einführung angemessener Bestimmungen, um solche Situationen so zu bewältigen, dass negative Auswirkungen auf die Endverbraucher vermieden werden.

    2.   Hintergrund und Definitionsaspekte

    2.1.

    Die Menschheit ist mit der Endlichkeit der Ressourcen der Erde (1), dem massiven Verlust an Artenvielfalt und der Erderwärmung konfrontiert. Die Energiewende, das heißt die Umstellung auf eine klimaneutrale Wirtschaft, bedeutet für unsere Gesellschaften sowohl konkrete Veränderungen insbesondere durch eine Änderung unserer (individuellen und kollektiven) Gewohnheiten als auch einen grundlegenden Wandel unserer Lebensweise. Sie muss es uns auf demokratische und gerechte Weise sowie unter Wahrung der Ökosysteme (2) ermöglichen, unseren materiellen und energetischen Bedarf zu verringern und dabei gleichzeitig für das Wohlergehen aller zu sorgen (3).

    2.1.1.

    Aus ökologischen, versorgungstechnischen und gesellschaftlichen Gründen ist es keine Option, fossile Brennstoffe in den kommenden Jahrzehnten so wie heute weiter zu nutzen. Die Umstellung auf eine klimaneutrale Gesellschaft ist also dringend notwendig.

    2.1.2.

    Vor dem Hintergrund des grünen Wachstums (4) droht unseren Volkswirtschaften aufgrund der geringen Energierentabilität alternativer Energien jedoch ein systemischer Zusammenbruch, ganz zu schweigen von den potenziell verheerenden Auswirkungen von Bergbautätigkeiten auf die Umwelt.

    2.1.3.

    Wenn wir für mehr Kohärenz sorgen und die gesellschaftliche Akzeptanz verbessern wollen, müssen wir in Zukunft

    die Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen durch ein verbessertes Recycling verringern;

    Folgenabschätzungen durchführen, um eine Energiewende zu fördern, bei der die Nutzung solcher Rohmineralien besser verhindert, verringert oder kompensiert werden kann;

    eine Kreislaufwirtschaft im Bereich der erneuerbaren Energien aufbauen;

    die Energieeffizienz fördern und die weltweite Energienachfrage drastisch senken;

    die Vorschläge des Pakets „Fit für 55“ zur Verbesserung der Fähigkeit zur Bewältigung von Energiepreisschwankungen und Problemen infolge von Notlagen — einschließlich Krieg — neu bewerten.

    2.1.4.

    Angesichts der Grenzen der Szenarien in Bezug auf technologische Risiken, das Versagen von CO2-Senken und die mangelnde Energieeffizienz wird es notwendig sein, durch einen systemischen sorgsamen Umgang mit Energie und ein Überdenken unserer Lebensweise deutliche Spielräume zu schaffen, aber auch für eine bessere Akzeptanz der Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel zu sorgen.

    2.2.

    Die Voraussetzungen für die gesellschaftliche Akzeptanz eines solchen Wandels sind in den letzten Jahren wissenschaftlich untersucht worden. In dieser Stellungnahme gibt der EWSA einen Überblick, insbesondere mit dem Ziel, die Praktiken der EU-Institutionen und -Mitgliedstaaten zu verbessern.

    2.3.

    Die gesellschaftliche Akzeptanz von Projekten zur Förderung der Energiewende ist eine äußerst komplexe Frage. Dabei spielen Erwägungen zum Verständnis der vorgeschlagenen Technologien, der damit verbundenen Risiken (u. a. sozialer, gesundheitlicher, wirtschaftlicher Art) und möglicher Alternativen sowie die Bewertung der Kosten und Vorteile der empfohlenen Optionen und die Einstellungen der Bevölkerung vor Ort eine Rolle. Um Akzeptanz in der Gesellschaft zu erreichen, muss mit der Bevölkerung sowie mit sämtlichen Interessenträgern über einschlägige Vorhaben diskutiert und eingehender erörtert werden, in welche Richtung die Raumentwicklung gehen soll und welcher Lebensstil vor Ort wünschenswert ist.

    2.4.

    Laut einschlägiger Studien (5) und nach Auffassung des EWSA sind die wichtigsten Faktoren für die Förderung der gesellschaftlichen Akzeptanz:

    Vertrauen in die Governance und gerechte Verfahren,

    eine gerechte und erschwingliche Energiewende,

    Standort- und Planungsfragen,

    die Auswirkungen gesellschaftlich-demografischer Faktoren,

    die gesellschaftlich-technische Machbarkeit.

    2.5.

    Im Folgenden soll dargestellt werden, was unter diesen Schlagwörtern zu verstehen ist und welche ihrer Aspekte als Mittel zur allmählichen Verwirklichung einer Niedrigemissionswirtschaft genutzt werden können.

    3.   Umsetzungsbedingungen

    3.1.   Vertrauen in die Governance und gerechte Verfahren

    3.1.1.

    Zahlreiche Studien belegen, dass Vertrauen ein maßgeblicher Faktor für das Maß an gesellschaftlicher Akzeptanz ist. Es besteht ein Zusammenhang zwischen gerechten Verfahren, Vertrauen und Akzeptanz des Wandels. Eine transparente Entscheidungsfindung und die Verbreitung von Informationen verbessern das gegenseitige Vertrauen zwischen Projektentwicklern und Gemeinschaften.

    3.1.2.

    Der EWSA bekräftigt deshalb, dass die Rechtsstaatlichkeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen sollte, beispielsweise im Hinblick auf die Verwendung der verschiedenen EU-Fonds. Er ist ferner der Auffassung, dass die Kommission ihre Vorschläge in allen Amtssprachen zeitnah in verständlicher Form veröffentlichen sollte, um einen breiten Zugang und eine breite Beteiligung zu gewährleisten.

    3.1.3.

    Darüber hinaus geht aus den Studien hervor, dass die Bürgerbeteiligung dazu beiträgt, den Anliegen der Gemeinschaft Rechnung zu tragen und das gegenseitige Vertrauen zu stärken. Die Verbreitung von Informationen ist entscheidend für die Berichtigung falscher Vorstellungen vom Wandel und von Maßnahmen oder Instrumenten, die zu seiner Verwirklichung eingesetzt werden. Daher ist es wichtig, Konsultationen zu Themen wie Standort, Kosten und mögliche negative ökologische, wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Auswirkungen von Projekten zur Energiewende durchzuführen, aber auch deren Vorteile ins Bild zu rücken. So wird auch die Akzeptanz in der Öffentlichkeit für den Bau neuer Anlagen in der Umgebung gefördert.

    3.1.4.

    Der EWSA ist daher der Auffassung, dass es für die Akzeptanz in einer Gemeinschaft maßgeblich ist, mit den Einwohnerinnen und Einwohnern sowie mit den betroffenen Interessenträgern in Dialog zu treten und durch eine offene Kommunikation und die frühestmögliche Beteiligung an der Entwicklung von im Zusammenhang mit der Energiewende durchgeführten Maßnahmen und Projekten (6) auf allen geeigneten territorialen Ebenen — von der lokalen bis zur EU-Ebene — gegenseitiges Vertrauen aufzubauen.

    3.1.5.

    Um die Partizipation zu fördern und Vertrauen aufzubauen, ist es wichtig, sich lokalen Rückhalt zu verschaffen, insbesondere bei zivilgesellschaftlichen Organisationen, die den Wandel auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse öffentlich unterstützen (7). Dank eines solchen lokalen Netzes können Informationen in der Öffentlichkeit auf natürlichere Weise verbreitet und eventuell kursierende falsche Vorstellungen kompensiert werden.

    3.1.6.

    Die partizipative Demokratie ist heute ein Schlüsselelement des Modells der Unionsbürgerschaft. Der Vertrag von Lissabon garantiert die Komplementarität von repräsentativer und partizipativer Demokratie. Aus internationaler Sicht bilden der Zugang zu Informationen und die Beteiligung der Öffentlichkeit an der Planung und Entwicklung zwei der drei Säulen des Übereinkommens von Århus. Bei ihrer Umsetzung besteht noch Verbesserungsbedarf, ebenso wie bei der Verwirklichung der Säule „Zugang zu Gerichten“ (8).

    3.1.7.

    Die öffentliche Debatte als Beteiligungsform sollte gefördert werden. Sie muss von einem unabhängigen Expertenausschuss für Bürgerbeteiligung mit nachweislicher Erfahrung organisiert werden (9). Dies ist eine Garantie für die unverzichtbare Glaubwürdigkeit der gesamten Debatte, mit der die Bürgerinnen und Bürger in die Entwicklung wichtiger, ihren Wohnort betreffender Maßnahmen eingebunden werden. Mit einer solchen Debatte werden alle interessierten Kreise umfassend und auf transparente Weise über einen Plan, ein Programm oder ein Vorhaben in der Konzeptionsphase informiert, während ihnen gleichzeitig die Möglichkeit gegeben wird, sowohl als Einzelpersonen als auch als organisierte Gruppe ihre Meinung zur Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Maßnahmen zu äußern.

    3.1.8.

    In den letzten Jahren hat die Digitalisierung der Bürgerbeteiligung ohne jegliche Rechenschaftspflicht und ohne Debatten mit außenstehenden Mittlern, die für die angewandte Methode bürgen, das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger allmählich untergraben. Über die reine Information hinaus bedarf es einer Kombination aus Online-Konsultationen und physischen Zusammentreffen (10), um die Öffentlichkeit in allen Phasen einzubeziehen und gemeinsam die notwendigen Entscheidungen zu fällen.

    3.1.9.

    Zur Verbesserung des Dialogs zwischen allen Interessenträgern sollten die Entscheidungsträger in den Behörden bzw. der repräsentativen Demokratie im Anschluss an die Konsultation der Öffentlichkeit zum Beispiel verpflichtet werden, schriftlich nachzuweisen, was sie mit den verschiedenen Beiträgen machen und welche Verbesserungen den Bürgerinnen und Bürgern zugutekommen werden. Eine solche Rechenschaftspflicht würde dazu führen, dass die Gründe für die Entscheidungen besser verstanden werden, was das Vertrauen in die Demokratie stärken würde.

    3.2.   Eine gerechte und erschwingliche Energiewende

    3.2.1.

    Das Paket „Fit für 55“ und das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 bergen immense Herausforderungen. Nach Angaben der Europäischen Kommission werden zur Erreichung unserer Ziele für 2030 allein für die Energieerzeugungssysteme jährlich zusätzliche Investitionen in Höhe von 350 Mrd. EUR vonnöten sein. Die große Frage für den EWSA und natürlich die Gesellschaft insgesamt ist, wer dafür zahlt, wer investiert, wer davon profitieren wird und ob die Mittel ausreichen.

    3.2.2.

    Eine gerechte Verteilung zugunsten einer fairen und erschwinglichen Energiewende gewährleistet, dass nicht nur die Kosten fair verteilt werden, sondern dass das Vorhaben auch allen im selben Maße zugutekommt. Sie ist ein wesentlicher Einflussfaktor für gesellschaftliche Akzeptanz. Finanzielle Anreize ohne übermäßigen Verwaltungsaufwand und technische Schwierigkeiten erweisen sich sogar als größter Motivationsfaktor für die Akzeptanz eines Vorhabens im Zusammenhang mit der Energiewende. Hierdurch werden Privatpersonen, Landwirte, KMU, Energiegemeinschaften usw. bereit sein, sich mit ihren Investitionen und ihrem Engagement in das neue System einzubringen, um den notwendigen Wandel herbeizuführen.

    3.2.3.

    Es liegt nahe, dass eine grundlegende Voraussetzung für einen sozialverträglichen und erfolgreichen Übergang zu einer CO2-neutralen Wirtschaft darin besteht, dass die europäischen Unternehmen auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben, um eine übermäßige Belastung der Wirtschaft sowie Arbeitslosigkeit zu vermeiden.

    3.2.4.

    Verschiedene Formen finanzieller Anreize (z. B. niedrigere Energiepreise oder Möglichkeiten der Einkommensschaffung, Unterstützung der lokalen Wirtschaft und für Weiterbildung oder Umschulung) begünstigen die Akzeptanz auf lokaler Ebene und die Gewinnung von Rückhalt für ein Vorhaben ganz erheblich.

    3.2.5.

    Auch die Wahrnehmung der Vorteile kann dazu beitragen, die Akzeptanz vor Ort zu verbessern. So wird etwa die Schaffung lokaler Arbeitsplätze insbesondere in von der Energiewende betroffenen Arbeitsmarktregionen als Nutzen für die Gemeinschaft wahrgenommen, was der Akzeptanz eines Vorhabens förderlich sein kann.

    3.2.6.

    Vor allem Strom aus Wind- und Solaranlagen ist vielerorts bereits die erschwinglichste und nachhaltigste Alternative oder auf dem Weg dahin, diese zu werden. Eine Möglichkeit besteht darin, lokale Bürgergemeinschaften in die Erzeugung dieses kostengünstigen Stroms einzubinden und sie davon profitieren zu lassen: Dadurch, dass sie an der Stromerzeugung mitwirken, ändert sich ihre Rolle, sodass aus Verbrauchern Prosumenten werden. Ihre Rechte müssen gestärkt und abgesichert werden. Dieser Ansatz ist angesichts der zunehmenden Elektrifizierung in den Bereichen Verkehr und Wärmeversorgung umso wichtiger.

    3.2.7.

    Für das Klima ist es theoretisch unerheblich, wer eine Photovoltaik- oder Windenergieanlage errichtet und betreibt. Für die lokale Akzeptanz und die regionale Wirtschaft ist dieser Aspekt jedoch von zentraler Bedeutung. In der Praxis müssen daher besondere Anstrengungen unternommen werden, um eine solche Beteiligung zu ermöglichen.

    3.2.8.

    Nach Auffassung des EWSA könnten folgende Maßnahmen dazu beitragen, die Zahl der Prosumenten und die gesellschaftliche Akzeptanz der Energiewende rasch zu steigern:

    a)

    Gemeinschaftliche Selbstversorgung: Wenn die Verbraucher gemeinsam Anlagen betreiben und der dort erzeugte Strom vor Ort verbraucht wird, sollte dieser Strom als selbst erzeugter Strom behandelt werden.

    b)

    Gemeinsame Nutzung von Energie: Bei Erneuerbare-Energie-Gemeinschaften sollte für Strom, der im Rahmen einer gemeinsamen Energienutzung von den Erzeugern verbraucht wird, ein geringeres Netzentgelt erhoben werden.

    c)

    Virtuelle Netto-Stromverbrauchsabrechnung: Dadurch können auch Bürger, die nicht in unmittelbarer Nähe einer Anlage zur Gewinnung erneuerbarer Energie wohnen, daran teilhaben und den erzeugten Strom direkt nutzen. Um dies zu ermöglichen, sollten virtuelle Netzzählerregelungen gesetzlich als neue Möglichkeit vorgesehen werden, bei der jede Kilowattstunde an verbrauchtem Strom aus dem System, an dem der Verbraucher beteiligt ist, durch Kilowattstunden ausgeglichen wird, die der Verbraucher zu einem anderen Zeitpunkt aus einer anderen Quelle bezieht. Solche Zählerregelungen gibt es bereits in Griechenland, Polen und Litauen.

    3.2.9.

    Der lokale Prosum ist auch im Zusammenhang mit intelligenten Zählern von Interesse, die Preissignale des Marktes verarbeiten und einen netzfreundlichen Verbrauch sowie eine netzfreundliche Flexibilität ermöglichen, die auf diese Weise belohnt werden können. Durch das Zusammenspiel dieser Maßnahmen kann die Netzauslastung verringert und somit der Notwendigkeit eines Netzausbaus entgegengewirkt werden.

    3.2.10.

    Die Frage des Anstiegs der Energiekosten und der Möglichkeiten der Mitgliedstaaten zu dessen Eindämmung muss bei künftigen politischen Maßnahmen im Mittelpunkt stehen. Der EWSA unterstützt nicht nur Sofortmaßnahmen zur Vermeidung drastischer sozialer Folgen, sondern spricht sich auch nachdrücklich für Marktbewertungen aus, mit denen das Verhalten der Akteure auf dem Energiemarkt analysiert wird. Er weist dabei auf die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienste von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) hin, die im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse, das dem AEUV als Anhang beigefügt ist, niedergelegt sind. Damit könnte für eine größere Effizienz gesorgt und Marktversagen verhindert werden. Die Märkte müssen wirksamer von den Behörden kontrolliert werden.

    3.2.11.

    Der EWSA fordert eine Neubewertung des Pakets „Fit für 55“, um die Fähigkeit zur Bewältigung von Energiepreisschwankungen und Problemen infolge von Notlagen — einschließlich Krieg — dahin gehend zu verbessern, dass negative Auswirkungen auf die Endverbraucher vermieden werden, indem beispielsweise geeignete Mechanismen eingeführt werden, um überhöhte Preise zu vermeiden, wie z. B. die vorübergehende Aussetzung des Emissionshandelssystems.

    3.2.12.

    Gleichzeitig muss soziale Gerechtigkeit gewährleistet und die zunehmende Energiearmut der Menschen in Europa angegangen werden (11). Der Europäischen Kommission zufolge birgt die Bekämpfung des Klimawandels konkrete Risiken für eine Verschärfung der Ungleichheiten, wogegen spezifische öffentliche Maßnahmen ergriffen werden müssen. Insbesondere geht es darum, die berufliche Ausbildung und Umschulung zu verbessern und den Anstieg bestimmter Preise für von Energiearmut betroffene Haushalte unter Kontrolle zu halten (12). Eine Energiewende, die Arbeitsplätze schafft und die Kaufkraft einkommensschwacher Haushalte bewahrt, wird gesellschaftlich besser akzeptiert (13).

    3.2.13.

    Auch werden zur Erleichterung der Akzeptanz der Energiewende zusätzlich verschiedene Szenarien in Betracht gezogen, die einkommensschwachen Haushalten mehr Mittel zur Verfügung stellen, wie z. B. in den Simulationen des Konsortiums Locomotion. Allerdings weist der EWSA darauf hin, dass der Klima-Sozialfonds und der EU-Fonds für einen gerechten Übergang (14) aufgestockt und ausgeweitet werden müssen, um wirksam dafür zu sorgen, dass niemand zurückgelassen wird. Im Hinblick darauf sollten alle Aspekte, die zu Ausgrenzung und Marginalisierung führen können, berücksichtigt werden.

    3.2.14.

    Um insbesondere die am stärksten benachteiligten Menschen bei der konkreten Umstellung auf saubere Energie zu unterstützen, wäre es zudem sinnvoll, Umverteilungsmaßnahmen zu entwickeln und zu verbessern und zu diesem Zweck innovative Maßnahmen (15) wie ein bedingungsloses Grundeinkommen, Steuerermäßigungen, kürzere Arbeitszeiten, Jobsharing, Beschäftigungsgarantieprogramme sowie mehr Mitsprache der Arbeitnehmer bei der Unternehmensführung zu erproben.

    3.2.15.

    Diese und andere oben genannte Maßnahmen können die Akzeptanz der Energiewende erhöhen. Sie könnten durch die Mittel unterstützt werden, die derzeit noch in Subventionen für fossile Energieträger, Zuschüsse und Steuervergünstigungen fließen. Es ist wichtig, Finanzierungsquellen für nachhaltige Investitionen zu schaffen.

    3.2.16.

    So müssen nun, wie bereits seit Langem zugesagt, umweltschädliche Subventionen sehr schnell abgeschafft werden, und es bedarf der Entwicklung grüner Steuern auf der Grundlage einer gezielten Besteuerung (16), d. h. mittels einer Zweckbindung der Finanzierungsquellen zugunsten der Energiewende. Dadurch werden das Verständnis und die Akzeptanz der öffentlichen Maßnahmen in diesem Bereich für alle erleichtert.

    3.2.17.

    Die soziale Akzeptanz grüner Steuern setzt einen Ausgleich voraus, bei dem die Einkommen der Haushalte und ihre Energiearmut berücksichtigt werden (Fehlen öffentlicher Verkehrsmittel, schlechte Isolierung des Wohnraums, schlechte Effizienz des Heizungssystems und des eigenen Fahrzeugs usw.), damit sie von potenziellen langfristigen Einsparungen durch weniger energieintensive Geräte und Systeme profitieren können (17).

    3.2.18.

    Ebenso sollte eine CO2-Karte (18), mit der den Bürgerinnen und Bürgern ein individuelles, nicht übertragbares CO2-Guthaben zugeteilt wird, erprobt werden, um nicht nur zu sondieren, ob dies eine erzieherische Wirkung im Hinblick auf die Verringerung der Treibhausgasemissionen und die Förderung der Energiewende vor Ort hat, sondern auch, ob sich mit einer solchen Maßnahme, die für alle gleichermaßen greift, die Akzeptanz der Energiewende verbessern lässt.

    3.2.19.

    Wie wirksam die öffentlichen Akteure (neben ihren Verfahren und Maßnahmen zugunsten eines sorgsamen Umgangs mit Energie und erneuerbarer Energien, der partizipativen Demokratie, des sozialen Dialogs und der Finanzierung bürgerbetriebener Anlagen und lebenslanger Bildungsmaßnahmen zur Energiewende) mit gutem Beispiel vorangehen, hängt davon ab, inwieweit sie in der Lage sein werden, die Frage der Finanzierung auf den Tisch zu bringen und zum Beispiel mit einem mehrjährigen Programm zur Finanzierung der energetischen Sanierung mit Ergebnisverpflichtung für eine nachhaltige Finanzierung zu sorgen.

    3.2.20.

    Neue Subventionen und steuerliche Maßnahmen müssen sinnvoll durch Normen ergänzt werden, die für alle verbindlich gelten, da sie ebenso wie die Maßnahmen, die für die Entwicklung von Spiegelwechselwirkungen zur Förderung des Wandels erforderlich sind, auch zur Verwirklichung der lebenswerten Welt beitragen werden, die wir uns wünschen.

    3.3.   Standort und Planung

    3.3.1.

    Viele Probleme in Verbindung mit dem Standort von der Energiewende förderlichen Projekten hängen mit ihren besonderen physischen Eigenschaften zusammen. Um diesen Hemmfaktoren zu begegnen, bedarf es weiterer Anstrengungen, vor allem durch die Verbreitung von Wissen zur Bekämpfung von falschen Informationen und durch den Einsatz bewährter Verfahren zur Lösung dieser Probleme.

    3.3.2.

    Dabei geht es insbesondere darum, sich das kulturelle und städtebauliche Erbe der Vergangenheit bewusst zu machen (durch Gewerbe- und Industriegebiete entstellte Vorstädte, Nutzung fruchtbarer Flächen für Parkplätze, Wohngebiete und Vorstadtsiedlungen, die eine Abhängigkeit von privaten Pkw begünstigen usw.). Die Vorteile der Energiewende überwiegen heute gegenüber den Auswirkungen auf „landschaftliche Aspekte“. Um zu gewährleisten, dass sie auf nachhaltige Weise verwirklicht wird, müssen wir die negativen Auswirkungen im Zusammenhang mit ihrem Flächenbedarf so weit wie möglich vermeiden bzw. verringern und ausgleichen.

    3.3.3.

    Dies sollte erreicht werden, indem die Infrastruktur an Orten errichtet wird, an denen sie nicht in Konkurrenz zur Landwirtschaft oder zum Naturschutz und zum kulturellen Erbe steht. Eine Lösung besteht darin, die Anlagen in bestehende städtische oder industrielle Gebiete zu integrieren oder sie in Randgebieten mit geringem Anbau- oder Naturwert anzusiedeln.

    3.3.4.

    Wenn die Ansiedlung auf Anbauflächen unvermeidbar ist, sollte die Anlage soweit wie möglich in das landwirtschaftliche System integriert werden und darf nicht zu Rodungen und/oder Netto-Flächenverbrauch führen.

    3.3.5.

    Um die gesamte Bevölkerung angemessen zu informieren und ihr Vertrauen zu gewinnen, sollten die Anlagen sowie alle energiebezogenen nationalen und europäischen Ziele und Pläne außerdem systematisch strengen Umweltverträglichkeitsprüfungen unterzogen werden.

    3.3.6.

    Auch Ex-post-Bewertungen sind unerlässlich, um in unserer Gesellschaft eine kontinuierliche Verbesserungsdynamik aufrechtzuerhalten. Ergänzend dazu sollten Brücken für den Dialog zwischen allen territorialen Ebenen geschlagen sowie geeignete Instrumente zur Überwachung und Umsetzung der Maßnahmen geschaffen werden, um Flächenverbrauch sowie die „Verlagerung von Umweltproblemen“ weitgehend zu verhindern, wie insbesondere von der Europäischen Umweltagentur (EUA) empfohlen wird (19).

    3.3.7.

    Bei der Ex-post-Bewertung von mit der Energiewende zusammenhängenden Maßnahmen und Projekten ist die Bezifferung der Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft ein Aspekt, der Akzeptanz in der Gesellschaft schaffen kann.

    3.3.8.

    Eine ergänzende Lösung für die Schwierigkeiten bei der Suche nach Standorten für die Energieerzeugung in Europa könnte darin bestehen, in benachbarten Ländern erzeugten grünen Strom in flüssiger Form durch die Nutzung von Wasserstoff als Träger in die EU einzuführen. Dies muss im Hinblick auf die soziale Akzeptanz als ein Aspekt der gemeinsamen Entwicklung dieser Regionen verstanden werden (20).

    3.4.   Gesellschaftlich-demografische Faktoren

    3.4.1.

    Neben diesen Gründen spielt auch die allgemeine Demografie eine Rolle bei der öffentlichen Wahrnehmung. Im Vorfeld durchgeführte demografische Studien würden zur gezielteren Formulierung einer Strategie zur Förderung der Akzeptanz von Vorhaben beitragen, da sie Aufschluss über die Größe und Zusammensetzung der Zielgruppen geben, von denen am ehesten Widerstand zu erwarten ist. Solche Studien sollten für alle Interessenträger zugänglich sein.

    3.4.2.

    Es besteht ein Zusammenhang zwischen einer höheren Akzeptanz und einem höheren Bildungsniveau sowie einem geringeren Alter. Daher ist es wichtig, das lebenslange Lernen (auch in Unternehmen und Berufsbildungszentren) in den Bereichen Energiebewusstsein, Bürgerbeteiligung und Investitionen in kollektive Maßnahmen zur Förderung der Energiewende weiterzuentwickeln.

    3.4.3.

    Der EWSA schlägt vor, dass sich die Sensibilisierungskampagnen für die Energiewende an der BIMBY-Bewegung (Build In My Backyard, in Anlehnung an die NIMBY-Haltung, Not In My Backyard) orientieren und zu gesellschaftlicher Nachahmung anregende Beispiele und deren Nutzen für die Bevölkerung herausstellen sollten — eine Reihe positiver Narrative in Form von Erfahrungsberichten und konkreten Erfolgsgeschichten aus verschiedenen Regionen und Ländern, mit denen sich die Menschen identifizieren können.

    3.4.4.

    All dies könnte Akzeptanz schaffen und dazu anregen, gemeinsam auf die neue Lebensweise hinzuwirken, die notwendig ist, um dem heutigen Gebot der Abkehr von fossilen Energieträgern zu entsprechen. Es sollten Mittel für Sensibilisierungsmaßnahmen bereitgestellt werden, die von verschiedenen Interessenträgern auf sinnvolle Weise mitgetragen werden könnten.

    3.4.5.

    Es besteht kein Konsens über die unmittelbaren Auswirkungen besonderer gesellschaftlich-demografischer Faktoren, da sie von Land zu Land und je nach politischem Kontext unterschiedlich sind. Sie wirken sich jedoch eindeutig auf die lokale Akzeptanz von Plänen und Vorhaben zur Förderung der Energiewende aus. Der EWSA hält es daher für notwendig, im Zusammenspiel mit den Sozialpartnern und den Organisationen der Zivilgesellschaft Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen zur Energiewende zu unterstützen.

    3.4.6.

    Bei der Argumentation unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Akzeptanz wird jedoch bisweilen den Zielgruppen die Verantwortung dafür zugeschoben, ob die betreffenden Technologien angenommen werden oder nicht. Dabei wird davon ausgegangen, dass allein die gesellschaftliche Dimension bei der Erschließung des Potenzials der Technologien eine Rolle spielt. Der Widerstand gegen den Erwerb oder die Nutzung neuer Instrumente kann jedoch komplexer sein (21).

    3.5.   Gesellschaftlich-technische Machbarkeit (22)

    3.5.1.

    Die Annahme bestimmter Anlagen wird auch durch Hemmfaktoren technischer Art gebremst. Insbesondere erweist es sich als schwierig, eine Gesellschaft, die paradoxerweise zu immer mehr Konsum einlädt, was in eklatantem Widerspruch zu der geforderten Energieeinsparung steht, zu einer weniger energieintensiven Kultur hinzuführen.

    3.5.2.

    Gesellschaftliche Akzeptanz bezieht sich auf die komplexe Situation einer akzeptierten Koexistenz von Technik und Nutzern. Doch Akzeptanz bedeutet nicht Annahme (siehe z. B. intelligente Zähler, die theoretisch akzeptiert, aber nicht angenommen und daher auch nicht installiert werden). Die Annahme setzt zunächst eine gewisse Verbreitung der betreffenden Technologie voraus. Es wird nicht mehr darüber diskutiert, sie hat sich bewährt und besteht neben anderen technologischen Alternativen, was jedoch nicht gleichbedeutend mit ihrer Akzeptanz ist. Akzeptanz bedeutet, sie sich zu eigen zu machen, in dem Sinne, dass sie in die eigene Lebensweise integriert, als unentbehrlich und unumgänglich angesehen wird.

    3.5.3.

    Die einer Annahme von Übergangstechnologien im Wege stehenden Hindernisse gehen auch darauf zurück, dass bei ihrer Konzipierung meist davon ausgegangen wird, dass die Nutzer wissen werden, wie sie sie zweckentsprechend einsetzen.

    3.5.4.

    Von den Nutzern wird erwartet, dass sie die durch diese Technologien ermöglichten Energievorhaben mittragen, noch bevor sie in der Lage sind, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Zahlreiche Umfragen zeigen jedoch, dass selbst technische Alltagsgegenstände mangels ausreichender Kenntnis der tatsächlichen Einsatzmöglichkeiten und -modalitäten bei Weitem zu wenig genutzt werden.

    3.5.5.

    Die gesellschaftlich-technische Machbarkeit kann als ein Prozess der Integration und Verbreitung in der Gesellschaft über einen Zeitraum mit verschiedenen Phasen betrachtet werden. Die erste Phase ist grundlegend, da sie die Zeit der Forschung und Entwicklung sowie der Auseinandersetzungen (23) betrifft, d. h. die Phase, in der die mit der Einführung der neuen Technologie einhergehenden Veränderungen antizipiert werden. In der zweiten Phase liegen bereits erste Erfahrungen vor. Hier werden das zugrunde liegende Konzept sowie die geplante Nutzung und die Eignung der Technologien zur Integration in die Gesellschaft einander gegenübergestellt. Die letzte Phase ist die Verbreitung der Technologie und ihre langfristige Nutzung. In diesem Stadium entscheidet sich, ob das Vorhaben angenommen oder abgelehnt wird, ob es von der Öffentlichkeit mitgetragen wird und wie es in der Gesellschaft verwirklicht wird.

    3.5.6.

    An dieser Stelle wird die lokale Ebene aktiv: Die Gebietskörperschaften versuchen gegebenenfalls, diese Technologien zur Bewältigung bestimmter Herausforderungen einzusetzen. Die Integration in die Gesellschaft entspricht also den makrosozialen Veränderungen, die durch ihre Annahme in Gang gesetzt werden.

    3.5.7.

    Durch den Einsatz einer Technologie können die Einstellung gegenüber der Welt sowie die sozialen Beziehungen und Vorstellungen tiefgreifend verändert werden. Dies ist nur möglich, wenn die Technologie nicht als unausweichlich übergestülpt wird, sondern die Möglichkeit bietet, angepasst zu werden und sie sich erneut zu eigen zu machen. Hier können nach Ansicht des EWSA wissenschaftlich untermauerte Technologieneutralität, fairer Wettbewerb und die Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit der verschiedenen Technologien auszutesten und zu diskutieren, dazu beitragen, die gesellschaftliche Akzeptanz zu verbessern.

    3.5.8.

    Bei näherer Betrachtung verlagert sich die Debatte über die Energiewende somit von einem auf technische Aspekte zentrierten zu einem stärker gesellschaftlich orientierten Ansatz. Das Konzept der gesellschaftlichen Akzeptanz muss also stärker nuanciert werden, wenn es dazu tendiert, unsere energieintensive Lebensweise allein den Verbrauchern anzulasten, und vor dem weiter gefassten Hintergrund der gesellschaftlich-technischen Machbarkeit gesehen werden, bei der zwangsläufig die Sinnhaftigkeit der Technologien und die energiepolitischen Entscheidungen kritisch in Frage gestellt werden.

    Brüssel, den 23. März 2022

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  https://www.footprintnetwork.org/our-work/ecological-footprint/

    (2)  https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2021/07/IPBES_IPCC_WR_12_2020.pdf

    (3)  https://doughnuteconomics.org/about-doughnut-economics

    (4)  https://eeb.org/library/decoupling-debunked/; https://www.eea.europa.eu/publications/growth-without-economic-growth

    (5)  Trends in Social Acceptance of Renewable Energy Across Europe — A Literature Review, 8.12.2020.

    (6)  Dies entspricht auch den Empfehlungen der französischen Umweltschutzorganisation France Nature Environnement in ihren Informationsbroschüren (u. a. vorliegend zu den Themen Methanisierung und Windkraft).

    (7)  https://www.fondation-nicolas-hulot.org/sondage-science-et-transition-ecologique-en-qui-les-francais-ont-il-confiance/ (nur auf Französisch).

    (8)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 66.

    (9)  Wie der nationale Ausschuss für die öffentliche Debatte (Commission nationale du débat public) in Frankreich.

    (10)  Siehe öffentlicher Bericht 2011 des Conseil d’État (französischer Staatsrat) mit dem Titel „Consulter autrement, participer effectivement“, La Documentation française 2011.

    (11)  Informationsbericht des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses Bewertung der Europäischen Energieunion — Die soziale und gesellschaftliche Dimension der Energiewende.

    (12)  Aufgrund von Energiearmut kommt es zu Phänomenen wie Energiediebstahl (Anzapfen von Netzen anderer), sei es aus Armut oder aus zivilem Ungehorsam gegenüber dem Stromhandelssystem.

    (13)  ABl. C 152 vom 6.4.2022, S. 158.

    (14)  ABl. C 311 vom 18.9.2020, S. 55.

    (15)  https://eeb.org/library/escaping-the-growth-and-jobs-treadmill/

    (16)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 8.

    (17)  Eurofound, 2015, Access to social benefits: reducing non-take-up, Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Union, Luxemburg. Veröffentlichung der Europäischen Umweltagentur (EUA) und der Stiftung Eurofound „Exploring the social challenges of low-carbon energy policies in Europe“, ef22004en.pdf

    (18)  https://www.socialter.fr/article/carte-carbone-plutot-qu-une-taxe-un-quota-pour-chaque-citoyen-1 (nur in Französisch).

    (19)  https://www.eea.europa.eu/themes/energy/renewable-energy/eu-renewable-electricity-has-reduced

    (20)  ABl. C 123 vom 9.4.2021, S. 30.

    (21)  Die Anschaffung eines Elektroautos geht beispielsweise mit einer Umstellung der Fahrweise von manueller Gangschaltung auf Automatikgetriebe einher, was abschreckend wirken kann.

    (22)  https://www.larevuedelenergie.com/les-energies-renouvelables-en-transition-de-leur-acceptabilite-sociale-a-leur-faisabilite-sociotechnique/ (nur in Französisch).

    (23)  Siehe in einem anderen Bereich als der Energiewende z. B. Smartphones, die weithin akzeptiert und genutzt werden.


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