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Document 52020AE2236

    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Grundsätze für öffentliche Dienstleistungen/Stabilität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des deutschen Ratsvorsitzes)

    EESC 2020/02236

    ABl. C 56 vom 16.2.2021, p. 29–35 (BG, ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, HR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, RO, SK, SL, FI, SV)

    16.2.2021   

    DE

    Amtsblatt der Europäischen Union

    C 56/29


    Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema: „Grundsätze für öffentliche Dienstleistungen/Stabilität der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“

    (Sondierungsstellungnahme auf Ersuchen des deutschen Ratsvorsitzes)

    (2021/C 56/03)

    Berichterstatter:

    Christian MOOS (DE-III)

    Mitberichterstatter:

    Philip VON BROCKDORFF (MT-II)

    Ersuchen des deutschen Ratsvorsitzes

    Schreiben vom 18/2/2020

    Rechtsgrundlage

    Artikel 304 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union

    Beschluss des Präsidiums

    17/3/2020

    Zuständige Fachgruppe

    Fachgruppe Beschäftigung, Sozialfragen, Unionsbürgerschaft

    Annahme in der Fachgruppe

    11/11/2020

    Verabschiedung auf der Plenartagung

    2/12/2020

    Plenartagung Nr.

    556

    Ergebnis der Abstimmung

    (Ja-Stimmen/Nein-Stimmen/Enthaltungen)

    220/0/15

    1.   Zusammenfassung

    1.1.

    Der deutsche Ratsvorsitz hat den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) ersucht, zu der Frage Stellung zu nehmen, welche Grundsätze für die öffentlichen Dienste der EU-Mitgliedstaaten gelten müssen, um die obersten Grundwerte der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu garantieren und unter welchen Voraussetzungen sie als automatische Stabilisatoren für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Krisenzeiten wirken.

    1.2.

    Seit mehr als zehn Jahren muss die EU schwere Krisen bewältigen, darunter die Terrorismusbekämpfung, die globalen Finanz- und Wirtschaftskrisen, die Krise des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, die Umwelt- und Klimakrise sowie die COVID-19-Pandemie. Effiziente öffentliche Dienste spielen eine entscheidende Rolle bei der Krisenbewältigung, indem sie für öffentliche Sicherheit und Versorgungssicherheit sorgen und den Zugang zu ihren Dienstleistungen auf der Grundlage des Grundsatzes des gleichberechtigten Zugangs und der garantierten Universalität anbieten.

    1.3.

    In einigen dieser außergewöhnlichen Krisensituationen mussten die Grundrechte im Rahmen eines Ausnahmezustands vorübergehend eingeschränkt werden. Um zu gewährleisten, dass solche Maßnahmen gerechtfertigt und verhältnismäßig sind, stehen die öffentlichen Dienste vor einem Balanceakt zwischen Grundrechtseingriff und Durchsetzung der Rechtsstaatlichkeit sowie Gesetzesbindung allen Verwaltungshandelns.

    1.4.

    In Bezug auf die Bedrohung der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit weltweit und auch in der EU kommt den öffentlichen Diensten insofern eine Abwehrfunktion zu, als sie sich unrechtmäßigen Dienstanweisungen verweigern und so die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung schützen können. Durch die Achtung der Grundprinzipien Objektivität, Integrität, Transparenz, Respekt für andere und Engagement für die Europäische Union und ihre Bürgerinnen und Bürger bilden die öffentlichen Dienste Säulen der Demokratie und ein Bollwerk gegen Populismus.

    1.5.

    Um zu gewährleisten, dass die öffentlichen Dienste in Europa in allen Krisensituationen als automatische Stabilisatoren wirken, müssen die europäischen Werte, die in den EU-Verträgen, der EU-Grundrechtecharta, der Europäischen Menschenrechtskonvention und den mitgliedstaatlichen Garantien der Grund- und Menschenrechte in den nationalen Verfassungen verankert sind, sowie die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), wie sie im Protokoll Nr. 26 über Dienste von allgemeinem Interesse zum Vertrag über die Europäische Union (EUV) festgelegt sind, Richtschnur des Verwaltungshandelns auf europäischer Ebene und — im Einklang mit der jeweiligen Verfassung — in allen EU-Mitgliedstaaten sein.

    1.6.

    Der EWSA betont ferner, dass funktionierende öffentliche Dienste auf allen Ebenen in der gesamten EU mit den notwendigen Kompetenzen sowie personellen, fachlichen, sachlichen und finanziellen Ressourcen ausgestattet sein und ihren Beschäftigten angemessene Arbeitsbedingungen und eine ausreichende Vergütung sowie einen sozialen Dialog bieten müssen, damit diese die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen und die öffentlichen Dienste als automatischer Stabilisator wirken können.

    1.7.

    Die Mitgliedstaaten haben die alleinige Zuständigkeit für ihre öffentlichen Dienste, die sie nach ihren tradierten Grundsätzen und im Einklang mit ihrem Verfassungsrecht organisieren. Unbeschadet dessen plädiert der EWSA für einen wirksamen europäischen Rechtsrahmen (einschließlich Sanktionen), der garantiert, dass alle Mitgliedstaaten die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit gemäß den „Kopenhagener Kriterien“ uneingeschränkt achten, die eine notwendige Grundlage für eine gute Verwaltungspraxis in der EU und ihren Mitgliedstaaten bilden.

    2.   Fragestellung, Definitionen und Zielsetzung der Stellungnahme

    2.1.

    Eine EU-weit einheitliche Definition des Begriffs „öffentlicher Dienst“ fehlt. Für die Zwecke dieser Stellungnahme versteht der EWSA unter öffentlichen Diensten die verschiedenen hoheitlichen und administrativen öffentlichen Dienste, darin eingeschlossen die gewerblichen und kommerziellen öffentlichen Dienstleistungen von allgemeinem Interesse auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene.

    2.2.

    Öffentliche Dienste tragen Sorge für die Achtung der obersten Grundwerte der Demokratie, dazu gehören die Achtung der Grund- und Menschenrechte, die verfassungsgebende Gewalt des Volkes, die Gewaltenteilung, die richterliche Unabhängigkeit, die Verantwortlichkeit der Regierung, Parteienpluralismus, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Oppositionsrechte, die Medienfreiheit, das Diskriminierungsverbot, Minderheitenrechte sowie die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Für die EU sind diese Grundwerte als europäische Werte insbesondere in Artikel 2 EUV sowie in der Grundrechtecharta niedergelegt.

    2.3.

    Der Begriff „automatische Stabilisatoren“ ist der Wirtschaftstheorie entlehnt. In Analogie zu deren Definition werden Grundsätze öffentlicher Dienste als automatische Stabilisatoren angesehen, die insbesondere in Krisenzeiten sichernd auf die obersten Grundwerte der Demokratie wirken.

    2.4.

    In dieser Stellungnahme sollen Kriterien und europäische Empfehlungen dazu aufgestellt werden, wie öffentliche Dienste, die nationalen Rechtsvorschriften unterliegen, als Stabilisatoren für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wirken können. Dabei geht es um den grundlegenden Wert gut funktionierender öffentlicher Dienste für den Schutz der obersten Grundwerte der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in Europa.

    2.5.

    Natürliche wie juristische Personen sind auf gut funktionierende öffentliche Dienste angewiesen, die einen wichtigen Beitrag zu einer lebendigen Gesellschaft, produktiven Wirtschaft und vertrauensvollen Zusammenarbeit der Sozialpartner leisten. Der öffentliche Dienst sollte dabei alle Personen diskriminierungsfrei behandeln, sodass allen Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Orientierung barrierefreier Zugang zu bspw. einer guten Bildung, sozialen Diensten, Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Wasser- und Energieversorgung sowie Postzustellung garantiert wird.

    2.6.

    Der öffentliche Dienst spielt eine Schlüsselrolle für die Aufrechterhaltung der demokratischen Grundordnung, kann dieser Aufgabe jedoch ohne politischen Pluralismus, Meinungsfreiheit, Demokratie sowie Rechten für die Zivilgesellschaft und zwischengeschaltete Stellen wie Gewerkschaften nicht nachkommen. Der öffentliche Dienst ist fester Bestandteil einer Demokratie. Zusammen mit weiteren demokratischen Akteuren ist er ein Garant des sozialen Fortschritts.

    3.   Krisenzeiten — Herausforderung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit

    3.1.   Demokratie und Krisenpolitik

    3.1.1.

    Gerade in Krisenzeiten ist essenziell, dafür zu sorgen, dass beispielsweise Hilfe allen nunmehr Schutzbedürftigen, natürlichen wie juristischen Personen, nach klaren Maßstäben, mit denen Gleichheit vor dem Gesetz angestrebt wird, gewährt wird und diese Hilfe auch benachteiligten Personen und Gruppen zugänglich ist.

    3.1.2.

    Jede in einer krisenhaften Ausnahmelage mögliche Beschränkung von Grundrechten aufgrund eines Notstands muss begründet, zeitlich begrenzt und verhältnismäßig sein und von einem demokratisch gewählten Parlament in einem bestimmten Rahmen genehmigt werden. Eine unabhängige Justiz schützt zwar vor rechtswidrigen Verwaltungsakten, doch kann die Demokratie langfristig nicht funktionieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger ihre Rechte nicht in vollem Umfang wahrnehmen können. Gesetzgeber, Regierungen und öffentliche Dienste müssen nicht nur in Übereinstimmung mit den Grundrechten handeln, sondern auch deren Garanten sein.

    3.1.3.

    Das Neutralitätsgebot der Akteure des öffentlichen Diensts ist eine Grundvoraussetzung für die Gleichbehandlung aller Nutzer und die Vorbeugung von Diskriminierung. Es muss in allen Mitgliedstaaten garantiert sein, um die Akteure des öffentlichen Diensts vor Populismus zu schützen.

    3.2.   Terrorismus und staatliche Anti-Terrormaßnahmen

    3.2.1.

    Spätestens seit „9/11“ vollzieht sich ein schwieriger Balanceakt zwischen der Garantie von Freiheitsrechten und einer effektiven Gefahrenabwehr. Auch für die öffentlichen Dienste ist dies eine besondere Herausforderung, weil der Schutz der Grundfreiheiten und der rechtsstaatlichen Ordnung und neue Exekutivbefugnisse in einem Spannungsverhältnis stehen können.

    3.2.2.

    Gerade bei der effektiven Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols konkretisiert sich der Balanceakt zwischen Grundrechtseingriff und Gefahrenabwehr nicht nur auf abstrakter Ebene, sondern in der direkten Anwendung im Alltag. Nur ein öffentlicher Dienst, der über das fachlich geschulte Personal und die erforderlichen Ressourcen verfügt, kann seine Aufgaben unter Wahrung der Freiheitsrechte wahrnehmen. Es müssen Vorkehrungen getroffen werden, um jeglichen Amtsmissbrauch zu verhindern und das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen Handlungen zu gewährleisten, die über den öffentlich-rechtlichen Auftrag hinausgehen, sei es durch einen Rechtsakt oder durch Einzelpersonen.

    3.2.3.

    Öffentliche Dienste gewährleisten die öffentliche Ordnung. Sie müssen dabei in dem Rahmen, den ihnen der Grundsatz der pflichtgemäßen Ermessensausübung lässt, eine Balance zwischen Gefahrenabwehr und Grundrechtschutz finden.

    3.2.4.

    Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen und vielfältigen sozialen Diensten in freier Trägerschaft leisten die öffentlichen Dienste unverzichtbare Beiträge zur Prävention von extremistischer Radikalisierung, Gewalt und Intoleranz, zur Förderung von Demokratie und sozialem Zusammenhalt sowie zur Verteidigung der europäischen Werte. Dies gilt u. a. für das öffentliche Bildungswesen.

    3.3.   Die globale Finanz- und Schuldenkrise

    3.3.1.

    Jahrelange Sparmaßnahmen in Folge der globalen Finanz- und Schuldenkrise betrafen die öffentlichen Dienste, was die Wirksamkeit ihrer Tätigkeit negativ beeinflusst hat.

    3.3.2.

    Diese Zeit hat uns gelehrt, dass der kurzfristige Schuldenabbau nicht unbedingt über die Privatisierung von Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erfolgen muss.

    3.3.3.

    Die kontinuierliche, verlässliche Gewährleistung hochwertiger Dienstleistungen von allgemeinem Interesse mit barrierefreiem Zugang muss auf EU-Ebene garantiert sein; der öffentliche Dienst in Europa muss gerade auch in Krisenzeiten dank dieser Kontinuität seine Leistungsfähigkeit als kraftvolle soziale Abfederung unter Beweis stellen.

    3.3.4.

    Ein gut funktionierender, effizienter öffentlicher Dienst leistet einen wichtigen Beitrag zu einem angemessenen Niveau der Staatsausgaben. Effizienz meint nicht einen „schlanken Staat“, denn ein schlechtes Funktionieren verursacht insgesamt höhere gesellschaftliche und wirtschaftliche Kosten.

    3.3.5.

    Ein öffentlicher Dienst, der über fachlich geschultes Personal und angemessene Ressourcen verfügt, wirkt durch eine effektive Regeldurchsetzung präventiv gegenüber künftigen Krisen. Dies gilt beispielsweise für eine Verwaltung, die erfolgreich Steuervermeidung und -hinterziehung bekämpft und so die staatlichen Einnahmen garantiert genauso wie für eine funktionierende Aufsicht des Finanzsektors.

    3.4.   Die Krise des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems

    3.4.1.

    Seit 2015 nimmt die Anzahl an Flüchtlingen in Europa stark zu. Für die Bewältigung dieser Herausforderung sind sowohl leistungsfähige öffentliche Dienste als auch zivilgesellschaftliches Engagement von entscheidender Bedeutung. Der EWSA unterstreicht nachdrücklich, dass das Asylrecht und die einschlägigen Völkerrechtsnormen in allen EU-Mitgliedstaaten garantiert sein müssen und das Gemeinsame Europäische Asylsystem vollendet werden muss.

    3.4.2.

    Wo die Kapazitäten der öffentlichen Dienste in einem oder mehreren Mitgliedstaaten nicht ausreichen, um Flüchtlingen insbesondere an den Eingangstoren zur EU einen hinreichenden Schutz der Grund- und Menschenrechte zu gewährleisten, bedarf es einer gesamteuropäischen Lösung. Die öffentlichen Dienste müssen überall in der EU in die Lage versetzt werden, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben die europäischen Werte einzuhalten.

    3.4.3.

    Wenn öffentliche Dienste eines Mitgliedstaats hoheitliche Aufgaben stellvertretend für alle Mitgliedstaaten ausüben, bedarf es einer fairen Teilung der daraus entstehenden Lasten. Zugleich muss dabei das höchstmögliche Schutzniveau der Grund- und Menschenrechte und die Einhaltung der europäischen Werte garantiert sein.

    3.4.4.

    Die digitale Interoperabilität der Grenzkontrollsysteme muss im Einklang mit den Datenschutzvorschriften stehen. Die EU muss die Achtung des Schutzes personenbezogener Daten durch alle ihre Verwaltungen gewährleisten.

    3.5.   Die Umwelt- und Klimakrise

    3.5.1.

    Öffentliche Dienste sind für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele (SDG) und die Umsetzung des Grünen Deals wichtig. Öffentliche Dienste können einen Wandel anstoßen, indem sie umweltfreundliche Initiativen und Maßnahmen bei öffentlichen Aufträgen und ihren Arbeitsverfahren fördern.

    3.5.2.

    Die ökologische Transformation wird auch zu einer Frage der sozialen Gerechtigkeit. Damit die Teilung von Lasten Akzeptanz findet, ist deren gerechte Verteilung und eine diskriminierungsfreie Durchsetzung der Auflagen unverzichtbar.

    3.5.3.

    Die öffentlichen Dienste können Anreizsysteme umsetzen und neue Dienstleistungen, vor allem in den Bereichen der Mobilität und der Energieversorgung und -sicherheit, anbieten. Auch Nachhaltigkeit und CO2-Neutralität gehören zu den grundlegenden Prinzipien, deren Einhaltung durch alle öffentlichen Dienste in Europa von der EU sichergestellt werden sollte.

    3.6.   Die COVID-19-Pandemie

    3.6.1.

    Der Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit, zwischen Rechten und Notstand ist während der COVID-19-Krise erneut zutage getreten. Alle sind gleichermaßen von den Risiken und der Einschränkung der Freiheiten betroffen.

    3.6.2.

    Die öffentlichen Dienste und ihre Beschäftigten stehen bei der Bekämpfung des Virus an vorderster Front. Sie müssen die öffentliche Gesundheit, die Risikoprävention und die Versorgungssicherheit unter allen Umständen gewährleisten.

    3.6.3.

    Die COVID-19-Krise zeigt, wie sehr die Mitgliedstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger reaktions- und leistungsfähige, finanziell gut ausgestattete und moderne öffentliche Dienstleistungen benötigen. Eine akute Krise kann schnelle Entscheidungen fordern. Diese müssen gut begründet sein und dürfen der demokratischen Kontrolle nicht entzogen werden. Sonst droht die Demokratie Schaden zu nehmen. Eine unzureichende Legitimation schwächt die Bereitschaft zur Regelbefolgung. Regierungen brauchen einen Vertrauensvorschuss der Gesellschaft für schnelles Handeln in der Krise, wobei sie sich auf einen effizienten öffentlichen Dienst stützen können müssen. Der öffentliche Dienst bedarf als administrativer Teil der vollziehenden Gewalt selbst des Vertrauens, um Entscheidungen effektiv umsetzen zu können.

    3.6.4.

    Die Pandemie zeigt, dass öffentliche Dienste über genügend fachlich geschulte und kompetente Beschäftigte, Ressourcen und Reserven verfügen müssen. Der grundlegende Charakter von Gemeinwohlaufgaben rechtfertigt eine angemessene Bezahlung und die EU-weite Anwendung sozialer Mindeststandards auf die Beschäftigten des öffentlichen Diensts. In vielen EU-Staaten bestehen demografische Probleme, denen insoweit Rechnung zu tragen ist, als der öffentliche Dienst im „Wettbewerb um die besten Köpfe“ auch finanziell attraktiv bleiben oder werden muss.

    3.6.5.

    Die Qualität der Grundsätze öffentlicher Dienste und angemessene Arbeitsbedingungen für Beamte, einschließlich eines guten sozialen Dialogs und eines demokratischen Klimas, stärken das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in ihre Regierungen.

    3.6.6.

    In der jüngsten Zeit haben alle EU-Staaten in Abwägung ihrer Kapazitäten zur Sicherung des Rechts auf Leben und des Rechts auf körperliche Unversehrtheit in einem für Demokratien unbekannten Ausmaß andere Grundrechte eingeschränkt. Diese präzedenzlose Maßnahme darf nur befristet erfolgen und bedarf der regelmäßigen Überprüfung durch die gewählten Parlamente.

    3.6.7.

    Die öffentlichen Dienste sind auf eindeutige Regierungsentscheidungen sowie auf Rechtsklarheit und -sicherheit angewiesen. Die EU sollte den Grundsatz der Transparenz und der guten Verwaltung nicht nur auf sich selbst anwenden, sondern dessen Einhaltung auch in allen öffentlichen Diensten in Europa gewährleisten.

    3.6.8.

    Viele öffentliche Dienste sind für die Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Krise zuständig. In ihrer Gesamtheit zeigen sie den grundlegenden Wert einer effektiven Verwaltung in Krisenzeiten.

    4.   Öffentliche Dienste als automatische Stabilisatoren

    4.1.

    Um als automatischer Stabilisator wirken zu können, muss in der gesamten EU, auf der europäischen, zentralstaatlichen, regionalen und kommunalen Ebene, eine funktionierende Verwaltung existieren, die mit den notwendigen Kompetenzen sowie personellen, fachlichen, sachlichen und finanziellen Ressourcen ausgestattet ist, um die ihr übertragenen Aufgaben erfüllen zu können.

    4.2.

    Außer auf europäischer Ebene muss die Zuordnung der Aufgaben zu den einzelnen Ebenen nicht EU-weit einheitlich geregelt sein, sondern mit dem Ziel effektiven Verwaltungshandelns den spezifischen mitgliedstaatlichen Bedingungen Rechnung tragen.

    4.3.

    Die Entscheidung, welche Dienstleistungen öffentlich-rechtlich und welche privat erbracht werden, obliegt den Mitgliedstaaten. Diese sollten sich bei ihrer Entscheidung vergewissern, dass der Ausfall privatwirtschaftlicher oder staatlicher Leistungserbringer in Krisenzeiten keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder die Versorgungssicherheit bedeutet.

    4.4.

    Wenn alle öffentlichen Dienste die Prinzipien der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Verhältnismäßigkeit und der Gleichbehandlung konsequent befolgen und das Recht auf eine gute Verwaltung verwirklichen, stärken sie das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie und die Resilienz gegenüber populistischen Verheißungen.

    4.5.

    Transparente öffentliche Dienste leisten einen zentralen Beitrag zum Kampf gegen Korruption und damit zu einer zuverlässigen und kostengünstigen Leistungserbringung. Die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien des öffentlichen Diensts in Europa, ihre Verfügbarkeit und Sachkompetenz sowie ein leichter Zugang zu unabhängigen Kontrollorganen stärken das Vertrauen.

    4.6.

    Insbesondere in der Frage der Einhaltung der Grund- und Menschenrechte durch die Regierungen und Gesetzgeber aller Ebenen kommt den öffentlichen Diensten — bei entsprechend gelebten Grundsätzen — eine Umverteilungs- und Abwehrfunktion zu, in dem sie sich unrechtmäßigen Dienstanweisungen verweigern und so die demokratische und rechtsstaatliche Ordnung schützen können.

    4.7.

    Das öffentliche Bildungswesen muss durch die Vermittlung der europäischen Werte und die Pflege einer demokratischen Zivilkultur einen entscheidenden Beitrag leisten. Formale Bildung ist eine wichtige öffentliche Dienstleistung an sich, insbesondere für die Vorbereitung der Bürgerinnen und Bürger von morgen.

    4.8.

    Die gegenwärtige Pandemie zeigt, wie ein überlastetes Gesundheitssystem zu Verletzungen der Menschenwürde führen kann und wie wichtig ausreichende Personal- und Behandlungsressourcen sind.

    4.9.

    Eine funktionierende Sozialverwaltung, die barriere- und diskriminierungsfreien Zugang zu Leistungen sozialer Sicherheit bietet, unterstützt das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit. Der öffentliche Dienst manifestiert sich hier als Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität.

    5.   Grundsätze für öffentliche Dienste in der Europäischen Union

    5.1.

    Die Mitgliedstaaten sind und bleiben allein verantwortlich für ihre öffentlichen Dienste, die sie nach ihren traditionellen Grundsätzen und im Einklang mit ihrem Verfassungsrecht organisieren. Unbeschadet dessen sind angesichts der Bedrohungen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit und leider auch in Europa gemeinsame europäische Grundsätze und Garantien erforderlich, um sicherzustellen, dass der öffentliche Dienst und die öffentlichen Dienstleistungen weiterhin Garanten von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bleiben.

    5.2.

    Der EWSA plädiert für einen wirksamen europäischen Rechtsrahmen, der die uneingeschränkte Achtung der „Kopenhagener Kriterien“ gewährleistet, die seit 1993 für alle Mitgliedstaaten die Kriterien für den EU-Beitritt bilden. Dieser Rahmen sollte die Möglichkeit von Sanktionen vorsehen.

    5.3.

    Für alle öffentlichen Dienste der EU und ihrer Mitgliedstaaten sind die in den EU-Verträgen verankerten europäischen Werte, die Charta der Grundrechte, die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte sowie mitgliedstaatliche Garantien der Grund- und Menschenrechte in den nationalen Verfassungen Richtschnur des Verwaltungshandelns.

    5.4.

    Die gemeinsamen Werte der Union in Bezug auf Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse im Sinne von Artikel 14 AEUV, wie sie im Protokoll (Nr. 26) über Dienste von allgemeinem Interesse zum EUV niedergelegt sind, bilden die Leitlinien für die Anwendung der Grundsätze für öffentliche Dienstleistungen in allen Mitgliedstaaten.

    5.5.

    Die öffentlichen Dienste in den EU-Mitgliedstaaten müssen sich bei all ihrer Vielfalt drei Grundsätzen verschreiben: Neutralität, Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Transparenz. Eine mangelnde richterliche Unabhängigkeit sowie Verfassungsänderungen, die die oben genannten Grundsätze für den öffentlichen Dienst und somit die traditionellen Grundsätze öffentlicher Dienstleistungen untergraben, müssen mit wirksamen Sanktionen geahndet werden.

    5.6.

    Gemäß dem Grundsatz der Neutralität müssen öffentliche Dienste den Zugang zu ihren Dienstleistungen auf der Grundlage des Grundsatzes des gleichberechtigten Zugangs und der garantierten Universalität gewährleisten. Die Barrierefreiheit der öffentlichen Dienste muss auch für gesellschaftliche Gruppen mit benachteiligtem Zugang wie Menschen mit Behinderung und in ländlichen Regionen uneingeschränkt gewährleistet werden.

    5.7.

    Die Gesetzesbindung allen Verwaltungshandelns ist essenziell, Gesetze und Weisungen dürfen der verfassungsmäßigen Ordnung bzw. den europäischen Werten nicht widersprechen. Sie befolgen darüber hinaus die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Gleichbehandlung und der pflichtgemäßen Ermessensausübung.

    5.8.

    Öffentliche Dienste verwirklichen das Recht auf eine gute Verwaltung und sind zum Zwecke der öffentlichen Kontrolle der Exekutive transparent in ihrem Handeln. Sie gewähren freien Zugang zu Verwaltungsinformationen und entsprechen vorbehaltlos Informationsbegehren. Ausnahmen sind eng auszulegen.

    5.9.

    Die öffentlichen Dienste sind dem UNO-Übereinkommen gegen Korruption verpflichtet und ergreifen alle notwendigen Maßnahmen zu deren Bekämpfung. Dazu setzen sie die Empfehlungen aus den europäischen Antikorruptionsberichten um.

    5.10.

    Die öffentlichen Dienste orientieren sich uneingeschränkt an demokratischen Grundsätzen. Die Rolle einer handlungsfähigen und strukturiert organisierten Zivilgesellschaft und politischen Opposition ist für die Wahrung dieses Grundsatzes von entscheidender Bedeutung.

    5.11.

    Beschäftigte der öffentlichen Dienste müssen in ihrem Beschäftigungsstatus rechtlich so geschützt und gesichert sein, dass sie unrechtmäßigen Dienstanweisungen die Folge verweigern und in geeigneter Weise Beschwerde einlegen können. Dies trägt zum reibungslosen Funktionieren der öffentlichen Dienste bei und ist ein Garant für die Demokratie sowie für die Verteidigung des allgemeinen Interesses gegen Korruption, Betrug oder Missbrauch.

    5.12.

    Die EU-Richtlinie über den verstärkten Schutz von Hinweisgebern gilt für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. Wie in der Stellungnahme des EWSA „Stärkung des Schutzes von Hinweisgebern auf EU-Ebene“ (SOC/593) (1) betont wird, entscheidet der Beschäftigte selbst, ob er eine Angelegenheit intern oder extern an die zuständigen Behörden (weder die Medien noch die Öffentlichkeit) meldet.

    5.13.

    Trotz der Digitalisierung der Dienste muss auch in Zukunft die Möglichkeit des persönlichen Kontakts zur Verwaltung garantiert sein. Dies gilt für alle öffentlichen Dienste auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene, damit schutzbedürftigen Personen (älteren Menschen, Armen, Migrantinnen und Migranten usw.) persönlich geholfen und die Digitalisierung für diese Bevölkerungsgruppen nicht zu einem zusätzlichen Faktor der sozialen Ausgrenzung wird.

    5.14.

    Die öffentlichen Dienste müssen dem aktuellen Stand der Digitalisierung entsprechen, ohne dass dabei Grundrechte (einschließlich der Arbeitnehmerrechte) geschwächt werden. Dies gilt in Bezug auf die digitale Verwaltung insbesondere für den Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

    5.15.

    Öffentliche Dienste müssen über die notwendigen Kompetenzen sowie personellen, fachlichen, sachlichen und finanziellen Ressourcen verfügen, um die ihnen übertragenen Aufgaben erfüllen zu können. Um ihr gutes Funktionieren auch in krisenbedingten Ausnahmezuständen zu sichern, bedarf die Ausstattung in allen genannten Dimensionen entsprechender Reserven.

    5.16.

    Die nationalen öffentlichen Dienste liegen in alleiniger organisatorischer Verantwortung der Mitgliedstaaten, weil sie wesentlich für deren staatliche Identität sind. Sie müssen aber im europäischen Mehrebenensystem interoperabel sein.

    5.17.

    Die europäische Zusammenarbeit und die praktische Anwendung der Grundsätze für öffentliche Dienste in der EU müssen Ausbildungsinhalt aller öffentliche Aufgaben wahrnehmenden Mitarbeitenden sein.

    5.18.

    Der Personalaustausch zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten muss ausgeweitet werden, um die Verwaltungsebenen im europäischen Mehrebenensystem besser zu verzahnen. Der Arbeitsplatzwechsel innerhalb der Mitgliedstaaten muss für den öffentlichen Dienst ohne Nachteile möglich sein.

    5.19.

    Europäische Einrichtungen, die berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen anbieten, sollten ein Angebot zur Umsetzung der Grundsätze der öffentlichen Dienste und zur Sicherung ihrer automatischen Stabilisierungswirkung für Beschäftigte der öffentlichen Dienste aller Ebenen schaffen.

    5.20.

    Alle öffentlichen Dienste, die an der Vergabe europäischer Gelder beteiligt sind, müssen die Grundsätze für den öffentlichen Dienst einhalten und umsetzen.

    Brüssel, den 2. Dezember 2020.

    Die Präsidentin des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

    Christa SCHWENG


    (1)  ABl. C 62 vom 15.2.2019, S. 155.


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