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Document 52006AE0752

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft

ABl. C 195 vom 18.8.2006, p. 96–103 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

18.8.2006   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 195/96


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“

(2006/C 195/24)

Die österreichische Ratspräsidentschaft der EU ersuchte mit Schreiben vom 13. September 2005 den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss gemäß Artikel 262 des EG-Vertrags um die Ausarbeitung einer Sondierungsstellungnahme zu folgendem Thema: „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Landwirtschaft, ländliche Entwicklung, Umweltschutz nahm ihre Stellungnahme am 26. April 2006 an. Berichterstatter war Herr RIBBE.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 427. Plenartagung am 17./18. Mai 2006 (Sitzung vom 18. Mai) mit 125 Stimmen ohne Gegenstimmen bei 4 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme:

1.   Zusammenfassung der Schlussfolgerungen und Empfehlungen des Ausschusses

1.1

Die Biodiversität ist Basis und Garant für das Leben auf unserem Planeten. Schon aus einem wirtschaftlichen Eigeninteresse heraus muss der Mensch bestrebt sein, die Stabilität der Ökosysteme zu wahren. Darüber hinaus gebietet es die Verantwortung vor der Schöpfung, die Artenvielfalt zu wahren. Biodiversitätsschutz ist kein „Luxus“, den man sich leisten kann oder auf den verzichtet werden könnte.

1.2

Der Mensch selbst ist der größte Nutznießer der Biodiversität, er ist allerdings derzeit auch Hauptverursacher des Rückgangs.

1.3

Der EWSA sieht die Biodiversität in Europa nach wie vor im höchsten Maße bedroht. Die bisherigen Maßnahmen der EU reichen bislang nicht aus, den negativen Trend der letzten Jahrzehnte zu stoppen.

1.4

Der EWSA begrüßt, dass sich nicht nur alle europäischen Institutionen, sondern auch die EU-Mitgliedstaaten als Vertragspartner der Konvention zum Erhalt der Biodiversität verpflichtet haben, den negativen Trend nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren.

1.5

Doch der EWSA bemängelt, dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit extreme Lücken klaffen: die öffentliche Hand hat bislang beim Schutz der Biodiversität nicht die Beiträge geleistet, die von ihr hätten erwartet werden können. Sie hat beim Schutz der Biodiversität eigentlich eine Vorbildfunktion einzunehmen, stattdessen tragen Planungsentscheidungen und Förderprogramme häufig dazu bei, die Biodiversität weiter zu gefährden. Hinzu kommt, dass in der Finanzperiode 2007-2013 just in jenen Politikbereichen der EU besonders gespart werden soll, die für den Biodiversitätsschutz von besonderer Bedeutung sind.

1.6

Der Verlust an Biodiversität ist ein schleichender Prozess, der nun schon seit vielen Jahren anhält. Da immer weniger Menschen einen direkten Bezug zur natürlichen Umwelt haben, ist die direkte Betroffenheit und folglich der daraus resultierende politische Gegendruck relativ gering. Dies darf aber die Politik nicht beruhigen, vielmehr sind Gegenstrategien zu entwickeln.

1.7

So wie die Zivilgesellschaft besser über Hintergründe und den Sinn des Biodiversitätsschutzes informiert werden muss, müssen auch Trainings- und Ausbildungsmaßnahmen von lokalen, regionalen und nationalen Beamten und Angestellten der öffentlichen Hand vorgenommen werden — viele wissen gar nicht, worum es sich handelt und häufig fehlt die Motivation.

1.8

Eine von der EU-Präsidentschaft erwogene Kampagne zur Erhaltung der Biodiversität hält der EWSA für sinnvoll, die Zivilgesellschaft kann dabei sowohl praktische Beiträge leisten als auch — besonders wichtig — zur Bewusstseinsentwicklung beitragen. Eine entsprechende Kampagne kann aber die bestehenden Defizite, die die EU selbst benannt hat, nicht kompensieren. Sie darf auch keineswegs dazu führen, dass der Eindruck entsteht, die Probleme ergäben sich allein oder vornehmlich aus einem zu geringen Engagement der Zivilgesellschaft.

1.9

Es bedarf mehr positiver praktischer Beispiele und Modellprojekte, es bedarf mehr an Darstellungen, die den Sinn- und den Nutzwert von Landschaften und Biodiversität generell ins Bewusstsein rücken und es bedarf des Engagements von Vorbildern aus der Öffentlichkeit. Schließlich geht es um die Erhaltung der Lebensgrundlagen des Menschen.

2.   Hauptelemente und Hintergrund der Stellungnahme

2.1

Mit Schreiben vom 13. September 2005 bat die österreichische Präsidentschaft den EWSA, eine Sondierungsstellungnahme zum Thema „Kampagne der EU zur Erhaltung der Biodiversität — die Position und der Beitrag der Zivilgesellschaft“ zu erarbeiten. In dem Schreiben wird darauf verwiesen, dass eine solche Stellungnahme den Rat und die Kommission inhaltlich und politisch bei dem Ziel unterstützen könnte, dem Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2010 Einhalt zu gebieten (1).

2.2

In dem Schreiben wird vorgeschlagen, dass der EWSA untersuchen könnte,

worin die Ursachen des Verlustes an Artenvielfalt liegen,

ob die bislang vom Rat und der Kommission eingeleiteten Maßnahmen zur Zielerreichung ausreichend sind,

ob die diversen EU-Politiken eine Kohärenz aufweisen,

welche weiteren Initiativen von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffen werden müssen sowie

welche Konsequenzen dies im Rahmen der Lissabon- und Nachhaltigkeitsstrategie haben wird und

wie die Zivilgesellschaft einen Beitrag leisten kann.

2.3

Hintergrund der Bitte der österreichischen Präsidentschaft dürfte die im Schreiben erwähnte Tatsache sein, dass „aktuelle Daten verschiedener Forschungseinrichtungen und Institute wie etwa EUROSTAT belegen ..., dass trotz der bisherigen Bemühungen die Artenvielfalt in Europa und weltweit stetig abnimmt, wobei eine Trendumkehr momentan nicht in Sicht ist. Auch die Kommission geht in ihren Mitteilungen im Zuge des Überprüfungsprozesses der EU-Nachhaltigkeitsstrategie von einem negativen Trend in diesem Bereich aus“.

2.4

Der EWSA dankt der Präsidentschaft dafür, dass sie diese wichtige Frage an den EWSA herangetragen hat. Der Ausschuss wird im Folgenden einzeln auf die aufgeworfenen Fragen eingehen, zu jedem Thema die erbetenen Antworten geben und Ideen für eine „Kampagne“ entwickeln.

3.   Allgemeine Bemerkungen

3.1

Biodiversität ist die Basis des Lebens auf unserem Planeten. Ohne Biodiversität gäbe es für den Menschen keine Überlebensmöglichkeit: Pflanzen, die das Sonnenlicht in Biomasse umwandeln, sind die Basis jener Energie- und Stoffströme auf unserem Planeten, in die der Mensch täglich eingebunden ist, zum Beispiel, wenn er atmet, Nahrung zu sich nimmt oder wirtschaftet. Auch ohne jene Arten, die schließlich die vom Menschen „produzierten“ Abfälle wieder verwerten und umwandeln, wäre menschliches Leben und Wirken unmöglich.

3.2

Biodiversität ist folglich nicht etwas, was sich die Gesellschaft „leisten“ kann, wenn er ihr wichtig erscheint, und worauf sie verzichten kann, wenn scheinbar andere Prioritäten gesetzt werden sollten. Biodiversität ist etwas Unverzichtbares.

3.3

In der „Überprüfung der Umweltpolitik 2003“ (2) stellt die Kommission klar, worum es bei der biologischen Vielfalt (Biodiversität) geht. Biodiversität „ist Ausdruck für Komplexität, Gleichgewicht und Zustand der verschiedenen Ökosysteme. … Biologische Vielfalt erfüllt nicht nur wesentliche Funktionen für die Lebensgrundlage, sondern schafft auch die Basis für wichtige Aktivitäten im Bereich Wirtschaft, Erholung und Kultur“.

3.4

Biodiversität bedeutet übersetzt „Vielfalt des Lebens“; der Begriff kann jedoch auf verschiedenen Ebenen angewendet werden. Er kann sowohl die genetische Vielfalt innerhalb einer Population bezeichnen, als auch den Grad des Artenreichtums in einem bestimmten Habitat.

3.5

Der Mensch ist aufgrund seiner Intelligenz der wesentliche Nutznießer der Biodiversität: keine andere lebende Spezies nutzt bzw. benutzt so viele andere Arten, wie es der Mensch tut. Der Mensch ist aber derzeit auch ihr Hauptzerstörer. Die von ihm vorgenommene Unterteilung von Arten in „nützlich“ oder „schädlich“ ist eine rein wirtschaftlich-anthropozentrische. Die Natur kennt solche Unterscheidungen nicht. Sie kennt lediglich sich weitgehend selbstregulierende Gleichgewichte. Artenvielfalt ist einer den entscheidenden Indikatoren für Nachhaltigkeit.

3.6

Gleichgewichte, die außer Kontrolle geraten, stellen für jene, die an stabilen Verhältnissen ein Interesse haben, ein Problem dar. Mit seinen vielfältigen, vornehmlich wirtschaftlichen Aktivitäten greift der Mensch in die ökologischen Gleichgewichte ein, er beeinflusst sie. Er hat dies seit Jahrtausenden getan, früher oft — z.B. durch extensive Landnutzungsformen — sogar mit dem Effekt, dass neue, wiederum weitgehend stabile Systeme entstanden sind. Doch hat die menschliche Beeinflussung der Biodiversität heute eine nie gekannte Intensität angenommen. Die Artenzusammensetzung wird mit den vielen Möglichkeiten, die sich der Mensch geschaffen hat, nicht mehr nur leicht verändert, sondern vielfach komplett zerstört.

Die derzeitige Situation und die Ursachen des Verlustes an Artenvielfalt

3.7

Die derzeitige Situation im Bereich der Erhaltung der Biodiversität hat die Präsidentschaft in ihrem Schreiben an den EWSA klar und unmissverständlich beschrieben (s. Ziffer 2.3). Ihre Analyse stimmt u.a. mit dem Bericht des UN-Umweltprogramms über die Artenvielfalt überein, dem zufolge die Artenvielfalt auf der ganzen Welt schneller als je zuvor abnimmt.

3.8

Schon in Ihrer Biodiversitätsstrategie aus dem Jahr 1998 (3) wird von der EU darauf verwiesen, dass auch die Lage in Europa höchst bedenklich ist. „Die reiche Artenvielfalt in der Europäischen Union hat sich im Laufe der Jahrhunderte aufgrund menschlicher Eingriffe allmählich verringert. In den vergangenen Jahrzehnten haben diese Eingriffe ungeheure Ausmaße angenommen. Im UNEP-Bericht heißt es, dass in manchen europäischen Ländern bis zu 24 % der Arten bestimmter Kategorien wie Schmetterlinge, Vögel und Säugetiere inzwischen landesweit ausgerottet sind.“

3.9

In der Strategie von Göteborg 2001 (4) (Nachhaltigkeitsstrategie) heißt es: „In den letzten Jahrzehnten hat sich der Rückgang der biologischen Vielfalt in Europa dramatisch beschleunigt.“ Der EWSA weist darauf hin, dass die Rate des Aussterbens von Arten heute zwischen 100- und 1000-mal höher ist als die natürliche Rate, eine neuere Studie der Universität Utrecht geht gar von einem Faktor 1.000 bis 10.000 aus.

3.10

Die Ursachen des Artenrückgangs sind vielfältig. Generell ist festzustellen, dass die Beseitigung bzw. stoffliche Beeinflussung der Lebensräume der Tier- und Pflanzenwelt zum Verlust von Biodiversität führt. Die eigentlichen Ursachen hierfür liegen in der Zerschneidung der natürlichen Lebensräume durch Infrastruktur und Verstädterung, im Nährstoffeintrag, der Überbauung, im Massentourismus, der Verschmutzung von Luft und Wasser.

3.11

Eine ganz besondere, quasi eine Doppelrolle, spielt die Landwirtschaft in Europa, die historisch mit ihren früher extensiven und höchst vielfältigen Nutzungsformen zunächst zur Erhöhung der Artenvielfalt beigetragen hat. Viele dieser extensiven Nutzungsformen sind aber längst nicht mehr wirtschaftlich, sie wurden folglich durch intensivere, d.h. stärker die natürlichen Prozesse beeinflussende Nutzungen abgelöst. Dies hat einen doppelten Effekt für die Biodiversität: Auf der einen Seite trägt die Intensivlandwirtschaft stark zum Artenrückgang bei, auf der anderen Seite gehen mit der Nutzungsaufgabe und dem dauerhaften Brachfallen bzw. der Umnutzung von bislang extensiv oder naturnah bewirtschafteten Flächen wertvolle Biotope verloren. Landwirtschaft kann somit, je nachdem, wie sie betrieben wird, der Biodiversität förderlich oder abträglich sein.

3.12

Die Gehölzsukzession, die Verschiebung des Konkurrenzgleichgewichtes (u.a. durch Nährstoffeinträge), die Aufforstung waldfreier Flächen, das Einschleppen gebietsfremder Arten und die Überfischung sind als weitere wichtige Ursachen zu nennen.

3.12.1

Neue, bisher weniger bedeutsame Ursachen können zukünftig die Situation noch wesentlich verschärfen. Die Europäische Umweltagentur nennt in ihrem neuen Bericht (5) die absehbaren Klimaveränderungen als extreme, zukünftig vielleicht sogar dominante Gefahr für irreversible Veränderungen in der Biodiversität.

3.12.2

Die Anwendung der Grünen Gentechnik könnte potenziell eine weitere neue Gefahr für die Artenvielfalt in Europa sein. Der kommerzielle Anbau von genetisch veränderten Pflanzen könnte nach Ansicht von Forschern große Wirkungen auf die umliegenden Gewächse und damit auch auf Schmetterlinge und Bienen haben. Das ist das Ergebnis einer von der britischen Regierung in Auftrag gegebenen dreijährigen Studie, an der über 150 Forscher mitgearbeitet haben (6). Der EWSA fordert die Kommission auf, die Untersuchungsaktivitäten in diesem Bereich intensiv zu fördern.

3.13

Die potenziellen Folgen dieses Biodiversitätsverlusts kann an einem konkreten Beispiel erläutert werden. So ist z.B. bei den Bestäuberinsekten ein eindeutiger Populationsrückgang zu verzeichnen, und zwar laut FAO weltweit. Die Befruchtungssysteme der Blütenpflanzen haben sich weiterentwickelt und sich gleichzeitig an die Entwicklung der Bestäuberinsekten angepasst, die wiederum effizientere Mechanismen zum Sammeln von Nektar und Pollen entwickelt haben und somit zu einer besseren Samenproduktion und -verbreitung der bestäubten Pflanzen beitragen. Kreuzbestäubung durch Insekten erhöht die genetische Vielfalt und führt zu wider-standsfähigeren Samen und einer besseren Fruchtqualität. Zwischen 70 und 95 % der bestäubenden Insekten gehören zur Ordnung der Hautflügler (Hymenoptera), zu der auch die vom Menschen genutzte Honigbiene gehört. Der zu verzeichnende Populationsrückgang bei den Bestäuberinsekten kann verheerende (auch wirtschaftliche) Folgen haben.

3.14

Der EWSA kann angesichts vieler Studien und vieler Aussagen, die den eklatanten Rückgang der Biodiversität beschreiben, darauf verzichten, in dieser Stellungnahme die einzelnen Ursachen weiter zu untersuchen bzw. überhaupt für ein entsprechendes Bewusstsein zu werben. Alle politisch Verantwortlichen sollten sich im Klaren darüber sein, wie die Situation aussieht. Informationen, die die Situation treffend beschreiben, gibt es genug.

3.15

Der EWSA begrüßt, dass sich alle EU-Institutionen immer wieder zum Erhalt der Biodiversität bekennen. Doch trotz vielfältigster politischer Bekenntnisse und Erklärungen, trotz der Unterzeichnung des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt, das alle 25 EU-Mitgliedstaaten und die EU ratifiziert haben, trotz sinnvoller Naturschutzregelungen auf EU-Ebene wie der Vogelschutzrichtlinie von 1979 (7) und der FFH-Richtlinie aus dem Jahr 1992 (8) ist weiterhin ein Verlust an Biodiversität zu verzeichnen.

3.16

Auf dem UN-Gipfel (WSSD) in Johannesburg verpflichteten sich die Parteien zur signifikanten Reduzierung der Verarmungsrate an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2010. Die EU ist sogar noch einen Schritt weiter gegangen und hat sich dazu verpflichtet, den Rückgang der biologischen Vielfalt bis 2010 zu stoppen (9).

3.17

Die Erhaltung der Biodiversität ist folglich eine anerkannte, ebenso sinnvolle wie notwendige, aber auch eine höchst komplexe Aufgabe, bei der alle politischen Ebenen (von EU bis zu den Kommunen) und die Zivilgesellschaft Hand in Hand arbeiten und gegenüber der Gesellschaft eine Vorbildfunktion einnehmen müssen.

Der politisch-gesellschaftliche Hintergrund des Biodiversitätsverlusts

3.18

Eine spannende Frage, die leider nur viel zu selten gestellt wird, die aber zwingend zu klären ist, ist die, worin die politischen Ursachen dafür liegen, dass dieser zum Teil dramatische Artenschwund über Jahrzehnte hinweg geschehen konnte, ohne dass ausreichend politische Gegenmaßnahmen ergriffen und umgesetzt wurden?

3.19

Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Problem besteht sicher darin, dass es sich beim Biodiversitätsverlust um einen sehr langsamen, schleichenden und somit zunächst kaum wahrnehmbaren Prozess handelt (Vergleiche mit dem Klimawandel sind durchaus herstellbar). Es ist nicht die „eine Maßnahme“, an der man das Entstehen des Problems festmachen kann, bzw. die eine Gegenmaßnahme, mit der man das Problem lösen könnte. Der festzustellende Biodiversitätsverlust ist die Summe von Millionen von Handlungen und Entscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte, wobei die Auswirkung jeder einzelnen Entscheidung scheinbar unbedeutend oder nur marginal zu sein scheint.

3.20

Insofern fällt es einerseits immer wieder unendlich schwer, vor anstehenden Entscheidungen erfolgreich mit Hinweis auf die Biodiversitätserhaltung zu warnen bzw. diese zurückweisen, zumal von den sogenannten „Eingriffsverwaltungen“ darauf hingewiesen wird, man würde den Eingriff an dieser Stelle der Natur durch Ausgleichs- oder Ersatzmaßnahmen an anderer Stelle wieder gutmachen (was allzu häufig nicht gelingt).

3.21

Ein anderer Grund dürfte darin liegen, dass sich innerhalb eines relativen kurzen Zeitraums eine Entwicklung vollzogen hat, die dazu führte, dass immer weniger Menschen die Bedeutung von Biodiversität und Landschaften sowie deren Veränderung überhaupt noch direkt erfahren und wahrnehmen. Wir erleben eine Art Entfremdung von der Natur, die damit beginnt, dass immer weniger Menschen den Nutzwert  (10) und den Sinnwert  (11) der Landschaften überhaupt noch kennen oder erkennen.

3.22

Die meisten Menschen (inklusive des Großteils der Politiker) dürften sich der Bedeutung und Relevanz der eigentlichen Aufgabe „Biodiversitätsschutz“ (inklusive der großen ethischen und moralischen Verantwortung) nicht wirklich völlig bewusst sein. Sie „konsumieren“ zwar Landschaften, sie freuen sich über die Schönheit, sie genießen sie visuell, verbringen darin ihre Freizeit, treiben Sport, machen Urlaub. Und doch haben sie kaum noch eine Ahnung davon, wie die biotischen Elemente in der Landschaft, die einzelnen Tier- und Pflanzenarten im Zusammenspiel miteinander und untereinander die entsprechenden Landschaften mitgestalten und wie sie für deren Stabilität sorgen und welche herausragende Bedeutung diese fragile Stabilität als Grundgerüst unseres Lebens- und Wirtschaftssystems hat. Natur wird von großen Teilen der Gesellschaft nur sporadisch, manchmal sogar mehr im Fernsehen als in der freien Landschaft wahrgenommen, in Filmbeiträgen, die eher die Schönheiten Afrikas, der Galapagos-Inseln oder anderer ferner Ziele beschreiben, die sich aber kaum mit den Problemen des europäischen Naturerbes auseinander setzen.

3.23

Und so kommt es übrigens nicht von ungefähr, dass Naturschutzorganisationen erstaunt feststellen, dass die Menschen in Europa oft eher bereit sind, für die Erhaltung von Elefanten oder den Schutz des sibirischen Tigers einzutreten, als den Feldhamster vor Ort zu schützen.

3.24

Den Verlust von Biodiversität nimmt man aus Erzählungen, aus Berichten, aus politischen Papieren zur Kenntnis. Die negativen Folgen davon spürt man aber nicht unmittelbar. Teilweise hat man sogar das, was da draußen in der Landschaft verloren geht, selbst noch nie gesehen. Menschen engagieren sich bekanntlich nur für das, was sie wirklich kennen und lieben, wovon sie sich einen wie auch immer gearteten Nutzen erwarten.

3.25

Biodiversität ist aus der täglichen Erfahrung heraus folglich zwar etwas allgemein Anerkanntes, aber gleichzeitig etwas, das immer häufiger weit weg von einer eigenen Betroffenheit der Mehrheit der Bürger liegt. Werte ergeben sich aus Betroffenheit. Biodiversität, so glauben viele Menschen, betrifft einen scheinbar nicht unmittelbar, und somit wird auch die Verantwortung für den Schutz der Biodiversität immer weniger als eigene Aufgabe angesehen, sie wird dem Staat übertragen.

3.26

Der Schutz der Biodiversität wird weltweit davon abhängig sein, inwieweit es den politisch Verantwortlichen gelingen wird, wieder „Betroffenheit“ zu erzeugen. Den Menschen muss deutlich gemacht werden, dass nicht alles, was machbar ist, auch umgesetzt werden darf. Es muss wieder die Erkenntnis reifen, dass aus Rücksicht vor der Natur vom Menschen Verzicht geübt werden muss — ein Verzicht allerdings, der uns bereichert. Dies zu erreichen, sollte Bestandteil einer möglichen Kampagne der EU zum Thema Biodiversitätsverlust sein.

3.27

Und weil die Situation so sein dürfte wie beschrieben, erleben wir derzeit immer wieder Situationen, in denen sich jeder ganz selbstverständlich zum Schutz der Biodiversität bekennt, in der aber gefragt wird

ob die Natur denn ausgerechnet dort geschützt werden muss, wo die neue Umgehungsstraße geplant ist,

ob es sein darf, dass wegen einer nach der FFH-Richtlinie europäisch geschützten Tierart beispielsweise der Bau eines Gewerbegebietes verhindert wird;

und ob Naturschutz wirklich (so viel) Geld kosten muss?

3.28

Mehr noch: In wirtschaftlich angeblich eher schwierigen Zeiten wird der Naturschutz nicht als Lebens- und Wirtschaftsbasis akzeptiert, sondern zum Sündenbock abgestempelt der diese oder jene „positive“, für die Wirtschaft wichtige Entwicklung behindert. Dabei wird, dies sei nur am Rande erwähnt, häufig höchst widersinnig argumentiert: wenn aufgrund von Naturschutzregelungen eine Straße nicht gebaut werden kann, die einem persönlich wichtig erscheint, wird mit dem Kopf geschüttelt. Wenn allerdings das eigene Urlaubs- oder Freizeitgebiet von einer Straße zerschnitten werden soll, werden gern Landschaftserhaltungsgründe zu dessen Schutz angeführt.

3.29

Natur wird derzeit als „frei verfügbares Gemeingut“ gesehen, das nach den ökonomischen Ansprüchen der industriell geprägten, zunehmend verstädterten Gesellschaft mit ihren hohen Freizeitansprüchen mehr oder weniger beliebig gestaltet und beeinflusst werden kann; und die Politik suggeriert dabei fälschlicherweise, dass mit Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen den Ansprüchen des Biodiversitätsschutzes Genüge getan wird.

Wirkung der bislang vom Rat und Kommission eingeleiteten Maßnahmen

3.30

Die Wirkungen der von Rat und Kommission eingeleiteten Maßnahmen sind, das zeigt die Situation, bislang absolut nicht ausreichend gewesen. Dabei war und ist der von der Kommission mit der Vogelschutzrichtlinie von 1979 und der FFH-Richtlinie von 1992 verfolgte Ansatz, die Lebensräume der europäischen Tier- und Pflanzenwelt zu schützen, richtig und sinnvoll. Das entscheidende Problem liegt im politischen Willen bei der Umsetzung und im Vollzug, was die Kommission selbst feststellt: „Die Umsetzung der Vogelschutz- und Habitat-Richtlinien hat sich als schwierig erwiesen. Verstöße gegen diese beiden Richtlinien machten über ein Viertel der Fälle aus, in denen die Europäische Kommission gerichtliche Schritte einleiten musste  (12) .

3.31

Der EWSA sieht hier zwei unterschiedliche Verantwortungsebenen:

3.31.1

Die erste Ebene ist die politische Ebene und dort das mangelnde Bewusstsein. Für den EWSA ist es z.B. völlig unverständlich, dass im Rat von den Mitgliedstaaten die entsprechenden Naturschutzrichtlinien beschlossen worden, die dann in den Mitgliedstaaten selbst nicht oder nur absolut unzureichend umgesetzt werden. Der EWSA hält dies für völlig inakzeptabel. Die Politik selbst erzeugt so eine gewaltige Glaubwürdigkeitslücke, in dem sie beim Vollzug des Naturschutzes versagt.

3.31.2

Unglaubwürdig ist auch eine Politik, die den Anspruch erhebt, den Biodiversitätsverlust bis zum Jahr 2010 zu stoppen, die weiß, dass dies Geld kostet, die aber gleichzeitig im Rahmen der Finanziellen Vorausschau den entsprechenden entscheidenden Etatposten (13) für die alten EU-Mitgliedstaaten um über 30 % kürzt. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten haben so selbst die Weichen für eine Politik gestellt, die den eigenen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Die Politik selbst ist schlechtes Vorbild.

3.31.3

Die Mitgliedstaaten dürfen, und dies ist die zweite Verantwortungsebene, das Scheitern ihrer eigenen Politik nicht den Naturnutzern in die Schuhe schieben. Der EWSA hat sich in mehreren Stellungnahmen mit dem Phänomen der mangelnden Umsetzung der für die Biodiversitätserhaltung wichtigen Richtlinien auseinander gesetzt. Er kann sich immer nur wiederholen: Solange Maßnahmen zum Schutz oder zur Verbesserung der Biodiversität beispielsweise mit den (verständlichen) ökonomischen Interessen von Flächennutzern kollidieren, müssen die potenziellen ökonomischen Einbußen zumindest ausgeglichen werden; besser wäre es gar, Anreize für entsprechende Biodiversitätsmaßnahmen zu geben. Die nach dem Beschluss des Europäischen Rates vom 16.12.2005 absolut nicht sichergestellte Finanzierung der Natura-2000-Maßnahmen im Rahmen der kommenden EU-Finanzperiode ist ein entscheidendes Hindernis. Jedes noch so ernst gemeinte politische Bekenntnis zur Bewahrung und Entwicklung der Biodiversität nutzt nichts, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen nicht stimmen!

3.32

Solange also die Finanzierung von Natura 2000 nicht in dem Sinn gelöst ist, wie es EWSA und Europaparlament gleichermaßen fordern (eine eigene, ausreichende Finanzierungslinie für Natura-2000-Ausgleich), wird sich an der Wirkungslosigkeit der Ansatzes der EU nichts grundlegend ändern. Daran können dann auch noch so gut gemeinte Öffentlichkeitskampagnen nichts ändern.

3.33

Eine im Rahmen der Nachhaltigkeitsstrategie angekündigte Maßnahme zum Erhalt der Biodiversität war die „Verbesserung der Agrarumweltmaßnahmen im Rahmen der Halbzeitüberprüfung der gemeinsamen Agrarpolitik, so dass ein transparentes System der direkten Zahlungen für die Bereitstellung von umweltbezogenen Dienstleistungen eingeführt wird“. Der EWSA bedauert, dass auch dieses wichtige und richtige Versprechen nicht eingehalten wurde, was sich kontraproduktiv auswirkt. Hauptverantwortlich hierfür war weniger die Kommission als die Haltung der Mitgliedstaaten besonders bezüglich der Finanzen.

Ausreichende Kohärenz der diversen EU-Politiken?

3.34

Der EWSA kann nicht erkennen, dass die diversen Politikbereiche der EU bereits so aufeinander abgestimmt wären, dass der Verlust an Artenvielfalt gestoppt werden könnte. Im Gegenteil: Auch von den von der EU zu verantwortenden Politikbereichen gehen weiterhin Gefährdungen aus, die mit den bescheidenen Naturschutzmaßnahmen nicht kompensiert werden können. Daran ändern auch die bereits laufenden Aktionsprogramme (14) nichts, und auch die derzeit in Bearbeitung befindlichen Thematischen Strategien scheinen daran nichts Entscheidendes ändern zu können (15).

3.35

Als ein Beispiel dafür soll — neben der Agrarpolitik, auf die der Ausschuss bereits in anderen Stellungnahmen eingegangen ist — ein Projekt aus den Transeuropäischen Verkehrsnetzen herangezogen werden. Die Donau, die 2880 km Länge aufweist und 10 europäische Länder durchfließt, kann sicherlich als „der“ europäische Fluss angesehen werden. Zahllose Naturparadiese, die in das Natura-2000-Netz aufgenommen werden sollen, sind an dieser Lebensader erhalten geblieben. Doch die EU sagt, rund 1400 km (also die Hälfte) des Flusses, und das sind vornehmlich die noch verbliebenen Freiflussabschnitte, z.B. Straubing-Vilshofen in Deutschland, bei Hainburg und in der Wachau in Österreich sowie große Teile des Flusses in Ungarn und fast der gesamte Abschnitt in Bulgarien und Rumänien, seien Engpässe für die Schifffahrt, die es zu beseitigen gilt. Mit einer solchen Politik, die auf eine Konfrontation zwischen Wirtschaftswachstum und Naturschutz hinausläuft, werden jene Konflikte erst provoziert und programmiert, die die Politik eigentlich im Rahmen ihrer Nachhaltigkeits- und Biodiversitätsstrategie und somit im Rahmen einer kohärenten Politik lösen sollte.

3.36

Diese Aussage des EWSA, dass keine ausreichend kohärente Politik betrieben wird, gilt im Übrigen nicht nur für die Sektoren, die man im „klassischen Sinn“ als potenziell problembehaftet für den Natur- und Artenschutz ansieht — wie z.B. besagte Verkehrs- und Infrastrukturpolitik oder eine zu intensive Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft -, sondern gilt auch für Politikbereiche, bei denen man zunächst einen direkten Zusammenhang mit Biodiversität nicht vermutet.

3.36.1

Als Beispiel hierfür seien die Bekämpfungsmaßnahmen der Rinderseuche BSE genannt. In diesem Zusammenhang ist es weitgehend endgültig verboten worden, Kadaver in der Landschaft liegen zu lassen bzw. dorthin zu verbringen (16). Bauern sind verpflichtet, tote Tiere der Tierkörperbeseitigung zuzuführen, was extrem viel Geld kostet.

3.36.2

In jenen Bereichen Europas, in denen es noch intakte Bestände an aasfressenden, wildlebenden Tieren wie Geiern, Wölfen oder Bären gibt, sind dadurch erhebliche Artenschutzprobleme zu verzeichnen: In den 90er Jahren und bis 2003 wurden beispielsweise in Asturien pro Jahr im Mittel etwa 3.000 Haustiere bei den Tierkörperbeseitigungsanstalten abgeliefert. Im Jahr 2004 — nach konsequenter Umsetzung der EU-Verordnung — waren es dann etwa 20.000 Haustiere.

3.36.3

Es „fehlen“ also in Asturien (Fläche 10.604 qkm) nun ungefähr 17.000 tote Tiere in der Landschaft, die bis dahin eine wichtige Nahrungsgrundlage für Geier, Bär, Wolf und viele andere Aasfresser waren. Das sind — bei 200 kg pro Tier — 3.400 Tonnen proteinhaltiger Biomasse in der Landschaft (17). Ob das im November 2002 für Spanien erlassene königliche Dekret, das die Fütterung von Aasfressern mit bestimmten verendeten Tieren oder deren Nebenprodukten regelt daran etwas ändern wird, bleibt abzuwarten. In anderen EU Mitgliedstaaten gibt es entsprechende einzelstaatliche Maßnahmen nicht!

Welche weiteren Initiativen müssten von der Kommission und den Mitgliedstaaten ergriffen werden?

3.37

Die Kommission selbst schreibt in der Überprüfung der Umweltpolitik 2003 (18), dass folgende Prioritäten notwendig wären:

Maßnahmen hin zu einer nachhaltigeren Agrarpolitik;

die Umstellung der Gemeinsamen Fischereipolitik auf umweltfreundliche Technik;

ein besserer Schutz der Böden und der Meeresumwelt;

Verbesserung der Umsetzung auf dem Gebiet des Naturschutzes;

genauere Bestimmung der Trends auf dem Gebiet der biologischen Vielfalt;

Stärkung des Schutzes der biologischen Vielfalt auf internationaler Ebene.

3.38

Die Kommission hat zudem in ihren strategischen Überlegungen für das Jahr 2007 angekündigt, die FFH- und die Vogelschutzrichtlinie zu überarbeiten, um sie an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anzupassen (19). Der EWSA würde es sehr begrüßen, wenn die Kommission möglichst bald darstellen würde, welcher Art diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind und wie weitgehend die Überarbeitung, die nach Auffassung des EWSA nur zu einer Verbesserung des europäischen Naturschutzes führen dürfte, sein wird.

3.39

Für den EWSA ist es keine Frage, den Lebensraumschutz zu verstärken und dafür die notwendigen Finanzmittel bereit zu stellen. Die FFH und Vogelschutzrichtlinie haben noch nicht genug Erfolg gebracht, die europaweit zu schützenden Arten und Lebensräume zu sichern. Hinzu kommt allerdings, und dies muss vom EWSA als kritisch angesehen werden, dass in den Mitgliedstaaten (bis hin zur lokalen Ebene) mittlerweile zum Teil nach dem Motto verfahren wird: Was keinen Europäischen, sondern vielleicht nur einen nationalen Schutzstatus aufweist, ist quasi Natur 2. Klasse. Wenn die EU nicht finanziert, dann tun wir auch nichts. Noch schlimmer sieht es mit Biodiversitätsschutz außerhalb von Schutzgebieten aus, hier sind fast keine Aktivitäten der öffentlichen Hand mehr erkennbar. Biodiversitätsschutz ist aber eine Aufgabe, die sich nicht auf einige wenige Schutzgebiete beschränken lässt.

3.40

An einer solchen Einstellung und Auffassung zeigt sich jedoch mehr als deutlich, dass die ökologischen Zusammenhänge im Allgemeinen und die Notwendigkeiten des Biodiversitätsschutzes im Speziellen bislang vom Großteil der Bevölkerung, aber auch von den meisten der politisch Verantwortlichen, nicht verstanden werden. Vor allem sind auch die öffentlichen Einrichtungen gefordert, die mit gutem Beispiel vorangehen müssen. Sie müssen der Allgemeinheit vermitteln, dass ihnen Biodiversitätsschutz wichtig ist, dass sie bereit sind, auf ihren Flächen entsprechende Maßnahmen vorzunehmen; auch wenn es kurzfristig wirtschaftlich „effektivere“ Möglichkeiten gäbe.

3.41

Die UN-Dekade für nachhaltige Umweltbildung (2005 bis 2015) sollte deshalb genutzt werden, um eine breit angelegte Kampagne zu starten, die zum Ziel haben sollte, die zu beobachtende Wissens- und Erfahrungserosion in Bezug auf Biodiversität zu stoppen und umzukehren. Es bedarf einer massiven, positiven Kampagne, die vermitteln sollte, dass Natur kein Luxus ist, den sich Gesellschaften zu Zeiten wirtschaftlichen Wohlstandes leisten, und auf den verzichtet werden kann, wenn konjunkturell schwierigere Zeiten herrschen. Artenvielfalt muss der Gesellschaft wieder als wirtschaftlicher und kulturell-geistiger Schatz vermittelt werden. Naturschutz muss als etwas Positives vermittelt werden (und gibt es etwas positiveres als die Erhaltung der Lebensgrundlagen), Naturschutz sollte Freude machen und Spaß bereiten und nicht als Belastung gesehen werden. Es muss dabei auch verständlich gemacht werden, dass die Kosten, die durch eine weitere Erosion unserer natürlichen Lebensgrundlagen verursacht werden, um ein Vielfaches höher liegen werden als die Kosten des Schutzes, und dass Werte verloren gehen, die sich nicht in Euro und Cent ausdrücken lassen.

3.42

Für den EWSA ist klar, dass die EU mit ihrer Naturschutzpolitik nur dafür sorgen kann, dass Zielsetzungen, die nur länderübergreifend erreicht werden können, umgesetzt werden. Es muss aber auch eine entsprechende „Biodiversitätsschutzpolitik“ national, regional, ja lokal bis in den privaten Bereich hinein betrieben werden. Folglich sind die Mitgliedstaaten mindestens genauso gefordert wie die EU.

3.43

Der EWSA würde es deshalb sehr begrüßen, wenn die Kommission im Rahmen einer entsprechenden Kampagne — in Kooperation mit den Umweltgruppen und den betroffenen Landnutzerverbänden — auch europaweit Identität stiftende Naturschutzmodellprojekte unterstützen und massiv öffentlich kommunizieren würde. Eignen könnte sich für eine solche Aktivität, z.B. das sog. „Grüne Band Europas“, eine Initiative von Nichtregierungsorganisationen, die z.T. auch schon von der öffentlichen Hand unterstützt wird (20) und die sich zum Ziel gesetzt hat, die Lebensräume, die sich im Schutz z.T. sogar inhumaner Ländergrenzen entwickelt haben, zu schützen. Das „Grüne Band Europas“, das von Skandinavien bis auf den Balkan reicht, ist (noch) die längste Biotopachse Europas.

3.44

Was die Stärkung des Biodiversitätsschutzes auf internationaler Ebene angeht so ist der EWSA der Auffassung, dass Biodiversität als sog. „non-trade-concern“ integraler Bestandteil des Handelssystems (u.a. der WTO) werden muss.

Konsequenzen für die Lissabon- und Nachhaltigkeitsstrategie

3.45

Der EWSA beschränkt sich an dieser Stelle auf Aussagen zur Lissabonstrategie. Kommentare zur Nachhaltigkeitsstrategie erübrigen sich in diesem Papier, denn einerseits sind die in der entsprechenden Mitteilung der Kommission (21) gemachten Aussagen derart vage und unverbindlich, dass für einen stringenten Biodiversitätsschutz davon kaum etwas erwartet werden kann, zum anderen wird der EWSA auf dieses Dokument in einer gesonderten Stellungnahme eingehen.

3.46

Wenn es zutrifft, was der Europäische Rat auf seiner Frühjahrsitzung 2005 in Brüssel festgestellt hat, dass nämlich die Lissabonstrategie der Nachhaltigkeitsstrategie zugeordnet ist, müsste die Lissabonstrategie so ausgerichtet werden, dass sie nicht nur versucht, Rücksicht auf ökologische Belange zu nehmen, sondern dass sie versucht, die für richtig anerkannten wirtschaftlichen Entwicklungen unter gleichzeitiger bewusster Förderung u.a. des Biodiversitätsschutzes zu erreichen. In den Dokumenten zur Lissabon-Strategie findet sich hierzu aber nicht der Hauch eines Ansatzes.

3.47

Die Kommission sollte möglichst bald eine Gesamtdarstellung darüber anstellen, welche rein volkswirtschaftliche Bedeutung der Schutz von Biodiversität in Europa hat. Es sollten auch viel mehr positive Beispiele beschrieben und kommuniziert werden, die zeigen, dass Biodiversitätsschutz und wirtschaftliche Entwicklung einander fördern. Zudem sollte endlich damit begonnen werden, die gesellschaftlich notwendige Diskussion über die konkreten Wege der Internalisierung externer Kosten zu beginnen.

Der Beitrag der Zivilgesellschaft

3.48

Der Beitrag der Zivilgesellschaft zur Erhaltung der Biodiversität ist wichtig und es kann sicher noch viel mehr Positives geleistet werden. Aber der Beitrag der Zivilgesellschaft kann nicht das ausgleichen bzw. kompensieren, was die öffentliche Hand unterlässt bzw. falsch macht. Von der Zivilgesellschaft einen höheren Beitrag einzufordern ist richtig, darf aber von den Unzulänglichkeiten der öffentlichen Hand nicht ablenken.

3.49

Der EWSA würde eine neue Kampagne, wie sie die Präsidentschaft im Schreiben vom 13.9.2005 an den EWSA angesprochen hat, sehr begrüßen. Sie sollte zum Inhalt haben, Motivation und Verständnis zum Erhalt von Natur und Biodiversität zu fördern. Eine entsprechende Bildungsarbeit müsste sehr früh, in den Kindergärten und den Schulen beginnen und auch zum Ziel haben, klarzumachen, dass jeder Einzelne seinen Beitrag leisten muss, um die Lebensgrundlagen der Menschheit zu erhalten. Der Schutz der Biodiversität beginnt im eigenen Lebensumfeld, beim Einkauf, der Gestaltung des Gartens etc.

3.50

Der Einzelne tut sich leichter, sich zu engagieren, wenn er weiß, wofür er es tut und dass sein Engagement gewollt und geschätzt ist und wenn er die Politik zum Vorbild nehmen kann. Eine entsprechende Kampagne könnte dazu genutzt werden, nicht nur Grundlagenwissen zu vermitteln, sondern auch „Botschafter“ für die Biodiversitätserhaltung zu gewinnen, Rockmusiker, Literaten, Schauspieler, Politiker, Journalisten etc.

3.51

Nichtregierungsorganisationen, aber auch viele nicht in Verbänden oder Gruppen engagierte Bürger leisten viel anerkennenswerte Arbeit im Natur- und Artenschutz. Landwirte engagieren sich in Rahmen von Agrarumweltprogrammen und freiwilligen Initiativen. Viele andere gesellschaftliche Gruppen arbeiten engagiert zum Schutz der Biodiversität, sie übernehmen teilweise gar Aufgaben, die eindeutig dem Staat zuzuordnen wären. Viele Erfolge im Biodiversitätsschutz wären ohne dieses Engagement nicht möglich gewesen. Gerade auch dank der Arbeit durch private Naturschützer, aber auch durch viele Naturnutzer ist die Situation nicht noch schlimmer, als sie sich derzeit schon darstellt. Die Politik sollte dieses Engagement fördern, auch, aber nicht nur finanziell.

3.52

Dabei kann es nicht nur um die praktische Arbeit in der Landschaft gehen. Wenn Politik wirklich gewillt ist, den Biodiversitätsverlust zu stoppen, dann muss sie ein Interesse daran haben, dass entsprechende gesellschaftliche Nachfrage nach einer entsprechenden Politik vorhanden ist; man kann auch von politischem Druck sprechen. Der entsprechende Grundkonsens in der europäischen Bevölkerung ist zweifellos vorhanden. 9 von 10 Bürgern der EU sind der Meinung, dass politische Entscheidungsträger bei wichtigen Entscheidungen die gleiche Aufmerksamkeit auf Umweltbelange richten sollten wie auf wirtschaftliche und soziale Belange („Attitudes of Europeans towards the Environment“, EC Eurobarometer, 2004).

3.53

Bildungsarbeit innerhalb der Bevölkerung ist zwingend nötig, um Verständnis für politische Maßnahmen (auch Geldausgaben) zu wecken. Die Zivilgesellschaft kann und muss hier Beiträge leisten, bedarf aber dabei der Unterstützung der öffentlichen Hand. Diese muss z.B. dafür sorgen, dass Naturschutz nicht länger als „Fortschrittsfeind“ diffamiert werden darf, sondern dass auf die vorgetragenen Fragen adäquate Antworten gefunden werden, an deren Ende mehr und nicht weniger Biodiversität steht.

3.54

In diesem Zusammenhang begrüßt der EWSA die Initiative „Countdown 2010“ (22) zahlreicher Nichtregierungsorganisationen, die zum Ziel hat, dass alle europäischen Regierungen die Schritte unternehmen, die notwendig sind, um den Verlust der biologischen Vielfalt bis zum Jahr 2010 tatsächlich zu stoppen, und somit dem erklärten politischen Ziel auch die nötigen Taten folgen zu lassen. Die Kampagne zeigt: Zivilgesellschaft und Regierungen haben gemeinsamen einen großen Aufgabenkatalog abzuarbeiten.

Brüssel, den 18. Mai 2006

Die Präsidentin

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Anne-Marie SIGMUND


(1)  Siehe Beschluss des Europäischen Rates von Göteborg, 15./16. Juni 2001.

(2)  KOM(2003) 745/2.

(3)  Vgl. KOM(1998) 42 endg.

(4)  KOM(2001) 264 endg.

(5)  „The European Environment — State and outlook 2005“, EEA, November 2005.

(6)  Wissenschaftsmagazin Nature vom 22.3.2005.

(7)  ABl. L 103 vom 25.4.1979, S. 1.

(8)  ABl. L 206 vom 22.7.1992, S. 7.

(9)  Siehe Ziffer 31, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Göteborg.

(10)  Der Nutzwert der Landschaft, ihr ökonomischer Wert, geht weit über die Bedeutung als „Produktionsstätte“ für die Land- und Forstwirtschaft hinaus. Der Tourismus bzw. die Naherholung ist ein Beispiel dafür. Tourismus basiert auf artenreichen, vielfältigen, gemeinhin als „schön“ bezeichneten Landschaften.

(11)  Landschaft als „Sinnwert“ umfasst zweierlei: einerseits den Eigenwert der Natur, der anerkannt und gewahrt bleiben muss, der nicht unter einer einseitigen technologischen und wirtschaftlichen Nutzung ins Nichts aufgelöst werden darf. Andererseits ist der Wert der Landschaft für die physische, besonders aber auch für die psychische Regeneration des Menschen, für seine Einordnung in die natürliche Lebensumwelt, zu sehen.

(12)  Siehe KOM(2003) 745/2 und wortgleich KOM(2005) 17.

(13)  Die Ländliche Entwicklung in der Rubrik 2 der Finanziellen Vorausschau 2007-2013.

(14)  Z.B. zum ökologischen Landbau.

(15)  Der EWSA bereitet zu den einzelnen Strategien separate Stellungnahmen vor, auf die hier verwiesen werden soll.

(16)  Dies geht nur noch unter bestimmten Voraussetzungen, die aber derart kompliziert sind, dass sie kaum Anwendung finden.

(17)  Die Auswirkungen seien nur kursorisch beschrieben: Im Valle del Trubia macht die spanische Naturschutzorganisation FAPAS seit vielen Jahren ein Gänsegeier-Monitoring. Bis 2003 waren es üblicherweise 10 Paare, die meist zwischen 8 bis 9 Jungvögel durchgebracht haben. Gänsegeier haben immer nur einen Jungvogel. Im Jahr 2004 wurden nur noch 4 Jungvögel flügge. Bärenschützer berichten von hohen Totfunden bei Jungbären, die ebenfalls auf die geringere Futterbasis zurückgeführt werden.

(18)  KOM(2003) 745/2.

(19)  KOM(2006) 122.

(20)  Z.B. vom Bundesamt für Naturschutz.

(21)  KOM(2005) 658 vom 13.12.2005„Überprüfung der Strategie für nachhaltige Entwicklung - ein Aktionsprogramm“.

(22)  Siehe unter: http://www.countdown2010.net/


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