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Document 52004IE0955

Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Fusionsenergie“

ABl. C 302 vom 7.12.2004, p. 27–34 (ES, CS, DA, DE, ET, EL, EN, FR, IT, LV, LT, HU, MT, NL, PL, PT, SK, SL, FI, SV)

7.12.2004   

DE

Amtsblatt der Europäischen Union

C 302/27


Stellungnahme des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses zum Thema „Fusionsenergie“

(2004/C 302/07)

Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss beschloss am 29. Januar 2004, gemäß Artikel 29 Absatz 2 seiner Geschäftsordnung eine Stellungnahme zu folgendem Thema zu erarbeiten: „Fusionsenergie“.

Die mit der Vorbereitung der Arbeiten beauftragte Fachgruppe Verkehr, Energie, Infrastrukturen, Informationsgesellschaft nahm ihre Stellungnahme am 10. Juni 2004 an. Berichterstatter war Herr WOLF.

Der Ausschuss verabschiedete auf seiner 410. Plenartagung am 30. Juni/1. Juli 2004 (Sitzung vom 30. Juni) mit 141 Stimmen bei 9 Stimmenthaltungen folgende Stellungnahme.

Die vorliegende Stellungnahme ergänzt frühere energie- und forschungspolitische Stellungnahmen des Ausschusses. Sie befasst sich mit der Entwicklung von Reaktoren zur Nutzung der Fusionsenergie und mit deren erwarteten vorteilhaften Sicherheits- und Umweltaspekten. Dies geschieht vor dem Hintergrund der globalen Energiefrage. Die dazu erforderlichen F&E-Arbeiten werden kurz umrissen und bewertet. Die Stellungnahme betrifft auch die europäische Position bei den gegenwärtigen Verhandlungen über den Standort von ITER.

Inhaltsverzeichnis

1.

Die Energiefrage

2.

Kernenergie — Kernspaltung (Fission) und Kernverschmelzung (Fusion)

3.

Bisherige Entwicklung

4.

Der weitere Weg zum Fusionskraftwerk

5.

Die Standortfrage ITER

6.

Zusammenfassung und Empfehlungen des Ausschusses

1.   Die Energiefrage

1.1

Nutzbare Energie (1) ist die Grundlage unserer heutigen Lebensweise und Kultur. Erst ihre ausreichende Verfügbarkeit führte zum gegenwärtigen Lebensstandard: Lebenserwartung, Nahrungsversorgung, allgemeiner Wohlstand und persönlicher Freiraum haben in den großen und aufstrebenden Industrienationen ein nie zuvor gekanntes Niveau erreicht. Ohne ausreichende Energieversorgung wären diese Errungenschaften gefährdet.

1.2

Die Notwendigkeit einer gesicherten, preisgünstigen, umweltfreundlichen und nachhaltigen Versorgung mit nutzbarer Energie steht im Schnittpunkt der Ratsbeschlüsse von Lissabon, Göteborg und Barcelona. Dementsprechend verfolgt die Europäische Union in der Energiepolitik drei eng verknüpfte und gleich wichtige Ziele, nämlich Schutz und Verbesserung der (1) Wettbewerbsfähigkeit, (2) Versorgungssicherheit und (3) Umwelt, alle zusammen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung.

1.3

Der Ausschuss hat in mehreren Stellungnahmen festgestellt, dass der Erreichung dieser Ziele allerdings schwerwiegende Hindernisse entgegenstehen, und er hat sich bereits mehrfach mit dem daraus resultierenden Energieproblem, seinen verschiedenen Aspekten und möglichen Lösungswegen befasst (2). Hervorzuheben sind hier die Stellungnahmen des Ausschusses zum Grünbuch der Kommission „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“ (3) sowie zu „Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung“ (4).

1.4

Bereits dort hat der Ausschuss betont, dass Bereitstellung und Nutzung von Energie mit Umweltbelastungen, Risiken, Ressourcenerschöpfung sowie problematischen außenpolitischen Abhängigkeiten und Unwägbarkeiten verbunden sind, und dass die wichtigste Maßnahme zur Verringerung des Versorgungsrisikos und anderer Risiken in einer möglichst vielseitigen und ausgewogenen Nutzung aller Energiearten und -formen besteht, einschließlich aller Anstrengungen zur Einsparung und zum rationellen Umgang mit Energie. Dort findet sich auch eine kurze Darstellung (5) der Vor- und Nachteile der einzelnen Verfahren, auf deren Wiederholung hier aus Platzgründen verzichtet werden muss.

1.5

Keine der Optionen und Techniken, die einen Beitrag zur zukünftigen Energieversorgung leisten können, ist technisch perfekt, gänzlich frei von störenden Einflüssen auf die Umwelt, für alle Bedürfnisse ausreichend und in ihrem Potenzial genügend langfristig überschaubar. Darum kann sich eine vorausschauende und verantwortungsbewusste europäische Energiepolitik auch nicht darauf verlassen, dass eine im Sinne der oben genannten Ziele ausreichende Energieversorgung durch alleinige Nutzung nur einiger weniger Energieträger garantiert werden kann. Dies gilt auch angesichts der Notwendigkeit zur Energieeinsparung und rationellen Energienutzung.

1.6

Eine langfristig verfügbare, umweltschonende und ökonomisch kompatible Energieversorgung ist also weder in Europa noch global sichergestellt (6). Der Schlüssel zu möglichen Lösungen kann nur aus weiterer intensiver Forschung und Entwicklung kommen. Energieforschung (7) ist das strategische Element und die notwendige Grundlage jeder langfristig erfolgreichen Energiepolitik. In der zitierten Stellungnahme hat der Ausschuss dazu ein konsistentes Europäisches Energieforschungsprogramm empfohlen, von dem zwar wesentliche Teile bereits im Sechsten F&E-Rahmenprogramm bzw. im Euratom Forschungs- und Ausbildungsprogramm enthalten sind, während jedoch der zugeordnete F&E-Aufwand deutlich erhöht werden sollte.

1.7

Zudem hat der Ausschuss darauf hingewiesen, dass die Untersuchung des Energieproblems globaler orientiert sein und einen wesentlich größeren Zeitraum umfassen sollte, da die Veränderungen in der Energiewirtschaft nur langsam verlaufen, da die Emission von Klimagasen kein regionales sondern ein globales Problem darstellt, und da erwartet werden muss, dass sich die Problemlage in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts weiter zuspitzen wird.

1.8

Sowohl die ressourcenseitigen Beschränkungen als auch die Emissionsproblematik (Treibhausgase) werden zusätzlich durch die Prognose erschwert, dass sich der Weltenergiebedarf, bedingt durch das Bevölkerungswachstum und den Nachholbedarf der weniger entwickelten Länder, bis zum Jahr 2060 voraussichtlich verdoppeln oder gar verdreifachen wird. Strategie und Entwicklungsperspektive müssen somit über diesen Zielhorizont hinaus ausgerichtet werden.

1.9

Auch in seiner kürzlichen Stellungnahme zur nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen hat der Ausschuss erneut darauf hingewiesen, dass eine Nachhaltigkeitsstrategie einen deutlich längeren Zeitraum einbeziehen muss.

1.10

Wie der Ausschuss ebenfalls bereits festgestellt hat, werden die obigen Aussagen jedoch in der Wahrnehmung durch die Bürger und in der öffentlichen Diskussion nicht ausreichend erfasst. Vielmehr gibt es eine zwischen Unter- und Überschätzung von Risiken und Chancen aufgespannte Bandbreite von Meinungen. Deren Spektrum reicht von der Ansicht, es gäbe gar kein Energieproblem, bisher wäre immer noch alles gut gegangen und bei Bedarf würde man jeweils neue Lagerstätten erschließen (da schon seit Jahrzehnten z. B. Waldsterben vorhergesagt würde oder behauptet würde, dass die Öl- und Gas-Vorräte nur noch 40 Jahre reichen), bis hin zu dem Glauben, der gesamte Weltenergiebedarf ließe sich leicht durch erneuerbare Energieträger befriedigen, wenn nur alle Forschungsmittel darauf konzentriert würden und die Gesellschaft sich entsprechend anpasse.

1.11

Demzufolge gibt es auch noch keine ausreichend einheitliche globale Energiepolitik, und selbst innerhalb der Mitgliedstaaten der Union bestehen deutliche Unterschiede in ihrer Haltung zum Energieproblem.

2.   Kernenergie — Kernspaltung (Fission) und Kernverschmelzung (Fusion)

2.1

Sowohl Kernspaltung (Fission) sehr schwerer Atomkerne als auch Kernverschmelzung (Fusion) sehr leichter Atomkerne sind Prozesse, bei denen — gemessen am benötigten Massenumsatz — Energiemengen freigesetzt werden, welche die bei chemischen Prozessen freigesetzten Energiemengen um etwa den Faktor eine Million übertreffen.

2.2

Zunächst war entdeckt worden (um 1928), dass Kernfusion die vordem unerklärbare Energiequelle der Sonne und der meisten Sterne ist. Damit ist Fusionsenergie über die Sonnenstrahlung also auch die unser Leben — unter anderem das Wachstum von Pflanzen, die Entstehung der fossilen Energieträger wie auch die Gewinnung regenerativer Energieformen — bestimmende Energiequelle.

2.3

Sobald dann zudem Kernspaltung (1938) entdeckt und ihr Potenzial als gewaltige irdische Energiequelle auch für friedliche Zwecke erkannt worden war, entstand eine hoffnungsvolle und dynamische Entwicklung zu ihrer Nutzung.

2.4

In deren Verlauf hat sich gezeigt, dass man mit Kernspaltung erstaunlich schnell zum Ziel gekommen ist, während die Hoffnung auf eine praktisch unbegrenzte irdische Energiequelle aus Kernfusion noch nicht abschließend verwirklicht werden konnte.

2.5

Die konkrete Nutzung beider Formen der Kernenergie gilt dem Ziel, (i) Elektrizität ohne Emission von Treibhausgasen zu erzeugen und zudem (ii) den Verbrauch der für den Verkehrssektor als Treibstoffe wichtigen Kohlenwasserstoffe (Erdöl und Ergas) zu schonen, deren Verbrennung im Vergleich zu Kohle weniger CO2 erzeugt, und die deswegen zunehmend auch für die Elektrizitätserzeugung in Betracht gezogen bzw. bereits genutzt werden (8).

2.6

Funktionsweise, Betriebsbedingungen, Umwelt- und Sicherheitsaspekte, Ressourcenreichweite und -verfügbarkeit etc. der Prozesse Kernspaltung und Kernfusion unterscheiden sich grundlegend; in allen diesen Kategorien hätte Kernfusion nämlich prinzipbedingte Vorteile (siehe Punkt 2.11 und folgende).

2.7

Kernspaltung. Kernspaltung wird seit Jahrzehnten zur Energiegewinnung genutzt. Kernspaltungskraftwerke haben bereits einen bedeutenden Beitrag geleistet, um die Emission von Treibhausgasen (CO2) zu vermeiden und die mit dem Verbrauch/Import von Öl oder Gas verbundenen Abhängigkeiten zu mildern. Darum ist die Diskussion über Kernenergie insbesondere auch im Zusammenhang mit der Senkung der CO2-Emissionen und den dafür vorgesehenen Instrumenten (Anreizen/Pönalen) wieder aufgenommen worden. Sie wurde vom Ausschuss erst kürzlich in einer eigenen Stellungnahme behandelt (9).

2.8

Als Brennstoffe der Kernspaltung dienen Isotope (10) der besonders schweren Elemente des Periodensystems, nämlich des Thoriums, des Urans und des Plutoniums. Die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen induzieren in den Atomkernen dieser Materialien neue Spaltprozesse, sodass eine mit Energiegewinn verbundene Kettenreaktion ablaufen kann, deren Ausmaß geregelt werden muss. Dabei entstehen radioaktive — zum Teil sehr langlebige — Spaltprodukte und Aktiniden, die für Jahrtausende von der Biosphäre ferngehalten werden müssen. Dies ruft Besorgnisse hervor und bewegt einen Teil der Bürger dazu, die Nutzung der Kernenergie generell abzulehnen. Zudem entstehen gleichzeitig neue spaltbare Stoffe wie Plutonium (aus 238Uran), welche als potenzielles Kernwaffenmaterial der Kontrolle unterliegen.

2.9

Kernspaltungsreaktoren arbeiten nach dem Prinzip eines Meilers. Dabei ist der Kernbrennstoff-Vorrat von einigen Jahren (im Kraftwerk von der Größenordnung 100 Tonnen) im Reaktionsvolumen eingeschlossen, und durch Regelprozesse wird die jeweils erforderliche Anzahl von Spaltreaktionen zugelassen, um die gewünschte Leistung freizusetzen. Trotz der ausgereiften Regelungstechniken für diese Abläufe und für die Gewährleistung der Sicherheit vergrößert die schiere Quantität der gespeicherten Energie diese Besorgnisse noch weiter. Hinzu kommt, dass erhebliche Nachwärme entsteht, weswegen bei den meisten Reaktortypen nach Abschalten des Reaktors noch eine längere Zeit intensiv gekühlt werden muss, um eine Überhitzung der Umhüllungen zu vermeiden.

2.10

Bezug nehmend auf solche Besorgnisse hat der Ausschuss bereits in seiner kürzlichen diesbezüglichen Stellungnahme (11) darauf hingewiesen, dass auf dem Gebiet der Kernspaltungstechnik inzwischen die vierte Generation von Kernkraftwerken entwickelt wird. Bei diesen wird der hohe Standard gegenwärtiger Anlagen im Hinblick auf passive Sicherheit noch weiter optimiert.

2.11

Kernfusion. Gemessen am benötigten Massenumsatz ist Kernfusion der wirksamste auf der Erde potenziell nutzbare Energieprozess. Fusionsreaktoren sind Apparate zur kontrollierten Erzeugung von Fusionsprozessen und zur Nutzung der dabei freigesetzten Energie, und zwar als kontinuierlich (12) arbeitende Kraftwerke für Elektrizität, vorzugsweise im Grundlastbereich. Als Brennstoffe werden die schweren Isotope des Wasserstoffs (siehe unten) dienen. Helium, ein unschädliches Edelgas (13) mit nützlichen Verwendungen, ist die „Asche“ des Fusionsreaktors.

2.12

Allerdings werden bei der Fusionsreaktion — welche nur stattfindet, wenn die Reaktionspartner mit sehr hoher Geschwindigkeit (14) aufeinender treffen — zusätzlich Neutronen freigesetzt, welche in den Wandmaterialien des Reaktors Radioaktivität erzeugen (und deren mechanische Eigenschaften verändern können). Darum ist es ein Ziel des entsprechenden F&E-Programms, Materialien zu entwickeln, deren Radiotoxizität (15) bereits nach hundert Jahren bis allenfalls einigen hundert Jahren auf dem Umfang der Radiotoxizität von Kohleasche absinken wird und somit u. a. die Möglichkeit eröffnen könnte, einen großen Teil dieser Materialien wieder zu verwenden. Das Endlagerproblem wäre damit entscheidend entschärft.

2.13

Die wissenschaftlich-technischen Voraussetzungen für die Gewinnung von Fusionsenergie sind außerordentlich anspruchsvoll. Im Wesentlichen geht es dabei um die schwierige Aufgabe, ein aus Isotopen des Wasserstoffs (nämlich einem Deuterium-Tritium Gemisch) bestehendes Gas auf Temperaturen von über 100 Millionen Grad zu erhitzen (dabei wird es zum Plasma (16)), damit die stoßenden Kerne genügend hohe Geschwindigkeit besitzen, um die gewünschten Fusionsprozesse zu ermöglichen. Zudem muss es gelingen, dieses Plasma genügend lange zusammenzuhalten sowie die dabei entstehende Fusionsenergie auszukoppeln und der Nutzung zuzuführen.

2.14

Diese Prozesse laufen in der Brennkammer des Fusionsreaktors ab, wobei der Energievorrat des dort kontinuierlich eingeblasenen Brennstoffs (im Kraftwerk von der Größenordnung wenige Gramm) ohne Nachfuhr jeweils nur für einige Minuten Leistungsabgabe reicht, so dass keine unerwünschten Leistungsexkursionen möglich sind. Zudem: gerade die Tatsache, dass jeder Fehler zur Abkühlung und zum Erlöschen des „thermonuklearen“ Brennvorgangs (17) führt, ist ein weiterer inhärenter Sicherheitsvorteil.

2.15

Diese inhärenten Sicherheitsaspekte, die Möglichkeit, langlebigen radiotoxischen Abfall drastisch zu verringern — wobei Spaltprodukte sowie die langlebigen und besonders gefährlichen Komponenten (Aktiniden) bei der Fusion gar nicht vorkommen — und der nahezu unbeschränkte Vorrat an Ressourcen würden die Nutzung der Fusionsenergie daher zu einem sehr attraktiven und maßgeblichen Bestandteil zukünftiger nachhaltiger Energieversorgung machen und auf diese Weise zur Lösung gegenwärtiger Probleme beitragen.

2.16

Dementsprechend hatte der Ausschuss schon in bisherigen Stellungnahmen darauf hingewiesen, dass die auf Nutzung der Fusionsenergie ausgerichteten F&E-Arbeiten ein sehr wichtiges Element zukünftiger Energiepolitik sind, einen beispielhaften Erfolg Europäischer Integration darstellen und deshalb in den europäischen F&E-Rahmenprogrammen bzw. Euratom-Forschungs- und Ausbildungsprogrammen mit Nachdruck gefördert werden sollen.

3.   Bisherige Entwicklung

3.1

Erste Überlegungen zur friedlichen Nutzung der Fusionsenergie begannen vor knapp 50 Jahren. Während damals die Technik, Fusionsprozesse in Waffen zu verwenden (Wasserstoffbombe) in einigen Staaten bereits verfügbar war, erschien der Schritt zur friedlichen Nutzung zwar sehr vielversprechend, zugleich aber außergewöhnlich schwierig und langwierig.

3.2

Zwei noch heute benutzte Zitate aus dieser Zeit machen dies besonders deutlich und charakterisieren das bereits frühzeitig erkannte Spannungsfeld zwischen hohen Erwartungen und schwierigsten physikalischen und technischen Problemen. Einerseits sagte H.J. Bhabha bei seiner Eröffnungsansprache der ersten Genfer Konferenz zur friedlichen Nutzung der Kernenergie 1955: „I venture to predict that a method will be found for liberating fusion energy in a controlled manner within the next two decades. (18)“ Andererseits schrieb R.F. Post 1956 im ersten seitens der USA freigegebenen Übersichtsartikel (19) zum Thema Fusion: „However, the technical problems to be solved seem great indeed. When made aware of these, some physicists would not hesitate to pronounce the problem impossible of solution (20).“

3.3

Retrospektiv kann man feststellen, dass sich unter den vielfältigen damals entstandenen Ideen einer möglichen Realisierung bereits auch jene Konzepte für die so genannte magnetische Einschließung befanden, welche sich inzwischen als die erfolgversprechendsten Verfahren erwiesen haben, die geforderten Bedingungen zu erfüllen. Allerdings bedurfte es mühsamer, von Hindernissen und Rückschlägen begleiteter, wissenschaftlich-technischer Weiterentwicklung und Optimierung, bis diese Erkenntnis gewonnen werden konnte. Dabei handelt es sich um den TOKAMAK (russisch, abgekürzt: toroidale (21) magnetische Kammer) und um den STELLARATOR. Beide Verfahren sind Varianten eines gemeinsamen Grundkonzepts, nämlich mit geeignet strukturierten ringförmigen Magnetfeldern das heiße Plasma unter den geforderten Bedingungen einzuschließen.

3.4

Die bahnbrechende Rolle spielte dabei das europäische Gemeinschaftsprojekt JET (Joint European Torus), dessen technischer Entwurf (22) rund zwanzig Jahre später (23) vorlag. Mit JET konnten im Verlauf seiner Experimentierphase nicht nur erstmalig die benötigten Temperaturen des Plasmas tatsächlich erzeugt, sondern auch, in den neunziger Jahren — durch Nutzung des Fusionsprozesses Deuterium mit Tritium — nennenswerte Mengen (rund 20 Megajoule pro Experimentablauf) Fusionsenergie in kontrollierter Weise freigesetzt werden. Damit ist es bereits gelungen, aus dem Plasma kurzfristig fast soviel durch Fusionsprozesse gewonnene Leistung freizusetzen, wie ihm zu Heizzwecken zugeführt wird.

3.5

Dieser Erfolg wurde durch die Bündelung aller Kräfte in dem — im Rahmen des Euratom-Programms durchgeführten — Forschungsprogramm Fusion der Europäischen Gemeinschaft ermöglicht. In dessen Netzwerk fanden die verschiedenen mit Euratom assoziierten Laboratorien der Mitgliedstaaten — mit ihren jeweiligen Versuchsanlagen und arbeitsteiligen Beiträgen sowie durch ihre Beteiligung an JET — zu einer gemeinsamen Identität zusammen. Hier ist der Europäische Forschungsraum also bereits frühzeitig verwirklicht und in seiner Leistungsfähigkeit demonstriert worden.

3.6

Damit ist also die erste, entscheidende Etappe der weltweiten Fusionsforschung mit Erfolg erreicht und das physikalische Prinzip der Erzeugung und magnetischen Einschließung von Fusionsplasmen demonstriert worden.

3.7

Kennzeichnend für diesen Fortschritt war zudem eine beispielhafte globale Kooperation, unter anderem auch koordiniert durch Organisationen wie die IAEA (Internationale Atom Energie Agentur) und die IEA (Internationale Energie Agentur). Maßgeblich war vor allem der Beitrag der europäischen Forschung. Im Verlauf einer zielstrebigen Aufholarbeit insbesondere gegenüber den USA nimmt sie heute den anerkannten internationalen Spitzenplatz ein.

3.8

Ausgehend von einer inzwischen schon 17 Jahre zurückliegenden Initiative der Präsidenten Gorbatschow und Reagan, später auch Mitterand, entstand der Plan, ITER (24), den ersten Testreaktor mit positiver Leistungsbilanz des Plasmas (d. h. aus dem Plasma wird deutlich mehr Leistung durch Fusionsprozesse freigesetzt als diesem zugeführt) als weltweites Gemeinschaftsprojekt zu entwickeln, möglicherweise auch gemeinschaftlich zu bauen und zu betreiben. ITER soll in kraftwerksrelevantem Maßstab zeigen, dass es technisch und wissenschaftlich möglich ist, aus Kernverschmelzung mittels eines brennenden Plasmas nutzbare Energie freizusetzen.

3.9

Unter „Brennen“ (auch „thermonukleares Brennen“ genannt) wird dabei jener Zustand verstanden, bei dem die von den Fusionsprozessen freigesetzte Energie (genauer: die von den entstandenen Helium-Kernen getragene Energie) einen wesentlichen Beitrag leistet, um die erforderliche extrem hohe Temperatur des Plasmas aufrecht zu erhalten. Die bisherigen experimentellen Befunde haben gezeigt, dass dies erst mit Apparaturen von ausreichender — d. h. bereits kraftwerksähnlicher — Größe erreicht werden kann. Dies hat zur Dimensionierung von ITER geführt.

3.10

Damit befindet sich das Programm in einer Übergangsphase zwischen Forschung und Entwicklung, wobei eine scharfe Trennung dieser beiden Begriffe nicht möglich ist. Um die Ziele von ITER zu erreichen, sind nämlich einerseits jene physikalischen Fragen abschließend zu untersuchen, die nur an Hand eines längere Zeit brennenden Fusionsplasmas zugänglich sind. Andererseits werden technischen Bauteile (wie z. B. sehr große supraleitende Magnete, eine dem Plasma standhaltende (25) Brennkammer, Aggregate zur Heizung des Plasmas etc.) erforderlich, wie sie mit ähnlichen Spezifikationen und Baugrößen später für einen funktionierenden Leistungsreaktor benötigt werden. Dies ist also der erste Schritt von der Physik in die Kraftwerkstechnik.

3.11

Die Ergebnisse der weltweiten Planungsarbeiten zu ITER liegen in Form von Auslegungsdaten und umfassenden Bauunterlagen sowie als Prototypen und getestete Modellkomponenten vor. Sie basieren auf den Erfahrungen und der Extrapolation aller bisherigen Experimente, angeführt von JET als Flaggschiff nicht nur des Europäischen, sondern sogar des weltweiten Fusionsprogramms.

3.12

Die Linearabmessungen von ITER (mittlerer großer Durchmesser des Plasma-Rings 12 Meter, Volumen der Brennkammer rund 1000 cbm) werden somit rund doppelt so groß sein wie jene von JET. Mit ITER sollen — bei einer zehnfachen Leistungsverstärkung (26) — rund 500 MW Fusionsleistung während Brenndauern von zunächst jeweils mindestens 8 Minuten (bei reduzierter Leistungsverstärkung während Brenndauern von im Wesentlichen unbegrenzter Länge) erzeugt werden.

3.13

Die Baukosten von ITER sind zu rund 5 Mrd. EUR veranschlagt (27).

3.13.1

Beim Bau von ITER würde der Hauptteil dieser Kosten jenen Firmen zufließen, welche den Zuschlag erhalten werden, die verschiedenen Bauteile der Versuchsanlage zu fertigen und zu montieren. Ein wesentlicher Anteil Europas am Bau von ITER würde deshalb der europäischen Industrie einen Gewinn an Innovationskraft und allgemeinem technischen Know-how erbringen und somit den Zielen der Lissabon-Strategie dienen.

3.13.2

Bereits in der Vergangenheit kamen der Industrie vielfache Spin-offs des Fusionsprogramms zu Gute (28). Es ist zu erwarten, dass sich dieser wichtige Nebennutzen beim Bau von ITER in besonders hohem Maße einstellen wird.

3.13.3

Während der Bauzeit von ITER würden die für das gesamte Fusionsprogramm erforderlichen europäischen Ausgaben (d. h. die der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten) unter 0,2 % der Kosten des Endenergieverbrauchs in Europa liegen.

3.14

Mit der zunächst zwischen der EU, Japan, Russland und den USA begonnenen ITER-Partnerschaft, aus welcher im Verlauf der weiteren, wechselhaften Entwicklung (29) die USA vor etwa fünf Jahren ausgetreten waren, aber im Jahre 2003 wieder beitraten, und sich zudem China und Korea anschlossen, konnten nicht nur die Kosten der Planungsarbeiten auf die Schultern aller großen Partner der internationalen Energieforschung verteilt werden, sondern es wurde auch sichergestellt, dass alle weltweit verfügbaren Ergebnisse in die Planung einfließen.

3.15

Zudem wurde so die Bedeutung des Vorhabens als globales Projekt zur Lösung eines globalen Problems hervorgehoben.

3.16

Auch der gemeinsame Bau und Betrieb von ITER würde für alle Partner-Länder einen maßgeblichen Zuwachs an Wissen und technischen Fähigkeiten bedeuten (siehe dazu auch Kapitel 5), und zwar nicht nur im Hinblick auf dieses neuartige Energiesystem, sondern auch auf allgemeine Innovationen für Spitzentechnologien.

3.17

Es würde in der Entwicklung der Technik allerdings ein Novum darstellen, wenn eine Maschine mit der Zielsetzung von ITER weltweit nur ein einziges Mal gebaut würde, wenn man also bei diesem Schritt auf die Entwicklung bzw. Erprobung konkurrierender gleich weit entwickelter Varianten — wie dies z. B. bei der Entwicklung der Luftfahrt, der Raumfahrt oder von Spaltreaktoren durchaus der Fall war — verzichten würde.

3.18

Diesem aus Ersparnis eingegangenen Verzicht müsste daher durch ein besonders schlagkräftiges Begleitprogramm begegnet werden, in dem auch Raum für innovative Ideen und für das Entwicklungsrisiko mindernde Konzeptvarianten (30) besteht, welche zunächst jedoch in reduziertem Maßstab — und folglich mit geringerem Kostenaufwand — zu untersuchen wären.

4.   Der weitere Weg zum Fusionskraftwerk

4.1

Die ca. 20 Jahre nach Baubeginn erwarteten, akkumulierten Ergebnisse von ITER sollen die Basisdaten für Auslegung und Bau des ersten Elektrizität liefernden Fusions-Demonstrationskraftwerks DEMO liefern. Der Bau von DEMO könnte damit in ca. 20 bis 25 Jahren beginnen.

4.2

Aus jetziger Sicht sollten sich Fusionskraftwerke konzipieren lassen, die sich durch folgende Eigenschaften auszeichnen werden:

Bereitstellung elektrischer Energie im Grundlastbereich und in Blockgrößen heutiger Kraftwerke. Damit auch die Möglichkeit der Wasserstoff-Erzeugung.

Stündlicher Brennstoffbedarf (31) z. B. eines 1 GW-Blocks (32) (elektrische Leistung): ca. 14 g schwerer Wasserstoff (Deuterium) > als Bestandteil von rund 420 kg natürlichem Wasser sowie ca. 21 g überschwerer Wasserstoff (Tritium), > erbrütet aus ca. 42 g6-Li als Bestandteil von rund 570 g natürlichem Lithium.

Brennstoffvorräte global verbreitet und weit über historische Zeiträume hinausreichend (33).

Stündliche Ascheproduktion eines solchen Blocks: ca. 56 g Helium (34).

Interner Kreislauf (35) des radioaktiven (12,5 Jahre Halbwertszeit) Tritium, welcher in der Umhüllung (Blanket) der Brennkammer aus Lithium erbrütet wird.

Durch Neutronen erzeugte Radioaktivität der Brennkammermaterialien, deren Radiotoxizität je nach Materialwahl nach hundert bis einigen hundert Jahren in den Bereich der Radiotoxizität von Kohleasche abgesunken ist.

Kein Risiko einer unkontrollierten Leistungsexkursion. Der Brennstoff wird — ähnlich wie in einem Gasbrenner — von außen injiziert und reicht nach Abschalten nur für eine Brenndauer von wenigen Minuten.

Keine Unfallsszenarien, bei welchen so viel Radioaktivität (Staub, Tritium, etc.) freigesetzt würde, dass Evakuierungsmaßnahmen außerhalb des Betriebsgeländes notwendig werden.

Auf Grund der inhärenten Sicherheitsmerkmale und des geringen leicht freisetzbaren Anteils radiotoxischer Stoffe auch relativ begrenzter Schaden bei Terror-Attacken.

Baugröße (räumliche Größe) heutigen Kraftwerken entsprechend.

Kostenstruktur ähnlich jener von derzeitigen Kernkraftwerken: die Kosten ergeben sich im Wesentlichen aus den Investitionskosten zum Bau der Anlage, während die Kosten der Versorgung mit Brennstoff praktisch keine Rolle spielen.

4.3

Für die Entwicklung des DEMO sind neben zentralen Fragen wie der Energieausbeute sowie der die Brenndauer begrenzenden Prozesse, die bereits mit ITER untersucht und demonstriert werden sollen, und neben den hierfür bereits verfügbaren bzw. noch weiter zu entwickelnden anspruchsvollen Verfahren, auch noch andere wichtige technische Entwicklungen fortzusetzen und zu verstärken.

4.4

Diese betreffen insbesondere den internen Brennstoffkreislauf (Erbrüten und Behandeln des Tritiums), die Leistungsauskopplung, die Standhaftigkeit der Materialien unter Plasmabelastung (Plasma-Wand-Wechselwirkung) und Neutronenbeschuss, die Reparaturtechnik, die Perfektionierung der Fernbedienung sowie die Techniken zur Verlängerung der Brenndauer hin zu einem vollständig kontinuierlichen Brennvorgang. Eine besonders wichtige Aufgabe ist auch die Entwicklung geeigneter niedrig aktivierbarer — oder nur kurzlebig aktivierter — Strukturmaterialien, die auf Grund ihrer langfristigen Erprobung und Validierung verstärkt bearbeitet werden muss.

4.5

Allerdings wäre es ein Irrtum zu glauben, mit DEMO werden die F&E-Aufgaben beendet sein. Die Geschichte der Technik zeigt, dass intensive Forschung und Entwicklung häufig sogar erst dann einsetzte, als der erste Prototyp bereits existierte.

4.5.1

Die Geschichte der Technik zeigt auch, dass die ersten Prototypen einer neuen Technologie häufig noch unoptimierte grobe Gerätschaften waren im Vergleich zu den dann daraus schrittweise entstandenen eleganten Maschinen.

4.5.2

Die heutige Optimierung der Dieselmotoren erfolgte fast 100 Jahre nach deren Erfindung. Auch Fusionskraftwerke werden verbessert, optimiert und den dann bestehenden Anforderungen angepasst werden müssen.

5.   Die Standortfrage ITER

5.1

Gegenwärtig besteht ein auf höchster politischer Ebene für die Errichtung von ITER ausgetragener Standortwettstreit zwischen Cadarache (36) für Europa und Rokkasho-Mura (37) für Japan, von dessen Ausgang sowohl die finanzielle Beteiligung der verschiedenen Partner abhängt als auch die Ausgestaltung des erforderlichen Begleitprogramms.

5.2

Vor dem Wiedereintritt der USA und dem Beitritt Chinas und Koreas in die ITER-Partnerschaft bestanden realistischerweise kaum Zweifel, dass der ITER-Standort Europa zufallen würde, auch weil damit am Besten sichergestellt würde, dass ITER — so wie JET — ein Erfolg werden wird.

5.3

Jetzt ist jedoch dadurch eine neue Situation entstanden, dass gegenwärtig die USA und Korea sich für den Standort Rokkasho-Mura in Japan einsetzen, trotz der klaren und weithin akzeptierten technischen Vorteile des Standorts Cadarache. Durch eine dementsprechende Standortentscheidung würde Europa seine Führungsposition verlieren und auf die Früchte der bisherigen Investitionen und Arbeiten verzichten, mit allen Konsequenzen für Forschung und Industrie.

5.4

Dementsprechend anerkennt, begrüßt und unterstützt der Ausschuss den Beschluss des Europäischen Rats vom 25./26. März 2004, in welchem er bekräftigt, dass er das europäische Angebot für das ITER-Projekt einmütig unterstützt, und in welchem er die Kommission aufruft, die diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Ziel voranzutreiben, dass das Projekt so bald wie möglich am europäischen Bewerberort beginnen kann.

6.   Zusammenfassung und Empfehlungen des Ausschusses

6.1

Der Ausschuss teilt die Auffassung der Kommission, dass die friedliche Nutzung der Fusionsenergie das Potenzial birgt für einen sehr wesentlichen Beitrag zur langfristigen Lösung der Energieversorgung im Sinne von Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit und Wettbewerbsfähigkeit.

6.1.1.1

Der Grund dafür sind die potenziellen Vorteile dieser Zukunftstechnologie, nämlich:

Die Brennstoff-Ressourcen Deuterium und Lithium sind — in historischen Zeiträumen betrachtet — unbegrenzt verfügbar.

Es entstehen weder klimaschädliche Gase noch Spaltprodukte oder Aktiniden.

Die inhärenten Sicherheitseigenschaften verhindern eine unkontrollierte Leistungsexkursion (38).

Die Radioaktivität der Brennkammer-Materialien kann nach hundert bis allenfalls einigen hundert Jahren auf die Radiotoxizität von Kohleasche gesunken sein; dadurch ist das Endlagerproblem entscheidend entschärft.

Wegen der obigen Eigenschaften sowie des geringen leicht flüchtigen Anteils radiotoxischer Stoffe wären auch bei Terror-Attacken nur relativ begrenzte Auswirkungen zu befürchten.

6.1.2

Das Potenzial der Fusionsenergie ergänzt insbesondere dasjenige der erneuerbaren Energieträger, allerdings mit dem Vorteil gegenüber Wind- und Solarenergie, zeitlich nicht von Witterungsbedingungen und dem Jahres- bzw. Tagesgang abhängig zu sein. Dies gilt auch im Hinblick auf ein den Erfordernissen angepasstes Verhältnis zwischen zentralen und dezentralen Systemen.

6.1.3

Darum hat sich der Ausschuss bereits in mehreren Stellungnahmen (39) für eine deutliche und verstärkte Förderung des F&E-Programms zur Fusionsenergie ausgesprochen.

6.2

Der Ausschuss stellt mit Befriedigung fest, dass — führend durch das europäische Fusionsprogramm und dessen Gemeinschaftsexperiment JET — die erste, entscheidende Etappe der weltweiten Fusionsforschung mit Erfolg erreicht wurde, nämlich das physikalische Prinzip der Freisetzung von Energie durch Kernfusion zu demonstrieren. Damit wurde die Grundlage für den Versuchsreaktor ITER geschaffen, in dem erstmalig ein brennendes Fusionsplasma erzeugt und untersucht werden soll, welches deutlich mehr Energie emittiert als ihm zugeführt werden muss.

6.3

Dementsprechend haben die langjährigen F&E-Arbeiten und die dazu erforderlichen Investitionen nunmehr in weltweiter Kooperation dazu geführt, die Planungsarbeiten und politischen Vorkehrungen für Bau und Betrieb des Testreaktor ITER — dessen Dimensionen bereits in Kraftwerksnähe kommen — zur Entscheidungsreife zu bringen.

6.4

Der Ausschuss hebt den bahnbrechenden und führenden Beitrag des Europäischen Fusionsprogramms hervor, ohne den es heute noch kein ITER-Projekt gäbe.

6.5

Die Ergebnisse von ITER sollen ihrerseits die Basisdaten für Auslegung und Bau des ersten Elektrizität liefernden Fusions-Demonstrationskraftwerks DEMO liefern. Der Bau von DEMO könnte damit in ca. 20 bis 25 Jahren beginnen.

6.6

Der Ausschuss unterstützt die Kommission in ihren Bemühungen, Europa strategisch darauf vorzubereiten, auch in der Phase der kommerziellen Nutzung eine starke Position einnehmen zu können, und dementsprechend in verstärktem Maße bereits heute Teile des Fusionsforschungsprogramms über ITER hinaus auf DEMO zu orientieren.

6.7

Für die Entwicklung des DEMO sind Antworten auf zentrale Fragen, die bereits mit ITER untersucht und demonstriert werden sollen, aber auch weitere Fortschritte bei anderen wichtigen Aufgaben erforderlich: Beispiele sind Optimierung der Magnetkonfiguration, Materialentwicklung (z. B. Verbesserungen bei plasmainduzierter Erosion, Neutronenschäden, Abklingzeit der induzierten Radioaktivität), Brennstoffkreislauf, Leistungsauskopplung, Antrieb des Plasmastroms und Steuerung seiner internen Verteilung, Wirkungsgrad sowie Komponenten-Verlässlichkeit.

6.7.1

Der Ausschuss weist darauf hin, dass solche weiteren Fortschritte nur durch ein breit angelegtes europäisches F&E-Begleitprogramm erreichbar sein werden, welches die Mitgliedstaaten einbindet und ein Netzwerk physikalischer und insbesondere auch technischer Experimente und Großgeräte erfordert, die in Unterstützung und Ergänzung zu ITER verfügbar sein müssen.

6.8

Der Ausschuss hält es für außerordentlich wichtig, den gegenwärtigen Schwung beizubehalten und den Herausforderungen eines solchen wissenschaftlich-technisch anspruchsvollen und für die langfristige Energieversorgung außerordentlich wichtigen Ziels mit Nachdruck, Engagement und dem nötigen Mitteleinsatz zu begegnen. Dies ist auch eine ernste Verpflichtung zur Erfüllung der Lissabon- und der Göteborg-Strategien.

6.8.1

Dazu gehört, der Energieforschung insgesamt, hier jedoch vor allem dem Fusionsprogramm, im zukünftigen Siebten F&E-Rahmenprogramm plus Euratom-Programm die für den weiteren Erfolg erforderlichen und damit deutlich erhöhten Mittel zuzuordnen sowie sonstige Möglichkeiten zur Finanzierung von ITER auszuschöpfen.

6.8.2

Dazu gehört, Vorsorge für eine ausreichende personelle Basis an Experten für Physik und Technik zu treffen, damit genügend europäische Experten für den Betrieb von ITER und die Entwicklung des DEMO zur Verfügung stehen. Der Ausschuss verweist hierzu auch auf seine kürzliche Stellungnahme (40) zu diesem speziellen Thema.

6.8.3

Dazu gehört, dass Hochschulen und Forschungszentren in das Netzwerk eingebunden bleiben: einerseits, um den Wissenschaftler- und Ingenieurnachwuchs mit dem nötigen Spezialwissen auszubilden, andererseits um sich mit ihrer jeweiligen Expertise und Ausstattung an den anstehenden Aufgaben zu beteiligen, schließlich aber auch, um als Verbindungsglied zur Zivilgesellschaft zu fungieren.

6.8.4

Dazu gehört schließlich als besonders wichtige Aufgabe, rechtzeitig für das zunehmend erforderliche Engagement der europäischen Industrie auf diesem Gebiet vielfältiger wissenschaftlich-technischer Spitzenentwicklungen zu werben und zu sorgen. Während die europäische Industrie im bisherigen Fusionsprogramm hauptsächlich die Rolle eines Entwicklers und Lieferanten hochspezialisierter und höchst anspruchsvoller Einzelkomponenten übernommen hatte, — wobei es auch gilt, diesen Erfahrungsschatz zu pflegen und zu erhalten — sollte sie im Zuge eines Näherrückens der Anwendbarkeit von Fusionsreaktoren schrittweise in eine mehr eigenverantwortliche und mitbestimmende Rolle hineinwachsen.

6.8.5

Die vorgesehenen, der Industrie zufließenden, erheblichen Investitionsmittel zum Bau von ITER und zur Entwicklung des DEMO werden sowohl eine wirtschaftliche Stärkung bewirken als auch — noch wichtiger — einen Zuwachs an Kompetenz und Innovation auf anspruchsvollstem technischen Neuland. Dies wird bereits aus den vielfältigen Spin-offs des bisherigen Fusionsprogramms deutlich.

6.9

International steht Europa vor einer mehrfachen Herausforderung: es gilt, einerseits, seine führende Rolle in der Fusionsforschung nicht nur gegenüber der leistungsstarken Forschung der USA zu behaupten, sondern auch gegenüber der aufsteigenden Kraft der drei asiatischen (41) ITER-Partner. Es gilt aber andererseits, die bisherige, beispiellose internationale Kooperation bestmöglich aufrecht zu erhalten und auszubauen.

6.10

Dementsprechend unterstützt der Ausschuss die Kommission in ihrer Absicht, diese Herausforderung anzunehmen. Er appelliert an den Rat, das Parlament und die Mitgliedstaaten, sich dem anzuschließen und die Vorrangstellung Europas auf diesem wichtigen Zukunftsgebiet nicht aus der Hand zu geben. Hier gibt es jedoch Probleme.

6.11

Vor dem Wiedereintritt der USA und dem Beitritt Chinas und Koreas in die ITER-Partnerschaft bestanden realistischerweise kaum Zweifel, dass der ITER-Standort Europa zufallen würde, auch weil damit am Besten sichergestellt würde, dass ITER — so wie JET — ein Erfolg werden wird.

6.12

Jetzt ist jedoch dadurch eine neue Situation entstanden, dass gegenwärtig die USA und Korea sich für den Standort Rokkasho-Mura in Japan einsetzen, trotz der klaren und weithin akzeptierten technischen Vorteile des Standorts Cadarache. Durch eine dementsprechende Standortentscheidung würde Europa seine Führungsposition verlieren und auf die Früchte der bisherigen Investitionen und Arbeiten verzichten, mit allen Konsequenzen für Forschung und Industrie.

6.13

Dementsprechend anerkennt, begrüßt und unterstützt der Ausschuss den Beschluss des Europäischen Rats vom 25./26. März 2004, in welchem er bekräftigt, dass er das europäische Angebot für das ITER-Projekt einmütig unterstützt, und in welchem er die Kommission aufruft, die diesbezüglichen Verhandlungen mit dem Ziel voranzutreiben, dass das Projekt so bald wie möglich am europäischen Bewerberort beginnen kann.

6.14

Dies zusammenfassend und verstärkend appelliert der Ausschuss an den Rat, das Parlament und die Kommission, Initiativen zu ergreifen, wirklich alle Möglichkeiten auszuschöpfen und nötigenfalls neue strukturelle Konzepte der internationalen Arbeitsteilung zu entwickeln, um ITER angesichts seiner strategischen Schlüsselrolle zur Entwicklung einer wichtigen nachhaltigen Energiequelle auf jeden Fall in Europa errichten zu können.

Brüssel, den 30. Juni 2004

Der Präsident

des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses

Roger BRIESCH


(1)  Energie wird nicht verbraucht, sondern nur umgewandelt und dabei genutzt. Dies geschieht durch geeignete Umwandlungsprozesse wie z. B. die Verbrennung von Kohle, die Umwandlung von Windenergie in Strom oder die Kernspaltung (Erhaltung der Energie; E = mc2). Dabei spricht man auch von „Energieversorgung“, „Energiegewinnung“ oder „Energieverbrauch“.

(2)  Förderung der erneuerbaren Energieträger: Aktionsmöglichkeiten und Finanzierungsinstrumente, Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung auf der Grundlage des Nutzwärmebedarfs im Energiebinnenmarkt, Entwurf für einen Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des Rates zur Festlegung grundlegender Verpflichtungen und allgemeiner Grundsätze im Bereich der Sicherheit kerntechnischer Anlagen und Entwurf für einen Vorschlag für eine Richtlinie (Euratom) des Rates über die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle, Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(3)  Grünbuch „Hin zu einer europäischen Strategie für Energieversorgungssicherheit“.

(4)  Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung.

(5)  Forschungsbedarf im Hinblick auf eine sichere und nachhaltige Energieversorgung; Punkte 2.1.3 und folgende.

(6)  Vorzeichen der Gesamtproblematik waren die bisherigen Ölkrisen (z. B. 1973 und 1979) sowie die gegenwärtige, das Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie kennzeichnende, Kontroverse über die Zuteilung von Emissionszertifikaten.

(7)  Zitat: „Daher empfiehlt der Ausschuss, dass die Kommission eine Strategie für eine integrierte europäische Energieforschung erarbeitet, aus der sich ein umfassendes zukünftiges Europäisches Energieforschungsprogramm ableitet.“

(8)  Auf diese Weise ist zu erwarten, dass ein bedrohlicher Treibstoffmangel früher eintreten wird.

(9)  Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(10)  Atome desselben Elements, aber unterschiedlicher Masse (unterschiedlicher Anzahl von Neutronen im Atomkern).

(11)  Die Bedeutung der Kernenergie für die Stromerzeugung.

(12)  Wobei gegebenenfalls nur der Fusionsprozess etwa im Stundentakt kurzfristig unterbrochen werden muss.

(13)  Helium hat einen extrem stabilen Kern und ist chemisch inert (daher der Name „Edelgas“).

(14)  Typisch 1 000 km/sec.

(15)  Radiotoxizität ist ein Maß für die Schädlichkeit eines in den menschlichen Organismus gelangten Radionuklids aufgrund seiner Strahlenwirkung.

(16)  Bei diesen Temperaturen ist ein Gas voll ionisiert (d. h. die elektrisch negativ geladenen Elektronen sind nicht mehr in der Atomhülle gebunden, sondern frei beweglich wie die elektrisch positiv geladenen Kerne) und damit ein elektrisch leitfähiges Medium, welches unter anderem von Magnetfeldern eingeschlossen werden kann. Diesen Zustand nennt man „Plasma“.

(17)  Erklärung des „thermonuklearen“ Brennvorgangs: siehe 3.9.

(18)  „Ich wage die Vorhersage, dass innerhalb der nächsten zwei Dekaden eine Methode gefunden wird, Fusionsenergie in kontrollierter Weise freizusetzen.“

(19)  Rev. Mod. Phys. 28, 338 (1956).

(20)  „Die technischen Probleme scheinen jedoch in der Tat außerordentlich groß zu sein. Wenn diese den Physikern bewusst werden, würden einige von ihnen nicht zögern, das Problem für unlösbar zu halten.“

(21)  toroidal: ringförmig.

(22)  Nach einer Variante des TOKAMAK-Prinzips konzipiert.

(23)  Mit JET konnte also die von BHABHA prognostizierte Methode verwirklicht und dessen Vorhersage bestätigt werden.

(24)  Ursprünglich International Thermonuclear Experimental Reactor, heute als Name verstanden.

(25)  „Plasma-Wand-Wechselwirkung“.

(26)  D. h. im Fusionsplasma wird zehnmal mehr (Fusions-)Leistung erzeugt als diesem von Außen durch besondere Aggregate wie leistungsstarke Neutralstrahl-Injektoren oder Hochfrequenz-Sender zugeführt wird.

(27)  Nach KOM(2003) 215 endg. die Kosten von ITER während dessen Konstruktionsphase werden zu EUR 4 570 Millionen veranschlagt (Geldwert zum Jahr 2000).

(28)  Siehe z. B. „Spin-off benefits from Fusion R&D“ EUR 20229-Fusion energy-Moving forward ISBN 92-894-4721-4 sowie die Broschüre „Making a Difference“ des Culham Science Centre, Abingdon, Oxfordshire OX14 3DB, U.K.

(29)  Auf eine detaillierte Darstellung der verwickelten und wechselhaften politischen Historie des Projekts muss hier aus Platzgründen verzichtet werden.

(30)  Hier ist insbesondere der Stellarator zu erwähnen.

(31)  Im Vergleich: Ein Braunkohlekraftwerk benötigt dann rund 1 000 t Braunkohle.

(32)  1 GW (Gigawatt) gleich 1 000 MW (Megawatt).

(33)  Lithium kann aus bestimmten Gesteinen, aus der Sole von Salzseen, aus geothermischen und Mineralwasserquellen, aus dem aus Ölfeldern abgepumpten Wasser und aus dem Meerwasser gewonnen werden. Mit den heute bekannten Vorräten könnte das Zehnfache des totalen heutigen Weltenergiebedarfs für viele tausend Jahre gedeckt werden.

(34)  Im Vergleich: Ein Braunkohlekraftwerk gleicher Leistung emittiert dann rund 1 000 t CO2.

(35)  Mit Ausnahme der Erstausstattung, welche z. B. aus schwerwasser-moderierten Spaltungsreaktoren (Kanada) gewonnen werden kann.

(36)  Bei Aix-en-Provence, nordöstlich von Marseille, Frankreich.

(37)  Im Norden Japans.

(38)  bzw. Energiefreisetzung/Zeit.

(39)  „verstärkte Förderung der Kernfusionsoption“.

(40)  Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament — Forscher im europäischen Forschungsraum: ein Beruf, vielfältige Karrieremöglichkeiten.

(41)  China, Japan und (Süd-)Korea.


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