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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62021CC0132

Schlussanträge des Generalanwalts J. Richard de la Tour vom 8. September 2022.
BE gegen Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság.
Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 77 bis 79 – Rechtsbehelfe – Parallele Ausübung – Zusammenspiel – Verfahrensautonomie – Effektivität der in dieser Verordnung aufgestellten Schutzregeln – Gleichmäßige und einheitliche Anwendung dieser Regeln in der gesamten Europäischen Union – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.
Rechtssache C-132/21.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2022:661

 SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JEAN RICHARD DE LA TOUR

vom 8. September 2022 ( 1 )

Rechtssache C‑132/21

BE

gegen

Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság,

Beteiligte:

Budapesti Elektromos Művek Zrt.

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten – Verordnung (EU) 2016/679 – Art. 77 bis 79 – Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde – Gerichtliche Rechtsbehelfe – Zusammenspiel der Rechtsbehelfe – Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten“

I. Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 51 Abs. 1, Art. 52 Abs. 1, Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) ( 2 ).

2.

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen BE und der Nemzeti Adatvédelmi és Információszabadság Hatóság (Nationale Behörde für Datenschutz und Informationsfreiheit, Ungarn, im Folgenden: Aufsichtsbehörde) wegen der Ablehnung des Antrags von BE, ihm Auszüge aus der Tonaufzeichnung einer Aktionärshauptversammlung zu übermitteln, an der er teilgenommen hatte.

3.

Die DSGVO soll die wirksame Anwendung der Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten gewährleisten, indem sie ein Rechtsbehelfssystem vorsieht, das es einer Person ermöglicht, bei einer Aufsichtsbehörde Beschwerde, einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen den Beschluss dieser Behörde sowie einen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen Verantwortlichen oder seinen Auftragsverarbeiter einzulegen, wenn die genannte Person der Ansicht ist, dass die ihr aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte infolge einer nicht im Einklang mit dieser Verordnung stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.

4.

Der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) ersucht den Gerichtshof um nähere Angaben zum Zusammenspiel dieser Rechtsbehelfe und insbesondere dazu, wie zu verhindern ist, dass in einem Mitgliedstaat sich widersprechende Entscheidungen über das Vorliegen einer Verletzung der durch die DSGVO geschützten Rechte getroffen werden.

5.

Diese Frage ist insofern von bedeutendem Gewicht, als der Wille des Unionsgesetzgebers, einen effektiven gerichtlichen Schutz der durch die DSGVO verliehenen Rechte sicherzustellen und ein hohes und gleichmäßiges Schutzniveau für diese Rechte zu gewährleisten, nicht mit einander sich widersprechenden Entscheidungen in einem Mitgliedstaat vereinbar erscheint, worin eine Quelle der Rechtsunsicherheit liegt.

6.

In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich dem Gerichtshof vorschlagen, für Recht zu erkennen, dass Art. 78 Abs. 1 DSGVO in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ( 3 ) dahin auszulegen ist, dass in Fällen, in denen eine betroffene Person von den in Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfen Gebrauch macht, das Gericht, das über eine Klage gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde zu befinden hat, zu der Frage, ob eine Verletzung der dieser Person nach der genannten Verordnung zustehenden Rechte vorliegt, nicht an die Entscheidung eines nach der letztgenannten Bestimmung angerufenen Gerichts gebunden ist.

7.

Unter diesem Blickwinkel werde ich darlegen, weshalb Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO meines Erachtens dahin auszulegen sind, dass die dort vorgesehenen Rechtsbehelfe parallel eingelegt werden können, ohne dass der eine nach dieser Verordnung Vorrang vor dem anderen hat.

8.

Ich werde diese Antwort ergänzen, indem ich klarstellen werde, dass es in Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung über das Zusammenspiel der in den Art. 77 bis 79 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe den Mitgliedstaaten obliegt, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie und sowohl unter Berücksichtigung des Ziels, ein hohes und gleichmäßiges Schutzniveau für die durch diese Verordnung verliehenen Rechte zu gewährleisten, als auch in Anbetracht des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf auf nationaler Ebene für das Zusammenspiel dieser Rechtsbehelfe die Mechanismen einzurichten, die erforderlich sind, um zu vermeiden, dass es in einem Mitgliedstaat einander sich widersprechende Entscheidungen über ein und dieselbe Verarbeitung personenbezogener Daten geben kann.

II. Rechtlicher Rahmen

A.   DSGVO

9.

Art. 51 Abs. 1 DSGVO bestimmt:

„Jeder Mitgliedstaat sieht vor, dass eine oder mehrere unabhängige Behörden für die Überwachung der Anwendung dieser Verordnung zuständig sind, damit die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung geschützt werden und der freie Verkehr personenbezogener Daten in der Union erleichtert wird (im Folgenden ‚Aufsichtsbehörde‘).“

10.

Art. 52 Abs. 1 DSGVO lautet:

„Jede Aufsichtsbehörde handelt bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und bei der Ausübung ihrer Befugnisse gemäß dieser Verordnung völlig unabhängig.“

11.

Art. 58 Abs. 4 DSGVO sieht vor:

„Die Ausübung der der Aufsichtsbehörde gemäß diesem Artikel übertragenen Befugnisse erfolgt vorbehaltlich geeigneter Garantien einschließlich wirksamer gerichtlicher Rechtsbehelfe und ordnungsgemäßer Verfahren gemäß dem Unionsrecht und dem Recht des Mitgliedstaats im Einklang mit der Charta.“

12.

Art. 77 („Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde“) DSGVO lautet:

„(1)   Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde, insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthaltsorts, ihres Arbeitsplatzes oder des Orts des mutmaßlichen Verstoßes, wenn die betroffene Person der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen diese Verordnung verstößt.

(2)   Die Aufsichtsbehörde, bei der die Beschwerde eingereicht wurde, unterrichtet den Beschwerdeführer über den Stand und die Ergebnisse der Beschwerde einschließlich der Möglichkeit eines gerichtlichen Rechtsbehelfs nach Artikel 78.“

13.

In Art. 78 („Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen eine Aufsichtsbehörde“) Abs. 1 DSGVO heißt es:

„Jede natürliche oder juristische Person hat unbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde.“

14.

Art. 79 („Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen Verantwortliche oder Auftragsverarbeiter“) Abs. 1 DSGVO sieht vor:

„Jede betroffene Person hat unbeschadet eines verfügbaren verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs einschließlich des Rechts auf Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde gemäß Artikel 77 das Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, wenn sie der Ansicht ist, dass die ihr aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte infolge einer nicht im Einklang mit dieser Verordnung stehenden Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten verletzt wurden.“

B.   Ungarisches Recht

15.

§ 22 des Információs önrendelkezési jogról és az információszabadságról szóló 2011. évi CXII. törvény (Gesetz Nr. CXII von 2011 über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die Informationsfreiheit, im Folgenden: Informationsgesetz) ( 4 ) vom 26. Juli 2011 sieht vor:

„Zur Ausübung ihrer Rechte kann die betroffene Person gemäß den Bestimmungen in Kapitel VI

a)

eine Untersuchung durch die [Aufsichtsbehörde] zur Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Maßnahme des Verantwortlichen verlangen, wenn der Verantwortliche die Ausübung ihrer in § 14 festgelegten Rechte einschränkt oder einen Antrag der betroffenen Person, mit dem diese ihre Rechte auszuüben beabsichtigte, ablehnt, sowie

b)

die Durchführung eines datenschutzbehördlichen Verfahrens der [Aufsichtsb]ehörde beantragen, wenn der Verantwortliche oder gegebenenfalls dessen Bevollmächtigter oder der gemäß seinen Weisungen handelnde Auftragsverarbeiter ihrer Ansicht nach bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten die in einer Rechtsnorm oder einem verbindlichen Rechtsakt der … Union festgelegten Vorschriften zur Verarbeitung personenbezogener Daten verletzt.“

16.

§ 23 des Informationsgesetzes sieht vor:

„1.   Die betroffene Person kann sich gegen den Verantwortlichen bzw. – im Zusammenhang mit den in das Tätigkeitsprofil des Auftragsverarbeiters fallenden Verarbeitungsvorgängen – gegen den Auftragsverarbeiter an ein Gericht wenden, wenn der Verantwortliche oder gegebenenfalls dessen Bevollmächtigter oder der gemäß seinen Weisungen handelnde Auftragsverarbeiter ihrer Ansicht nach ihre personenbezogenen Daten unter Verletzung der in einer Rechtsnorm oder einem verbindlichen Rechtsakt der … Union festgelegten Vorschriften zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten verarbeitet.

4.   Eine Partei im gerichtlichen Prozess kann auch sein, wer im Übrigen keine Prozessfähigkeit besitzt. Die [Aufsichtsbehörde] kann auf Seiten der betroffenen Person dem Prozess beitreten.

5.   Gibt das Gericht der Klage statt, stellt es die Tatsache der Rechtsverletzung fest und verpflichtet den Verantwortlichen bzw. den Auftragsverarbeiter

a)

zur Einstellung des rechtswidrigen Verarbeitungsvorgangs,

b)

zur Wiederherstellung der Rechtmäßigkeit der Datenverarbeitung bzw.

c)

dazu, zur Gewährleistung der Ausübung der Rechte der betroffenen Person ein genau festgelegtes Verhalten zu befolgen,

und entscheidet gegebenenfalls zugleich auch über Ansprüche auf Ersatz materieller und immaterieller Schäden.“

III. Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

17.

Nachdem BE an der Hauptversammlung vom 26. April 2019 der Aktiengesellschaft, deren Aktionär er ist, teilgenommen hatte, forderte er diese auf, ihm den während dieser Versammlung aufgezeichneten Tonmitschnitt zu übermitteln.

18.

Die Aktiengesellschaft in ihrer Eigenschaft als für diese Daten Verantwortliche stellte BE nur die Abschnitte der Aufzeichnung zur Verfügung, die seine Beiträge wiedergaben, nicht aber jene der anderen Teilnehmer.

19.

BE, der auch über die Abschnitte verfügen wollte, in denen die Antworten der Teilnehmer auf die von ihm in der Hauptversammlung vom 26. April 2019 gestellten Fragen wiedergegeben waren, beantragte bei der Aufsichtsbehörde, festzustellen, dass das Verhalten der Aktiengesellschaft rechtswidrig sei, und der Aktiengesellschaft aufzugeben, diese Abschnitte zu übermitteln. Die Aufsichtsbehörde wies diesen Antrag mit Beschluss vom 29. November 2019 zurück.

20.

Gegen diesen Beschluss der Aufsichtsbehörde erhob BE auf der Grundlage von Art. 78 Abs. 1 DSGVO beim vorlegenden Gericht eine Klage, mit der er in erster Linie die Abänderung und hilfsweise die Aufhebung dieses Beschlusses beantragt.

21.

Parallel zur Anrufung der Aufsichtsbehörde erhob BE bei einem Zivilgericht gemäß Art. 79 Abs. 1 DSGVO Klage gegen die Verantwortliche.

22.

Während die Klage beim vorlegenden Gericht noch anhängig war, gab das Fővárosi Ítélötábla (Berufungsgericht Budapest, Ungarn) der Klage von BE auf der Grundlage dieser Bestimmung statt und stellte fest, dass der Verantwortliche das Recht von BE auf Zugang zu seinen personenbezogenen Daten verletzt habe, indem er ihm trotz seines Antrags nicht die Abschnitte der Tonaufzeichnung zur Verfügung gestellt habe, die die Antworten auf seine Fragen enthielten ( 5 ). Dieses Urteil eines zweitinstanzlichen Zivilgerichts ist rechtskräftig.

23.

Im Rahmen seiner Klage beim vorlegenden Gericht beantragt BE, das Urteil dieses Zivilgerichts zu berücksichtigen.

24.

Das vorlegende Gericht fragt sich, ob sich dem Unionsrecht entnehmen lässt, in welchem Verhältnis die jeweiligen Zuständigkeiten zum einen der nach Art. 77 Abs. 1 DSGVO mit einer Beschwerde befassten Aufsichtsbehörde und des nach Art. 78 Abs. 1 dieser Verordnung für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Beschlüsse dieser Behörde zuständigen Verwaltungsgerichts und zum anderen des Zivilgerichts zueinander stehen, das nach Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung für die Entscheidung über den Rechtsbehelf einer Person zuständig ist, die der Ansicht ist, dass die ihr aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte verletzt wurden.

25.

Es stellt nämlich fest, dass die parallele Wahrnehmung der in diesen Bestimmungen vorgesehenen Rechtsbehelfe zum Erlass einander sich widersprechender Entscheidungen in Bezug auf denselben Sachverhalt führen könne.

26.

Eine solche Situation könne eine Gefahr der Rechtsunsicherheit mit sich bringen. Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass nach den nationalen Verfahrensvorschriften der Beschluss der Aufsichtsbehörde für das Zivilgericht nicht bindend sei. Es sei daher nicht ausgeschlossen, dass ein Zivilgericht für denselben Sachverhalt eine der Aufsichtsbehörde widersprechende Entscheidung treffen könne.

27.

Im vorliegenden Fall seien die Voraussetzungen für einen Beitritt der Aufsichtsbehörde zum Zivilverfahren nach den nationalen Verfahrensvorschriften nicht erfüllt gewesen. Im Übrigen sei das Urteil eines Zivilgerichts nach diesen Vorschriften für ein Verwaltungsgericht im Rahmen der von ihm nach Art. 78 Abs. 1 DSGVO durchzuführenden Rechtmäßigkeitskontrolle des Beschlusses der Aufsichtsbehörde nicht bindend.

28.

Da die Aufsichtsbehörde und das Zivilgericht, das zuletzt entschieden habe, hinsichtlich des Vorliegens eines Verstoßes gegen die Vorschriften über den Schutz personenbezogener Daten gegensätzliche Auffassungen vertreten hätten, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob dem Unionsrecht zu entnehmende Gesichtspunkte das Verhältnis parallel verfolgter Rechtsbehelfe zueinander festlegen könnten. Es verweist zum Vergleich auf die im Bereich des Wettbewerbsrechts bestehende Regelung ( 6 ).

29.

Anders als im Sachverhalt, der dem Urteil vom 27. September 2017, Puškár ( 7 ), zugrunde gelegen habe, mache das ungarische Recht die Klageerhebung nicht von der vorherigen Ausschöpfung der verfügbaren Verwaltungsrechtsbehelfe abhängig.

30.

Das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und das Ziel, ein hohes Schutzniveau für die durch die DSGVO gewährten Rechte zu gewährleisten, setzten jedoch voraus, dass Kohärenz bei der Anwendung dieser Verordnung gewährleistet werde. Hierzu müsse festgelegt werden, welcher der beiden Rechtsbehelfe, die parallel verfolgt werden könnten, Vorrang habe.

31.

Das vorlegende Gericht weist insoweit darauf hin, dass es dem Argument der Aufsichtsbehörde zustimme, dass diese aufgrund der Befugnisse gemäß Art. 51 Abs. 1, Art. 57 Abs. 1 Buchst. a und f und Art. 58 Abs. 2 Buchst. b und c DSGVO für die Untersuchung und Überwachung der Einhaltung der in dieser Verordnung festgelegten Verpflichtungen vorrangig zuständig sei. Es schlägt dem Gerichtshof daher vor, einer Auslegung zu folgen, wonach dann, wenn wegen ein und desselben Verstoßes die Aufsichtsbehörde ein Verfahren durchführe oder durchgeführt habe, der Beschluss dieser Behörde – sowie die des Verwaltungsgerichts, das deren Rechtmäßigkeit kontrolliere – bei der Feststellung eines Verstoßes gegen die in der DSGVO vorgesehenen Regeln Vorrang habe. Folglich komme den Feststellungen der gemäß Art. 79 DSGVO tätig werdenden Zivilgerichten in den Verfahren nach den Art. 77 und 78 dieser Verordnung keine Bindungswirkung zu.

32.

Würde dagegen der Vorrang der Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde für die Feststellung einer Verletzung der Rechte aus der DSGVO nicht anerkannt, müsse das vorlegende Gericht sich im Hinblick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit als an die Schlussfolgerungen des rechtskräftigen Urteils des Zivilgerichts gebunden ansehen, ohne selbst die Rechtmäßigkeit der Feststellungen zu prüfen, die die Aufsichtsbehörde in ihrem Beschluss zum Vorliegen eines solchen Verstoßes getroffen habe. Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass dies darauf hinausliefe, dass die in Art. 78 dieser Verordnung vorgesehene Zuständigkeit inhaltsleer würde.

33.

Unter diesen Umständen hat der Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Sind Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO dahin auszulegen, dass der in Art. 77 vorgesehene verwaltungsrechtliche Rechtsbehelf ein Instrument zur Ausübung öffentlicher Rechte und die in Art. 79 vorgesehene gerichtliche Klage ein Instrument zur Ausübung privater Rechte ist? Falls die Frage bejaht wird: Folgt daraus, dass die Aufsichtsbehörde, die über die verwaltungsrechtlichen Rechtsbehelfe zu entscheiden hat, die vorrangige Zuständigkeit für die Feststellung hat, ob ein Verstoß vorliegt?

2.

Kann, falls die betroffene Person – nach deren Auffassung die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten gegen die DSGVO verstoßen hat – gleichzeitig ihr Recht auf Beschwerde nach Art. 77 Abs. 1 dieser Verordnung und ihr Recht auf Erhebung einer gerichtlichen Klage nach Art. 79 Abs. 1 derselben Verordnung ausübt, davon ausgegangen werden, dass eine Auslegung im Einklang mit Art. 47 der Charta der Grundrechte bedeutet, dass

a)

die Aufsichtsbehörde und das Gericht verpflichtet sind, das Vorliegen eines Verstoßes unabhängig zu prüfen, und dass sie daher sogar zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen können, oder dass

b)

der Beschluss der Aufsichtsbehörde, soweit sie sich auf das Vorliegen eines Verstoßes bezieht, angesichts der in Art. 51 Abs. 1 DSGVO genannten Rechte und der durch Art. 58 Abs. 2 Buchst. b und d der Verordnung eingeräumten Befugnisse Vorrang hat?

3.

Ist die durch Art. 51 Abs. 1 und Art. 52 Abs. 1 DSGVO garantierte Unabhängigkeit der Aufsichtsbehörde dahin auszulegen, dass die Aufsichtsbehörde bei der Durchführung und Entscheidung des Beschwerdeverfahrens nach Art. 77 dieser Verordnung von einem rechtskräftigen Urteil des zuständigen Gerichts nach Art. 79 der Verordnung unabhängig ist, so dass sie auch eine abweichende Entscheidung in Bezug auf ein und denselben mutmaßlichen Verstoß treffen kann?

34.

BE, die Aufsichtsbehörde, die ungarische, die tschechische, die italienische und die polnische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Am 11. Mai 2022 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, an der die Aufsichtsbehörde, die ungarische und die polnische Regierung sowie die Kommission teilgenommen haben.

IV. Würdigung

35.

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung Sache des Gerichtshofs ist, im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens der Zusammenarbeit mit den nationalen Gerichten dem vorlegenden Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem anhängigen Rechtsstreits sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat der Gerichtshof die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren ( 8 ).

36.

Weiter hindert nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Umstand, dass das vorlegende Gericht eine Frage unter Bezugnahme nur auf bestimmte Vorschriften des Unionsrechts formuliert hat, den Gerichtshof nicht daran, diesem Gericht unabhängig davon, worauf es in seinen Fragen Bezug genommen hat, alle Auslegungshinweise zu geben, die ihm bei der Entscheidung der bei ihm anhängigen Rechtssache von Nutzen sein können. Der Gerichtshof hat insoweit aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herauszuarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen ( 9 ).

37.

Ich weise darauf hin, dass das vorlegende Gericht derzeit mit einer Klage gegen einen Beschluss der Aufsichtsbehörde befasst ist, mit dem die Beschwerde von BE zurückgewiesen wurde, was dem Rechtsbehelf nach Art. 78 Abs. 1 DSGVO entspricht.

38.

Um über diese Klage entscheiden zu können, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Erläuterungen zum Zusammenspiel der Beschwerde nach Art. 77 Abs. 1 dieser Verordnung bei einer Aufsichtsbehörde und den Rechtsbehelfen nach Art. 78 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung.

39.

Konkret möchte das vorlegende Gericht in dem Stadium, in dem sich die nationalen Verfahren befinden, wissen, über welchen Spielraum es bei der ihm nach Art. 78 Abs. 1 DSGVO obliegenden Rechtmäßigkeitskontrolle des Beschlusses einer Aufsichtsbehörde verfügt, wenn zu berücksichtigen ist, dass ein nach Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung angerufenes Zivilgericht eine Entscheidung erlassen hat, die dem auf eine Beschwerde gemäß Art. 77 Abs. 1 DSGVO hin ergangenen Beschluss der Aufsichtsbehörde zuwiderläuft.

40.

Unter diesen Umständen ist meines Erachtens davon auszugehen, dass das vorlegende Gericht mit seinen Fragen vom Gerichtshof im Wesentlichen wissen will, ob Art. 78 Abs. 1 DSGVO dahin auszulegen ist, dass in dem Fall, dass eine betroffene Person von den in Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfen Gebrauch macht, das Gericht, das über einen Rechtsbehelf gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde zu entscheiden hat, an den Standpunkt gebunden ist, den ein nach der letztgenannten Bestimmung angerufenes Gericht in Bezug auf das Vorliegen einer Verletzung der Rechte, die dieser Person aus der Verordnung erwachsen, eingenommen hat.

41.

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Antwort auf diese Frage aus der Sicht des vorlegenden Gerichts die Klärung der Frage voraussetzt, ob dieses Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Rechtmäßigkeitskontrolle des Beschlusses der Aufsichtsbehörde, wenn die in Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe parallel eingelegt worden sind, einen etwaigen Vorrang des ersten gegenüber dem zweiten Rechtsbehelf in Bezug auf die Feststellung einer Verletzung der durch diese Verordnung geschützten Rechte zu berücksichtigen hat.

42.

Zur Beantwortung der Fragen des vorlegenden Gerichts ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts ihr Wortlaut sowie die Systematik und die Ziele der Regelung, zu der sie gehört, zu berücksichtigen sind ( 10 ).

43.

Was den Wortlaut der Art. 77 bis 79 DSGVO betrifft, so ergibt sich jeweils aus deren Abs. 1, dass zum einen das Recht auf Beschwerde „[u]nbeschadet eines anderweitigen verwaltungsrechtlichen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs“ besteht und dass zum anderen das Recht auf einen Rechtsbehelf gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde oder gegen Verantwortliche „unbeschadet eines anderweitigen [bzw. verfügbaren] verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelfs“ besteht.

44.

Nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen können die darin vorgesehenen Rechtsbehelfe also parallel eingelegt werden. Im Übrigen hat der Unionsgesetzgeber in den genannten Bestimmungen keine Regel über das Zusammenspiel dieser Rechtsbehelfe festgelegt. Aus der DSGVO kann daher meines Erachtens nicht abgeleitet werden, dass ein Rechtsbehelf Vorrang gegenüber den anderen hätte, wenn es darum geht, eine Verletzung der durch diese Verordnung geschützten Rechte festzustellen.

45.

Insbesondere trifft es zwar zu, dass, wie sich genauer aus Art. 51 Abs. 1 DSGVO ergibt, die Aufsichtsbehörden für die Überwachung der Anwendung dieser Verordnung zuständig sind, u. a. um die Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen bei der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten zu schützen, doch geht aus keiner Bestimmung dieser Verordnung hervor, dass diese Behörden gegenüber einem Gericht eine vorrangige Zuständigkeit für die Feststellung der Verletzung dieser Rechte hätten.

46.

Der Unionsgesetzgeber wollte betroffenen Personen somit ein vollständiges System von Rechtsbehelfen zur Verfügung stellen, in dem das Recht auf einen gerichtlichen Rechtsbehelf und die Möglichkeit, einen verwaltungsrechtlichen oder außergerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, unabhängig voneinander und ohne ein Subsidiaritätsverhältnis nebeneinander bestehen. Diese Personen können somit um Rechtsschutz nachsuchen, indem sie u. a. Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde einlegen und dann gegebenenfalls den von dieser Behörde erlassenen Beschluss vor einem Gericht anfechten und/oder einen gerichtlichen Rechtsbehelf unmittelbar gegen einen Verantwortlichen oder seinen Auftragsverarbeiter einlegen. Zwar können die Aufsichtsbehörde und das/die angerufene(n) Gericht(e) zu unterschiedlichen rechtlichen Beurteilungen hinsichtlich des Vorliegens eines Verstoßes gegen die in der DSGVO vorgesehenen Regeln gelangen, doch ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber keine Mechanismen geschaffen hat, die geeignet wären, dieser Gefahr entgegenzuwirken, da er nicht festgelegt hat, in welchem Verhältnis die in den Art. 77 bis 79 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe zueinander stehen.

47.

Insoweit ergibt sich aus der Systematik dieser Verordnung, dass der Unionsgesetzgeber zwar Regeln für das Verhältnis zum einen von Beschwerden, die bei Kontrollbehörden in verschiedenen Mitgliedstaaten eingelegt wurden, und zum anderen von Rechtsbehelfen, die bei Gerichten in verschiedenen Mitgliedstaaten eingelegt wurden, vorgesehen hat, dass er aber keine solchen Regeln vorsehen wollte, was die Wahrnehmung von Rechtsbehelfen in ein und demselben Mitgliedstaat betrifft.

48.

Insoweit weise ich darauf hin, dass Kapitel VII („Zusammenarbeit und Kohärenz“) der DSGVO Mechanismen der Amtshilfe der Aufsichtsbehörden der verschiedenen Mitgliedstaaten untereinander festlegt, die die Kohärenz der Entscheidungen dieser Behörden gewährleisten sollen. Außerdem sieht Art. 81 („Aussetzung einer Klage“) Abs. 2 dieser Verordnung vor, dass, „[wenn] ein Verfahren zu demselben Gegenstand in Bezug auf die Verarbeitung durch denselben Verantwortlichen oder Auftragsverarbeiter vor einem Gericht in einem anderen Mitgliedstaat anhängig [ist], … jedes später angerufene zuständige Gericht das bei ihm anhängige Verfahren aussetzen [kann]“. Nach Art. 81 Abs. 3 dieser Verordnung kann sich zudem, „[wenn] diese Verfahren in erster Instanz anhängig [sind], … jedes später angerufene Gericht auf Antrag einer Partei auch für unzuständig erklären, wenn das zuerst angerufene Gericht für die betreffenden Klagen zuständig ist und die Verbindung der Klagen nach seinem Recht zulässig ist“.

49.

Eine solche Möglichkeit, das Verfahren auszusetzen oder sich für unzuständig zu erklären, ist nicht vorgesehen, wenn in ein und demselben Mitgliedstaat wegen derselben Verarbeitung personenbezogener Daten eine Beschwerde bei einer Aufsichtsbehörde und gerichtliche Rechtsbehelfe eingelegt werden.

50.

Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich, dass ein nationales Gericht im Rahmen der ihm obliegenden Rechtmäßigkeitskontrolle des von einer Aufsichtsbehörde nach Art. 78 Abs. 1 DSGVO erlassenen Beschlusses nach dieser Verordnung weder eine vorrangige Zuständigkeit dieser Behörde oder eines nach Art. 79 Abs. 1 der Verordnung angerufenen Gerichts anerkennen noch der Beurteilung Vorrang einräumen muss, die diese Behörde oder dieses Gericht hinsichtlich des Vorliegens einer Verletzung der durch diese Verordnung verliehenen Rechte vorgenommen hat.

51.

Eine gegenteilige Lösung liefe meines Erachtens dem Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf zuwider, das einer Person zustehen muss, die sich gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde wendet.

52.

Aus dem Wortlaut von Art. 78 Abs. 1 DSGVO geht nämlich hervor, dass diese Bestimmung jeder natürlichen oder juristischen Person das Recht „auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde“ verleiht. Diese Bestimmung lehnt sich an Art. 58 Abs. 4 dieser Verordnung an, aus dem hervorgeht, dass die Ausübung der der Aufsichtsbehörde übertragenen Befugnisse vorbehaltlich Garantien wie beispielsweise dem Recht auf wirksame gerichtliche Rechtsbehelfe erfolgt ( 11 ). Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, findet im Bereich des Schutzes personenbezogener Daten Art. 47 der Charta u. a. in der in Art. 78 Abs. 1 DSGVO für jede natürliche oder juristische Person vorgesehenen Möglichkeit seinen Ausdruck, gegen einen sie betreffenden rechtsverbindlichen Beschluss einer Aufsichtsbehörde einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen ( 12 ).

53.

Dieses Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf impliziert, dass das Gericht, das mit einem Rechtsbehelf gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde gemäß Art. 78 Abs. 1 DSGVO befasst ist, wie es im 143. Erwägungsgrund dieser Verordnung heißt, „eine uneingeschränkte Zuständigkeit besitzen [muss], was die Zuständigkeit, sämtliche für den bei ihnen anhängigen Rechtsstreit maßgebliche Sach- und Rechtsfragen zu prüfen, einschließt“. Hieraus folgt meines Erachtens, dass dieses Gericht die Rechtmäßigkeit der seiner Kontrolle unterliegenden Entscheidung frei beurteilen können muss und zu diesem Zweck nicht an die Beurteilung gebunden sein darf, die ein auf der Grundlage von Art. 79 Abs. 1 DSGVO angerufenes Gericht zuvor in Bezug auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Verstoßes gegen die in dieser Verordnung vorgesehenen Regeln vorgenommen hat.

54.

Wenn daher das Gericht, das nach Art. 78 Abs. 1 DSGVO angerufen wird, um die Rechtmäßigkeit eines Beschlusses einer Aufsichtsbehörde zu überprüfen, über eine umfassende Beurteilungsfreiheit verfügen muss, um festzustellen, ob ein Verstoß gegen die in dieser Verordnung aufgestellten Regeln vorliegt oder nicht, so beruht dieser Umstand meines Erachtens nicht auf einer vermeintlichen Priorität, die der Aufsichtsbehörde und dann gegebenenfalls diesem Gericht gebührt, um diese Feststellung zu treffen, sondern er findet seinen Grund vielmehr in dem in Art. 47 der Charta verankerten Recht auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf, das voraussetzt, dass dieses Gericht in der Lage ist, die Rechtmäßigkeit des Beschlusses dieser Behörde frei und in völliger Unabhängigkeit zu überprüfen.

55.

Was die mit der DSGVO verfolgten Ziele angeht, weise ich darauf hin, dass die Entscheidung des Unionsgesetzgebers, den betroffenen Personen die Möglichkeit zu belassen, die in den Art. 77 bis 79 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe parallel wahrzunehmen, im Einklang mit dem Ziel dieser Verordnung steht, ein hohes Schutzniveau für die durch diese Verordnung verliehenen Rechte zu gewährleisten.

56.

Insoweit erlegt die Verordnung 2016/679, wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 2 in Verbindung mit den Erwägungsgründen 10, 11 und 13 ergibt, den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten die Verpflichtung auf, für die in Art. 16 AEUV und Art. 8 der Charta garantierten Rechte ein hohes Schutzniveau zu gewährleisten ( 13 ).

57.

Es ist jedoch klarzustellen, dass die durch die DSGVO eröffnete Möglichkeit, parallele Rechtsbehelfe in Bezug auf dieselbe Verarbeitung personenbezogener Daten einzulegen, einen Nachteil haben kann, nämlich die Rechtsunsicherheit, die in einem Mitgliedstaat, wie die vorliegende Rechtssache veranschaulicht, durch einander sich widersprechende Entscheidungen verursacht werden kann. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist in dieser Verordnung die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen bei den Aufsichtsbehörden oder den Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten zwar vom Unionsgesetzgeber angesprochen worden, doch gilt dies nicht für sich widersprechende Entscheidungen innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats.

58.

Unter diesen Umständen obliegt es jedem Mitgliedstaat, verfahrensrechtliche Instrumente einzuführen, mit denen so weit wie möglich verhindert werden kann, dass in Bezug auf dieselbe Verarbeitung personenbezogener Daten einander widersprechende Entscheidungen ergehen.

59.

In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass es, wenn es keine einschlägigen Unionsregeln gibt, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats ist, die verfahrensrechtlichen Modalitäten der in den Art. 77 bis 79 DSGVO vorgesehenen Rechtsbehelfe festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese Modalitäten, wenn sie dem Unionsrecht unterliegende Sachverhalte regeln, nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) ( 14 ).

60.

In diesem Zusammenhang haben nach gefestigter Rechtsprechung des Gerichtshofs die Gerichte der Mitgliedstaaten gemäß dem in Art. 4 Abs. 3 EUV genannten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den gerichtlichen Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsen; durch Art. 19 Abs. 1 EUV wird den Mitgliedstaaten im Übrigen aufgegeben, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen ein wirksamer gerichtlicher Rechtsschutz gewährleistet ist ( 15 ).

61.

Folglich müssen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Modalitäten gerichtlicher Rechtsbehelfe zum Schutz der durch die DSGVO eingeräumten Rechte die Beachtung des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gewährleisten. Dieses Recht ist in Art. 47 der Charta verankert, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt ( 16 ).

62.

Die Merkmale der in dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe sind daher im Einklang mit Art. 47 der Charta zu bestimmen.

63.

Ein effektiver gerichtlicher Rechtsschutz besteht aber meines Erachtens nicht nur darin, den betroffenen Personen die zum Schutz ihrer Rechte aus der DSGVO erforderlichen Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen. Bestehen nebeneinander mehrere Rechtsbehelfe, die parallel verfolgt werden können, muss auch die Rechtssicherheit des erlangten Rechtsschutzes gewährleistet sein. Da einander widersprechende Entscheidungen über das Vorliegen eines Verstoßes gegen die in dieser Verordnung vorgesehenen Regeln nicht dazu angetan sind, einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz der betroffenen Personen zu gewährleisten, müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen treffen, um solche einander sich widersprechende Entscheidungen zu verhindern.

64.

Wenn seitens der Mitgliedstaaten keine Verfahrensmechanismen eingeführt würden, die es ermöglichten, das Zusammenspiel der verschiedenen Rechtsbehelfe zu regeln, könnten die mit der DSGVO verfolgten Ziele der Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes für betroffene Personen sowie eines hohen und gleichmäßigen Schutzniveaus der durch diese Verordnung eingeräumten Rechte nicht in vollem Umfang erreicht werden.

65.

Insoweit ergibt sich aus dem zehnten Erwägungsgrund der DSGVO, dass mit dieser u. a. erreicht werden soll, dass die Vorschriften zum Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von natürlichen Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten unionsweit gleichmäßig und einheitlich angewandt werden und dass die Hemmnisse für den Verkehr personenbezogener Daten in der Union beseitigt werden ( 17 ).

66.

Dieses Erfordernis einer gleichmäßigen und einheitlichen Anwendung der in der DSGVO vorgesehenen Regeln könnte jedoch gefährdet werden, wenn die Unterschiede im Schutzniveau zwischen den Mitgliedstaaten, die mit dieser Verordnung beseitigt werden sollen, innerhalb ein und desselben Mitgliedstaats fortbestehen könnten. Das genannte Erfordernis muss daher nicht nur auf zwischenstaatlicher Ebene, sondern auch in Bezug auf die in jedem Mitgliedstaat getroffenen Entscheidungen in den Blick genommen werden.

67.

Jeder Mitgliedstaat muss daher dafür sorgen, dass das Vorhandensein von Rechtsbehelfen, die von den betroffenen Personen parallel eingelegt werden können, die Wirksamkeit des Schutzes der ihnen von der DSGVO eingeräumten Rechte nicht in Frage stellt. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, darüber zu befinden, welche Verfahrensmechanismen ihnen am geeignetsten erscheinen, um das Zusammenspiel der in den Art. 77 bis 79 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe zu ermöglichen.

68.

So könnten die Mitgliedstaaten etwa vorsehen, dass die betroffenen Personen verpflichtet wären, vor der Einleitung eines Gerichtsverfahrens die Verwaltungsrechtsbehelfe auszuschöpfen ( 18 ).

69.

Die Mitgliedstaaten könnten auch vorsehen, dass ein Gericht, das mit einem Rechtsbehelf nach Art. 79 Abs. 1 DSGVO befasst wird, während noch ein Beschwerdeverfahren nach Art. 77 Abs. 1 dieser Verordnung oder ein gerichtlicher Rechtsbehelf nach Art. 78 Abs. 1 dieser Verordnung anhängig ist, das bei ihm anhängige Verfahren aussetzen kann oder muss, bis in dem einen oder anderen dieser Verfahren eine Entscheidung ergangen ist.

70.

Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass das Recht auf Zugang zu den Gerichten kein absolutes Recht ist und daher verhältnismäßigen, einem legitimen Zweck dienenden und dieses Recht nicht in seinem Wesensgehalt antastenden Beschränkungen unterworfen sein kann ( 19 ). Die Aussetzung eines Verfahrens kann insoweit eine Lösung darstellen, um zu vermeiden, dass einander widersprechende Entscheidungen ergehen, die geeignet sind, die Rechtssicherheit zu beeinträchtigen ( 20 ).

V. Ergebnis

71.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Vorlagefragen des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtischer Gerichtshof, Ungarn) wie folgt zu antworten:

1.

Art. 78 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung) in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union

ist dahin auszulegen, dass

das Gericht, das über einen Rechtsbehelf gegen den Beschluss einer Aufsichtsbehörde zu entscheiden hat, wenn eine betroffene Person die in Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehenen Rechtsbehelfe einlegt, an die Entscheidung eines nach der letztgenannten Bestimmung angerufenen Gerichts zum Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Verletzung der Rechte, die dieser Person durch die genannte Verordnung verliehen werden, nicht gebunden ist.

2.

Art. 77 Abs. 1 und Art. 79 Abs. 1 der Verordnung 2016/679

sind dahin auszulegen, dass

die darin vorgesehenen Rechtsbehelfe parallel eingelegt werden können, ohne dass einem von ihnen gegenüber dem anderen nach dieser Verordnung ein Vorrang zukommt.

3.

In Ermangelung einer unionsrechtlichen Regelung über das Zusammenspiel der in den Art. 77 bis 79 der Verordnung 2016/679 vorgesehenen Rechtsbehelfe obliegt es den Mitgliedstaaten, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie und sowohl unter Berücksichtigung des Ziels, ein hohes und gleichmäßiges Schutzniveau für die durch diese Verordnung verliehenen Rechte zu gewährleisten, als auch in Anbetracht des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf auf nationaler Ebene für das Zusammenspiel dieser Rechtsbehelfe die Mechanismen einzurichten, die erforderlich sind, um zu vermeiden, dass es in einem Mitgliedstaat einander sich widersprechende Entscheidungen über ein und dieselbe Verarbeitung personenbezogener Daten geben kann.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. 2016, L 119, S. 1, berichtigt in ABl. 2018, L 127, S. 2, im Folgenden: DSGVO.

( 3 ) Im Folgenden: Charta.

( 4 ) Magyar Közlöny 2011, évi 88. száma.

( 5 ) Die Aufsichtsbehörde hat jedoch in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass das Zivilgericht, da BE das Protokoll der Versammlung erhalten habe, der Ansicht gewesen sei, dass kein für die Zuerkennung von Schadensersatz hinreichender Verstoß gegen das Zugangsrecht vorliege.

( 6 ) Insoweit vertritt das vorlegende Gericht die Ansicht, dass nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. November 2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union (ABl. 2014, L 349, S. 1) die Mitgliedstaaten gewährleisteten, dass eine in einer bestandskräftigen Entscheidung einer nationalen Wettbewerbsbehörde festgestellte Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht für die Zwecke eines Verfahrens über eine Klage auf Schadensersatz als unwiderlegbar festgestellt gelte.

( 7 ) C‑73/16, im Folgenden: Urteil Puškár, EU:C:2017:725.

( 8 ) Vgl. u. a. Urteil vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Verjährungsfrist) (C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 9 ) Vgl. u. a. Urteil vom 10. Februar 2022, Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld (Verjährungsfrist) (C‑219/20, EU:C:2022:89, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 10 ) Vgl. insbesondere Urteil vom 28. April 2022, Meta Platforms Ireland (C‑319/20, EU:C:2022:322, Rn. 62).

( 11 ) Vgl. auch 141. Erwägungsgrund dieser Verordnung, wonach „[j]ede betroffene Person … das Recht haben [sollte], bei einer einzigen Aufsichtsbehörde insbesondere in dem Mitgliedstaat ihres gewöhnlichen Aufenthalts eine Beschwerde einzureichen und gemäß Artikel 47 der Charta einen wirksamen gerichtlichen Rechtsbehelf einzulegen, wenn sie sich in ihren Rechten gemäß dieser Verordnung verletzt sieht oder wenn die Aufsichtsbehörde auf eine Beschwerde hin nicht tätig wird, eine Beschwerde teilweise oder ganz abweist oder ablehnt oder nicht tätig wird, obwohl dies zum Schutz der Rechte der betroffenen Person notwendig ist“.

( 12 ) Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 15. Juni 2021, Facebook Ireland u. a. (C‑645/19, EU:C:2021:483, Rn. 69).

( 13 ) Vgl. u. a. Urteil vom 15. Juni 2021, Facebook Ireland u. a. (C‑645/19, EU:C:2021:483, Rn. 45).

( 14 ) Vgl. u. a. Urteil vom 2. Juni 2022, Skeyes (C‑353/20, EU:C:2022:423, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 15 ) Vgl. u. a. Urteil Puškár (Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 16 ) Vgl. entsprechend Urteil Puškár (Rn. 59 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 17 ) Vgl. u. a. Urteile vom 15. Juni 2021, Facebook Ireland u. a. (C‑645/19, EU:C:2021:483, Rn. 64), vom 22. Juni 2021, Latvijas Republikas Saeima (Strafpunkte) (C‑439/19, EU:C:2021:504, Rn. 83), und vom 28. April 2022, Meta Platforms Ireland (C‑319/20, EU:C:2022:322, Rn. 52). Das Erfordernis der Kohärenz beim Niveau des Schutzes der durch die DSGVO eingeräumten Rechte kommt in anderen Erwägungsgründen dieser Verordnung zum Ausdruck, wie beispielsweise in den Erwägungsgründen 7, 9, 13, 123, 129, 133 und 135. Vgl. zum Zusammenhang zwischen einem hohen und einem gleichmäßigen Schutzniveau der durch die DSGVO eingeräumten Rechte auch die Schlussanträge des Generalanwalts Bobek in der Rechtssache Facebook Ireland u. a. (C‑645/19, EU:C:2021:5, Nrn. 95 bis 97).

( 18 ) Vgl. Urteil Puškár, in dem der Gerichtshof entschieden hat, dass „die Pflicht zur Ausschöpfung der verfügbaren Verwaltungsrechtsbehelfe die Gerichte von Rechtsstreitigkeiten entlasten [soll], die unmittelbar vor der Verwaltungsbehörde entschieden werden können, und die Effizienz der Gerichtsverfahren in Bezug auf Rechtsstreitigkeiten erhöhen [soll], in denen trotz einer vorherigen Beschwerde Klage erhoben wird. Mit dieser Pflicht werden daher legitime dem Gemeinwohl dienende Zielsetzungen verfolgt“ (Rn. 67).

( 19 ) Vgl. insoweit für die Mehrwertsteuer Urteil vom 24. Februar 2022, SC Cridar Cons (C‑582/20, EU:C:2022:114, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 20 ) Vgl. insoweit für die Mehrwertsteuer Urteil vom 24. Februar 2022, SC Cridar Cons (C‑582/20, EU:C:2022:114, Rn. 38).

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