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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62020CJ0055

Urteil des Gerichtshofs (Dritte Kammer) vom 13. Januar 2022.
Minister Sprawiedliwości gegen Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego und Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie.
Vorabentscheidungsersuchen des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Zulässigkeit – Art. 267 AEUV – Begriff ‚nationales Gericht‘ – Disziplinargericht der Anwaltskammer – Disziplinarermittlungen gegen einen Rechtsanwalt – Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, mit der ein Disziplinarvergehen verneint und die Untersuchung eingestellt wird – Beschwerde des Justizministers beim Disziplinargericht der Anwaltskammer – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Art. 4 Nr. 6 und Art. 10 Abs. 6 – Genehmigungsregelung – Widerruf der Genehmigung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unanwendbarkeit.
Rechtssache C-55/20.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2022:6

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

13. Januar 2022 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zulässigkeit – Art. 267 AEUV – Begriff ‚nationales Gericht‘ – Disziplinargericht der Anwaltskammer – Disziplinarermittlungen gegen einen Rechtsanwalt – Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, mit der ein Disziplinarvergehen verneint und die Untersuchung eingestellt wird – Beschwerde des Justizministers beim Disziplinargericht der Anwaltskammer – Richtlinie 2006/123/EG – Dienstleistungen im Binnenmarkt – Art. 4 Nr. 6 und Art. 10 Abs. 6 – Genehmigungsregelung – Widerruf der Genehmigung – Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Unanwendbarkeit“

In der Rechtssache C‑55/20

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau, Polen) mit Entscheidung vom 24. Januar 2020, beim Gerichtshof eingegangen am 31. Januar 2020, in dem Verfahren auf Betreiben des

Minister Sprawiedliwości,

Beteiligte:

Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego,

Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Präsidentin der Zweiten Kammer A. Prechal (Berichterstatterin) in Wahrnehmung der Aufgaben der Präsidentin der Dritten Kammer sowie der Richter J. Passer und F. Biltgen, der Richterin L. S. Rossi und des Richters N. Wahl,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

des Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego, vertreten durch R. Hernand und B. Święczkowski,

der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

der niederländischen Regierung, vertreten durch K. Bulterman und J. M. Hoogveld als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch L. Armati, K. Herrmann, S. L. Kalėda und H. Støvlbæk, dann durch L. Armati, K. Herrmann und S. L. Kalėda als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 17. Juni 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt (ABl. 2006, L 376, S. 36) sowie von Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Verfahrens auf Betreiben des Minister Sprawiedliwości (Justizminister, Polen) gegen die Entscheidung eines Disziplinarbeauftragten, mit der eine gegen einen Rechtsanwalt eingeleitete Untersuchung eingestellt wurde, nachdem kein diesem zuzurechnendes Disziplinarvergehen festgestellt worden war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 2006/123

3

In den Erwägungsgründen 33 und 39 der Richtlinie 2006/123 heißt es:

„(33)

Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen einen weiten Bereich von Tätigkeiten, die einem ständigen Wandel unterworfen sind, … Die von dieser Richtlinie erfassten Dienstleistungen umfassen ferner Dienstleistungen, die sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucher angeboten werden, wie etwa Rechts- oder Steuerberatung, …

(39)

Der Begriff der Genehmigungsregelung sollte unter anderem die Verwaltungsverfahren, in denen Genehmigungen, Lizenzen, Zulassungen oder Konzessionen erteilt werden, erfassen sowie die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer oder in einem Berufsregister, einer Berufsrolle oder einer Datenbank, die Zulassung durch eine Einrichtung oder den Besitz eines Ausweises, der die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Beruf bescheinigt, falls diese Voraussetzung dafür sind, eine Tätigkeit ausüben zu können. …“

4

Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie bestimmt:

„Diese Richtlinie berührt nicht das Strafrecht der Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen jedoch nicht unter Umgehung der Vorschriften dieser Richtlinie die Dienstleistungsfreiheit dadurch einschränken, dass sie Strafrechtsbestimmungen anwenden, die die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit gezielt regeln oder beeinflussen.“

5

Art. 3 Abs. 1 dieser Richtlinie sieht vor:

„Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung. …“

6

In Art. 4 dieser Richtlinie heißt es:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:

1.

‚Dienstleistung‘ jede von Artikel [57 AEUV] erfasste selbstständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird;

6.

‚Genehmigungsregelung‘ jedes Verfahren, das einen Dienstleistungserbringer oder ‑empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken;

7.

‚Anforderungen‘ alle Auflagen, Verbote, Bedingungen oder Beschränkungen, die in den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten festgelegt sind oder sich aus der Rechtsprechung, der Verwaltungspraxis, den Regeln von Berufsverbänden oder den kollektiven Regeln, die von Berufsvereinigungen oder sonstigen Berufsorganisationen in Ausübung ihrer Rechtsautonomie erlassen wurden, ergeben; …

…“

7

Der in Abschnitt 1 („Genehmigungen“) von Kapitel III („Niederlassungsfreiheit der Dienstleistungserbringer“) enthaltene Art. 9 sieht in seinem Abs. 3 vor:

„Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.“

8

Der im selben Abschnitt enthaltene Art. 10 („Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung“) der Richtlinie 2006/123 sieht in seinem Abs. 6 vor:

„Abgesehen von dem Fall, in dem eine Genehmigung erteilt wird, sind alle anderen Entscheidungen der zuständigen Behörden, einschließlich der Ablehnung oder des Widerrufs einer Genehmigung, ausführlich zu begründen; sie sind einer Überprüfung durch ein Gericht oder eine andere Rechtsbehelfsinstanz zugänglich.“

9

Abschnitt 2 von Kapitel III der Richtlinie 2006/123, der deren Art. 14 und 15 enthält, betrifft die unzulässigen oder zu prüfenden Anforderungen an die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit.

Richtlinie 98/5/EG

10

Im siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 98/5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (ABl. 1998, L 77, S. 36), heißt es:

„Diese Richtlinie sieht entsprechend ihrer Zielsetzung davon ab, rein innerstaatliche Situationen zu regeln, und berührt die nationalen Berufsregeln nur insoweit, als dies notwendig ist, damit sie ihren Zweck tatsächlich erreichen kann. Insbesondere berührt diese Richtlinie nicht die nationalen Regelungen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf und für die Ausübung dieses Berufs unter der Berufsbezeichnung des Aufnahmestaats.“

11

Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Diese Richtlinie soll die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs als Selbständiger oder abhängig Beschäftigter in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde, erleichtern.“

Polnisches Recht

Gesetz über die Rechtsanwaltschaft

12

Art. 9 der Ustawa z dnia 26 maja 1982 r. – Prawo o adwokaturze (Gesetz über die Rechtsanwaltschaft) vom 26. Mai 1982 (Dz. U. Nr. 16, Position 124) in geänderter Fassung sieht vor:

„1.   Die Organe der Rechtsanwaltskammer sind: die Vollversammlung der Rechtsanwaltskammer, der Oberste Anwaltsrat, das Hohe Disziplinargericht, der Disziplinarbeauftragte und der Hohe Aufsichtsausschuss.

2.   Nur Rechtsanwälte können Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer sein.“

13

Art. 11 dieses Gesetzes sieht vor:

„1.   Die Wahlen zu den Organen der Rechtsanwaltskammer und zu den Organen der Bezirksrechtsanwaltskammern … erfolgen in geheimer Abstimmung ohne Begrenzung der Kandidatenzahl.

2.   Die Amtszeit der Organe der Rechtsanwaltskammer und der Organe der Bezirksrechtsanwaltskammern … beträgt vier Jahre; sie sind jedoch verpflichtet, bis zur Konstituierung neu gewählter Organe tätig zu sein.

4.   Einzelne Mitglieder der in Abs. 1 genannten Organe können vor Ablauf ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, abberufen werden.

…“

14

Art. 39 dieses Gesetzes bestimmt:

„Organe der Bezirksrechtsanwaltskammer sind:

1)

die Versammlung der Bezirksrechtsanwaltskammer, die aus den den Beruf ausübenden Anwälten und den Vertretern der anderen Anwälte besteht;

3)

der Disziplinarrat;

3a) der Disziplinarbeauftragte;

…“

15

In Art. 40 dieses Gesetzes heißt es:

„Zu den Aufgaben der Versammlung der Bezirksrechtsanwaltskammer gehören:

2)

die Wahl des Vorsitzenden der Rechtsanwaltskammer, des Vorsitzenden des Disziplinarrats, des Disziplinarbeauftragten … sowie der Mitglieder und stellvertretenden Mitglieder des … Disziplinarrats …;

…“

16

In Art. 51 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft heißt es:

„1.   Der Disziplinarrat besteht aus einem Vorsitzenden, einem stellvertretenden Vorsitzenden, Mitgliedern und stellvertretenden Mitgliedern.

2.   Der Disziplinarrat entscheidet in vollständiger Besetzung mit drei Richtern.“

17

Art. 58 dieses Gesetzes bestimmt:

„Der Tätigkeitsbereich des Obersten Anwaltsrats umfasst:

13)

die Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung einzelner Mitglieder der Organe der Bezirksrechtsanwaltskammern und der Organe der Rechtsanwaltsvereinigungen, mit Ausnahme der Mitglieder der Disziplinargerichte, wegen Verletzung grundlegender Pflichten und die Beantragung ihres Ausschlusses bei den zuständigen Behörden;

…“

18

Art. 80 dieses Gesetzes bestimmt:

„Rechtsanwälte …, deren Verhalten gegen das Gesetz, die ethischen Grundsätze oder die Würde des Berufsstandes verstößt oder die ihre Berufspflichten verletzen, sind disziplinarrechtlich verantwortlich …“

19

In Art. 81 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:

„Disziplinarstrafen sind:

1)

Verwarnung;

2)

Verweis;

3)

Geldstrafe;

4)

Aussetzung des Rechts auf berufliche Betätigung für einen Zeitraum von drei Monaten bis zu fünf Jahren;

5)

aufgehoben

6)

Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer.“

20

Art. 82 Abs. 2 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft bestimmt:

„Der Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer hat die Streichung aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis zur Folge, wobei für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Rechtskraft des Ausschlusses aus der Rechtsanwaltskammer kein Recht besteht, eine erneute Eintragung zu beantragen.“

21

Art. 88a Abs. 1 und 4 dieses Gesetzes sieht vor:

„1.   Die Entscheidungen und Beschlüsse, mit denen das Disziplinarverfahren abgeschlossen wird, werden den Verfahrensbeteiligten sowie dem Justizminister von Amts wegen zusammen mit ihrer Begründung zugestellt.

4.   Gegen Entscheidungen und Beschlüsse, mit denen ein Disziplinarverfahren abgeschlossen wird, können die Verfahrensbeteiligten und der Justizminister innerhalb von vierzehn Tagen nach Zustellung einer Abschrift der Entscheidung oder des Beschlusses zusammen mit ihrer bzw. seiner Begründung und einer Rechtsmittelbelehrung über die Frist und die Art und Weise der Einlegung eines Rechtsmittels Beschwerde einlegen.“

22

In Art. 89 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:

„Das Disziplinargericht ist in seinen Entscheidungen unabhängig.“

23

Art. 91 Abs. 2 und 3 dieses Gesetzes sieht vor:

„2.   Das Disziplinargericht verhandelt alle Rechtssachen als Gericht erster Instanz, mit Ausnahme … der Prüfung der Beschwerde gegen eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, kein Disziplinarverfahren einzuleiten oder ein Disziplinarverfahren einzustellen.

3.   Das Hohe Disziplinargericht ist zuständig

1)

als Gericht zweiter Instanz für Rechtssachen, die in erster Instanz vom Disziplinargericht verhandelt werden;

…“

24

Art. 91a Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft lautet:

„Die Verfahrensbeteiligten, der Justizminister, der Bürgerbeauftragte und der Vorsitzende des Hohen Disziplinargerichts der Rechtsanwaltskammer können beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eine Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidungen einlegen, die vom Hohen Disziplinargericht in zweiter Instanz erlassen wurden.“

25

Art. 91b dieses Gesetzes bestimmt:

„Eine Rechtsbeschwerde kann wegen einer offensichtlichen Verletzung des Rechts sowie im Fall einer offensichtlich unverhältnismäßigen Disziplinarstrafe eingelegt werden.“

26

Art. 91c dieses Gesetzes sieht vor:

„Eine Rechtsbeschwerde ist innerhalb von dreißig Tagen nach Zustellung der Entscheidung zusammen mit ihrer Begründung über das Hohe Disziplinargericht beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einzulegen.“

27

In Art. 95n des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft heißt es:

„In Rechtssachen, die nicht gesetzlich geregelt sind, gelten für Disziplinarverfahren die folgenden Bestimmungen entsprechend:

1)

Kodeks postępowania karnego (Strafprozessordnung);

…“

Strafprozessordnung

28

Art. 100 § 8 der Strafprozessordnung lautet:

„Nach Verkündung oder Zustellung der Entscheidung oder Verfügung sind die Verfahrensbeteiligten über ihr Recht, Rechtsmittel einzulegen, sowie über die Frist und die Art und Weise der Einlegung von Rechtsmitteln zu belehren oder darauf hinzuweisen, dass die Entscheidung bzw. der Beschluss nicht mit Rechtsmitteln angefochten werden kann.“

29

Art. 521 der Strafprozessordnung sieht vor:

„Sowohl der Prokurator Generalny (Generalstaatsanwalt) als auch der Rzecznik Praw Obywatelskich (Bürgerbeauftragte) können gegen jede rechtskräftige Entscheidung des Gerichts, die ein Verfahren beendet, Rechtsbeschwerde einlegen.“

30

Art. 525 der Strafprozessordnung bestimmt:

„§ 1   Der Antragsteller legt die Rechtsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) über das Berufungsgericht ein.

§ 2   Im Fall des Art. 521 wird die Rechtsbeschwerde direkt beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) eingelegt.“

Gesetz über die Staatsanwaltschaft

31

In Art. 1 § 2 der Ustawa z dnia 28 stycznia 2016 r. – Prawo o prokuraturze (Gesetz über die Staatsanwaltschaft) vom 28. Januar 2016 (Dz. U. von 2016, Position 177) heißt es:

„Der Generalstaatsanwalt ist die höchste Instanz der Staatsanwaltschaft. Die Funktion des Generalstaatsanwalts wird vom Justizminister ausgeübt. …“

Gesetz über das Oberste Gericht

32

Gemäß der Ustawa z dnia 8 grudnia 2017 r. o Sądzie Najwyższym (Gesetz über das Oberste Gericht) vom 8. Dezember 2017 (Dz. U. von 2018, Position 5) besteht der Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) aus verschiedenen Kammern, u. a. der Strafkammer und der Disziplinarkammer.

33

Gemäß Art. 24 dieses Gesetzes fallen in die Zuständigkeit der Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) u. a. die Rechtssachen, die im Hinblick auf die Strafprozessordnung geprüft werden, und die anderen Rechtssachen, auf die die Bestimmungen der Strafprozessordnung anwendbar sind.

34

Nach Art. 27 § 1 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich dieses Gesetzes fallen in die Zuständigkeit der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) u. a. die Rechtssachen, die gemäß dem Gesetz über die Rechtsanwaltschaft geführte Disziplinarverfahren betreffen.

Rechtsprechung der Straf- und der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht)

35

Die Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) sowie das Schrifttum haben bisher den Standpunkt vertreten, dass der Generalstaatsanwalt und der Bürgerbeauftragte nicht befugt sind, eine Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidungen eines anwaltlichen Disziplinargerichts einzulegen, mit denen eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, kein Disziplinarverfahren einzuleiten, bestätigt wird. Das Gesetz über die Rechtsanwaltschaft regele die Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde abschließend, und gemäß Art. 95n dieses Gesetzes komme Art. 521 der Strafprozessordnung daher nicht zur Anwendung.

36

Allerdings hat die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in einem Urteil vom 27. November 2019 den gegenteiligen Standpunkt eingenommen und entschieden, dass Art. 521 der Strafprozessordnung auf solche Entscheidungen eines anwaltlichen Disziplinargerichts anwendbar sei, und folglich eine Rechtsbeschwerde für zulässig erklärt, die vom Generalstaatsanwalt gegen einen Beschluss des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau, Polen) eingelegt wurde, mit der die Entscheidung des Disziplinarbeauftragten, eine gegen einen Anwalt geführte Disziplinaruntersuchung einzustellen, bestätigt wurde.

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

37

Mit Schreiben vom 20. Juli 2017 ersuchte der Prokurator Krajowy – Pierwszy Zastępca Prokuratora Generalnego (Landesstaatsanwalt – Erster Vertreter des Generalstaatsanwalts, Polen) (im Folgenden: Landesstaatsanwalt) den Rzecznik Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinarbeauftragter der Rechtsanwaltskammer Warschau, im Folgenden: Disziplinarbeauftragter) um Einleitung eines Disziplinarverfahrens gegen Rechtsanwalt R. G., weil dieser mit bestimmten öffentlichen Äußerungen die Grenzen der Meinungsfreiheit von Rechtsanwälten überschritten und wegen der darin zum Ausdruck gebrachten Drohungen gegenüber dem Justizminister ein Disziplinarvergehen begangen habe.

38

Mit Entscheidung vom 7. November 2017 lehnte es der Disziplinarbeauftragte ab, Disziplinarermittlungen einzuleiten. Auf die Beschwerde des Landesstaatsanwalts wurde diese Entscheidung mit Beschluss des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau, im Folgenden auch einfach: Disziplinargericht) vom 23. Mai 2018 aufgehoben und die Sache infolgedessen für eine erneute Prüfung an den Disziplinarbeauftragten zurückverwiesen. Mit Entscheidung vom 18. Juni 2018 leitete dieser Disziplinarermittlungen gegen Rechtsanwalt R. G. ein, die mit Entscheidung vom 28. November 2018 eingestellt wurden, in der der Disziplinarbeauftragte ein Disziplinarvergehen seitens des Betroffenen verneinte. Auf die Beschwerden des Justizministers und des Landesstaatsanwalts hob der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) am 13. Juni 2019 diese Entscheidung des Disziplinarbeauftragten auf, und die Sache wurde ein weiteres Mal an diesen zurückverwiesen.

39

Mit Entscheidung vom 8. August 2019 stellte der Disziplinarbeauftragte die Disziplinarermittlungen erneut ein, nachdem er festgestellt hatte, dass die Tatbestandsmerkmale eines Disziplinarvergehens seitens des Rechtsanwalts R. G. nicht erfüllt seien. Der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) ist derzeit mit einer Beschwerde des Justizministers gegen diese letztgenannte Entscheidung befasst.

40

In diesem Kontext weist der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) vorab darauf hin, dass er seiner Ansicht nach alle Voraussetzungen erfülle, die erforderlich seien, um als Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden zu können. Er sei deshalb befugt, dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.

41

Der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) fragt sich als Erstes, ob Art. 47 der Charta im Kontext eines Verfahrens wie dem, mit dem er im Ausgangsverfahren befasst ist, Anwendung findet. Seiner Ansicht nach wäre dies der Fall, wenn davon auszugehen wäre, dass dieses Verfahren unter die Regelung über die Eintragung in das Rechtsanwaltsverzeichnis fällt, bei der es sich nach Auffassung des Disziplinargerichts um eine Genehmigungsregelung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 und deren Kapitel III handelt. Denn dieses Verfahren könne gegebenenfalls zu einem Ausschluss des betreffenden Rechtsanwalts aus der Rechtsanwaltskammer und damit zu dessen Streichung aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis führen. Eine solche Streichung würde nämlich einen Widerruf der Genehmigung im Sinne von Art. 10 Abs. 6 dieser Richtlinie darstellen.

42

Als Zweites und für den Fall, dass Art. 47 der Charta somit im Kontext des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, stellt sich der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) in mehrfacher Hinsicht Fragen zur Auslegung dieser Bestimmung.

43

Erstens stellt er fest, dass, wenn angenommen würde, dass eine Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung, die er im Ausgangsverfahren zu erlassen habe, zulässig wäre, gemäß Art. 27 § 1 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich des Gesetzes über das Oberste Gericht die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) für die Entscheidung darüber zuständig wäre. Dem Urteil des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) vom 5. Dezember 2019, das nach dem Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. (Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) (C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982), ergangen sei, sei jedoch zu entnehmen, dass diese Kammer kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta sei.

44

Deshalb möchte der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau), der, sobald er seine Entscheidung im Ausgangsrechtsstreit erlassen haben wird, die Verfahrensbeteiligten über die für sie bestehende Möglichkeit zu informieren hat, gegen diese Entscheidung Beschwerde einzulegen, wissen, ob er dabei Art. 27 § 1 Nr. 1 Buchst. b erster Gedankenstrich des Gesetzes über das Oberste Gericht unangewendet zu lassen hat und infolgedessen die Verfahrensbeteiligten über die Möglichkeit informieren muss, Rechtsbeschwerde bei der Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) einzulegen. Für den Fall, dass eine solche Rechtsbeschwerde tatsächlich eingelegt wird, möchte das Disziplinargericht auch wissen, ob es dann verpflichtet ist, sie an diese Strafkammer anstatt an die Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) weiterzuleiten.

45

Zweitens fragt sich der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau), ob, wenn er die Verfahrensbeteiligten über die Möglichkeit einer Beschwerde gegen seine zukünftige Entscheidung zu informieren hat, er gegebenenfalls die in Rn. 36 des vorliegenden Urteils genannte Rechtsprechung der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) außer Acht zu lassen hat, wonach in Rechtssachen wie der im Ausgangsverfahren anhängigen der Generalstaatsanwalt eine Rechtsbeschwerde erheben kann, und er sich insoweit an die in Rn. 35 des vorliegenden Urteils genannte ständige Rechtsprechung der Strafkammer dieses Gerichts halten muss, wonach eine Rechtsbeschwerde ausgeschlossen ist.

46

Drittens stellt der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) fest, dass die Beschwerde, mit der er befasst ist, vom Justizminister erhoben worden sei. Einer der Gesichtspunkte, die den Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) in seinem oben genannten Urteil vom 5. Dezember 2019 zu der Entscheidung veranlasst hätten, dass die Disziplinarkammer dieses Gerichts kein unabhängiges und unparteiisches Gericht sei, sei gerade die Abhängigkeit dieser Kammer von der Exekutive und der vom Justizminister auf deren Zusammensetzung ausgeübte Einfluss gewesen. Angesichts dieser Umstände ist das Disziplinargericht der Auffassung, dass, selbst wenn er in Anbetracht der Antworten des Gerichtshofs auf die in den Rn. 44 und 45 des vorliegenden Urteils aufgeworfenen Fragen entscheiden müsste, dass eine Beschwerde im vorliegenden Fall nicht möglich sei und dass etwaige Rechtsbeschwerden gegen die Zurückweisung dieser Beschwerde an die Strafkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) weitergeleitet werden müssten, weiterhin die Gefahr bestehe, dass eine solche vom Justizminister in seiner Eigenschaft als Generalstaatsanwalt bei der Disziplinarkammer des Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) erhobene Rechtsbeschwerde für zulässig erklärt und von dieser geprüft werde. Deshalb fragt sich das Disziplinargericht, ob, um einer solchen Eventualität zu begegnen, es eventuell berechtigt sei, nicht über die derzeit bei ihm anhängige Beschwerde zu entscheiden.

47

Unter diesen Umständen hat der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Finden die Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2006/123, insbesondere deren Art. 10 Abs. 6, Anwendung auf ein Disziplinarverfahren gegen Rechtsanwälte und ausländische Juristen, die in die Liste der Rechtsanwälte eingetragen sind, in dessen Rahmen insbesondere verfügt werden kann, dass ein Rechtsanwalt eine Geldstrafe zahlen muss, sein Recht zur Berufsausübung ausgesetzt wird oder er aus der Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen wird bzw. ein ausländischer Rechtsanwalt eine Geldstrafe zahlen muss, sein Recht, in Polen rechtlichen Beistand zu leisten, ausgesetzt wird oder ihm diese Beistandsleistungen in Polen verboten werden? Falls diese Frage bejaht wird: Finden auf das vorstehend genannte Verfahren vor den anwaltlichen Disziplinargerichten die Bestimmungen der Charta, insbesondere ihr Art. 47, Anwendung, wenn gegen Entscheidungen dieser Gerichte kein Rechtsmittel bei den staatlichen Gerichten eingelegt werden kann bzw. nur der außerordentliche Rechtsbehelf der Rechtsbeschwerde beim Sąd Najwyższy (Oberstes Gericht) zulässig ist und der Sachverhalt sich im Wesentlichen nur innerhalb eines Mitgliedstaats abspielt?

2.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der ersten Frage die Rede ist, für die Prüfung der Rechtsbeschwerde gegen eine Entscheidung oder einen Beschluss des anwaltlichen Disziplinargerichts oder einer Beschwerde gegen die Nichtzulassung dieser Rechtsbeschwerde nach den geltenden Bestimmungen des nationalen Rechts eine Einrichtung zuständig ist, bei der es sich nach der Auffassung dieses Gerichts, die mit der Auffassung übereinstimmt, die das Oberste Gericht in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 vertreten hat, um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta handelt, müssen dann die nationalen Bestimmungen, die die Zuständigkeit dieser Einrichtung begründen, unangewendet bleiben, so dass das anwaltliche Disziplinargericht dazu verpflichtet ist, diese Rechtsbeschwerde oder Beschwerde dem Gericht vorzulegen, dessen Zuständigkeit begründet wäre, wenn die angeführten Bestimmungen dem nicht im Wege stünden?

3.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der ersten Frage die Rede ist, nach der Auffassung dieses Gerichts weder dem Generalstaatsanwalt noch dem Bürgerbeauftragten die Möglichkeit offensteht, Rechtsbeschwerde gegen die Entscheidung oder den Beschluss dieses Gerichts zu erheben, und diese Auffassung

a)

im Widerspruch zu der Auffassung steht, die die Izba Dyscyplinarna Sądu Najwyższego (Disziplinarkammer des Obersten Gerichts) im Beschluss vom 27. November 2019 in siebenköpfiger Zusammensetzung vertreten hat, d. h. die Einrichtung, die nach den geltenden nationalen Bestimmungen dafür zuständig ist, über die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde zu entscheiden, die jedoch nach Ansicht des anwaltlichen Disziplinargerichts, die mit der Auffassung übereinstimmt, die das Oberste Gericht in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 vertreten hat, kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta ist,

b)

mit der Auffassung übereinstimmt, die die Izba Karna Sądu Najwyższego (Strafkammer des Obersten Gerichts) vertritt, d. h. die Einrichtung, die für die Entscheidung über diese Beschwerde zuständig wäre, wenn die angeführten Bestimmungen dem nicht im Wege stünden,

kann (bzw. muss) das anwaltliche Disziplinargericht dann die Auffassung, die die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts zum Ausdruck gebracht hat, unbeachtet lassen?

4.

Wenn in dem Rechtsstreit, von dem in der dritten Frage die Rede ist, dem anwaltlichen Disziplinargericht die Beschwerde des Justizministers zur Prüfung vorgelegt wird und

a)

einer der Faktoren, die nach Auffassung des Obersten Gerichts, die es in seinem Urteil vom 5. Dezember 2019 zum Ausdruck gebracht hat, und auch nach Ansicht des anwaltlichen Disziplinargerichts für die Annahme sprechen, dass es sich bei der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, d. h. der Einrichtung, von der in der dritten Frage Buchst. a die Rede ist, um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne von Art. 47 der Charta handelt, der Einfluss der Exekutive, insbesondere auch des Justizministers, auf ihre personelle Zusammensetzung ist,

b)

das Amt des Generalstaatsanwalts, der nach Auffassung der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts, d. h. der Einrichtung, von der in der dritten Frage Buchst. a die Rede ist, dazu befugt wäre, Rechtsbeschwerde gegen einen Beschluss einzulegen, der auf eine Beschwerde hin erlassen wurde, während er nach der Auffassung der Strafkammer des Obersten Gerichts, d. h. der Einrichtung, von der in der dritten Frage Buchst. b die Rede ist, sowie nach Ansicht des anwaltlichen Disziplinargerichts diese Befugnis nicht besitzt, kraft Gesetzes der Justizminister ausübt,

darf sich das anwaltliche Disziplinargericht dann mit dieser Beschwerde nicht befassen, wenn es nur auf diese Weise die Vereinbarkeit des Verfahrens mit Art. 47 der Charta gewährleisten und insbesondere die Einflussnahme durch eine Einrichtung verhindern kann, bei der es sich um kein unabhängiges und unparteiisches Gericht im Sinne dieser Bestimmung handelt?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

48

Der Landesstaatsanwalt und die polnische Regierung halten das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen für unzulässig, weil der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) kein Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV sei.

49

Hierzu macht die polnische Regierung zum einen geltend, dass gemäß Art. 17 Abs. 1 der polnischen Verfassung ein solches Disziplinargericht damit beauftragt sei, die ordnungsgemäße Ausübung des Anwaltsberufs sicherzustellen, indem es über die Vereinbarkeit des Verhaltens der Betroffenen mit den Berufsstandsregeln entscheide, und nicht damit, Recht im Namen der Republik Polen als Gericht im Sinne von Art. 179 der polnischen Verfassung zu sprechen.

50

Zum anderen erfülle das Disziplinargericht nicht die nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs verlangte Voraussetzung der Unabhängigkeit. Da eine solche Einrichtung kein Gericht im Sinne der polnischen Verfassung darstelle, genieße sie nämlich erstens auch nicht die Garantien der Unabhängigkeit, die die Verfassung nur für Gerichte vorsehe.

51

Zweitens sei das Disziplinargericht nicht vor indirekten Einflussnahmen von außen geschützt, die seine Entscheidungen lenken könnten, da seine Mitglieder gemäß Art. 40 Nr. 2 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft von der Versammlung der Bezirksrechtsanwaltskammer gewählt würden und daher dazu berufen seien, über Disziplinarverfahren zu entscheiden, die Kollegen beträfen, mit deren Hilfe sie gewählt worden seien und durch die ihr Mandat anschließend mehrmals verlängert werden könne.

52

Drittens könnten diese Mitglieder, wie aus Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft hervorgehe, vor dem Ende ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt habe, abberufen werden, so dass ihnen keine Unabsetzbarkeit garantiert werde.

53

Der Landesstaatsanwalt ist der Auffassung, dass die Einstufung einer Einrichtung als Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV in Anbetracht aller Umstände des Einzelfalls erfolgen müsse, einschließlich des Gegenstands des in Rede stehenden Verfahrens sowie der Position und der Funktion des betreffenden Organs in der nationalen Rechtsordnung. Somit könnten die Berufsdisziplinargerichte nur dann als solche Gerichte angesehen werden, wenn sie die Funktionen erfüllten, die dem Staat zukämen, also u. a. über das Recht zu entscheiden, eine berufliche Tätigkeit auszuüben. Wegen des Gegenstands des Ausgangsrechtsstreits und des aktuellen Stands des Disziplinarverfahrens sei dies vorliegend beim Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) jedoch nicht der Fall. Da keine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten vorliege, mit der Rechtsanwalt R. G. vorgeworfen werde, ein Disziplinarvergehen begangen zu haben, sei das Disziplinargericht nicht dazu berufen, über einen kontradiktorischen Rechtsstreit zu entscheiden, in dem es um die disziplinarische Verantwortlichkeit des Betroffenen gehe, und damit auch nicht über dessen Recht, seine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern es sei nur dazu aufgerufen, zu prüfen, ob der Disziplinarbeauftragte die Disziplinaruntersuchung einstellen durfte.

54

Bei der Beurteilung der Frage, ob es sich bei einer vorlegenden Einrichtung um ein „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV handelt und diese folglich berechtigt ist, dem Gerichtshof auf der Grundlage dieser Bestimmung eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, berücksichtigt der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung eine Reihe von Merkmalen, wie z. B. die gesetzliche Grundlage der Einrichtung, ihren ständigen Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit, das streitige Verfahren, die Anwendung von Rechtsnormen durch die Einrichtung sowie ihre Unabhängigkeit (Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

55

Was die Eigenschaft des vor dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens als streitiges Verfahren angeht, hängt die Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267 AEUV jedoch nicht davon ab, ob dieses Verfahren streitigen Charakter hat. Aus dieser Bestimmung ergibt sich vielmehr, dass die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Urteile vom 16. Dezember 2008, Cartesio, C‑210/06, EU:C:2008:723, Rn. 56, und vom 16. Juli 2020, Governo della Repubblica italiana [Status der italienischen Friedensrichter], C‑658/18, EU:C:2020:572, Rn. 63).

56

Im vorliegenden Fall steht in Anbetracht der Bestimmungen des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft, auf die der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) hinweist, fest, dass diese Einrichtung die Kriterien in Bezug auf ihre Rechtsgrundlage, ihren ständigen Charakter, die obligatorische Gerichtsbarkeit und die Anwendung von Rechtsnormen durch sie erfüllt.

57

Was die vom Landesstaatsanwalt geäußerten Zweifel an der dem Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) zukommenden Funktion im Kontext des Ausgangsverfahrens betrifft, ist festzustellen, dass diese Einrichtung über einen bei ihr anhängigen Rechtsstreit im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden hat, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter im Sinne der in Rn. 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung abzielt.

58

Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass das Disziplinargericht mit einer Beschwerde des Justizministers gegen eine Entscheidung befasst ist, mit der ein Disziplinarbeauftragter beschlossen hat, eine Disziplinaruntersuchung gegen einen Anwalt einzustellen, und dass eine solche Beschwerde u. a. zur Aufhebung dieser Entscheidung durch das Disziplinargericht führen kann und dann zur Zurückverweisung der Akte an den Disziplinarbeauftragten zur erneuten Prüfung.

59

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hängen indes die Bedingungen, unter denen der Gerichtshof die ihm in Vorabentscheidungssachen zufallende Aufgabe erfüllt, nicht von der Art und dem Ziel der vor den innerstaatlichen Gerichten anhängigen Verfahren ab. Art. 267 AEUV bezieht sich auf das vom nationalen Gericht zu erlassende Urteil, ohne dass besondere Regelungen je nach Art dieses Urteils vorgesehen wären (Urteil vom 6. Oktober 2021, W.Ż. [Kammer für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten des Obersten Gerichts – Ernennung], C‑487/19, EU:C:2021:798, Rn. 83 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

In Bezug auf das Vorbringen der polnischen Regierung ist zum einen festzustellen, dass die Tatsache, dass die anwaltlichen Disziplinargerichte keine Gerichte im Sinne von Art. 179 der polnischen Verfassung darstellen, nicht ausschließt, dass solche Einrichtungen die Eigenschaft als „Gericht“ im Sinne von Art. 267 AEUV haben können. Nach ständiger Rechtsprechung ist nämlich die Frage, ob eine Einrichtung ein Gericht im Sinne dieser Bestimmung des Unionsrechts darstellt, eine rein unionsrechtliche (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61

Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits mehrfach entschieden, dass Berufsverbände, insbesondere diejenigen, die für Anwälte zuständig sind, Gerichte im Sinne von Art. 267 AEUV darstellen können, sofern diese Einrichtungen den Anforderungen der in den Rn. 54 und 55 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung genügen (vgl. u. a. Urteile vom 22. Dezember 2010, Koller, C‑118/09, EU:C:2010:805, Rn. 22 und 23, sowie vom 17. Juli 2014, Torresi, C‑58/13 und C‑59/13, EU:C:2014:2088, Rn. 17, 19 und 30).

62

Was zum anderen die Voraussetzung der Unabhängigkeit der vorlegenden Einrichtung betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung diese Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Systems der justiziellen Zusammenarbeit von grundlegender Bedeutung ist, das durch den Mechanismus des Vorabentscheidungsersuchens gemäß Art. 267 AEUV verkörpert wird, der nämlich nur von einer mit der Anwendung des Unionsrechts betrauten Einrichtung, die u. a. dieses Kriterium der Unabhängigkeit erfüllt, in Gang gesetzt werden kann (vgl. u. a. Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs umfasst der Begriff der Unabhängigkeit zwei Aspekte. Der erste, das Außenverhältnis betreffende Aspekt erfordert, dass die betreffende Einrichtung ihre Funktionen in völliger Autonomie ausübt, ohne mit irgendeiner Stelle hierarchisch verbunden oder ihr untergeordnet zu sein und ohne von irgendeiner Stelle Anordnungen oder Anweisungen zu erhalten, so dass sie vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteils ihrer Mitglieder gefährden und deren Entscheidungen beeinflussen könnten (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 121 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Der zweite, das Innenverhältnis betreffende Aspekt steht mit dem Begriff der Unparteilichkeit in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass den Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen am Streitgegenstand mit dem gleichen Abstand begegnet wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 122 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

65

Diese Garantien der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit setzen voraus, dass es Regeln insbesondere für die Zusammensetzung der Einrichtung, die Ernennung, die Amtsdauer und die Gründe für Enthaltung, Ablehnung und Abberufung ihrer Mitglieder gibt, die es ermöglichen, bei den Rechtsunterworfenen jeden berechtigten Zweifel an der Unempfänglichkeit der genannten Stelle für Einflussnahmen von außen und an ihrer Neutralität in Bezug auf die einander gegenüberstehenden Interessen auszuschließen (Urteile vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 123 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 63 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Speziell erfordert diese unerlässliche Freiheit der Richter von jeglichen Interventionen oder jeglichem Druck von außen – wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat – bestimmte Garantien, die geeignet sind, die mit der Aufgabe des Richtens Betrauten in ihrer Person zu schützen, wie z. B. die Unabsetzbarkeit (Urteile vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

67

Der Gerichtshof hat auch entschieden, dass die in Rn. 65 des vorliegenden Urteils angeführten Vorschriften es insbesondere ermöglichen müssen, nicht nur jede Form der unmittelbaren Einflussnahme in Form von Weisungen auszuschließen, sondern auch die Formen der mittelbaren Einflussnahme, die zur Steuerung der Entscheidungen der betreffenden Richter geeignet sein könnten (Urteil vom 19. November 2019, A. K. u. a. [Unabhängigkeit der Disziplinarkammer des Obersten Gerichts], C‑585/18, C‑624/18 und C‑625/18, EU:C:2019:982, Rn. 125 und die dort angeführte Rechtsprechung).

68

In Bezug auf den Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) ist als Erstes festzustellen, dass, wie Art. 89 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft vorsieht, die anwaltlichen Disziplinargerichte ihre disziplinargerichtliche Tätigkeit „in voller Unabhängigkeit“ ausüben müssen.

69

Als Zweites kann der These der polnischen Regierung, wonach der Umstand, dass die Mitglieder eines solchen Disziplinargerichts vom Kollegium der in das Verzeichnis der betreffenden Kammer eingetragenen Rechtsanwälte gewählt würden, und die Tatsache, dass das Kollegium diese Mitglieder zukünftig eventuell wiederwählen könne, Zweifel an der Fähigkeit dieses Disziplinargerichts aufkommen lasse, unparteiisch über die ihm vorgelegten Disziplinarsachen zu entscheiden, nicht gefolgt werden.

70

Insbesondere in Anbetracht ihres kollektiven Charakters können die Wahl oder die Wiederwahl der Mitglieder des Disziplinargerichts der betreffenden Bezirksanwaltskammer durch die Vollversammlung der in das Verzeichnis dieser Kammer eingetragenen Anwälte – das sind, was die Rechtsanwaltskammer Warschau betrifft, wie aus den Erläuterungen der vorlegenden Einrichtung hervorgeht, ca. 5500 Anwälte – keine Zweifel an der Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der so gewählten Mitglieder aufkommen lassen, wenn diese im Allgemeininteresse über einen etwaigen, von dem ein oder anderen in dieses Verzeichnis eingetragenen Rechtsanwalt begangenen Verstoß gegen die anwaltlichen Standesregeln zu entscheiden haben.

71

Als Drittes ist der Umstand, dass Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft nach seinem Wortlaut vorsieht, dass die Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer und der Organe der Bezirksrechtsanwaltskammern vor dem Ende ihrer Amtszeit von dem Organ, das sie gewählt hat, abberufen werden können, im vorliegenden Fall auch nicht geeignet, die Unabhängigkeit des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) in Zweifel zu ziehen.

72

Wie die polnische Regierung erklärt, hat der Gerichtshof zwar kürzlich in Bezug auf die spanischen Tribunales Económico-Administrativos (Verwaltungskontrollorgane) entschieden, dass die Regeln für die Abberufung ihrer Mitglieder nicht durch ausdrückliche gesetzliche Bestimmungen in besonderen Regelungen festgelegt sind, sondern dass hierfür ausschließlich die allgemeinen Regeln des Verwaltungsrechts und insbesondere das Grundstatut der Bediensteten des öffentlichen Dienstes gelten, so dass die Abberufung dieser Mitglieder folglich nicht, wie es der Grundsatz der Unabsetzbarkeit verlangt, auf bestimmte Ausnahmefälle beschränkt ist, in denen legitime und zwingende Gründe eine solche Maßnahme rechtfertigen. Der Gerichtshof hat daraus geschlossen, dass die fragliche nationale Regelung nicht gewährleistet, dass die Mitglieder dieser Einrichtungen vor Druck von außen geschützt sind, der Zweifel an ihrer Unabhängigkeit aufkommen lassen kann, und dass ein solches System insbesondere nicht geeignet ist, ungebührlichen Druck der Exekutive ihnen gegenüber wirksam zu verhindern, so dass diese Einrichtungen nicht als Gerichte im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden können (Urteil vom 21. Januar 2020, Banco de Santander, C‑274/14, EU:C:2020:17, Rn. 66 bis 69).

73

Vorliegend ist jedoch erstens festzustellen, dass die gerichtliche Funktion, mit der die anwaltlichen Disziplinargerichte betraut sind, einen besonders spezialisierten Charakter hat, da es ihnen im Wesentlichen obliegt, darüber zu wachen, dass die Mitglieder des betreffenden Berufsverbands die Standesregeln einhalten, die speziell für die Ausübung des Anwaltsberufs erlassen wurden, indem gegebenenfalls die Mitglieder sanktioniert werden, die gegen diese Regeln verstoßen.

74

In einem solchen Kontext ist die Tatsache, dass die etwaige Abberufung der Mitglieder eines solchen Disziplinarorgans unter die berufsverbandsinterne Autorität fällt, grundsätzlich nicht geeignet, den Weg für Druck oder irgendwelche direkte oder indirekte Einflussnahme einer berufsverbandsexternen Gewalt zu ebnen, der bzw. die darauf abzielen würde, sich in die Ausübung der diesem Disziplinarorgan auf diese Weise übertragenen gerichtlichen Aufgabe einzumischen.

75

Zweitens geht aus der Antwort des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) auf verschiedene Fragen, die vom Gerichtshof an ihn gerichtet wurden, zum einen hervor, dass, auch wenn Art. 58 Nr. 13 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft vorsieht, dass es einzig in die Zuständigkeit des Hohen Disziplinargerichts fällt, bei den zuständigen Behörden die Abberufung der Mitglieder der Organe der Rechtsanwaltskammer zu beantragen, diese Bestimmung ausdrücklich eine Ausnahme von dieser Regel macht, was die Mitglieder der Disziplinarorgane betrifft. Nach Ansicht des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) folgt daraus, dass das Hohe Disziplinargericht keinen solchen Antrag auf Abberufung eines Mitglieds eines Disziplinargerichts vor Ablauf von dessen Mandat stellen kann.

76

Zum anderen ist dieser Antwort zu entnehmen, dass die Vollversammlung der Anwaltskammer Warschau niemals von ihrer Abberufungsbefugnis Gebrauch gemacht hat, die ihr Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft offenbar verleiht, und dass diese Bestimmung als ins Leere gehend anzusehen ist, was dem vorlegenden Gericht zufolge im Übrigen auch durch die Tatsache bestätigt wird, dass die Geschäftsordnung der Rechtsanwaltskammer keine Bestimmung enthält, mit der die materiell- oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für eine konkrete Umsetzung der von dieser Bestimmung theoretisch eingeräumten Möglichkeit präzisiert werden.

77

Wie der Generalanwalt in den Nrn. 52 und 53 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, geht somit aus diesen Erläuterungen hervor, dass, was die etwaige Möglichkeit betrifft, Mitglieder des Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) abzuberufen, Art. 11 Abs. 4 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft nur auf dem Papier steht und keine praktische Wirkung hat.

78

Drittens ist noch hervorzuheben, dass die bloße Möglichkeit, dass die Vollversammlung einer Bezirksanwaltskammer als Kollektivorgan, in dem sämtliche in das Verzeichnis der betreffenden Anwaltskammer eingetragenen Anwälte versammelt sind – das sind, was die Rechtsanwaltskammer Warschau betrifft und wie bereits festgestellt wurde, ca. 5500 Mitglieder –, unter materiell- und verfahrensrechtlichen Voraussetzungen, die in diesem Fall noch festzulegen wären, gegebenenfalls dazu aufgerufen sein könnte, eine Befugnis zur Abberufung eines Mitglieds des Disziplinargerichts dieser Anwaltskammer auszuüben, keine ernsthaften Bedenken hinsichtlich einer Beeinträchtigung der Unabhängigkeit eines solchen Mitglieds oder dieses Disziplinargerichts selbst bei der Ausübung ihrer gerichtlichen Tätigkeit hervorrufen kann.

79

Nach alledem ist festzustellen, dass der Sąd Dyscyplinarny Izby Adwokackiej w Warszawie (Disziplinargericht der Anwaltskammer Warschau) die Voraussetzungen erfüllt, die erforderlich sind, um als Gericht im Sinne von Art. 267 AEUV angesehen werden zu können. Damit ist das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zur ersten Frage

80

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass Art. 47 der Charta seinetwegen auf ein Beschwerdeverfahren anwendbar ist, das von einer Behörde vor einem anwaltlichen Disziplinargericht angestrengt wurde, auf die Aufhebung einer Entscheidung gerichtet ist, mit der ein Disziplinarbeauftragter eine Untersuchung, die gegen einen Rechtsanwalt geführt wurde, eingestellt hat, nachdem er das Vorliegen eines diesem zuzurechnenden Disziplinarverstoßes verneint hatte, und im Fall der Aufhebung dieser Entscheidung zur Zurückverweisung der Akte an den Disziplinarbeauftragten führen soll.

Zur Zulässigkeit

81

Die polnische Regierung bezweifelt die Zulässigkeit der ersten Frage mit der Begründung, dass die Richtlinie 2006/123 auf das Ausgangsverfahren unanwendbar sei. Erstens sei die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Situation rein innerstaatlich, zweitens sei die Richtlinie 98/5 eine lex specialis, die der Richtlinie 2006/123 vorgehe, drittens falle nur die Eintragung in das Rechtsanwaltsverzeichnis unter die von dieser Richtlinie erfasste Genehmigungsregelung, und um eine solche Eintragung oder Streichung aus diesem Verzeichnis gehe es im Ausgangsverfahren nicht, und viertens müssten Disziplinarverfahren, da sie Strafverfahren gleichkämen, wie diese vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausgeschlossen sein, wie es deren Art. 1 Abs. 5 vorsehe.

82

Art. 47 der Charta sei vorliegend auch nicht anwendbar, weil keine Situation vorliege, in der Unionsrecht im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta umgesetzt werde, und die Europäische Union verfüge jedenfalls über keine Zuständigkeit, was Verfahren und Beschwerden im Disziplinarbereich betreffe.

83

In Bezug auf diese verschiedenen Punkte ist jedoch zum einen festzustellen, dass die von der polnischen Regierung vorgetragenen Argumente im Wesentlichen den Anwendungsbereich sowie die Tragweite und damit die Auslegung der Bestimmungen des Unionsrechts betreffen, auf die sich die erste Frage bezieht. Solche Argumente, die die inhaltliche Prüfung der vorgelegten Frage betreffen, können daher ihrem Wesen nach nicht zu einer Unzulässigkeit dieser Frage führen (vgl. entsprechend Urteil vom 2. März 2021, A.B. u. a. [Ernennung von Richtern am Obersten Gericht – Rechtsbehelf], C‑824/18, EU:C:2021:153, Rn. 80).

84

Zum anderen ist der Einwand, die Festlegung der im Disziplinarbereich auf Anwälte anwendbaren Regeln und Verfahren falle in die ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, ebenfalls zurückzuweisen. Eine solche ausschließliche Zuständigkeit unterstellt, wären die Mitgliedstaaten nämlich nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs weiterhin verpflichtet, bei der Ausübung solcher Zuständigkeiten die Verpflichtungen einzuhalten, die sich für sie aus dem Unionsrecht ergeben (vgl. entsprechend Urteil vom 24. Juni 2019, Kommission/Polen [Unabhängigkeit des Obersten Gerichts], C‑619/18, EU:C:2019:531, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).

85

Der Landesstaatsanwalt macht seinerseits geltend, dass die erste Frage nur als für die Formulierung der Fragen 2 bis 4 unabdingbare Voraussetzung gestellt worden sei. Da diese drei weiteren Fragen selbst unzulässig seien, sei eine Antwort auf die erste Frage für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht von Nutzen und könne daher nicht für erforderlich erachtet werden, damit das vorlegende Gericht seine Entscheidung im Sinne von Art. 267 AEUV erlassen könne.

86

Hierzu ist jedoch festzustellen, dass die erste Frage eine Schwierigkeit bei der Auslegung des Unionsrechts aufwirft, die mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits in Zusammenhang steht, und außerdem, wie das vorlegende Gericht hervorgehoben hat, für die anderen drei Vorlagefragen vorgreiflich ist. Unter diesen Umständen ist der Gerichtshof der Auffassung, dass die erste Frage zu prüfen ist und dabei die logische Reihenfolge, in der ihm die verschiedenen aufgeworfenen Fragen vom vorlegenden Gericht gestellt worden sind, einzuhalten ist.

87

Demnach ist die erste Frage zulässig.

Zu den Fragen

88

In Bezug auf die Anwendbarkeit der Richtlinie 2006/123 im Allgemeinen und die von deren Art. 10 Abs. 6, auf den sich insbesondere die erste Frage bezieht, ist als Erstes darauf hinzuweisen, dass, wie aus dem 33. Erwägungsgrund dieser Richtlinie hervorgeht, die von dieser erfassten Dienstleistungen u. a. die Rechtsberatung umfassen. Außerdem bezeichnet nach Art. 4 Nr. 1 dieser Richtlinie der Ausdruck „Dienstleistung“ für die Zwecke der Richtlinie jede von Art. 57 AEUV erfasste selbständige Tätigkeit, die in der Regel gegen Entgelt erbracht wird. Es steht somit fest, dass die von Anwälten erbrachten rechtlichen Dienstleistungen in den sachlichen Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.

89

Was als Zweites den Umstand betrifft, der vom vorlegenden Gericht in seiner ersten Frage hervorgehoben wird, dass das Ausgangsverfahren auf den ersten Blick eine rein innerstaatliche Situation betrifft, da dieses Verfahren offenbar keine Situation betrifft, die unter die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr von Anwälten im Sinne der Art. 49 bis 55 bzw. 56 bis 62 AEUV fällt, genügt der Hinweis, dass dieser Umstand nicht geeignet ist, die Anwendbarkeit der Bestimmungen des Kapitels III der Richtlinie 2006/123 und damit von deren Art. 10 auszuschließen. Wie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervorgeht, sind die Bestimmungen dieses Kapitels III nämlich dahin auszulegen, dass sie auch auf einen Sachverhalt anwendbar sind, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines einzigen Mitgliedstaats hinausweisen (Urteil vom 30. Januar 2018, X und Visser, C‑360/15 und C‑31/16, EU:C:2018:44, Rn. 110).

90

Was als Drittes das von der polnischen Regierung vorgebrachte Argument betrifft, wonach die Anwendbarkeit der Richtlinie 2006/123 im vorliegenden Fall ausgeschlossen sei, weil ihr die Richtlinie 98/5 als lex specialis vorgehe, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 lediglich vorsieht, dass, wenn Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Unionsrechtsaktes widersprechen, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, die Bestimmung dieses anderen Rechtsaktes Vorrang hat und auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung findet.

91

Hierzu ist festzustellen, wie auch der Generalanwalt in den Nrn. 77, 78, 80 und 81 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die Richtlinie 98/5 nicht auf einen Rechtsanwalt anwendbar ist, der wie Rechtsanwalt R. G. seinen Berufsabschluss offenbar nicht in einem anderen Mitgliedstaat als der Republik Polen erlangt hat und auch nicht von seinem von Art. 49 AEUV gewährleisteten Recht auf Niederlassungsfreiheit Gebrauch gemacht hat, um sich in diesem Mitgliedstaat als Rechtsanwalt niederzulassen. Daraus folgt, dass im Kontext eines Sachverhalts wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden kein Konflikt im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 zwischen den Bestimmungen dieser Richtlinie und denen der Richtlinie 98/5 auftreten kann.

92

Ebenso scheint mangels Anwendbarkeit der Richtlinie 98/5 in diesem Kontext Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123, der vorsieht, dass Abschnitt 1 ihres Kapitels III nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen gilt, die direkt oder indirekt durch andere Unionsrechtsakte geregelt sind, im vorliegenden Fall irrelevant zu sein.

93

Als Viertes genügt in Bezug auf das Vorbringen der polnischen Regierung, wonach es im Wege der Analogie geboten sei, die Richtlinie 2006/123 nicht auf Disziplinarverfahren anzuwenden, weil nach Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie unter bestimmten Vorbehalten diese das Strafrecht der Mitgliedstaaten nicht berühre, die Feststellung, dass nichts im Wortlaut dieser Bestimmung darauf hindeutet, dass die in Bezug auf das Strafrecht der Mitgliedstaaten aufgestellte Ausnahmeregelung auch für berufliche Standesregeln gilt.

94

Hierzu ist im Übrigen festzustellen, dass verschiedene Bestimmungen der Richtlinie 2006/123 im Gegenteil belegen, dass die Bestimmungen über Disziplinarverfahren nicht genauso behandelt werden können, wie es Art. 1 Abs. 5 dieser Richtlinie für das Strafrecht der Mitgliedstaaten vorsieht. So wird z. B. der Begriff „Anforderung“, der im Rahmen der Richtlinie 2006/123 und insbesondere im Kontext ihres Kapitels III, wie aus ihren Art. 14 und 15 hervorgeht, eine wesentliche übergreifende Rolle spielt, in Art. 4 Nr. 7 dieser Richtlinie definiert als u. a. alle Auflagen, Verbote, Bedingungen oder Beschränkungen, die sich aus den „Regeln von Berufsverbänden“ ergeben, die in Ausübung ihrer Rechtsautonomie erlassen wurden.

95

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen, und was als Fünftes die etwaige Anwendbarkeit von Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 im vorliegenden Fall betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung unter der Überschrift „Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung“ vorsieht, dass alle Entscheidungen der zuständigen Behörden, einschließlich der Ablehnung oder des Widerrufs einer Genehmigung, ausführlich zu begründen sind und einer Überprüfung durch ein Gericht oder eine andere Rechtsbehelfsinstanz zugänglich sein müssen.

96

Nach Art. 4 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 ist eine Genehmigungsregelung jedes Verfahren, das einen Dienstleistungserbringer oder ‑empfänger verpflichtet, bei einer zuständigen Behörde eine förmliche oder stillschweigende Entscheidung über die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit zu erwirken.

97

Es besteht daher kein Zweifel, dass mit einer Regelung, die die Ausübung der Tätigkeit als Rechtsanwalt von einer vorherigen Eintragung in das Verzeichnis der Rechtsanwaltskammer abhängig macht und damit von den Betreffenden verlangt, sich einem Verfahren zu unterwerfen, in dem sie verpflichtet sind, bei einer zuständigen Behörde einen förmlichen Rechtsakt zu erwirken, der es ihnen erlaubt, die Tätigkeit aufzunehmen und auszuüben, eine Genehmigungsregelung im Sinne von Art. 4 Nr. 6 und von Kapitel III der Richtlinie 2006/123 eingeführt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2020, Cali Apartments, C‑724/18 und C‑727/18, EU:C:2020:743, Rn. 47, 49, 51 und 52). Dies wird im Übrigen ausdrücklich durch den 39. Erwägungsgrund dieser Richtlinie bestätigt, in dem es heißt, dass der Begriff „Genehmigungsregelung“ unter anderem „die Verpflichtung zur Eintragung bei einer Berufskammer … [erfasst], falls diese Voraussetzung dafür [ist], eine Tätigkeit ausüben zu können“.

98

Eine „Genehmigungsregelung“ im Sinne von Art. 4 Nr. 6 der Richtlinie 2006/123 unterscheidet sich von „Anforderungen“ im Sinne von Art. 4 Nr. 7 der Richtlinie, die u. a. alle Auflagen, Verbote, Bedingungen oder Beschränkungen erfassen, die in den Rechts- oder Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten festgelegt sind oder sich aus den Regeln von Berufsverbänden ergeben, die in Ausübung ihrer Rechtsautonomie erlassen wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2020, Cali Apartments, C‑724/18 und C‑727/18, EU:C:2020:743, Rn. 48 und 49). So stellen die disziplinarrechtlichen Vorschriften, die solchen Berufsverbänden eigen sind, keine Regeln dar, die die Aufnahme und die Ausübung der betreffenden beruflichen Tätigkeit von einer förmlichen Entscheidung der zuständigen Behörden, mit der diese Tätigkeit genehmigt wird, abhängig machen, sondern „Anforderungen“ an die Ausübung dieser Tätigkeit als solche, die grundsätzlich nicht unter eine solche Genehmigungsregelung fallen.

99

Des Weiteren ist auch davon auszugehen, dass eine Entscheidung der Behörde, mit der die Streichung aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis angeordnet wird, grundsätzlich einen „Widerruf der Genehmigung“ im Sinne von Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 darstellt. Daraus folgt, wie das vorlegende Gericht festgestellt hat, dass eine auf der Grundlage von Art. 81 Abs. 1 des Gesetzes über die Rechtsanwaltschaft erlassene Disziplinarentscheidung, mit der der Ausschluss eines Anwalts aus der Rechtsanwaltskammer angeordnet wird, als Widerruf der Genehmigung einzuordnen ist. Aus Art. 82 Abs. 2 dieses Gesetzes geht nämlich hervor, dass eine solche Entscheidung über den Ausschluss die Streichung aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis zur Folge hat, wobei für einen Zeitraum von zehn Jahren ab Rechtskraft des Ausschlusses aus der Rechtsanwaltskammer kein Recht besteht, eine erneute Eintragung zu beantragen.

100

Insoweit ist jedoch zu bemerken, dass, wie die polnische und die niederländische Regierung sowie die Europäische Kommission feststellen, die derzeit beim vorlegenden Gericht anhängige Beschwerde nicht zu einer solchen Entscheidung über den Ausschluss eines Rechtsanwalts aus der Rechtsanwaltskammer führen kann, die die Streichung des Betroffenen aus dem Rechtsanwaltsverzeichnis und damit einen Widerruf der Genehmigung im Sinne von Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 zur Folge hätte.

101

Aus den Angaben in der Vorlageentscheidung geht nämlich hervor, dass das Ausgangsverfahren eine Beschwerde betrifft, die vom Justizminister gegen eine Entscheidung erhoben wurde, mit der ein Disziplinarbeauftragter nach der Durchführung von Vorermittlungen ganz im Gegenteil der Auffassung war, dass im vorliegenden Fall kein Anlass für die Einleitung eines Disziplinarverfahrens vor der Einrichtung bestand, die dafür zuständig ist, sich dazu zu äußern und auf der Grundlage einer solchen Befassung über einen eventuellen Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer als disziplinarische Sanktion zu entscheiden. Aus diesen Angaben geht ebenfalls hervor, dass im verfahrensrechtlichen Kontext des Ausgangsverfahrens die Entscheidung, die das vorlegende Gericht zu erlassen hat, somit ausschließlich darin bestehen kann, entweder diese Beschwerde zurückzuweisen oder ihr stattzugeben und im letztgenannten Fall die Sache an den Disziplinarbeauftragten für eine erneute Prüfung der Akte zurückzuverweisen.

102

Aus dem Vorstehenden ergibt sich somit zum einen, dass das derzeit beim vorlegenden Gericht anhängige Verfahren nicht zur Verhängung einer disziplinarischen Sanktion gegen einen Rechtsanwalt, u. a. seinen Ausschluss aus der Rechtsanwaltskammer, führen kann, und zum anderen, dass sich in diesem Verfahren, das ausschließlich eine Entscheidung des Disziplinarbeauftragten betrifft, keine Disziplinarermittlungen gegen diesen Anwalt einzuleiten, der Disziplinarbeauftragte und der Justizminister gegenüberstehen, da der betreffende Rechtsanwalt in diesem Stadium weder disziplinarisch verfolgt wird noch Verfahrensbeteiligter ist.

103

Nach alledem findet Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 im Kontext des derzeit im Ausgangsverfahren anhängigen Verfahrens keine Anwendung. Infolgedessen kann diese Bestimmung in diesem Kontext auch nicht zu einer Anwendbarkeit von Art. 47 der Charta führen.

104

In Bezug auf Art. 47 der Charta ist nämlich darauf hinzuweisen, dass nach dieser Bestimmung, die eine Bekräftigung des Grundsatzes des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes darstellt, jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht hat, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 40 und die dort angeführte Rechtsprechung).

105

Somit setzt die Anerkennung dieses Rechts in einem bestimmten Einzelfall nach Art. 47 Abs. 1 der Charta voraus, dass sich die Person, die es geltend macht, auf durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten beruft (Urteil vom 20. April 2021, Repubblika, C‑896/19, EU:C:2021:311, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

106

Aus den in der Vorlageentscheidung enthaltenen Informationen geht jedoch nicht hervor, dass in der aktuellen Gestaltung des Ausgangsverfahrens Rechtsanwalt R. G., der derzeit selbst nicht Verfahrensbeteiligter ist, in der Lage wäre, sich auf ein Recht zu berufen, das ihm das Unionsrecht verleiht, da Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 insbesondere, und wie weiter oben ausgeführt wurde, im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.

107

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123 dahin auszulegen ist, dass Art. 47 der Charta nicht seinetwegen auf ein Beschwerdeverfahren anwendbar ist, das von einer Behörde vor einem anwaltlichen Disziplinargericht angestrengt wurde, auf die Aufhebung einer Entscheidung gerichtet ist, mit der ein Disziplinarbeauftragter eine Untersuchung, die gegen einen Rechtsanwalt geführt wurde, eingestellt hat, nachdem er das Vorliegen eines diesem zuzurechnenden Disziplinarverstoßes verneint hatte, und im Fall der Aufhebung dieser Entscheidung zur Zurückverweisung der Akte an den Disziplinarbeauftragten führen soll.

Zu den Fragen 2 bis 4

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In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage brauchen die Fragen 2 bis 4, die vom vorlegenden Gericht nämlich nur für den Fall gestellt wurden, dass sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, dass Art. 47 der Charta im Kontext des Ausgangsverfahrens anwendbar ist, nicht geprüft zu werden.

Kosten

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Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 10 Abs. 6 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt ist dahin auszulegen, dass Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht seinetwegen auf ein Beschwerdeverfahren anwendbar ist, das von einer Behörde vor einem anwaltlichen Disziplinargericht angestrengt wurde, auf die Aufhebung einer Entscheidung gerichtet ist, mit der ein Disziplinarbeauftragter eine Untersuchung, die gegen einen Rechtsanwalt geführt wurde, eingestellt hat, nachdem er das Vorliegen eines diesem zuzurechnenden Disziplinarverstoßes verneint hatte, und im Fall der Aufhebung dieser Entscheidung zur Zurückverweisung der Akte an den Disziplinarbeauftragten führen soll.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Polnisch.

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