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Dokument 62019CJ0852

Urteil des Gerichtshofs (Erste Kammer) vom 11. November 2021.
Strafverfahren gegen Ivan Gavanozow.
Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Art. 14 – Rechtsbehelfe – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Fehlen von Rechtsbehelfen im Anordnungsmitgliedstaat – Anordnung von Durchsuchungen, Beschlagnahmen und einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz.
Rechtssache C-852/19.

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2021:902

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

11. November 2021 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2014/41/EU – Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen – Art. 14 – Rechtsbehelfe – Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Art. 47 – Fehlen von Rechtsbehelfen im Anordnungsmitgliedstaat – Anordnung von Durchsuchungen, Beschlagnahmen und einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz“

In der Rechtssache C‑852/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 7. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 21. November 2019, in dem Strafverfahren gegen

Ivan Gavanozov

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Ersten Kammer sowie der Richter J.‑C. Bonichot und M. Safjan,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,

der französischen Regierung, vertreten durch E. de Moustier, A. Daniel und N. Vincent als Bevollmächtigte,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von A. Giordano, avvocato dello Stato,

der österreichischen Regierung, vertreten durch A. Posch, J. Schmoll und C. Leeb als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch I. Zaloguin und R. Troosters, dann durch I. Zaloguin und M. Wasmeier als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 29. April 2021

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (ABl. 2014, L 130, S. 1) sowie der Art. 7 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Ivan Gavanozov, der angeklagt wird, Rädelsführer einer kriminellen Vereinigung zu sein und Steuerstraftaten begangen zu haben.

Rechtlicher Rahmen

Richtlinie 2014/41

3

In den Erwägungsgründen 2, 6, 18, 19 und 22 der Richtlinie 2014/41 heißt es:

„(2)

Nach Artikel 82 Absatz 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) beruht die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen, der seit der Tagung des Europäischen Rates vom 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere allgemein als Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union bezeichnet wird.

(6)

In dem vom Europäischen Rat vom 10./11. Dezember 2009 angenommenen Stockholmer Programm hat der Europäische Rat die Auffassung vertreten, dass die Einrichtung eines umfassenden Systems für die Beweiserhebung in Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen, das auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung basiert, weiter verfolgt werden sollte. Dem Europäischen Rat zufolge stellten die bestehenden Rechtsinstrumente auf diesem Gebiet eine lückenhafte Regelung dar und bedurfte es eines neuen Ansatzes, der auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht, aber auch der Flexibilität des traditionellen Systems der Rechtshilfe Rechnung trägt. Der Europäische Rat hat daher ein umfassendes System gefordert, das sämtliche bestehenden Instrumente in diesem Bereich ersetzen soll, unter anderem auch den Rahmenbeschluss 2008/978/JI, und das so weit wie möglich alle Arten von Beweismitteln erfasst, Vollstreckungsfristen enthält und das die Versagungsgründe so weit wie möglich beschränkt.

(18)

Wie andere Rechtsakte, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruhen, berührt auch diese Richtlinie nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der allgemeinen Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und der Charta [der Grundrechte der Europäischen Union]. Um dies deutlich zu machen, wurde eine spezifische Bestimmung in den Text aufgenommen.

(19)

Die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts innerhalb der Union beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten. Diese Vermutung ist jedoch widerlegbar. Wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme einen Verstoß gegen ein Grundrecht der betreffenden Person zur Folge hätte und der Vollstreckungsstaat seine Verpflichtungen zum Schutz der in der Charta anerkannten Grundrechte nicht achten würde, so sollte die Vollstreckung der EEA verweigert werden.

(22)

Die Rechtsbehelfe gegen eine EEA sollten zumindest den Rechtsbehelfen gleichwertig sein, die in einem innerstaatlichen Fall gegen die betreffende Ermittlungsmaßnahme zur Verfügung stehen. Die Mitgliedstaaten sollten gemäß ihrem nationalen Recht die Anwendbarkeit dieser Rechtsbehelfe sicherstellen, auch indem sie alle Betroffenen rechtzeitig über die Möglichkeiten und Modalitäten zur Einlegung der Rechtsbehelfe belehren. In Fällen, in denen Einwände gegen die EEA von einem Beteiligten im Vollstreckungsstaat in Bezug auf die Sachgründe für den Erlass der EEA geltend gemacht werden, ist es angebracht, dass Informationen über diese Einwände an die Anordnungsbehörde übermittelt werden und der Beteiligte entsprechend unterrichtet wird.“

4

In Art. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„(1)   Eine Europäische Ermittlungsanordnung (im Folgenden ‚EEA‘) ist eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats (‚Anordnungsstaat‘) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat (‚Vollstreckungsstaat‘) zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jede EEA nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß dieser Richtlinie.

(4)   Diese Richtlinie berührt nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der Rechtsgrundsätze, die in Artikel 6 EUV verankert sind, einschließlich der Verteidigungsrechte von Personen, gegen die ein Strafverfahren geführt wird; die Verpflichtungen der Justizbehörden in dieser Hinsicht bleiben unberührt.“

5

Art. 4 der Richtlinie bestimmt:

„Eine EEA kann erlassen werden:

a)

in Bezug auf Strafverfahren, die eine Justizbehörde wegen einer nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats strafbaren Handlung eingeleitet hat oder mit denen sie befasst werden kann;

…“

6

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie sieht vor:

„Die Anordnungsbehörde darf nur dann eine EEA erlassen, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind:

a)

Der Erlass der EEA ist für die Zwecke der Verfahren nach Artikel 4 unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig und

b)

die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) hätte(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.“

7

Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 bestimmt:

„Die Vollstreckungsbehörde erkennt eine nach dieser Richtlinie übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität an und gewährleistet deren Vollstreckung in derselben Weise und unter denselben Modalitäten, als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsstaats angeordnet worden, es sei denn, die Vollstreckungsbehörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung oder einen der Gründe für den Aufschub der Vollstreckung nach dieser Richtlinie geltend zu machen.“

8

In Art. 11 Abs. 1 dieser Richtlinie heißt es:

„Unbeschadet des Artikels 1 Absatz 4 kann die Anerkennung oder Vollstreckung einer EEA im Vollstreckungsstaat versagt werden, wenn

f)

berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre;

…“

9

Art. 14 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen.

(2)   Die sachlichen Gründe für den Erlass der EEA können nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden; dies lässt die Garantien der Grundrechte im Vollstreckungsstaat unberührt.

(3)   Wird das Erfordernis der Gewährleistung der Vertraulichkeit einer Ermittlung nach Artikel 19 Absatz 1 dadurch nicht untergraben, so ergreifen die Anordnungsbehörde und die Vollstreckungsbehörde die geeigneten Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass Informationen über die nach nationalem Recht bestehenden Möglichkeiten zur Einlegung der Rechtsbehelfe bereitgestellt werden, sobald diese anwendbar werden, und zwar so rechtzeitig, dass die Rechtsbehelfe effektiv wahrgenommen werden können.

(4)   Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Fristen für die Einlegung eines Rechtsbehelfs mit denen identisch sind, die in vergleichbaren innerstaatlichen Fällen zur Verfügung stehen, und so angewendet werden, dass gewährleistet ist, dass die betroffenen Parteien diese Rechtsbehelfe wirksam ausüben können.

…“

10

Art. 24 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Befindet sich eine Person im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaats und soll diese Person als Zeuge oder Sachverständiger von den zuständigen Behörden des Anordnungsstaats vernommen werden, so kann die Anordnungsbehörde eine EEA erlassen, um den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung nach Maßgabe der Absätze 5 bis 7 zu vernehmen.

(7)   Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in Fällen, in denen die Person gemäß diesem Artikel in seinem Hoheitsgebiet vernommen wird und trotz Aussagepflicht die Aussage verweigert oder falsch aussagt, sein nationales Recht genauso gilt, als wäre die Vernehmung in einem nationalen Verfahren erfolgt.“

Bulgarisches Recht

11

Art. 107 Abs. 2 des Nakazatelno protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, DV Nr. 86 vom 28. Oktober 2005) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: NPK) bestimmt:

„Das Gericht erhebt auf Antrag der Verfahrensbeteiligten oder von Amts wegen Beweise, wenn dies für die Ermittlung der objektiven Wahrheit erforderlich ist.“

12

Art. 117 NPK lautet:

„Durch Zeugenaussagen können alle Tatsachen, die ein Zeuge wahrgenommen hat und die zur Ermittlung der objektiven Wahrheit beitragen können, festgestellt werden.“

13

Art. 161 Abs. 3 NPK bestimmt:

„Im Gerichtsverfahren werden die Durchsuchung und die Beschlagnahme auf Entscheidung des Gerichts durchgeführt, bei dem die Sache anhängig ist.“

14

Art. 341 Abs. 3 NPK lautet:

„Alle übrigen Beschlüsse und Anordnungen unterliegen keiner vom Urteil gesonderten Überprüfung durch das Berufungsgericht.“

15

Art. 6 Abs. 1 des Zakon za evropeyskata zapoved za razsledvane (Gesetz über die EEA, DV Nr. 16 vom 20. Februar 2018) sieht vor:

„Die zuständige Behörde gemäß Art. 5 Abs. 1 erlässt nach einer Einzelfallprüfung eine EEA, wenn folgende Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

1. Der Erlass einer EEA ist im Hinblick auf den Zweck des Strafverfahrens erforderlich und angemessen; dabei werden die Rechte des Beschuldigten oder Angeklagten berücksichtigt.

2. Die Ermittlungs- und sonstigen prozessualen Maßnahmen, zu deren Vornahme die EEA erlassen wird, können unter denselben Bedingungen durchgeführt werden wie nach bulgarischem Recht in einem derartigen Fall.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16

Herr Gavanozov wird in Bulgarien wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, die zur Begehung von Steuerstraftaten gegründet wurde, strafrechtlich verfolgt.

17

Insbesondere wird er verdächtigt, über Scheinfirmen Zucker mit Herkunft aus anderen Mitgliedstaaten nach Bulgarien eingeführt zu haben, indem er sich u. a. von einer in der Tschechischen Republik ansässigen Gesellschaft, die durch Herrn Y vertreten wird, beliefern ließ, und in der Folge diesen Zucker auf dem bulgarischen Markt verkauft zu haben, ohne Mehrwertsteuer zu entrichten oder zu berechnen, indem er unrichtige Unterlagen vorlegte, laut denen dieser Zucker nach Rumänien ausgeführt wurde.

18

In diesem Zusammenhang entschied der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) am 11. Mai 2017, eine EEA zu erlassen, damit die tschechischen Behörden Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowohl in den Geschäftsräumen der genannten in der Tschechischen Republik ansässigen Gesellschaft als auch in der Wohnung von Herrn Y und eine Vernehmung von Herrn Y als Zeugen per Videokonferenz vornähmen.

19

Im Anschluss an diese Anordnung und unter Hinweis auf Schwierigkeiten bei der Vervollständigung von Abschnitt J („Rechtsbehelfe“) des Formblatts in Anhang A der Richtlinie 2014/41 ersuchte dieses Gericht den Gerichtshof um Auslegung mehrerer Bestimmungen dieser Richtlinie.

20

Insbesondere im Hinblick auf die Antwort des vorlegenden Gerichts auf ein Auskunftsersuchen, das der Gerichtshof an dieses gerichtet hatte, hat der Gerichtshof in Rn. 38 des Urteils vom 24. Oktober 2019, Gavanozov (C‑324/17, EU:C:2019:892), entschieden, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Abschnitt J des Formblatts in Anhang A dieser Richtlinie dahin auszulegen ist, dass die Justizbehörde eines Mitgliedstaats beim Erlass einer EEA in diesem Abschnitt nicht die Rechtsbehelfe beschreiben muss, die gegebenenfalls in ihrem Mitgliedstaat gegen den Erlass einer solchen Anordnung vorgesehen sind.

21

In seiner Vorlageentscheidung stellt der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) fest, dass das bulgarische Strafrecht weder einen Rechtsbehelf gegen Anordnungen zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen oder Zeugenvernehmungen noch gegen den Erlass einer EEA vorsehe.

22

In diesem Zusammenhang fragt sich das vorlegende Gericht, ob das bulgarische Recht gegen das Unionsrecht verstößt und ob es in einem solchen Fall eine EEA erlassen kann, die solche Ermittlungsmaßnahmen zum Gegenstand hat.

23

Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Ist eine nationale Regelung, die keine Rechtsbehelfe gegen den Erlass einer EEA zur Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen, zur Beschlagnahme bestimmter Gegenstände und zur Vernehmung eines Zeugen vorsieht, mit Art. 14 Abs. 1 bis 4, Art. 1 Abs. 4 und den Erwägungsgründen 18 und 22 der Richtlinie 2014/41 sowie den Art. 47 und 7 der Charta in Verbindung mit den Art. 13 und 8 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) vereinbar?

2.

Kann unter diesen Umständen eine EEA erlassen werden?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

24

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41 im Licht ihrer Erwägungsgründe 18 und 22 sowie die Art. 7 und 47 der Charta in Verbindung mit den Art. 8 und 13 EMRK dahin auszulegen sind, dass sie den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegenstehen, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie Zeugenvernahmen per Videokonferenz vorsehen.

25

Gemäß Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 sorgen die Mitgliedstaaten dafür, dass gegen die in der EEA angegebenen Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen.

26

Zwar sieht diese Bestimmung im Licht des 22. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, dafür zu sorgen, dass gegen die in der EEA genannten Ermittlungsmaßnahmen Rechtsbehelfe eingelegt werden können, die zumindest den Rechtsbehelfen gleichwertig sind, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 60), sie verlangt von den Mitgliedstaaten aber nicht, weitere Rechtsbehelfe zusätzlich zu jenen vorzusehen, die in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall zur Verfügung stehen.

27

Ein solches Erfordernis ergibt sich auch nicht aus dem Wortlaut von Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie, der lediglich klarstellt, dass die sachlichen Gründe für den Erlass einer EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden können.

28

Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Unionsrechts zu gewährleisten haben, dass das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf gewahrt ist, das in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankert ist, der den Grundsatz des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes bekräftigt (Urteil vom 15. April 2021, État belge [Nach der Überstellungsentscheidung eingetretene Umstände]), C‑194/19, EU:C:2021:270, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

29

Da das Verfahren des Erlasses und der Vollstreckung einer EEA durch die Richtlinie 2014/41 geregelt wird, stellt es eine solche Durchführung des Rechts der Union im Sinne von Art. 51 Abs. 1 der Charta dar, die zur Anwendbarkeit von Art. 47 der Charta führt (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30

Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat jede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen.

31

Als Erstes ist hinsichtlich des Erlasses einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen festzustellen, dass solche Maßnahmen Eingriffe in das in Art. 7 der Charta garantierte Recht jeder Person auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation darstellen. Außerdem können die Beschlagnahmen gegen Art. 17 Abs. 1 der Charta verstoßen, der das Recht jeder Person anerkennt, ihr rechtmäßig erworbenes Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen und es zu vererben.

32

Jeder Person, die sich auf den Schutz berufen möchte, den ihr diese Bestimmungen im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen gewähren, ist daher das in Art. 47 der Charta garantierte Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf zuzuerkennen.

33

Dieses Recht setzt notwendigerweise voraus, dass die von solchen Ermittlungsmaßnahmen betroffenen Personen über angemessene Rechtsbehelfe verfügen, die es ihnen ermöglichen, zum einen die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen anzufechten und zum anderen eine angemessene Wiedergutmachung zu verlangen, wenn diese Maßnahmen rechtswidrig angeordnet oder durchgeführt worden sind. Es ist Sache der Mitgliedstaaten, in ihrer innerstaatlichen Rechtsordnung die hierzu erforderlichen Rechtsbehelfe vorzusehen.

34

Diese Auslegung von Art. 47 der Charta entspricht zudem der Auslegung von Art. 13 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR. Aus der Rechtsprechung des EGMR ergibt sich nämlich, dass nach Art. 13 EMRK, der im Wesentlichen Art. 47 Abs. 1 der Charta entspricht, Personen, die von Durchsuchungen und Beschlagnahmen betroffen sind, Zugang zu einem Verfahren haben müssen, das es ihnen ermöglicht, die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit der Durchsuchungen und Beschlagnahmen anzufechten und eine angemessene Wiedergutmachung zu erlangen, wenn diese Maßnahmen rechtswidrig angeordnet oder durchgeführt worden sind (vgl. in diesem Sinne EGMR, 22. Mai 2008, Iliya Stefanov/Bulgarien, CE:ECHR:2008:0522JUD006575501, § 59, EGMR, 31. März 2016, Stoyanov u. a./Bulgarien, CE:ECHR:2016:0331JUD005538810, §§ 152 bis 154, und EGMR, 19. Januar 2017, Posevini/Bulgarien, CE:ECHR:2017:0119JUD006363814, §§ 84 bis 86).

35

Im Übrigen impliziert das Recht der betroffenen Person, die Ordnungsmäßigkeit und die Erforderlichkeit dieser Maßnahmen anzufechten, dass diese Person über einen Rechtsbehelf verfügen muss, der gegen die EEA gerichtet ist, mit der die Durchführung dieser Maßnahmen angeordnet wird.

36

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 die EEA als eine gerichtliche Entscheidung definiert, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaats zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat zur Erlangung von Beweisen gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.

37

Gemäß Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie vollstrecken die Mitgliedstaaten jede EEA nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß dieser Richtlinie.

38

Zudem geht aus Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 hervor, dass die Vollstreckungsbehörde eine nach dieser Richtlinie übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität anerkennt und deren Vollstreckung in derselben Weise und unter denselben Modalitäten gewährleistet, als wäre die betreffende Ermittlungsmaßnahme von einer Behörde des Vollstreckungsmitgliedstaats angeordnet worden, es sei denn, die Vollstreckungsbehörde beschließt, einen der Gründe für die Versagung der Anerkennung oder der Vollstreckung oder einen der Gründe für den Aufschub der Vollstreckung nach dieser Richtlinie geltend zu machen.

39

Daraus folgt, dass die Ermittlungsmaßnahmen im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA von der zuständigen Behörde des Anordnungsmitgliedstaats angeordnet und von den zuständigen Behörden des Vollstreckungsmitgliedstaats durchgeführt werden, die grundsätzlich verpflichtet sind, eine nach der Richtlinie 2014/41 übermittelte EEA ohne jede weitere Formalität anzuerkennen.

40

Außerdem können nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 die sachlichen Gründe für den Erlass einer EEA nur durch eine Klage im Anordnungsstaat angefochten werden.

41

Damit Personen, die von der Vollstreckung einer EEA, die von einer Justizbehörde des Anordnungsmitgliedstaats zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen erlassen oder validiert wurde, betroffen sind, ihr in Art. 47 der Charta garantiertes Recht sachgerecht ausüben können, obliegt es daher diesem Mitgliedstaat, dafür zu sorgen, dass diese Personen über einen Rechtsbehelf vor einem Gericht desselben Mitgliedstaats verfügen, der es ihnen ermöglicht, die Erforderlichkeit und die Ordnungsmäßigkeit dieser Anordnung, zumindest im Hinblick auf die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA, anzufechten.

42

Was als Zweites den Erlass einer EEA zur Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz betrifft, ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 die anordnende Justizbehörde, wenn eine Person, die sich im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsmitgliedstaats befindet, von den zuständigen Behörden des Anordnungsmitgliedstaats als Zeuge oder Sachverständiger zu vernehmen ist, eine EEA erlassen kann, um gemäß Art. 24 Abs. 5 bis 7 dieser Richtlinie den Zeugen oder Sachverständigen per Videokonferenz oder sonstiger audiovisueller Übertragung zu vernehmen.

43

Gemäß Art. 24 Abs. 7 dieser Richtlinie trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass in Fällen, in denen die Person gemäß diesem Artikel in seinem Hoheitsgebiet vernommen wird und trotz Aussagepflicht die Aussage verweigert oder falsch aussagt, sein nationales Recht genauso gilt, als wäre die Vernehmung in einem nationalen Verfahren erfolgt.

44

Daher kann die Weigerung, im Rahmen der Vollstreckung einer EEA, welche die Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat, auf der Grundlage der im Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hierfür vorgesehenen Normen erhebliche Folgen für die betroffene Person haben. Insbesondere könnte diese Person gezwungen sein, zu der Vernehmung zu erscheinen, und unter Androhung von Sanktionen dazu verpflichtet werden, die in diesem Rahmen gestellten Fragen zu beantworten.

45

Nach ständiger Rechtsprechung stellt der Schutz vor willkürlichen oder unverhältnismäßigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung einer natürlichen oder juristischen Person einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts dar (Urteil vom 16. Mai 2017, Berlioz Investment Fund, C‑682/15, EU:C:2017:373, Rn. 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46

Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dieser Schutz von jeder Person als durch das Recht der Union garantiertes Recht im Sinne von Art. 47 Abs. 1 der Charta geltend gemacht werden kann, um einen sie beschwerenden Rechtsakt wie eine Anordnung zur Übermittlung von Informationen oder eine wegen Nichtbeachtung dieser Anordnung verhängte Sanktion gerichtlich anzufechten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. Oktober 2020, Luxemburger Staat [Rechtsbehelf gegen ein Auskunftsersuchen in Steuersachen], C‑245/19 und C‑246/19, EU:C:2020:795, Rn. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).

47

Daher ist davon auszugehen, dass die Vollstreckung einer EEA zur Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz die betroffene Person beschweren kann und dass sie daher gemäß Art. 47 der Charta über einen Rechtsbehelf gegen eine solche Anordnung verfügen muss.

48

Die Gerichte des Vollstreckungsmitgliedstaats sind jedoch nach Art. 14 Abs. 2 der Richtlinie 2014/41 für die Prüfung der sachlichen Gründe einer EEA, mit der die Durchführung einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz angeordnet wird, nicht zuständig.

49

Daher obliegt es dem Anordnungsmitgliedstaat, dafür zu sorgen, dass jede Person, die verpflichtet wurde, zu einer Vernehmung zu erscheinen, um als Zeuge vernommen zu werden oder Fragen zu beantworten, die ihr bei einer solchen Vernehmung im Rahmen der Vollstreckung einer EEA gestellt wurden, über einen Rechtsbehelf vor einem Gericht dieses Mitgliedstaats verfügt, der es ihr ermöglicht, zumindest die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA anzufechten.

50

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 7 und Art. 47 der Charta dahin auszulegen ist, dass er den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz vorsehen.

Zur zweiten Frage

51

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 1 Abs. 4 und Art. 14 Abs. 1 bis 4 der Richtlinie 2014/41 im Licht ihrer Erwägungsgründe 18 und 22 sowie die Art. 7 und 47 der Charta in Verbindung mit den Art. 8 und 13 EMRK dahin auszulegen sind, dass sie dem Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz durch die zuständige Behörde eines Mitgliedstaats entgegenstehen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen.

52

Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2014/41 macht den Erlass einer EEA von der Erfüllung zweier Bedingungen abhängig. Zum einen muss der Erlass der EEA für die Zwecke der Verfahren nach Art. 4 dieser Richtlinie unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig sein. Zum anderen muss/müssen die in der EEA angegebene(n) Ermittlungsmaßnahme(n) in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können.

53

Zwar erwähnt diese Bestimmung nicht, dass bei Erlass einer EEA die Rechte von Personen berücksichtigt werden, die von den in dieser Anordnung genannten Ermittlungsmaßnahmen betroffen sind und bei denen es sich nicht um die verdächtige oder beschuldigte Person handelt.

54

Es geht jedoch insbesondere aus den Erwägungsgründen 2, 6 und 19 der Richtlinie 2014/41 hervor, dass die EEA ein Instrument der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AEUV ist, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen beruht. Dieser Grundsatz, der den „Eckstein“ der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bildet, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen sowie auf der widerlegbaren Vermutung, dass andere Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die Grundrechte einhalten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2020, Staatsanwaltschaft Wien [Gefälschte Überweisungsaufträge], C‑584/19, EU:C:2020:1002, Rn. 40).

55

Im Rahmen eines Verfahrens im Zusammenhang mit einer EEA ist jedoch für die Gewährleistung dieser Rechte somit in erster Linie der Anordnungsmitgliedstaat verantwortlich, von dem angenommen werden kann, dass er das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachtet (vgl. entsprechend Urteil vom 23. Januar 2018, Piotrowski, C‑367/16, EU:C:2018:27, Rn. 50).

56

Ist es jedoch unmöglich, im Anordnungsmitgliedstaat die Erforderlichkeit und die Ordnungsmäßigkeit einer EEA, welche die Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat, zumindest im Hinblick auf die sachlichen Gründe für den Erlass einer solchen EEA anzufechten, stellt dies jedoch eine Verletzung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf dar, die dazu führen kann, dass die gegenseitige Anerkennung nicht erfolgen und diesem Mitgliedstaat nicht zugutekommen kann.

57

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach dem in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit obliegt, in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet insbesondere für die Anwendung und die Wahrung des Unionsrechts zu sorgen und zu diesem Zweck alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen zu ergreifen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Unionsorgane ergeben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

58

Daher obliegt es im Hinblick insbesondere auf die wesentliche Rolle des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung in dem durch die Richtlinie 2014/41 geschaffenen System dem Anordnungsmitgliedstaat, die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen die Vollstreckungsbehörde ihre Rechtshilfe im Einklang mit dem Unionsrecht sachgerecht leisten kann.

59

Außerdem beruht die Richtlinie 2014/41, wie sich aus Rn. 43 des vorliegenden Urteils ergibt, auf dem Grundsatz der Vollstreckung der Europäischen Ermittlungsanordnungen. Ihr Art. 11 Abs. 1 Buchst. f erlaubt es den Vollstreckungsbehörden, ausnahmsweise nach einer Einzelfallprüfung von diesem Grundsatz abzuweichen, wenn berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer EEA mit den insbesondere in der Charta verbürgten Grundrechten unvereinbar wäre. Bei Fehlen jeglichen Rechtsbehelfs im Anordnungsstaat würde diese Bestimmung jedoch systematisch zur Anwendung kommen. Eine solche Folge liefe sowohl der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2014/41 als auch dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zuwider.

60

Daher ist, wie der Generalanwalt in den Nrn. 81 bis 84 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, der Erlass einer EEA, bei der berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung zu einem Verstoß gegen Art. 47 der Charta führen würde und deren Vollstreckung daher vom Vollstreckungsmitgliedstaat gemäß Art. 11 Abs. 1 Buchst. f dieser Richtlinie versagt werden müsste, nicht mit den Grundsätzen des gegenseitigen Vertrauens und der loyalen Zusammenarbeit vereinbar.

61

Wie sich aus der Prüfung der ersten Frage ergibt, kann die Vollstreckung einer EEA, welche die Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zum Gegenstand hat und deren Ordnungsmäßigkeit nicht vor einem Gericht des Anordnungsmitgliedstaats angefochten werden kann, eine Verletzung des in Art. 47 Abs. 1 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf darstellen.

62

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 6 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 47 der Charta und Art. 4 Abs. 3 EUV dahin auszulegen ist, dass er es der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, eine EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zu erlassen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen.

Kosten

63

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 14 der Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 3. April 2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 7 und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist dahin auszulegen, dass er den Rechtsvorschriften eines Anordnungsmitgliedstaats einer EEA entgegensteht, die keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz vorsehen.

 

2.

Art. 6 der Richtlinie 2014/41 in Verbindung mit Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und Art. 4 Abs. 3 EUV ist dahin auszulegen, dass er es der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats verwehrt, eine EEA zur Durchführung von Durchsuchungen und Beschlagnahmen sowie einer Zeugenvernehmung per Videokonferenz zu erlassen, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats keinen Rechtsbehelf gegen den Erlass einer solchen EEA vorsehen.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

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