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Dieses Dokument ist ein Auszug aus dem EUR-Lex-Portal.

Dokument 62019CJ0649

Urteil des Gerichtshofs (Fünfte Kammer) vom 28. Januar 2021.
Strafverfahren gegen IR.
Vorabentscheidungsersuchen des Spetsializiran nakazatelen sad.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 4 bis 7 – Erklärungen der Rechte in den Anhängen I und II – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte – Auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat festgenommene Person.
Rechtssache C-649/19.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2021:75

 URTEIL DES GERICHTSHOFS (Fünfte Kammer)

28. Januar 2021 ( *1 ) ( i )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – Richtlinie 2012/13/EU – Art. 4 bis 7 – Erklärungen der Rechte in den Anhängen I und II – Rahmenbeschluss 2002/584/JI – Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren – Schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme – Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf – Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte – Auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat festgenommene Person“

In der Rechtssache C‑649/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Spetsializiran nakazatelen sad (spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) mit Entscheidung vom 20. August 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 3. September 2019, in dem Strafverfahren gegen

IR,

Beteiligte:

Spetsializirana prokuratura,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan sowie der Richter M. Ilešič, E. Juhász, C. Lycourgos (Berichterstatter) und I. Jarukaitis,

Generalanwalt: P. Pikamäe,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek, J. Vláčil und T. Machovičová als Bevollmächtigte,

der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller, M. Hellmann und E. Lankenau als Bevollmächtigte,

der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,

der österreichischen Regierung, vertreten durch J. Schmoll als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, ursprünglich vertreten durch S. Grünheid, Y. G. Marinova und R. Troosters, dann durch S. Grünheid und Y. G. Marinova als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. September 2020

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta), von Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (ABl. 2012, L 142, S. 1), von Art. 1 Abs. 3 und Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (ABl. 2002, L 190, S. 1) in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 (ABl. 2009, L 81, S. 24) geänderten Fassung (im Folgenden: Rahmenbeschluss 2002/584) und des diesem Rahmenbeschluss im Anhang beigefügten Formblatts sowie die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses.

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen IR wegen Straftaten im Zusammenhang mit Zigarettenhandel.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Rahmenbeschluss 2002/584

3

In den Erwägungsgründen 5, 6 und 12 des Rahmenbeschlusses 2002/584 heißt es:

„(5)

… Die Einführung eines neuen, vereinfachten Systems der Übergabe von Personen, die einer Straftat verdächtigt werden oder wegen einer Straftat verurteilt worden sind, für die Zwecke der strafrechtlichen Verfolgung oder der Vollstreckung strafrechtlicher Urteile ermöglicht zudem die Beseitigung der Komplexität und der Verzögerungsrisiken, die den derzeitigen Auslieferungsverfahren innewohnen. …

(6)

Der Europäische Haftbefehl im Sinne des vorliegenden Rahmenbeschlusses stellt im strafrechtlichen Bereich die erste konkrete Verwirklichung des vom Europäischen Rat als, Eckstein‘ der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung dar.

(12)

Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 [EUV] anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta …, insbesondere in deren [Titel] VI, zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.

Der vorliegende Rahmenbeschluss belässt jedem Mitgliedstaat die Freiheit zur Anwendung seiner verfassungsmäßigen Regelung des Anspruchs auf ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren, der Vereinigungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung in anderen Medien.“

4

Art. 1 dieses Rahmenbeschlusses bestimmt:

„(1)   Bei dem Europäischen Haftbefehl handelt es sich um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt.

(2)   Die Mitgliedstaaten vollstrecken jeden Europäischen Haftbefehl nach dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und gemäß den Bestimmungen dieses Rahmenbeschlusses.

(3)   Dieser Rahmenbeschluss berührt nicht die Pflicht, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 [EUV] niedergelegt sind, zu achten.“

5

Art. 8 dieses Rahmenbeschlusses sieht vor:

„(1)   Der Europäische Haftbefehl enthält entsprechend dem im Anhang beigefügten Formblatt folgende Informationen:

a)

die Identität und die Staatsangehörigkeit der gesuchten Person;

b)

Name, Adresse, Telefon- und Telefaxnummer sowie Email-Adresse der ausstellenden Justizbehörde;

c)

die Angabe, ob ein vollstreckbares Urteil, ein Haftbefehl oder eine andere vollstreckbare justizielle Entscheidung mit gleicher Rechtswirkung nach den Artikeln 1 und 2 vorliegt;

d)

die Art und rechtliche Würdigung der Straftat, insbesondere in Bezug auf Artikel 2;

e)

die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatortes und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person;

f)

im Fall eines rechtskräftigen Urteils die verhängte Strafe oder der für die betreffende Straftat im Ausstellungsmitgliedstaat gesetzlich vorgeschriebene Strafrahmen;

g)

soweit möglich, die anderen Folgen der Straftat.

(2)   Der Europäische Haftbefehl ist in die Amtssprache oder eine der Amtssprachen des Vollstreckungsstaats zu übersetzen. Jeder Mitgliedstaat kann zum Zeitpunkt der Annahme dieses Rahmenbeschlusses oder später in einer beim Generalsekretariat des Rates hinterlegten Erklärung angeben, dass er eine Übersetzung in eine oder mehrere weitere Amtssprachen der Organe der Europäischen Gemeinschaften akzeptiert.“

6

Dem Rahmenbeschluss 2002/584 ist im Anhang ein Formblatt beigefügt, in dem die Informationen, die im Europäischen Haftbefehl enthalten sein müssen, im Einzelnen aufgeführt sind.

Richtlinie 2012/13

7

In den Erwägungsgründen 3, 11, 14, 21, 27, 28 und 39 der Richtlinie 2012/13 heißt es:

„(3)

Die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidungen in Strafsachen setzt gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege voraus. Das Maß der gegenseitigen Anerkennung hängt von einer Reihe von Parametern ab; dazu gehören Mechanismen für den Schutz der Rechte von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen sowie gemeinsame Mindestnormen, die erforderlich sind, um die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung zu erleichtern.

(11)

Am 30. November 2009 hat der Rat eine Entschließung über einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren [(ABl. 2009, C 295, S. 1)] (im Folgenden ‚Fahrplan‘) angenommen. …

(14)

Die vorliegende Richtlinie bezieht sich auf die Maßnahme B des Fahrplans. Sie legt gemeinsame Mindestnormen fest, die bei der Belehrung über die Rechte und bei der Unterrichtung über den Tatvorwurf gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um das Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten zu verstärken. Diese Richtlinie baut auf den in der [Charta] verankerten Rechten auf, insbesondere auf den Artikeln 6, 47 und 48 der Charta, und legt dabei die Artikel 5 und 6 der [Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, die am 4. November 1950 in Rom unterzeichnet wurde (im Folgenden: EMRK)] in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugrunde. In dieser Richtlinie wird der Begriff ‚Tatvorwurf‘ verwendet; er hat denselben Bedeutungsinhalt wie der in Artikel 6 Absatz 1 EMRK verwendete Begriff ‚Anklage‘.

(21)

Bezugnahmen in dieser Richtlinie auf Verdächtige oder auf beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, sollten für alle Situationen gelten, in denen Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Laufe des Strafverfahrens die Freiheit im Sinne des Artikels 5 Absatz 1 Buchstabe c EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entzogen wird.

(27)

Personen, die der Begehung einer Straftat beschuldigt werden, sollten alle Informationen über den Tatvorwurf erteilt werden, die sie benötigen, um ihre Verteidigung vorzubereiten, und die zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens notwendig sind.

(28)

Die Unterrichtung von Verdächtigen oder beschuldigten Personen über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, sollte umgehend erfolgen und spätestens vor der ersten offiziellen Vernehmung durch die Polizei oder eine andere zuständige Behörde und ohne Gefährdung der laufenden Ermittlungen. Eine Beschreibung der Umstände der strafbaren Handlung, deren die Person verdächtigt oder beschuldigt wird, einschließlich, sofern bekannt, der Zeit und des Ortes sowie der möglichen rechtlichen Beurteilung der mutmaßlichen Straftat sollte – je nach Stadium des Strafverfahrens, in der sie gegeben wird – hinreichend detailliert gegeben werden, so dass ein faires Verfahren gewährleistet und eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte ermöglicht wird.

(39)

Das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung bei der Festnahme sollte entsprechend auch für Personen gelten, die für die Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gemäß dem Rahmenbeschluss 2002/584 … festgenommen werden. Um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer Erklärung der Rechte für diese Personen zu erleichtern, enthält Anhang II ein Muster. Dieses Muster ist lediglich ein Beispiel und kann im Zusammenhang mit dem Bericht der Kommission über die Umsetzung dieser Richtlinie und ferner nach Inkrafttreten aller Maßnahmen des Fahrplans überprüft werden.“

8

Art. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Mit dieser Richtlinie werden Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt. Mit dieser Richtlinie werden auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt.“

9

Art. 3 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen umgehend mindestens über folgende Verfahrensrechte in ihrer Ausgestaltung nach dem innerstaatlichen Recht belehrt werden, um die wirksame Ausübung dieser Rechte zu ermöglichen:

a)

das Recht auf Hinzuziehung eines Rechtsanwalts;

b)

den etwaigen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung und die Voraussetzungen für diese Rechtsberatung;

c)

das Recht auf Unterrichtung über den Tatvorwurf gemäß Artikel 6;

d)

das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen;

e)

das Recht auf Aussageverweigerung.

(2)   Die Mitgliedstaaten gewährleisten, dass die in Absatz 1 vorgesehene Rechtsbelehrung entweder mündlich oder schriftlich in einfacher und verständlicher Sprache erfolgt, wobei etwaige besondere Bedürfnisse schutzbedürftiger Verdächtiger oder schutzbedürftiger beschuldigter Personen berücksichtigt werden.“

10

Art. 4 der Richtlinie sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Sie erhalten Gelegenheit, die Erklärung der Rechte zu lesen, und dürfen diese Erklärung während der Dauer des Freiheitsentzugs in ihrem Besitz führen.

(2)   Zusätzlich zu der Belehrung gemäß Artikel 3 enthält die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannte Erklärung der Rechte Hinweise zu den folgenden Rechten in ihrer Ausgestaltung im innerstaatlichem Recht:

a)

das Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte;

b)

das Recht auf Unterrichtung der Konsularbehörden und einer Person;

c)

das Recht auf Zugang zu dringender medizinischer Versorgung und

d)

wie viele Stunden oder Tage der Freiheitsentzug bei Verdächtigen oder beschuldigten Personen bis zur Vorführung vor eine Justizbehörde höchstens andauern darf.

(3)   Die Erklärung der Rechte enthält auch einige grundlegende Informationen über jedwede im innerstaatlichem Recht vorgesehene Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen.

(4)   Die Erklärung der Rechte wird in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst. Ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte ist in Anhang I enthalten.

(5)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen die schriftliche Erklärung der Rechte in einer Sprache erhalten, die sie verstehen. Ist die Erklärung der Rechte nicht in der entsprechenden Sprache verfügbar, so werden Verdächtige oder beschuldigte Personen in einer Sprache, die sie verstehen, mündlich über ihre Rechte belehrt. Ohne unnötige Verzögerung wird ihnen eine Erklärung der Rechte in einer Sprache, die sie verstehen, ausgehändigt.“

11

Art. 5 der Richtlinie 2012/13 sieht vor:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, unverzüglich eine angemessene Erklärung der Rechte erhalten, die Informationen über ihre Rechte gemäß dem jeweiligen Recht, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584 … im vollstreckenden Mitgliedstaat umgesetzt wird, enth[ält].

(2)   Die Erklärung der Rechte wird in einfacher und verständlicher Sprache abgefasst. Ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte ist in Anhang II enthalten.“

12

Art. 6 dieser Richtlinie lautet:

„(1)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen über die strafbare Handlung unterrichtet werden, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden. Diese Unterrichtung erfolgt umgehend und so detailliert, dass ein faires Verfahren und eine wirksame Ausübung ihrer Verteidigungsrechte gewährleistet werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung, einschließlich über die strafbare Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.

(3)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass spätestens[,] wenn einem Gericht die Anklageschrift vorgelegt wird, detaillierte Informationen über den Tatvorwurf, einschließlich der Art und der rechtlichen Beurteilung der Straftat sowie der Art der Beteiligung der beschuldigten Person, erteilt werden.

(4)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen Änderungen der ihnen im Rahmen der Unterrichtung gemäß diesem Artikel gegebenen Informationen umgehend mitgeteilt werden, wenn dies erforderlich ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“

13

Art. 7 der Richtlinie bestimmt:

„(1)   Wird eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert, so stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden.

(2)   Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtigen oder beschuldigten Personen oder ihren Rechtsanwälten Einsicht in zumindest alle im Besitz der zuständigen Behörden befindlichen Beweismittel zugunsten oder zulasten der Verdächtigen oder beschuldigten Personen gewährt wird, um ein faires Verfahren zu gewährleisten und ihre Verteidigung vorzubereiten.

(3)   Unbeschadet des Absatzes 1 wird Zugang zu den in Absatz 2 genannten Unterlagen so rechtzeitig gewährt, dass die Verteidigungsrechte wirksam wahrgenommen werden können, spätestens aber bei Einreichung der Anklageschrift bei Gericht. Gelangen weitere Beweismittel in den Besitz der zuständigen Behörden, so wird Zugang dazu so rechtzeitig gewährt, dass diese Beweismittel geprüft werden können.

(4)   Abweichend von den Absätzen 2 und 3 kann, sofern das Recht auf ein faires Verfahren dadurch nicht beeinträchtigt wird, die Einsicht in bestimmte Unterlagen verweigert werden, wenn diese Einsicht das Leben oder die Grundrechte einer anderen Person ernsthaft gefährden könnte oder wenn dies zum Schutz eines wichtigen öffentlichen Interesses unbedingt erforderlich ist, wie beispielsweise in Fällen, in denen laufende Ermittlungen gefährdet werden könnten oder in denen die nationale Sicherheit der Mitgliedstaaten, in denen das Verfahren stattfindet, ernsthaft beeinträchtigt werden könnte. Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass im Einklang mit den Verfahren des innerstaatlichen Rechts die Entscheidung, die Einsicht in bestimmte Unterlagen gemäß diesem Absatz zu verweigern, von einer Justizbehörde getroffen wird oder zumindest einer richterlichen Prüfung unterliegt.

(5)   Die Einsichtnahme nach diesem Artikel wird unentgeltlich gewährt.“

14

Anhang I der Richtlinie 2012/13 enthält ein Musterbeispiel der Erklärung der Rechte. In diesem Anhang heißt es: „Mit diesem Muster soll den nationalen Behörden lediglich eine Hilfestellung für die Abfassung ihrer Erklärung der Rechte auf nationaler Ebene gegeben werden. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die Nutzung dieses Musters gebunden. Bei der Erstellung ihrer Erklärung der Rechte können die Mitgliedstaaten dieses Muster ändern, um es an ihre nationalen Bestimmungen anzupassen und weitere zweckdienliche Informationen hinzuzufügen. Die Erklärung der Rechte der Mitgliedstaaten muss bei Festnahme oder Inhaftierung ausgehändigt werden. Dies hindert die Mitgliedstaaten jedoch nicht daran, Verdächtigen oder beschuldigten Personen schriftliche Informationen in anderen Situationen während des Strafverfahrens zukommen zu lassen.“

15

Dieses Muster enthält acht Belehrungsrubriken.

16

Anhang II der Richtlinie 2012/13 enthält ein Musterbeispiel der Erklärung der Rechte für Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden. In diesem Anhang heißt es: „Mit diesem Muster soll den nationalen Behörden lediglich eine Hilfestellung für die Abfassung ihrer Erklärung der Rechte auf nationaler Ebene gegeben werden. Die Mitgliedstaaten sind nicht an die Nutzung dieses Musters gebunden. Bei der Erstellung ihrer Erklärung der Rechte können die Mitgliedstaaten dieses Muster ändern, um es an ihre nationalen Bestimmungen anzupassen und weitere zweckdienliche Informationen hinzuzufügen.“

17

Dieses Muster enthält fünf Belehrungsrubriken.

Bulgarisches Recht

18

Der Rahmenbeschluss 2002/584 wird durch den Zakon za ekstraditsiata i evropeyskata zapoved za arest (Gesetz über die Auslieferung und den Europäischen Haftbefehl) (DV Nr. 46 aus 2005) umgesetzt. Art. 37 dieses Gesetzes und das ihm beigefügte Formblatt entsprechen Art. 8 dieses Rahmenbeschlusses und dem Formblatt im Anhang des Rahmenbeschlusses.

19

Art. 65 Abs. 3 Satz 2 und Art. 269 Abs. 3 Nr. 4 Buchst. b des Nakazatelno-protsesualen kodeks (Strafprozessordnung, im Folgenden: NPK) stehen der Inanspruchnahme von Rechtsbehelfen nicht entgegen, wenn die Person im Vollstreckungsmitgliedstaat festgenommen wird.

20

Art. 55 NPK und die Art. 72 bis 74 des Zakon za Ministerstvoto na vatreshnite raboti (Gesetz über das Innenministerium, im Folgenden: ZMVR) sehen vor, dass die von den bulgarischen Behörden aufgrund eines nationalen Haftbefehls in Bulgarien festgenommene Person über die Rechte, über die sie als festgenommene Person verfügt, und auch über die Rechte, über die sie als beschuldigte Person verfügt, belehrt wird. Nach Art. 72 Abs. 4 ZMVR sowie nach den Art. 65 und 270 NPK wird die festgenommene Person über das Recht auf Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den Haftbefehl und auf Kenntnisnahme von allen Verfahrensunterlagen im Rahmen dieses Rechtsbehelfs belehrt. Sie muss auch in unmittelbarem Kontakt mit ihrem Rechtsanwalt stehen können, selbst wenn er als Pflichtverteidiger bestellt wurde. Außerdem übersendet das Gericht der festgenommenen Person von Amts wegen eine Kopie der Anklageschrift, in der die Handlungen, die den Gegenstand der Anklage bilden, detailliert beschrieben werden, sowie den Beschluss, mit dem der Termin für die mündliche Verhandlung festgelegt wird und in dem die Rechte, über die die Person im gerichtlichen Verfahren verfügt, detailliert beschrieben werden. Die festgenommene Person kann, nachdem sie über ihre Rechte sowie die tatsächlichen und rechtlichen Umstände ihrer Festnahme belehrt worden ist, unverzüglich gegen diese Festnahme einen Rechtsbehelf bei Gericht einlegen.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

21

Die Spetsializirana prokuratura (Spezialisierte Staatsanwaltschaft, Bulgarien) leitete ein Strafverfahren gegen IR ein, der angeklagt wird, an einer organisierten kriminellen Vereinigung zur Begehung von Steuerstraftaten beteiligt gewesen zu sein. Während des Ermittlungsverfahrens des gegen ihn geführten Strafverfahrens, in dessen Verlauf er zwei von ihm ausgewählte Rechtsanwälte hinzuzog, wurde IR nur über einige seiner Rechte als beschuldigte Person belehrt.

22

Zu Beginn der gerichtlichen Phase des gegen ihn gerichteten Strafverfahrens am 24. Februar 2017 hatte IR seine Wohnanschrift verlassen und konnte nicht ausfindig gemacht werden. Die beiden Rechtsanwälte, die ihn im Ermittlungsverfahren vertreten hatten, erklärten, ihn nicht mehr zu vertreten. Es wurde für ihn ein neuer Pflichtverteidiger bestellt.

23

Mit Beschluss vom 10. April 2017, der in zweiter Instanz am 19. April 2017 bestätigt wurde, ordnete das vorlegende Gericht die Maßnahme „Untersuchungshaft“ gegen IR an. Dieser Akt stellt den nationalen Haftbefehl dar. IR war nicht persönlich am Verfahren beteiligt und wurde von dem für ihn bestellten Pflichtverteidiger vertreten.

24

Am 25. Mai 2017 erging gegen IR, der immer noch nicht ausfindig gemacht worden war, ein Europäischer Haftbefehl. Der zu seiner Vertretung bestellte Pflichtverteidiger wurde durch einen neuen – ebenfalls von Amts wegen bestellten – Verteidiger ersetzt.

25

Da das vorlegende Gericht nicht sicher war, ob der von ihm gegen IR erlassene Europäische Haftbefehl mit dem Unionsrecht im Einklang stand, weil IR bestimmte Rechte, auf die er nach bulgarischem Recht Anspruch hatte, nicht zur Kenntnis gebracht worden waren, entschied es, diesen Haftbefehl aufzuheben.

26

Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass es, da es beschlossen habe, gegen IR einen neuen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, um nähere Angaben zu den Belehrungen ersuche, die diesem Haftbefehl beizufügen seien, um die Wahrung der durch die Richtlinie 2012/13 gewährten Rechte sicherzustellen.

27

Erstens gehe aus den Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 nicht eindeutig hervor, ob Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie auf eine Person Anwendung fänden, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats festgenommen worden sei.

28

Es sei zu prüfen, ob sich Personen, die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls festgenommen würden, nicht nur auf die in Art. 5 und Anhang II der Richtlinie 2012/13 ausdrücklich genannten Rechte berufen könnten, sondern auch auf die Rechte, die in Art. 4 und Anhang I dieser Richtlinie genannt seien. Diese Frage stelle sich auch für die in Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Rechte, da nicht sicher sei, ob sich die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen sei, in dem Mitgliedstaat, der einen solchen Haftbefehl vollstrecke, auf sie berufen könne.

29

Zweitens möchte das vorlegende Gericht für den Fall, dass davon auszugehen sein sollte, dass die auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Vollstreckungsmitgliedstaat festgenommene Person über alle Rechte verfügen muss, die ihr zustünden, wenn sie im Hoheitsgebiet des Ausstellungsmitgliedstaats festgenommen worden wäre, wissen, ob Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen ist, dass der Inhalt des Europäischen Haftbefehls so abgeändert werden könnte, dass darin im Einklang mit Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2012/13 die möglichen Rechtsbehelfe gegen die von diesem Gericht ausgestellten Haftbefehle angeführt werden.

30

Drittens möchte das vorlegende Gericht – sollte angenommen werden müssen, dass die Belehrungen im Formblatt des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht ergänzt werden dürfen – wissen, mit welchen anderen Mitteln sich gewährleisten lässt, dass IR seine Rechte aus der Richtlinie 2012/13 unmittelbar nach seiner Festnahme aufgrund eines Europäischen Haftbefehls in einem anderen Mitgliedstaat tatsächlich und wirksam ausüben kann. Eines dieser Mittel könnte darin bestehen, dass diese Person über ihre Rechte nach Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie belehrt sowie über die Gründe für ihre Festnahme gemäß Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie und über ihr Recht auf Einsicht in die Verfahrensakte nach Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie unterrichtet wird. Dies könnte das vorlegende Gericht, das den Europäischen Haftbefehl ausgestellt hat, dazu veranlassen, der betreffenden Person, sobald es von ihrer Festnahme Kenntnis erlangt hat, die schriftliche Erklärung der Rechte bei Festnahme, eine Kopie des nationalen Haftbefehls und die diesen stützenden Beweise sowie die Angaben zu ihrem Verteidiger und auf ihren Antrag hin eine Kopie weiterer sie betreffender Verfahrensunterlagen zu übersenden.

31

Viertens vertritt das vorlegende Gericht für den Fall, dass davon ausgegangen werden sollte, dass das Gericht, das den Europäischen Haftbefehl ausgestellt habe, die Möglichkeit habe, entweder den Wortlaut dieses Haftbefehls durch Hinzufügung der Belehrungen über die Rechte der festgenommenen Person zu ergänzen oder die festgenommene Person nach ihrer Festnahme über ihre Rechte zu belehren, ohne jedoch dazu verpflichtet zu sein, den Standpunkt, dass die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584, der keine tatsächliche Ausübung der Rechte gewährleiste, über die die festgenommene Person nach der Richtlinie 2012/13 sowie nach den Art. 6 und 47 der Charta verfügen müsse, fraglich sei.

32

Unter diesen Umständen hat der Spetsializiran nakazatelen sad (Spezialisiertes Strafgericht, Bulgarien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Gelten die Rechte der beschuldigten Person gemäß Art. 4 (insbesondere das Recht gemäß Art. 4 Abs. 3), gemäß Art. 6 Abs. 2 und gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 für eine beschuldigte Person, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurde?

2.

Falls dies bejaht wird: Ist Art. 8 des Rahmenbeschlusses 2002/584 dahin auszulegen, dass er eine Änderung im Inhalt des Europäischen Haftbefehls hinsichtlich des im Anhang enthaltenen Formblatts, insbesondere das Einfügen eines neuen Texts in dieses Formblatt, betreffend die Rechte der gesuchten Person gegenüber den Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats auf Anfechtung des nationalen und des Europäischen Haftbefehls zulässt?

3.

Falls die zweite Frage verneint wird: Steht es mit dem zwölften Erwägungsgrund, mit Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, den Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 sowie den Art. 6 und 47 der Charta in Einklang, wenn ein Europäischer Haftbefehl unter genauer Einhaltung des Formblatts gemäß dem Anhang (d. h. ohne die Belehrung der gesuchten Person über ihre Rechte vor der ausstellenden Justizbehörde) erlassen wird und die ausstellende Justizbehörde unverzüglich, nachdem sie von der Festnahme der Person Kenntnis erlangt, diese über die ihr zustehenden Rechte belehrt und ihr die entsprechenden Unterlagen zusendet?

4.

Wenn kein anderes rechtliches Mittel zur Gewährleistung der Rechte einer aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommenen Person gemäß Art. 4 (insbesondere des Rechts gemäß Art. 4 Abs. 3), gemäß Art. 6 Abs. 2 und gemäß Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 existiert, ist dann der Rahmenbeschluss 2002/584 gültig?

Zur Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens

33

Die deutsche Regierung äußert Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens, da beim vorlegenden Gericht kein Rechtsstreit anhängig sei, weil der gegen IR erlassene Europäische Haftbefehl aufgehoben worden sei. Die Vorlagefragen seien somit hypothetisch und hätten zudem nur für den Erlass eines neuen Europäischen Haftbefehls Sinn, falls sich IR nicht mehr im bulgarischen Hoheitsgebiet befinde.

34

Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die nationalen Gerichte den Gerichtshof nur dann anrufen können, wenn bei ihnen ein Rechtsstreit anhängig ist und sie im Rahmen eines Verfahrens zu entscheiden haben, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt (Urteile vom 31. Mai 2005, Syfait u. a., C‑53/03, EU:C:2005:333, Rn. 29, sowie vom 16. September 2020, Anesco u. a., C‑462/19, EU:C:2020:715, Rn. 36).

35

Im Rahmen der durch Art. 267 AEUV geschaffenen Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten ist es allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Unionsrechts betreffen, ist der Gerichtshof somit grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (Urteil vom 17. Oktober 2019, Elektrorazpredelenie Yug, C‑31/18, EU:C:2019:868, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).

36

Folglich spricht eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Fragen zum Unionsrecht. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts oder die Beurteilung der Gültigkeit einer Unionsvorschrift offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteil vom 16. Oktober 2019, Winterhoff und Eisenbeis, C‑4/18 und C‑5/18, EU:C:2019:860, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37

Im vorliegenden Fall steht außer Zweifel, dass es sich um einen aktuellen Rechtsstreit und ein Verfahren handelt, das auf eine Entscheidung mit Rechtsprechungscharakter abzielt, da die spezialisierte Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren gegen IR eingeleitet hat, das noch läuft und in dem er angeklagt wird, sich an einer zur Begehung von Steuerstraftaten gebildeten kriminellen Vereinigung beteiligt zu haben, und in dem für ihn ein Pflichtverteidiger bestellt worden ist.

38

Zudem führt das vorlegende Gericht hierzu aus, dass es den Gerichtshof angerufen habe, um nach Maßgabe der Beantwortung der Vorlagefragen einen neuen Europäischen Haftbefehl gegen IR zu erlassen. Daher kann weder angenommen werden, dass die Vorlagefragen in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens stünden, noch, dass das Problem hypothetischer Natur wäre.

39

Außerdem hat die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls die mögliche Festnahme der gesuchten Person zur Folge und beeinträchtigt daher deren individuelle Freiheit. Der Gerichtshof hat aber bereits entschieden, dass bei einem Verfahren im Zusammenhang mit einem Europäischen Haftbefehl in erster Linie der Ausstellungsmitgliedstaat für die Gewährleistung der Grundrechte verantwortlich ist. Um die Gewährleistung dieser Rechte – die eine Justizbehörde dazu veranlassen kann, eine Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zu treffen – sicherzustellen, muss eine solche Behörde über die Möglichkeit verfügen, den Gerichtshof mit einer Vorlage zur Vorabentscheidung zu befassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, AY [Haftbefehl – Zeuge], C‑268/17, EU:C:2018:602, Rn. 28 und 29).

40

Demnach ist das Vorabentscheidungsersuchen zulässig.

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

41

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4, insbesondere dessen Abs. 3, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen sind, dass die darin genannten Rechte für Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden.

42

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsrechtsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden, zu berücksichtigen (vgl. u. a. Urteile vom 4. Mai 2010, TNT Express Nederland, C‑533/08, EU:C:2010:243, Rn. 44, sowie vom 6. Oktober 2020, Jobcenter Krefeld, C‑181/19, EU:C:2020:794, Rn. 61).

43

Was insoweit den Wortlaut der in Rede stehenden Bestimmungen betrifft, so müssen die Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 sicherstellen, dass Verdächtige oder beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, umgehend eine schriftliche Erklärung der Rechte erhalten. Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie stellt klar, dass diese Erklärung der Rechte einige grundlegende Informationen über jedwede im innerstaatlichen Recht vorgesehene Möglichkeit enthält, die Rechtmäßigkeit der Festnahme anzufechten, eine Haftprüfung zu erwirken oder einen Antrag auf vorläufige Haftentlassung zu stellen.

44

Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie bezieht sich ebenfalls auf Verdächtige und beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden. Nach dieser Bestimmung haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass diese Personen über die Gründe für ihre Festnahme oder Inhaftierung einschließlich der strafbaren Handlung, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, unterrichtet werden.

45

Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13, dem zufolge die Mitgliedstaaten, wenn eine Person in irgendeinem Stadium des Strafverfahrens festgenommen und inhaftiert wird, sicherstellen, dass alle Unterlagen zu dem gegenständlichen Fall, die sich im Besitz der zuständigen Behörden befinden und für eine wirksame Anfechtung der Festnahme oder Inhaftierung gemäß dem innerstaatlichen Recht wesentlich sind, den festgenommenen Personen oder ihren Rechtsanwälten zur Verfügung gestellt werden, betrifft – wie sich aus einer Zusammenschau von Art. 7 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 2 ergibt – ebenfalls die Verdächtigen und beschuldigten Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden.

46

Es ist festzustellen, dass sich allein anhand des Wortlauts der in Rede stehenden Bestimmungen nicht ermitteln lässt, ob die Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, zu den Verdächtigen und beschuldigten Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, im Sinne der Richtlinie 2012/13 zählen, für die die in diesen Bestimmungen genannten Rechte gelten.

47

Unter diesen Umständen sind die genannten Bestimmungen im Hinblick auf ihren Zusammenhang und das Ziel der Richtlinie 2012/13 auszulegen.

48

Hinsichtlich des Zusammenhangs dieser Bestimmungen ist festzustellen, dass Art. 5 der Richtlinie 2012/13 ausdrücklich die Rechte von Personen betrifft, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden. Nach Art. 5 Abs. 1 stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass diese Personen unverzüglich eine angemessene Erklärung der Rechte erhalten, die Informationen über ihre Rechte gemäß dem jeweiligen Recht, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584 im vollstreckenden Mitgliedstaat umgesetzt wird, enthält. Nach Art. 5 Abs. 2 ist ein Musterbeispiel einer Erklärung der Rechte in Anhang II enthalten.

49

Dieser Artikel ist im Licht des 39. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2012/13 auszulegen, wo es heißt, dass das in dieser Richtlinie vorgesehene Recht auf schriftliche Rechtsbelehrung bei der Festnahme lediglich entsprechend auch für Personen gelten sollte, die für die Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, wobei dieser Erwägungsgrund insoweit nur auf das Musterbeispiel in Anhang II dieser Richtlinie verweist, um den Mitgliedstaaten die Abfassung einer Erklärung der Rechte für diese Personen zu erleichtern.

50

Es ist darauf hinzuweisen, dass sich dieses Musterbeispiel von dem unterscheidet, das in Anhang I der Richtlinie enthalten und in ihrem Art. 4 genannt ist, der die Erklärung der Rechte betrifft, die an Verdächtige und beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, auszuhändigen ist.

51

Auch wenn die Mitgliedstaaten, wie sich ausdrücklich aus dem einleitenden Teil der Anhänge I und II der Richtlinie 2012/13 ergibt, diese beiden Musterbeispiele ändern können, um sie an ihre nationalen Bestimmungen anzupassen und weitere zweckdienliche Informationen hinzuzufügen, enthalten diese Musterbeispiele nämlich nur eine einzige identische Rubrik, nämlich jene über die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts. Die anderen Rubriken dieser Musterbeispiele sind, wie sich aus ihrer Überschrift oder ihrem Inhalt ergibt, entweder für die Rechte des Verdächtigen oder der beschuldigten Person in Strafverfahren (Anhang I der Richtlinie 2012/13) oder für die Rechte der Personen, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen wurden (Anhang II dieser Richtlinie), spezifisch.

52

Es ist festzustellen, dass es, wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, in der Richtlinie 2012/13 keine Vorschrift gibt, die vorsieht, dass Personen, die aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, eine schriftliche Erklärung erhalten müssten, in der die Informationen des Musterbeispiels in Anhang I und die Informationen des Musterbeispiels in Anhang II dieser Richtlinie kumulativ enthalten sind.

53

Da sich die Bestimmungen, um deren Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, auf Verdächtige oder beschuldigte Personen beziehen, die festgenommen oder inhaftiert werden, führt Art. 5 der Richtlinie 2012/13 im Licht ihres 39. Erwägungsgrundes zu der Annahme, dass sie nicht die Personen betreffen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden.

54

Diese Feststellung wird durch den 21. Erwägungsgrund der Richtlinie bestätigt, wonach Bezugnahmen in dieser Richtlinie auf Verdächtige oder auf beschuldigte Personen, die festgenommen oder inhaftiert werden, für alle Situationen gelten sollten, in denen Verdächtigen oder beschuldigten Personen im Laufe des Strafverfahrens die Freiheit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 Buchst. c EMRK in seiner Auslegung durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte entzogen wird.

55

Wie der Generalanwalt in Nr. 47 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, betrifft die letztgenannte Vorschrift den Fall der rechtmäßigen Festnahme oder Freiheitsentziehung einer Person zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, wenn hinreichender Verdacht besteht, dass die betreffende Person eine Straftat begangen hat, oder wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie an der Begehung einer Straftat oder an der Flucht nach Begehung einer Straftat zu hindern. Dieser Fall unterscheidet sich von dem in Art. 5 Abs. 1 Buchst. f EMRK genannten Fall, nämlich der rechtmäßigen Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist. Die letztgenannte Fallkonstellation entspricht dem durch den Rahmenbeschluss 2002/584 eingeführten Mechanismus des Europäischen Haftbefehls.

56

Die Auslegung von Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 im Hinblick auf den Zusammenhang dieser Bestimmungen, wonach diese nicht für die Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, wird durch die Ziele der Richtlinie bestätigt.

57

Hierzu ist festzustellen, dass Art. 1 der Richtlinie 2012/13, der deren Gegenstand nennt, zwischen den Rechten von Verdächtigen und beschuldigten Personen und den Rechten von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, unterscheidet. So sieht dieser Artikel vor, dass mit dieser Richtlinie Bestimmungen über das Recht von Verdächtigen oder von beschuldigten Personen auf Belehrung über Rechte in Strafverfahren und auf Unterrichtung über den gegen sie erhobenen Tatvorwurf festgelegt werden. Er führt aus, dass mit dieser Richtlinie auch Bestimmungen über das Recht von Personen, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, auf Belehrung über ihre Rechte festgelegt werden.

58

Aus diesem Artikel in Verbindung mit den Erwägungsgründen 14, 27 und 39 der Richtlinie 2012/13 ergibt sich, dass die Richtlinie zum Ziel hat, Mindestnormen festzulegen, die bei der Belehrung über die Rechte gegenüber Personen, die der Begehung einer Straftat verdächtigt oder beschuldigt werden, anzuwenden sind, um ihnen die Vorbereitung ihrer Verteidigung zu ermöglichen und ein faires Verfahren zu gewährleisten, dass sie aber auch die Besonderheiten des Verfahrens zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls wahren soll.

59

Der Rahmenbeschluss 2002/584 über den Europäischen Haftbefehl ist jedoch darauf gerichtet, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der direkten Übergabe zwischen Justizbehörden von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Europäischen Union gesteckten Ziels beizutragen, zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu werden, und setzt ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten voraus (Urteil vom 24. September 2020, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof [Grundsatz der Spezialität], C‑195/20 PPU, EU:C:2020:749, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60

Indem die Richtlinie 2012/13 in ihrem Art. 5 vorsieht, dass Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, unverzüglich eine angemessene Erklärung der Rechte erhalten, die Informationen über ihre Rechte gemäß dem jeweiligen Recht, mit dem der Rahmenbeschluss 2002/584 im vollstreckenden Mitgliedstaat umgesetzt wird, enthalten, trägt sie zu diesem Ziel der Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrens wirksam bei.

61

Im Übrigen gilt, wie der Generalanwalt in Nr. 44 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, eine Person, gegen die ein zum Zweck der Strafverfolgung erlassener Europäischer Haftbefehl ergangen ist, sobald sie den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats dieses Haftbefehls übergeben wird, als „beschuldigte Person“ im Sinne der Richtlinie 2012/13 und genießt sämtliche mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, insbesondere die Rechte, die in den Art. 4, 6 und 7 dieser Richtlinie vorgesehen sind. Entsprechend den Zielen der Richtlinie kann sie somit ihre Verteidigung vorbereiten, und es kann ihr ein faires Verfahren gewährleistet werden.

62

Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 4, insbesondere dessen Abs. 3, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen sind, dass die darin genannten Rechte nicht für Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden.

Zur zweiten Frage

63

Nachdem die zweite Frage nur für den Fall gestellt worden ist, dass Art. 4, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 dahin auszulegen wären, dass die darin genannten Rechte für die Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, ist sie in Anbetracht der Antwort auf die erste Frage nicht zu beantworten.

Zur dritten und zur vierten Frage

64

Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, ersucht das vorlegende Gericht den Gerichtshof um eine Entscheidung über die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Hinblick auf die Richtlinie 2012/13 und die Art. 6 und 47 der Charta, soweit dieser Rahmenbeschluss vorsieht, dass die Belehrung von Personen, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, auf die Informationen beschränkt ist, die in Art. 8 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses genannt und in dem dessen Anhang beigefügten Formblatt sowie in dem Musterbeispiel in Anhang II der Richtlinie enthalten sind.

65

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die materielle Rechtmäßigkeit eines Unionsrechtsakts nicht anhand eines anderen Unionsrechtsakts derselben normativen Ebene geprüft werden kann, sofern er nicht in Anwendung des letztgenannten Rechtsakts erlassen wurde oder in einem dieser beiden Rechtsakte ausdrücklich vorgesehen ist, dass der eine Vorrang gegenüber dem anderen hat (Urteil vom 8. Dezember 2020, Ungarn/Parlament und Rat, C‑620/18, EU:C:2020:1001, Rn. 119).

66

Im vorliegenden Fall handelt es sich bei dem Rahmenbeschluss 2002/584 und der Richtlinie 2012/13 jeweils um Sekundärrechtsakte, und der Rahmenbeschluss 2002/584 ist nicht in Anwendung der Richtlinie 2012/13 erlassen worden, die im Übrigen später verabschiedet wurde. Zudem ist nicht ausdrücklich vorgesehen, dass einer dieser beiden Rechtsakte Vorrang gegenüber dem anderen hätte. Folglich ist die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 nicht anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2012/13 zu prüfen.

67

Vielmehr ist die Gültigkeit dieses Rahmenbeschlusses im Hinblick auf die Art. 6 und 47 der Charta zu prüfen.

68

Das vorlegende Gericht möchte insbesondere wissen, ob es, wenn die in Art. 4, in Art. 6 Abs. 2 und in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13 genannten Rechte nicht für die Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden, für diese Personen unmöglich oder übermäßig schwierig wird, einen gegen sie erlassenen nationalen und Europäischen Haftbefehl anzufechten.

69

Insbesondere gehe aus Rn. 70 des Urteils vom 27. Mai 2019, OG und PI (Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau) (C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456), hervor, dass gegen die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zu erlassen, im Ausstellungsmitgliedstaat ein gerichtlicher Rechtsbehelf eingelegt werden können müsse, der den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen voll und ganz genüge. Damit aber die betroffene Person die ihr durch die Richtlinie 2012/13 verliehenen Rechte wirksam ausüben könne, müssten ihr diese Rechte nicht erst nach ihrer Übergabe an die ausstellenden Justizbehörden, sondern bereits zum Zeitpunkt ihrer Festnahme im Vollstreckungsmitgliedstaat zustehen.

70

Dabei ist darauf hinzuweisen, dass der Rahmenbeschluss 2002/584 nach seinem Art. 1 Abs. 3 nicht die Pflicht berührt, die Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind, zu achten.

71

Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den sich das durch diesen Rahmenbeschluss geschaffene System des Europäischen Haftbefehls stützt, beruht seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene, insbesondere in der Charta, anerkannten Grundrechte zu bieten (Urteile vom 10. November 2016, Özçelik, C‑453/16 PPU, EU:C:2016:860, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 27).

72

In diesem Rahmen muss, wenn ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt wird, damit ein anderer Mitgliedstaat eine zum Zweck der Strafverfolgung gesuchte Person festnimmt und übergibt, diese Person in einem ersten Stadium des Verfahrens in den Genuss der Verfahrensgarantien und Grundrechte gekommen sein, deren Schutz die Justizbehörden des Ausstellungsmitgliedstaats nach dem anzuwendenden nationalen Recht, insbesondere im Hinblick auf den Erlass eines nationalen Haftbefehls, zu gewährleisten haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 66, sowie vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 33).

73

So hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass das System des Europäischen Haftbefehls einen zweistufigen Schutz der Verfahrens- und Grundrechte enthält, in deren Genuss die gesuchte Person kommen muss, da zu dem gerichtlichen Schutz auf der ersten Stufe, beim Erlass einer nationalen Entscheidung wie eines nationalen Haftbefehls, der Schutz hinzukommt, der auf der zweiten Stufe, bei der Ausstellung des Europäischen Haftbefehls, zu der es gegebenenfalls kurze Zeit nach dem Erlass dieser nationalen justiziellen Entscheidung kommen kann, zu gewährleisten ist (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 67, vom 9. Oktober 2019, NJ [Staatsanwaltschaft Wien], C‑489/19 PPU, EU:C:2019:849, Rn. 34, sowie vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 59).

74

Da die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls das in Art. 6 der Charta verankerte Recht auf Freiheit des Betroffenen beeinträchtigen kann, impliziert dieser Schutz, dass zumindest auf einer seiner beiden Stufen eine Entscheidung erlassen wird, die den einem wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz innewohnenden Anforderungen genügt (Urteile vom 27. Mai 2019, OG und PI [Staatsanwaltschaften Lübeck und Zwickau], C‑508/18 und C‑82/19 PPU, EU:C:2019:456, Rn. 68, sowie vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 60).

75

Insbesondere setzt die zweite Stufe des Schutzes der Rechte des Betroffenen voraus, dass die ausstellende Justizbehörde überprüft, ob die für seine Ausstellung erforderlichen Voraussetzungen eingehalten wurden, und unter Berücksichtigung aller be- und entlastenden Gesichtspunkte und ohne Gefahr zu laufen, externen Weisungen, insbesondere seitens der Exekutive, unterworfen zu sein, in objektiver Weise prüft, ob diese Ausstellung verhältnismäßig war (Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

76

Hinzu kommt, dass sich der Rahmenbeschluss 2002/584, wie der Generalanwalt in Nr. 81 seiner Schlussanträge ausführt, in ein umfassendes System von Garantien wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes einfügt, die in anderen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen erlassenen Regelungen, zu denen die Richtlinie 2012/13 zählt, vorgesehen sind und die dazu beitragen, der auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gesuchten Person die Ausübung ihrer Rechte zu erleichtern.

77

Im Übrigen gilt, wie bereits in Rn. 61 des vorliegenden Urteils ausgeführt worden ist, eine Person, gegen die ein zum Zweck der Strafverfolgung erlassener Europäischer Haftbefehl ergangen ist, sobald sie den Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats dieses Haftbefehls übergeben wird, als „beschuldigte Person“ im Sinne der Richtlinie 2012/13 und genießt so sämtliche mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte, die in den Art. 4, 6 und 7 dieser Richtlinie vorgesehen sind, so dass sie entsprechend den Zielen dieser Richtlinie ihre Verteidigung vorbereiten und ihr ein faires Verfahren gewährleistet werden kann.

78

Was ferner den Zeitraum vor der Übergabe der Person, gegen die ein solcher Europäischer Haftbefehl ergangen ist, an die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats betrifft, ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 8 Abs. 1 Buchst. d und e des Rahmenbeschlusses 2002/584 der Europäische Haftbefehl Informationen über die Art und rechtliche Würdigung der Straftat sowie die Beschreibung der Umstände, unter denen die Straftat begangen wurde, einschließlich der Tatzeit, des Tatorts und der Art der Tatbeteiligung der gesuchten Person enthalten muss. Wie der Generalanwalt in Nr. 79 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, entsprechen diese Informationen jedoch im Wesentlichen den in Art. 6 der Richtlinie 2012/13 genannten Informationen.

79

Zum anderen verlangt das Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nicht, dass das in den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats vorgesehene Recht auf einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, einen Europäischen Haftbefehl zum Zweck der Strafverfolgung zu erlassen, vor der Übergabe der betreffenden Person an die zuständigen Behörden dieses Mitgliedstaats ausgeübt werden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Dezember 2019, Parquet général du Grand-Duché de Luxembourg und Openbaar Ministerie [Staatsanwaltschaften Lyon und Tours], C‑566/19 PPU und C‑626/19 PPU, EU:C:2019:1077, Rn. 69 bis 71).

80

Eine Verletzung des Rechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz kann sich daher nicht allein daraus ergeben, dass die Person, gegen die ein zum Zweck der Strafverfolgung erlassener Europäischer Haftbefehl ergangen ist, über die im Ausstellungsmitgliedstaat zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe nicht belehrt wird und erst nach ihrer Übergabe an die zuständigen Behörden des Ausstellungsmitgliedstaats Einsicht in die Verfahrensakte nehmen kann.

81

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Prüfung der dritten und der vierten Frage nichts ergeben hat, was die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584 im Hinblick auf die Art. 6 und 47 der Charta beeinträchtigen könnte.

Kosten

82

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahren ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) für Recht erkannt:

 

1.

Art. 4, insbesondere dessen Abs. 3, Art. 6 Abs. 2 und Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren sind dahin auszulegen, dass die darin genannten Rechte nicht für Personen gelten, die zum Zwecke der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls festgenommen werden.

 

2.

Die Prüfung der dritten und der vierten Vorlagefrage hat nichts ergeben, was die Gültigkeit des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten in der durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI des Rates vom 26. Februar 2009 geänderten Fassung im Hinblick auf die Art. 6 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beeinträchtigen könnte.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Bulgarisch.

( i ) Die vorliegende Sprachfassung ist in den Rn. 72 und 74 gegenüber der ursprünglich online gestellten Fassung geändert worden.

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