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Dokument 62017CJ0117

Urteil des Gerichtshofs (Sechste Kammer) vom 28. Februar 2018.
Comune di Castelbellino gegen Regione Marche u. a.
Vorabentscheidungsersuchen des Tribunale amministrativo regionale per le Marche.
Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2011/92/EU – Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Anhänge I bis III – Umweltverträglichkeitsprüfung – Genehmigung für Arbeiten in einer Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas ohne vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung – Nichtigerklärung – Nachträgliche Heilung der Genehmigung auf der Grundlage neuer Bestimmungen des nationalen Rechts ohne vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung.
Rechtssache C-117/17.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein – Abschnitt „Informationen über nicht veröffentlichte Entscheidungen“

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2018:129

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Sechste Kammer)

28. Februar 2018 ( *1 )

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Umwelt – Richtlinie 2011/92/EU – Art. 4 Abs. 2 und 3 sowie Anhänge I bis III – Umweltverträglichkeitsprüfung – Genehmigung für Arbeiten in einer Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas ohne vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung – Nichtigerklärung – Nachträgliche Heilung der Genehmigung auf der Grundlage neuer Bestimmungen des nationalen Rechts ohne vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung“

In der Rechtssache C‑117/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunale amministrativo regionale per le Marche (regionales Verwaltungsgericht Marken, Italien) mit Entscheidung vom 13. Januar 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2017, in dem Verfahren

Comune di Castelbellino

gegen

Regione Marche,

Ministero per i beni e le attività culturali,

Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare,

Regione Marche Servizio Infrastrutture Trasporti Energia – P. F. Rete Elettrica Regionale,

Provincia di Ancona,

Beteiligte:

Società Agricola 4 C S. S.,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. G. Fernlund sowie der Richter J.‑C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

der Comune di Castelbellino, vertreten durch A. Lucchetti, avvocato,

der Regione Marche, vertreten durch P. De Bellis, avvocato,

der Società Agricola 4 C S. S., vertreten durch M. Misiti, avvocato,

der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Gattinara und C. Zadra als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. 2012, L 26, S. 1).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Comune di Castelbellino (Gemeinde Castelbellino, Italien) auf der einen Seite und der Regione Marche (Region Marken, Italien), dem Ministero per i beni e le attività culturali (Ministerium für Kulturgüter und kulturelle Veranstaltungen, Italien), dem Ministero dell’Ambiente e della Tutela del Territorio e del Mare (Ministerium für Umwelt und Landschafts- und Meeresschutz, Italien), der Regione Marche Servizio Infrastrutture Trasporti Energia – P. F. Rete Elettrica Regionale (Region Marken, Dienststelle für Infrastruktur, Verkehr und Energie, Sektor Regionales Stromnetz) sowie der Provincia di Ancona (Provinz Ancona, Italien) auf der anderen Seite über eine Entscheidung der Region Marken, mit der diese feststellte, dass in Bezug auf das Projekt der Società Agricola 4 C S. S. (im Folgenden: 4 C), die Leistungsfähigkeit einer Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas zu erweitern, die Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung (im Folgenden: UVP) nicht zu prüfen sei.

Rechtlicher Rahmen

3

Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 sieht vor:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen unter anderem aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Genehmigungspflicht unterworfen und einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden. Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.“

4

In Art. 4 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/92 heißt es:

„(2)   Bei Projekten des Anhangs II bestimmen die Mitgliedstaaten vorbehaltlich des Artikels 2 Absatz 4, ob das Projekt einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen werden muss. Die Mitgliedstaaten treffen diese Entscheidung anhand

a)

einer Einzelfalluntersuchung

oder

b)

der von den Mitgliedstaaten festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien.

Die Mitgliedstaaten können entscheiden, beide unter den Buchstaben a) und b) genannten Verfahren anzuwenden.

(3)   Bei der Einzelfalluntersuchung oder der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien im Sinne des Absatzes 2 sind die relevanten Auswahlkriterien des Anhangs III zu berücksichtigen.“

5

Anhang I („In Artikel 4 Absatz 1 genannte Projekte“) der Richtlinie 2011/92 sieht in seiner Nr. 2 Buchst. a vor, dass hiervon „Wärmekraftwerke und andere Verbrennungsanlagen mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 [Megawatt (MW)]“ erfasst werden.

6

Anhang II („In Artikel 4 Absatz 2 genannte Projekte“) der Richtlinie 2011/92 bestimmt in seiner Nr. 3, dass hierzu „Anlagen der Industrie zur Erzeugung von Strom, Dampf und Warmwasser (nicht durch Anhang I erfasste Projekte)“ gehören.

7

Anhang III („In Artikel 4 Absatz 3 genannte Auswahlkriterien“) der Richtlinie 2011/92 lautet:

„1.   Merkmale der Projekte

Die Merkmale der Projekte sind insbesondere hinsichtlich folgender Punkte zu beurteilen:

a)

Größe des Projekts;

b)

Kumulierung mit anderen Projekten;

c)

Nutzung der natürlichen Ressourcen;

d)

Abfallerzeugung;

e)

Umweltverschmutzung und Belästigungen;

f)

Unfallrisiko, insbesondere mit Blick auf verwendete Stoffe und Technologien.

2.   Standort der Projekte

Die ökologische Empfindlichkeit der geografischen Räume, die durch die Projekte möglicherweise beeinträchtigt werden, muss unter Berücksichtigung insbesondere folgender Punkte beurteilt werden:

a)

bestehende Landnutzung;

b)

Reichtum, Qualität und Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen des Gebiets;

c)

Belastbarkeit der Natur unter besonderer Berücksichtigung folgender Gebiete:

i)

Feuchtgebiete,

ii)

Küstengebiete,

iii)

Bergregionen und Waldgebiete,

iv)

Reservate und Naturparks,

v)

durch die Gesetzgebung der Mitgliedstaaten ausgewiesene Schutzgebiete; von den Mitgliedstaaten gemäß der Richtlinie 2009/147/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. November 2009 über die Erhaltung der wildlebenden Vogelarten [(ABl. 2010, L 20, S. 7)] und der Richtlinie 92/43/EWG des Rates vom 21. Mai 1992 zur Erhaltung der natürlichen Lebensräume sowie der wildlebenden Tiere und Pflanzen [(ABl. 1992, L 206, S. 7)] ausgewiesene besondere Schutzgebiete,

vi)

Gebiete, in denen die in den Vorschriften der Union festgelegten Umweltqualitätsnormen bereits überschritten sind,

vii)

Gebiete mit hoher Bevölkerungsdichte,

viii)

historisch, kulturell oder archäologisch bedeutende Landschaften.

3.   Merkmale der potenziellen Auswirkungen

Die potenziellen erheblichen Auswirkungen der Projekte sind anhand der in den Nummern 1 und 2 aufgeführten Kriterien zu beurteilen; insbesondere ist Folgendem Rechnung zu tragen:

a)

dem Ausmaß der Auswirkungen (geografisches Gebiet und betroffene Bevölkerung);

b)

dem grenzüberschreitenden Charakter der Auswirkungen;

c)

der Schwere und der Komplexität der Auswirkungen;

d)

der Wahrscheinlichkeit von Auswirkungen;

e)

der Dauer, Häufigkeit und Reversibilität der Auswirkungen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8

4 C betreibt in der Gemeinde Castelbellino, Region Marken, eine Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas (im Folgenden: in Rede stehende Anlage), deren Inbetriebnahme von der Gemeinde nach den für den Landschaftsschutz geltenden Regelungen genehmigt wurde.

9

Mit Bescheid vom 20. Juni 2012 erhielt 4 C von der Region Marken die Genehmigung zur Durchführung der für die Erweiterung der Leistungsfähigkeit der in Rede stehenden Anlage von 249 Kilowatt (kW) auf 999 kW erforderlichen Arbeiten.

10

Auf der Grundlage der Legge Regione Marche n. 3 (Gesetz Nr. 3 der Region Marken) vom 26. März 2012 (im Folgenden: Gesetz Nr. 3/2012) wurde diese Genehmigung, da die Nennleistung der in Rede stehenden Anlage unter dem in diesem Gesetz vorgesehen Schwellenwert von 1 MW lag, erteilt, ohne dass für das Projekt eine UVP durchgeführt oder zumindest vorher die Erforderlichkeit einer solchen Prüfung beurteilt worden wäre.

11

Die Gemeinde Castelbellino beantragte bei dem vorlegenden Gericht, dem Tribunale amministrativo regionale per le Marche (regionales Verwaltungsgericht Marken, Italien), die Nichtigerklärung dieser Genehmigung und machte dabei einen Verstoß gegen die Richtlinie 2011/92 geltend.

12

Am 22. Februar 2013 lehnte das vorlegende Gericht den Antrag der Gemeinde Castelbellino auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Genehmigung ab.

13

Mit ihrem Urteil Nr. 93/2013 vom 22. Mai 2013 erklärte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) das Gesetz Nr. 3/2012 wegen Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht teilweise für verfassungswidrig, da darin nicht die Berücksichtigung aller in Anhang III der Richtlinie 2011/92 genannten Kriterien im Sinne von Art. 4 Abs. 3 dieser Richtlinie für die Bestimmung der Projekte, bei denen eine UVP durchzuführen ist, vorgesehen war.

14

Am 16. April 2015 stellte 4 C bei der Region Marken einen Antrag, der darauf gerichtet war, dass sichergestellt wird, dass die in Rede stehende Anlage den Anforderungen der Richtlinie 2011/92 genügt.

15

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Bestimmungen des Gesetzes Nr. 3/2012, die es den Regionen zuvor erlaubt hatten, unterschiedliche Schwellenwerte für eine Befreiung von der UVP festzulegen, und auf das sich die Regionalbehörden beim Erlass des Bescheids vom 20. Juni 2012 gestützt hatten, infolge des Urteils Nr. 93/2013 der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vom 22. Mai 2013 aufgehoben wurden. Mit neu erlassenen Vorschriften wurden die Voraussetzungen, unter denen Projekte von regionaler Bedeutung von der UVP befreit werden können, ausschließlich auf nationaler Ebene festgelegt. Der Schwellenwert für die Befreiung von Anlagen der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art wurde von 1 MW auf 50 MW angehoben, wobei dieser Schwellenwert unter bestimmten Voraussetzungen um 50 % herabgesetzt werden kann.

16

Unter diesen Umständen ging die Region Marken unter Anwendung dieser neuen rechtlichen Regelung in einer Entscheidung vom 3. Juni 2015 zum einen davon aus, dass die in Rede stehende Anlage von der vorherigen Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP befreit sei, und zum anderen „bestätigte“ sie die zuvor erteilte Genehmigung vom 20. Juni 2012.

17

Mit Urteil vom 19. Juni 2015 erklärte das vorlegende Tribunale amministrativo regionale per le Marche (regionales Verwaltungsgericht Marken) die am 20. Juni 2012 von der Region Marken erteilte Genehmigung jedoch für nichtig, da sie auf der Grundlage von später für verfassungswidrig erklärten Rechtsvorschriften erteilt worden sei.

18

Gegen dieses Urteil legte 4 C Rechtsmittel beim Consiglio di Stato (Staatsrat, Italien) ein.

19

Die Gemeinde Castelbellino beantragte bei dem vorlegenden Gericht die Nichtigerklärung der am 3. Juni 2015 ergangenen Entscheidung der Region Marken.

20

Unter diesen Umständen hat das Tribunale amministrativo regionale per le Marche (regionales Verwaltungsgericht Marken) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.

Steht das Unionsrecht (insbesondere die Richtlinie 2011/92 in ihrer zum Zeitpunkt des Erlasses der [im Ausgangsverfahren in Rede stehenden] Maßnahmen geltenden Fassung) grundsätzlich einer nationalen Regelung oder einer nationalen Verwaltungspraxis entgegen, nach der es zulässig ist, eine Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP oder eine UVP bei Projekten durchzuführen, die zum Zeitpunkt der Durchführung dieser Prüfung bereits bestehende Anlagen betreffen, oder erlaubt es das Unionsrecht vielmehr, außergewöhnliche Umstände zu berücksichtigen, die eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz rechtfertigen, dass es sich bei der UVP naturgemäß um eine vorherige Bewertung handelt?

2.

Ist eine solche Ausnahme insbesondere gerechtfertigt, wenn aufgrund einer zwischenzeitlich erlassenen Rechtsvorschrift ein bestimmtes Projekt, für das aufgrund einer nationalen Gerichtsentscheidung, mit der eine zuvor geltende, diese Befreiung vorsehende Regelung für verfassungswidrig und/oder unanwendbar erklärt wurde, eine Beurteilung der Erforderlichkeit einer UVP hätte durchgeführt werden müssen, von der UVP befreit ist?

Zu den Vorlagefragen

21

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass das Ausgangsverfahren, wie aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, ein Projekt betrifft, bei dem es um die Erweiterung der Leistungsfähigkeit einer bestehenden Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas geht, für das es gemäß der Entscheidung der regionalen Behörden keiner vorherigen Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP bedurfte, wobei diese Entscheidung auf einer regionalen Vorschrift beruhte, die später für verfassungswidrig erklärt wurde, weil darin nicht die Berücksichtigung aller in Anhang III der Richtlinie 2011/92 aufgeführten Kriterien vorgesehen war, die nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie für die Bestimmung der Projekte, bei denen eine UVP durchzuführen ist, relevant sind.

22

Weiter ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass die zuständigen regionalen Behörden infolge des von 4 C am 16. April 2015 gestellten, in Rn. 14 des vorliegenden Urteils erwähnten Antrags, die Frage der Erforderlichkeit einer UVP noch einmal zu überprüfen, da die in Rede stehenden Arbeiten abgeschlossen seien, auf der Grundlage der neuen Rechtsvorschriften der Auffassung waren, dass die Durchführung einer UVP nicht erforderlich sei.

23

Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht somit wissen, ob bei einem Projekt wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, bei dem es um die Erweiterung der Leistungsfähigkeit einer Anlage zur Erzeugung von Strom geht und für das auf der Grundlage von später in diesem Punkt für mit der Richtlinie 2011/92 unvereinbar erklärten nationalen Vorschriften keine vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP vorgenommen wurde, das Unionsrecht dem entgegensteht, dass für diese Anlage nach der Umsetzung dieses Projekts ein neues Verfahren, in dem die zuständigen Behörden seine Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Richtlinie prüfen, und gegebenenfalls eine UVP durchgeführt werden. Weiter möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Behörden auf der Grundlage der zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zu entscheiden haben, geltenden nationalen Vorschriften befinden könnten, dass eine UVP nicht erforderlich ist.

24

Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 müssen Projekte im Sinne von Art. 4 in Verbindung mit Anhang I oder II der Richtlinie, bei denen mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, vor Erteilung der Genehmigung dieser Prüfung unterzogen werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 7. Januar 2004, Wells, C‑201/02, EU:C:2004:12, Rn. 42, und vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a.,C‑196/16, EU:C:2017:589, Rn. 32).

25

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, ist eine solche vorherige Prüfung durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, dass die zuständige Behörde bei ihrer Meinungsbildung die Auswirkungen auf die Umwelt bei allen technischen Planungs- und Entscheidungsprozessen so früh wie möglich berücksichtigt, um Umweltbelastungen von vornherein zu vermeiden, statt sie erst nachträglich in ihren Auswirkungen zu bekämpfen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Juli 2008, Kommission/Irland, C‑215/06, EU:C:2008:380, Rn. 58, und vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a.,C‑196/16, EU:C:2017:589, Rn. 33).

26

Nach Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2011/92 werden Projekte des Anhangs I vorbehaltlich des Art. 2 Abs. 4 dieser Richtlinie einer Prüfung gemäß ihren Art. 5 bis 10 unterzogen.

27

Für die in Anhang II der Richtlinie 2011/92 genannten Projekte sieht ihr Art. 4 Abs. 2 vor, dass die Mitgliedstaaten anhand einer Einzelfallentscheidung oder anhand der von dem betreffenden Mitgliedstaat festgelegten Schwellenwerte bzw. Kriterien entscheiden, ob für das Projekt eine UVP durchzuführen ist.

28

Weiter sind gemäß Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/92 bei der Einzelfallentscheidung oder der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien im Sinne des Abs. 2 die relevanten Auswahlkriterien des Anhangs III zu berücksichtigen.

29

Dagegen enthält die Richtlinie 2011/92 keine Regelung zu den Rechtsfolgen, die sich aus einer Verletzung dieser Bestimmungen ergeben.

30

Allerdings hat der Gerichtshof in Rn. 43 des Urteils vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a. (C‑196/16, EU:C:2017:589), bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten, wenn für ein Projekt die nach dem Unionsrecht erforderliche UVP nicht durchgeführt worden ist, die rechtswidrigen Folgen dieses Versäumnisses beheben müssen und dass es das Unionsrecht nicht verbietet, dass nach dem Bau und der Inbetriebnahme der betreffenden Anlage zu ihrer Legalisierung eine UVP durchgeführt wird, sofern zum einen die diese Legalisierung gestattenden nationalen Vorschriften den Betreffenden nicht die Gelegenheit bieten, das Unionsrecht zu umgehen oder nicht anzuwenden, und zum anderen die zur Legalisierung durchgeführte Prüfung nicht nur die künftigen Umweltauswirkungen dieser Anlage umfasst, sondern auch die seit deren Errichtung eingetretenen Umweltauswirkungen berücksichtigt.

31

In Rn. 42 des Urteils vom 26. Juli 2017, Comune di Corridonia u. a. (C‑196/16, EU:C:2017:589), hat der Gerichtshof auch darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass erstens die Unternehmen in der Rechtssache, in der jenes Urteil ergangen ist, die notwendigen Schritte unternommen hatten, um für ihr Projekt gegebenenfalls eine UVP durchführen zu lassen, dass zweitens die Weigerung der zuständigen Behörden, diesen Anträgen nachzukommen, auf nationale Bestimmungen gestützt wurde, deren Unionsrechtswidrigkeit erst später festgestellt wurde, und dass drittens der Betrieb der in jener Rechtssache in Rede stehenden Anlagen ausgesetzt wurde, eher dafür spricht, dass die vorgenommenen Legalisierungen nach dem nationalen Recht nicht unter ähnlichen Bedingungen wie denen zulässig waren, die in der dem Urteil vom 3. Juli 2008, Kommission/Irland (C‑215/06, EU:C:2008:380, Rn. 61), zugrunde liegenden Rechtssache in Rede standen, und nicht darauf gerichtet waren, das Unionsrecht zu umgehen.

32

Folglich verbietet es das Unionsrecht unter diesen Voraussetzungen nicht, dass ein Projekt, bei dem nach Maßgabe von mit der Richtlinie 2011/92 unvereinbaren Vorschriften keine vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP vorgenommen wurde, von den zuständigen Behörden auch noch nach seiner Umsetzung daraufhin überprüft wird, ob eine UVP durchzuführen ist, gegebenenfalls anhand neuer nationaler Rechtsvorschriften, unter dem Vorbehalt, dass diese mit der Richtlinie vereinbar sind.

33

Die nationalen Behörden, die in diesem Kontext zu entscheiden haben, müssen auch die seit der Durchführung der Arbeiten von der Anlage ausgehenden Umwelteinwirkungen berücksichtigen, und nichts steht dem entgegen, dass sie nach dieser Prüfung erneut zu dem Ergebnis gelangen, dass keine UVP erforderlich ist.

34

Zwar ist es Sache des vorlegenden Gerichts, im Hinblick auf die nationalen Vorschriften und die ihm vorliegenden Informationen zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren vorliegen; der Gerichtshof hält es jedoch für zweckmäßig, ihm folgende Hinweise zu geben.

35

Zunächst ist festzustellen, dass eine geplante Anlage zur Erzeugung von Strom aus Biogas mit einer Nennleistung von weniger als 1 MW nicht unter Anhang I Nr. 2 Buchst. a der Richtlinie 2011/92 fällt, der Wärmekraftwerke und andere Verbrennungsanlagen mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW betrifft, sondern unter Anhang II Nr. 3 Buchst. a dieser Richtlinie, der nicht durch ihren Anhang I erfasste Projekte für Anlagen der Industrie zur Erzeugung von Strom, Dampf und Warmwasser betrifft.

36

Bei Arbeiten zur Erweiterung der Leistung einer bestehenden Anlage wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden handelt es sich also um ein Projekt, für das die Mitgliedstaaten bestimmen müssen, ob gemäß Art. 4 Abs. 2 und 3 der Richtlinie 2011/92 eine UVP durchzuführen ist.

37

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs wird sodann, wenn die Mitgliedstaaten beschlossen haben, gemäß Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2011/92 Schwellenwerte bzw. Kriterien festzulegen, der ihnen eingeräumte Wertungsspielraum durch die in Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie festgelegte Pflicht begrenzt, die Projekte, bei denen u. a aufgrund ihrer Art, ihrer Größe oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, vor der Erteilung einer Genehmigung einer Prüfung in Bezug auf ihre Auswirkungen zu unterziehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2008, Kommission/Irland, C‑66/06, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:637, Rn. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38

Nach Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 2011/92 haben die Mitgliedstaaten bei der Festlegung von Schwellenwerten bzw. Kriterien die relevanten Auswahlkriterien des Anhangs III dieser Richtlinie zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 20. November 2008, Kommission/Irland, C‑66/06, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:637, Rn. 62).

39

Zudem würde ein Mitgliedstaat, der diese Schwellenwerte bzw. Kriterien so festlegte, dass in der Praxis alle Projekte einer bestimmten Art von vornherein von der Pflicht zur Untersuchung ihrer Auswirkungen ausgenommen wären, seinen Wertungsspielraum überschreiten, es sei denn, aufgrund einer Gesamtbeurteilung aller ausgenommenen Projekte wäre davon auszugehen, dass bei ihnen nicht mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist (Urteil vom 20. November 2008, Kommission/Irland, C‑66/06, nicht veröffentlicht, EU:C:2008:637, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40

Folglich reicht die Anhebung des Schwellenwerts, ab dem eine UVP durchgeführt werden muss, durch nationale Vorschriften wie die, auf die sich die Region Marken bei ihrer Entscheidung vom 3. Juni 2015 gestützt hat, als solche nicht aus, um einen Verstoß dieser Vorschriften gegen die Richtlinie 2011/92 anzunehmen.

41

Eine solche Feststellung der Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht kann auch nicht auf den von dem vorlegenden Gericht angeführten Umstand gestützt werden, dass nach dem Urteil Nr. 93/2013 der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vom 22. Mai 2013, wenn diese Vorschriften nicht erlassen worden wären, für das in Rede stehende Projekt eine vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP hätte vorgenommen werden müssen.

42

Nach alldem sind die Vorlagefragen dahin zu beantworten, dass es das Unionsrecht, wenn bei einem Projekt wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, bei dem es um die Erweiterung der Leistungsfähigkeit einer Anlage zur Erzeugung von Strom geht und für das auf der Grundlage von später in diesem Punkt für mit der Richtlinie 2011/92 unvereinbar erklärten nationalen Vorschriften keine vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer UVP vorgenommen wurde, gebietet, dass die Mitgliedstaaten die rechtswidrigen Folgen dieses Verstoßes beheben, und es nicht verwehrt, dass für diese Anlage nach der Umsetzung dieses Projekts ein neues Verfahren, in dem die zuständigen Behörden seine Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Richtlinie prüfen, und gegebenenfalls eine UVP durchgeführt werden, sofern die diese Legalisierung gestattenden nationalen Vorschriften den Betreffenden nicht die Gelegenheit bieten, das Unionsrecht zu umgehen oder nicht anzuwenden. Außerdem sind die seit der Umsetzung des Projekts eingetretenen Umweltauswirkungen zu berücksichtigen. Diese Behörden können auf der Grundlage der zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zu entscheiden haben, geltenden nationalen Vorschriften befinden, dass eine UVP nicht erforderlich ist, soweit diese Vorschriften mit der Richtlinie vereinbar sind.

Kosten

43

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

 

Wenn bei einem Projekt wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, bei dem es um die Erweiterung der Leistungsfähigkeit einer Anlage zur Erzeugung von Strom geht und für das auf der Grundlage von später in diesem Punkt für mit der Richtlinie 2011/92/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten unvereinbar erklärten nationalen Vorschriften keine vorherige Prüfung der Erforderlichkeit einer Umweltverträglichkeitsprüfung vorgenommen wurde, gebietet es das Unionsrecht, dass die Mitgliedstaaten die rechtswidrigen Folgen dieses Verstoßes beheben, und verwehrt es nicht, dass für diese Anlage nach der Umsetzung dieses Projekts ein neues Verfahren, in dem die zuständigen Behörden seine Vereinbarkeit mit den Anforderungen der Richtlinie prüfen, und gegebenenfalls eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchgeführt werden, sofern die diese Legalisierung gestattenden nationalen Vorschriften den Betreffenden nicht die Gelegenheit bieten, das Unionsrecht zu umgehen oder nicht anzuwenden. Außerdem sind die seit der Umsetzung des Projekts eingetretenen Umweltauswirkungen zu berücksichtigen. Diese Behörden können auf der Grundlage der zu dem Zeitpunkt, zu dem sie zu entscheiden haben, geltenden nationalen Vorschriften befinden, dass eine Umweltverträglichkeitsprüfung nicht erforderlich ist, soweit diese Vorschriften mit der Richtlinie vereinbar sind.

 

Unterschriften


( *1 ) Verfahrenssprache: Italienisch.

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