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Dokument 62013CP0383

Stellungnahme des Generalanwalts Wathelet vom 23. August 2013.
M. G. und N. R. gegen Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie.
Ersuchen um Vorabentscheidung: Raad van State - Niederlande.
Visa, Asyl, Einwanderung und andere Politiken betreffend den freien Personenverkehr - Einwanderungspolitik - Illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt - Rückführung illegal aufhältiger Personen - Richtlinie 2008/115/EG - Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger - Abschiebungsverfahren - Haftmaßnahme - Haftverlängerung - Art. 15 Abs. 2 und 6 - Verteidigungsrechte - Anspruch auf rechtliches Gehör - Verletzung - Folgen.
Rechtssache C-383/13 PPU.

Sammlung der Rechtsprechung – allgemein ; Sammlung der Rechtsprechung – allgemein

ECLI-Identifikator: ECLI:EU:C:2013:553

STELLUNGNAHME DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 23. August 2013 ( 1 )

Rechtssache C‑383/13 PPU

M. G.,

N. R.

gegen

Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie

(Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State [Niederlande])

„Richtlinie 2008/115/EG — Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger — Abschiebungsverfahren — Art. 15 Abs. 6 — Haftmaßnahmen — Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union — Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte — Anspruch auf rechtliches Gehör“

I – Einleitung

1.

Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen des Raad van State (Niederlande) vom 5. Juli 2013 ist im Rahmen eines Rechtsstreits von Herrn G. und Herrn R., zwei illegal in den Niederlanden aufhältigen Drittstaatsangehörigen, gegen den Staatssecretaris van Veiligheid en Justitie (im Folgenden: Staatssecretaris) ergangen, in dem es darum geht, ob Maßnahmen zur Verlängerung ihrer Haft, die gemäß Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger ( 2 ) (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) getroffen wurden, im Hinblick auf Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) rechtmäßig sind.

2.

Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Verlängerung der Haftmaßnahmen von Herrn G. und Herrn R. erfüllt waren, da diese Maßnahmen auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft von Herrn G. und Herrn R. bei ihrer Abschiebung und die fehlende Übermittlung der insoweit erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten gestützt waren.

3.

Das vorlegende Gericht weist jedoch darauf hin, dass beim Erlass dieser Maßnahmen die Verteidigungsrechte von Herrn G. und Herrn R. verletzt wurden.

4.

Die Frage, die sich im vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen stellt, betrifft die Tragweite des in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Rechts jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, und insbesondere die Rechtsfolgen einer Verletzung dieses Rechts.

5.

Das vorlegende Gericht möchte erstens wissen, ob eine Verletzung des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte durch die nationale Verwaltung beim Erlass einer Haftverlängerungsmaßnahme im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie ohne Weiteres in allen Fällen dazu führt, dass die Haft aufgehoben werden muss, und zweitens, ob eine Abwägung zwischen der aus diesem Verstoß folgenden Verletzung der Belange des Betroffenen und den Belangen des Mitgliedstaats, denen die Haftverlängerungsmaßnahme dient, möglich ist.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

1. Die Charta

6.

Art. 41 („Recht auf eine gute Verwaltung“) der Charta bestimmt in den Abs. 1 und 2:

„(1)   Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Angelegenheiten von den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unparteiisch, gerecht und innerhalb einer angemessenen Frist behandelt werden.

(2)   Dieses Recht umfasst insbesondere

a)

das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird,

…“

7.

Nach Art. 47 Abs. 1 der Charta hat „[j]ede Person, deren durch das Recht der Union garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, … das Recht, nach Maßgabe der in diesem Artikel vorgesehenen Bedingungen bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen“. Art. 47 Abs. 2 betrifft das Recht jeder Person, einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht einzulegen. In dieser Bestimmung ist festgelegt, dass sich jede Person beraten, verteidigen und vertreten lassen kann. Nach Art. 48 Abs. 2 der Charta wird jedem Angeklagten die Achtung der Verteidigungsrechte gewährleistet.

8.

Art. 51 („Anwendungsbereich“) der Charta bestimmt in Abs. 1:

„Diese Charta gilt für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips und für die Mitgliedstaaten ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union. Dementsprechend achten sie die Rechte, halten sie sich an die Grundsätze und fördern sie deren Anwendung entsprechend ihren jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen der Zuständigkeiten, die der Union in den Verträgen übertragen werden.“

2. Die Rückführungsrichtlinie

9.

Art. 15 der Rückführungsrichtlinie, der sich in dem Kapitel über die Inhaftnahme für die Zwecke der Abschiebung befindet, hat folgenden Wortlaut:

„(1)   Sofern in dem konkreten Fall keine anderen ausreichenden, jedoch weniger intensiven Zwangsmaßnahmen wirksam angewandt werden können, dürfen die Mitgliedstaaten Drittstaatsangehörige, gegen die ein Rückkehrverfahren anhängig ist, nur in Haft nehmen, um deren Rückkehr vorzubereiten und/oder die Abschiebung durchzuführen, und zwar insbesondere dann, wenn

a)

Fluchtgefahr besteht oder

b)

die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Vorbereitung der Rückkehr oder das Abschiebungsverfahren umgehen oder behindern.

Die Haftdauer hat so kurz wie möglich zu sein und sich nur auf die Dauer der laufenden Abschiebungsvorkehrungen [zu] erstrecken, solange diese mit der gebotenen Sorgfalt durchgeführt werden.

(2)   Die Inhaftnahme wird von einer Verwaltungs- oder Justizbehörde angeordnet.

Die Inhaftnahme wird schriftlich unter Angabe der sachlichen und rechtlichen Gründe angeordnet.

Wurde die Inhaftnahme von einer Verwaltungsbehörde angeordnet, so gilt Folgendes:

a)

entweder lässt der betreffende Mitgliedstaat die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme so schnell wie möglich nach Haftbeginn innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüfen,

b)

oder der Mitgliedstaat räumt den betreffenden Drittstaatsangehörigen das Recht ein zu beantragen, dass die Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme innerhalb kurzer Frist gerichtlich überprüft wird, wobei so schnell wie möglich nach Beginn des betreffenden Verfahrens eine Entscheidung zu ergehen hat. In einem solchen Fall unterrichtet der Mitgliedstaat die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich über die Möglichkeit, einen solchen Antrag zu stellen.

Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.

(3)   Die Inhaftnahme wird in jedem Fall – entweder auf Antrag der betreffenden Drittstaatsangehörigen oder von Amts wegen – in gebührenden Zeitabständen überprüft. Bei längerer Haftdauer müssen die Überprüfungen der Aufsicht einer Justizbehörde unterliegen.

(4)   Stellt sich heraus, dass aus rechtlichen oder anderweitigen Erwägungen keine hinreichende Aussicht auf Abschiebung mehr besteht oder dass die Bedingungen gemäß Absatz 1 nicht mehr gegeben sind, so ist die Haft nicht länger gerechtfertigt und die betreffende Person unverzüglich freizulassen.

(5)   Die Haft wird so lange aufrechterhalten, wie die in Absatz 1 dargelegten Umstände gegeben sind und wie dies erforderlich ist, um den erfolgreichen Vollzug der Abschiebung zu gewährleisten. Jeder Mitgliedstaat legt eine Höchsthaftdauer fest, die sechs Monate nicht überschreiten darf.

(6)   Die Mitgliedstaaten dürfen den in Absatz 5 genannten Zeitraum nicht verlängern; lediglich in den Fällen, in denen die Abschiebungsmaßnahme trotz ihrer angemessenen Bemühungen aufgrund der nachstehend genannten Faktoren wahrscheinlich länger dauern wird, dürfen sie diesen Zeitraum im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht um höchstens zwölf Monate verlängern:

a)

mangelnde Kooperationsbereitschaft seitens der betroffenen Drittstaatsangehörigen oder

b)

Verzögerungen bei der Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten.“

B – Niederländisches Recht

10.

Nach Art. 2:1 Abs. 1 der Algemene wet bestuursrecht (Allgemeines Verwaltungsrechtsgesetz) kann sich jeder zur Wahrnehmung seiner Interessen im Verkehr mit der Verwaltung Beistand leisten oder durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen.

11.

Nach Art. 4:8 Abs. 1 der Algemene wet bestuursrecht gibt die Verwaltung einem Beteiligten Gelegenheit, seinen Standpunkt vorzutragen, bevor sie eine Entscheidung erlässt, gegen die der Beteiligte, wenn er die Entscheidung nicht beantragt hat, voraussichtlich Einwände haben wird, sofern

„a)

sich die Entscheidung auf Informationen über Umstände und Belange stützen soll, die den Beteiligten betreffen, und

b)

diese Informationen nicht vom Beteiligten selbst in dieser Sache vorgetragen worden sind“.

12.

Nach Art. 59 Abs. 1 Buchst. a der Vreemdelingenwet 2000 (Ausländergesetz 2000, im Folgenden: Vw 2000) kann, wenn die Belange der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit dies verlangen, ein Ausländer, dessen Aufenthalt nicht legal ist, vom Staatssecretaris zum Zweck der Abschiebung in Haft genommen werden. Gemäß Art. 59 Abs. 5 Vw 2000 beträgt die Dauer der Haft nach Art. 59 Abs. 1 höchstens sechs Monate. Nach Art. 59 Abs. 6 Vw 2000 kann die Frist des Abs. 5 um zwölf Monate verlängert werden, wenn die Abschiebungsmaßnahme trotz aller angemessenen Bemühungen wegen mangelnder Kooperationsbereitschaft des Ausländers oder noch fehlender Übermittlung der erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten wahrscheinlich länger dauern wird.

13.

Nach Art. 5.1a Abs. 1 des Vreemdelingenbesluit 2000 (Ausländerverordnung 2000) kann ein Ausländer, dessen Aufenthalt nicht legal ist, in Haft genommen werden, weil die Belange der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit dies erfordern, wenn

„a)

die Gefahr besteht, dass sich der Ausländer der Überwachung entziehen wird, oder

b)

der Ausländer die Vorbereitung der Ausreise oder des Abschiebungsverfahrens umgeht oder behindert“.

14.

Nach Art. 94 Abs. 4 Vw 2000 erklärt die Rechtbank den Rechtsbehelf gegen eine Haftmaßnahme für begründet, wenn sie zu dem Ergebnis gelangt, dass die Anwendung der Maßnahme gegen die Vw 2000 verstößt oder bei Abwägung aller betroffenen Belange vernünftigerweise nicht als gerechtfertigt erachtet werden kann. In diesem Fall ordnet die Rechtbank die Aufhebung der Maßnahme an. Nach Art. 106 Abs. 1 Vw 2000 kann die Rechtbank, wenn sie die Aufhebung einer freiheitsentziehenden Maßnahme anordnet oder wenn der Freiheitsentzug bereits vor der Behandlung des Antrags auf Aufhebung dieser Maßnahme aufgehoben wird, dem Ausländer eine Entschädigung zulasten des Staates zuerkennen. Nach Art. 106 Abs. 2 findet Abs. 1 entsprechende Anwendung, wenn die Abteilung Verwaltungsrechtsprechung des Raad van State die Aufhebung der freiheitsentziehenden Maßnahme anordnet.

III – Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

15.

Mit Entscheidungen vom 24. Oktober bzw. 11. November 2012 wurden Herr G. und Herr R. gemäß Art. 59 Abs. 1 Buchst. a Vw 2000 in Haft genommen.

16.

Mit Entscheidungen vom 19. und 29. April 2013 wurde die Dauer der gegenüber Herrn G. und Herrn R. erlassenen Haftmaßnahmen gemäß Art. 59 Abs. 6 Vw 2000 um höchstens zwölf Monate verlängert (im Folgenden: streitige Entscheidungen). Diese Entscheidungen waren auf die mangelnde Kooperationsbereitschaft von Herrn G. und Herrn R. bei ihrer Abschiebung und eine noch fehlende Übermittlung der insoweit erforderlichen Unterlagen durch Drittstaaten gestützt.

17.

Mit Urteil vom 22. Mai 2013 und mit mündlich verkündetem Urteil vom 24. Mai 2013 erklärte die Rechtbank Den Haag die Klagen von Herrn G. und Herrn R. gegen die streitigen Entscheidungen für unbegründet und wies ihre Entschädigungsanträge zurück.

18.

Die Rechtbank Den Haag war der Auffassung, Herr G. sei nicht so stark benachteiligt worden, dass eine Aufhebung der Entscheidung über die Verlängerung seiner Haft gerechtfertigt wäre. Aus dem Protokoll einer am 5. April 2013 mit Herrn G. geführten Unterredung über die Ausreise gehe hervor, dass ihm erläutert worden sei, dass der Staatssecretaris vorhabe, die Haft um höchstens zwölf Monate zu verlängern, und dass ihm Gelegenheit gegeben worden sei, Kontakt mit seinem Bevollmächtigten aufzunehmen. Auch Herr R. sei nicht so stark benachteiligt worden, dass eine Aufhebung der Verlängerungsentscheidung gerechtfertigt wäre. Herrn R. und seinem Bevollmächtigten sei hinreichend bekannt gewesen, aus welchen Gründen er in Haft bleibe und was von ihm erwartet werde, um die Dauer der Haft so kurz wie möglich zu halten.

19.

Herr G. und Herr R. legten gegen diese Urteile Berufung ein und stellten außerdem bei der Abteilung Verwaltungsrechtsprechung des Raad van State Entschädigungsanträge. Da die beiden Rechtssachen materiell-rechtlich zusammenhängen, wurden sie verbunden.

20.

Das vorlegende Gericht führt aus, dass die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Verlängerung der Haftmaßnahmen im Fall von Herrn G. und Herrn R. erfüllt seien. Es fügt hinzu, dass nach seiner eigenen ständigen Rechtsprechung eine Haftmaßnahme bei Fehlen dieser Voraussetzungen ohne Weiteres rechtswidrig sei, mit der Folge, dass die Aufhebung der Haft angeordnet werde.

21.

In den Ausgangsfällen wird nicht bestritten, dass der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte beim Erlass der streitigen Entscheidungen verletzt wurde. Der Raad van State hat diese Verletzung im Rahmen der Prüfung der Berufungen und auch in seinem Vorabentscheidungsersuchen als feststehend angesehen.

22.

Seines Erachtens führen jedoch Fehler beim Erlass der Entscheidung über die Inhaftnahme oder deren Verlängerung nicht ohne Weiteres zu der Schlussfolgerung, dass die Haftmaßnahme unrechtmäßig sei, und daher auch nicht ohne Weiteres zur Aufhebung der Maßnahme. In diesen Fällen erfolge nämlich eine Abwägung zwischen den Belangen, denen die Inhaftnahme diene, und der Maßnahme, deren Regelwidrigkeit die Inhaftierten beschwere. Derartige Regelwidrigkeiten machten die Inhaftnahme oder deren Verlängerung, sofern alle in der Vw 2000 dafür aufgestellten materiell-rechtlichen Voraussetzungen erfüllt seien, mit anderen Worten nur dann rechtswidrig, wenn die Belange, denen diese Maßnahmen dienten, nicht im rechten Verhältnis zur Schwere des Fehlers und zum Gewicht der dadurch verletzten Belange stünden.

23.

Schließlich weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass nach einer Aufhebung einer Entscheidung wegen festgestellter Regelwidrigkeiten bei der Vorbereitung und dem Erlass der Entscheidung die Verwaltung in der Regel noch die Möglichkeit habe, diesen Mängeln durch den Erlass einer rechtmäßigen Entscheidung in derselben Frage abzuhelfen. In Haftsachen wie den vorliegenden habe der Staatssecretaris diese Möglichkeit jedoch nach niederländischem Recht nicht.

24.

Unter Hinweis darauf, dass er den Gerichtshof nur zu den Rechtsfolgen befrage, die nach dem Unionsrecht an eine Verletzung der Verteidigungsrechte zu knüpfen seien, hat der Raad van State das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Führt die Verletzung des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte, der auch in Art. 41 Abs. 2 der Charta zum Ausdruck kommt, durch die nationale Verwaltung beim Erlass einer Verlängerungsentscheidung im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie ohne Weiteres in allen Fällen dazu, dass die Haft aufgehoben werden muss?

Lässt dieser allgemeine Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte Spielraum für eine Interessenabwägung, bei der neben der Schwere der Verletzung dieses Grundsatzes und dem Gewicht der dadurch verletzten Belange des Ausländers auch die Belange des Mitgliedstaats berücksichtigt werden, denen die Verlängerung der Haft dient?

IV – Zum Eilverfahren

25.

In seiner Vorlageentscheidung vom 5. Juli 2013 hat der Raad van State beantragt, das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen dem Eilvorabentscheidungsverfahren nach Art. 107 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu unterwerfen.

26.

Das vorlegende Gericht hat diesen Antrag damit begründet, dass Herr G. und Herr R. inhaftiert seien und dass, falls der erste Teil seiner Frage bejaht werden sollte, die Haft unverzüglich aufzuheben sei. Sollte der erste Teil hingegen verneint werden, bedeute dies, dass Spielraum für eine Interessenabwägung bestehe und der Raad van State diese dann konkret durchzuführen und zügig zu entscheiden habe, ob sie zur Aufhebung der Haft führen müsse. Das vorlegende Gericht hat außerdem darauf hingewiesen, dass eine Reihe ähnlicher Rechtssachen bei verschiedenen niederländischen Gerichten anhängig sei.

27.

Die Zweite Kammer des Gerichtshofs hat am 11. Juli 2013 auf Vorschlag des Berichterstatters und nach Anhörung des Generalanwalts entschieden, dem Antrag des vorlegenden Gerichts, das Vorabentscheidungsersuchen dem Eilverfahren zu unterwerfen, stattzugeben.

V – Beim Gerichtshof eingereichte Erklärungen

28.

Herr G. und Herr R., die niederländische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese Beteiligten und die polnische Regierung haben in der Sitzung vom 8. August 2013 mündliche Erklärungen abgegeben.

29.

Herr G. trägt vor, der Gerichtshof habe im Urteil Dokter u. a. ( 3 ) entschieden, dass der Schutz der öffentlichen Gesundheit es rechtfertigen könne, dass die zuständige Behörde angemessene Maßnahmen treffe, ohne zuvor den Betroffenen zu hören. In der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen sei, sei es um den Erlass von Maßnahmen zur Verhinderung des Auftretens und der Verbreitung der Maul- und Klauenseuche gegangen. In seinem Urteil Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission ( 4 ) habe der Gerichtshof ähnlich argumentiert. Herr G. ist allerdings der Ansicht, dass die wichtigen Interessen des Schutzes der öffentlichen Gesundheit oder der Sicherheit der Union keine Rolle bei der Prüfung der Frage spielten, ob eine Haftmaßnahme, die zur Durchführung einer Abschiebung wegen illegalen Aufenthalts erlassen worden sei, verlängert werden müsse. Im vorliegenden Fall könne keine Rede von einer außergewöhnlichen Situation sein, die eine strukturelle Verletzung der Verteidigungsrechte aller illegal aufhältigen inhaftierten Drittstaatsangehörigen rechtfertige. Das Recht auf Freiheit sei eines der grundlegendsten Menschenrechte und erfordere einen wirksamen Schutz. Überdies befänden sich inhaftierte Personen in der Regel in einer prekären Lage. Außerdem hätten die betreffenden Behörden eine Verlängerung der Haftmaßnahme über die grundsätzliche Höchstdauer von sechs Monaten hinaus lange im Voraus planen können. Schließlich macht Herr G. geltend, dass es nicht sehr schwer sei, die Verpflichtung zu beachten, das Verfahren so zu gestalten, dass der betreffende Drittstaatsangehörige und sein Bevollmächtigter angemessen auf die Bestandteile der beabsichtigten Maßnahme reagieren könnten.

30.

Nach Auffassung von Herrn R. führt eine Verletzung der Verteidigungsrechte durch die nationale Verwaltung ohne Weiteres in allen Fällen dazu, dass die Verlängerungsentscheidung und die Haft aufzuheben seien, da die Haft nicht länger als sechs Monate aufrechterhalten werden dürfe, wenn eine rechtmäßige Verlängerungsentscheidung fehle. Es sei nie unmöglich, eine Anhörung im Hinblick auf die Verlängerungsentscheidung durchzuführen, in deren Verlauf die geplante Maßnahme sowie ihr Zweck, ihre Tragweite und ihre Rechtsfolgen dem Betroffenen erläutert würden und er aufgefordert werde, sich zu äußern. Außerdem sei der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte seinem Wesen nach so bedeutend und seine Verletzung so irreparabel, dass eine Interessenabwägung nicht gerechtfertigt sei. Eine Interessenabwägung, in deren Rahmen die Belange des Mitgliedstaats eine Rolle bei der Verlängerung der Haft spielten, würde die Verteidigungsrechte illusorisch machen.

31.

Wenn eine Interessenabwägung stattfinden sollte, müsste sie nach Ansicht von Herrn R. zugunsten des Interesses des illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen ausgehen, da der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verletzt worden sei, der betreffende Staatsangehörige sich in einer Position der Schwäche und Abhängigkeit befinde und die Vorschriften und Verfahren bezüglich der Wahrung der Verteidigungsrechte den Mitgliedstaaten seit Langem bekannt seien und von ihnen ohne Schwierigkeiten angewandt werden könnten.

32.

Die niederländische Regierung trägt vor, dass zwar nach nationalem Verwaltungsrecht die Möglichkeit bestehe, sich während des Verwaltungsabschnitts, der Maßnahmen im Rahmen der Rückführungsrichtlinie vorausgehe, durch einen Bevollmächtigten vertreten zu lassen, dass aber diese Möglichkeit keine aus der Richtlinie oder einer anderen unionsrechtlichen Regelung resultierende Verpflichtung sei. Ein Verstoß gegen das nationale Verwaltungsrecht dürfe nicht automatisch zu der Schlussfolgerung führen, dass der unionsrechtliche Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte verletzt sei.

33.

Während der Haft von Herrn G. und Herrn R. hätten wiederholt Gespräche mit ihnen stattgefunden. Die Gründe für die Haft und deren Verlängerung seien ihnen daher gut bekannt gewesen. Fehler beim Erlass der Verlängerungsentscheidungen seien vermieden bzw. geheilt worden, da die Betroffenen nicht so stark benachteiligt worden seien, dass eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte festgestellt werden könnte.

34.

Die Rechtsfolgen einer Verletzung der Verteidigungsrechte richteten sich im vorliegenden Fall nach nationalem Recht. Eine solche Verletzung führe nicht ohne Weiteres in allen Fällen dazu, dass die Haft aufzuheben sei. Nach ständiger Rechtsprechung führe ein Verfahrensfehler nur dann zur vollständigen oder teilweisen Nichtigerklärung einer Entscheidung, wenn feststehe, dass die angefochtene Entscheidung ohne diesen Fehler einen anderen Inhalt hätte haben können ( 5 ).

35.

Nach Ansicht der niederländischen Regierung würde es die Wirksamkeit der Rückführungsrichtlinie und damit die Durchführung einer wirksamen Rückkehrpolitik beeinträchtigen, wenn der geringste, noch so marginale Fehler beim Erlass einer Verlängerungsentscheidung, durch den die Verteidigungsrechte berührt würden, zur Aufhebung der Haft führen müsste.

36.

Die Bestimmung der Folgen einer Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte lasse daher Spielraum für eine Interessenabwägung, insbesondere wenn die praktische Wirksamkeit der Haftverlängerungsmaßnahme dadurch irreversibel beeinträchtigt werden könnte. Was die Schwere der Verletzung angehe, müssten deren Natur und ihre Auswirkungen auf den Betroffenen geprüft werden. In den Ausgangsfällen seien die Verteidigungsrechte nur in begrenztem Maß verletzt worden, und die Lage von Herrn G. und Herrn R. habe sich nicht verschlechtert, da in beiden Fällen rechtlich gewiss sei, dass die materiell-rechtlichen Haftvoraussetzungen erfüllt gewesen seien. Außerdem seien das Gemeinwohl und insbesondere die notwendige Bekämpfung der illegalen Einwanderung sowie das Ziel der Rückführungsrichtlinie, die Durchführung einer „wirksamen Rückkehrpolitik“, zu berücksichtigen.

37.

Die polnische Regierung hat in der Sitzung geltend gemacht, dass die Folgen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta beim Erlass einer Haftverlängerungsmaßnahme nach Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie nicht in diesen Bestimmungen festgelegt seien, sondern gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie durch das nationale Recht geregelt würden. Andernfalls würden die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit verletzt. Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie nenne lediglich die Voraussetzungen für die Verlängerung und die Höchstdauer der Haft und verweise im Übrigen vorbehaltlich der Achtung der Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und des effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes auf das nationale Recht. Die Folgen einer Missachtung von Verfahrensgarantien seien vom nationalen Richter unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der bei ihm anhängigen Rechtssache zu beurteilen. Er sei somit nicht verpflichtet, eine unter Verstoß gegen die Verteidigungsrechte erlassene Entscheidung automatisch für nichtig zu erklären, und könne weitere Umstände berücksichtigen, wie den Einfluss dieses Verstoßes auf den Ausgang des Verfahrens.

38.

Die Kommission betont zunächst, dass der Freiheitsentzug im Rahmen von Haftmaßnahmen gemäß der Rückführungsrichtlinie, so einschneidend er für den Betroffenen sein möge, keinen Strafcharakter habe. Des Weiteren müssten zwar die Mitgliedstaaten bei der Durchführung eines Rückkehrverfahrens insbesondere im Fall der Haftverlängerung zunächst die Betroffenen anhören, doch ergebe sich aus Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie nicht, dass eine Verletzung des Rechts auf vorherige Anhörung bedeute, dass der Betroffene unverzüglich freizulassen sei. Im Fall einer Verletzung der Verteidigungsrechte müsse es daher möglich sein, eine Interessenabwägung vorzunehmen. Die Verteidigungsrechte seien nämlich nicht schrankenlos gewährleistet, sondern könnten Beschränkungen unterworfen werden. Folglich müsse der nationale Richter, um die Folgen einer Verletzung der Verteidigungsrechte, insbesondere des Rechts auf vorherige Anhörung, zu bestimmen, alle Umstände der Sache berücksichtigen können.

39.

Dem nationalen Richter müsse es dabei möglich sein, zum einen die Schwere der Verletzung der Verteidigungsrechte und die Möglichkeit einer Heilung des Verstoßes durch den Erlass einer neuen Entscheidung sowie zum anderen das allgemeine Interesse an einer Beendigung des illegalen Aufenthalts und einer wirksamen Rückkehrpolitik gemäß den Erwägungsgründen 4 und 6 der Rückführungsrichtlinie zu berücksichtigen. Würde der erste Teil der Vorlagefrage vorbehaltlos bejaht, wäre ein Betroffener, der nach wie vor die Haftvoraussetzungen gemäß Art. 15 Abs. 1 und 4 der Rückführungsrichtlinie erfülle, automatisch freizulassen, selbst wenn die Verteidigungsrechte möglicherweise nur geringfügig verletzt seien. Angesichts des Inhalts der Haftvoraussetzungen nach Art. 15 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie wäre eine Heilung des Verstoßes durch den Erlass einer neuen, diesmal rechtmäßigen Haftentscheidung vermutlich nicht sehr wirksam, weil der Betroffene inzwischen die Flucht habe ergreifen und so die Rückführung habe verhindern können.

40.

Eine Verneinung des ersten Teils der Vorlagefrage würde dem nationalen Gericht hingegen Spielraum für eine umfassende Bewertung der Schwere der Verletzung der Verteidigungsrechte lassen. Das nationale Gericht könnte auch die Möglichkeit einer Heilung des Verstoßes durch den Erlass einer neuen Entscheidung oder das allgemeine Interesse an einer Beendigung des illegalen Aufenthalts und der Durchsetzung einer wirksamen Rückkehrpolitik berücksichtigen.

41.

Die Interessenabwägung könne keinesfalls dazu führen, dass das allgemeine Interesse im Fall der Inhaftierung und der Rückführung stets Vorrang habe. Der nationale Richter müsse konkret und umfassend alle Interessen gegeneinander abwägen. Bei dieser konkreten Beurteilung müsse das nationale Gericht insbesondere nicht nur die Schwere des Verstoßes berücksichtigen, sondern auch die relevanten Umstände, die der Betroffene im Verwaltungsverfahren hätte geltend machen können, sowie die Wahrscheinlichkeit, dass diese Umstände den Ausgang des Verwaltungsverfahrens hätten beeinflussen können. Dieses Vorgehen könne mutatis mutandis auf den vom Gerichtshof im Urteil Distillers Company/Kommission für den Bereich des Wettbewerbsrechts verfolgten Ansatz gestützt werden. Unter den Umständen des vorliegenden Falles, in dem die Betroffenen angehört worden seien, wenn auch nicht ordnungsgemäß, und in dem auf den ersten Blick keine Umstände gegeben seien, die den Ausgang des Verwaltungsverfahrens hätten beeinflussen können, könne der nationale Richter die Interessenabwägung konkret zugunsten des allgemeinen Interesses ausgehen lassen.

VI – Prüfung

A – Vorliegen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

42.

Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof lediglich ersucht hat, sich zu der Frage zu äußern, welche unionsrechtlichen Auswirkungen die von ihm festgestellte Verletzung der Verteidigungsrechte von Herrn G. und Herrn R. hat.

43.

Die insoweit von der niederländischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen geäußerten Zweifel ( 6 ) können daher nicht berücksichtigt werden, da der Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen beantwortet, den das vorlegende Gericht in eigener Verantwortung festgelegt hat ( 7 ).

B – Der unionsrechtliche Anspruch auf rechtliches Gehör

44.

Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist ein tragender Grundsatz des Unionsrechts, und der Anspruch, in jedem Verfahren gehört zu werden, ist ein integraler Bestandteil dieses Grundsatzes. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist nicht nur in den Art. 47 und 48 der Charta verankert, die die Wahrung der Verteidigungsrechte und das Recht auf ein faires Verfahren im Rahmen aller Gerichtsverfahren garantieren, sondern auch in Art. 41 der Charta, der das Recht auf eine gute Verwaltung gewährleistet ( 8 ). Der Anspruch auf rechtliches Gehör garantiert jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen, bevor ihr gegenüber eine für ihre Interessen nachteilige Entscheidung erlassen wird ( 9 ).

45.

In der Sitzung hat die niederländische Regierung erläutert, dass das niederländische Recht eine beschleunigte gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit von Haftmaßnahmen vorsehe ( 10 ), doch in Wirklichkeit geht es im vorliegenden Fall nicht um das Recht auf gerichtlichen Rechtsschutz. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta nicht einschlägig ist, wenn die Inhaftnahme oder eine Haftverlängerung von den Gerichten angeordnet wird. In den Ausgangsfällen wurde die Haftverlängerung aber vom Staatssecretaris, einer Verwaltungsbehörde, angeordnet.

46.

Obwohl der allgemeine Ausdruck „Verteidigungsrechte“ die in den Art. 41 und 47 der Charta verankerten Rechte umfassen kann (jedoch nicht muss), meine ich, dass es sich bei den durch diese Bestimmungen gewährten Rechten um klar getrennte Rechte handelt, die in verschiedenen Zusammenhängen gelten, und zwar Ersteres im Rahmen vorgerichtlicher Verwaltungsverfahren und Letzteres im Rahmen von Gerichtsverfahren. Die betreffenden Rechte dürfen daher nicht vermengt werden, da andernfalls die Gefahr bestünde, dass das Recht des Einzelnen, gehört zu werden, wenn die Verwaltung beabsichtigt, ihm gegenüber eine ihn beschwerende Maßnahme zu erlassen, „unter den Teppich gekehrt“ wird.

47.

Aus der Formulierung der Art. 41 und 47 der Charta geht eindeutig hervor, dass der Unionsgesetzgeber die Verwaltungsunterworfenen während des gesamten Verfahrens schützen möchte. Diese beiden klar getrennten Rechte dürfen nicht verquickt werden, da dies dazu führen könnte, dass die Kontinuität des durch die Charta gewährleisteten Systems der Verteidigungsrechte beeinträchtigt wird.

48.

Meines Erachtens kann der Umstand, dass der nationale Richter nach Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie über die Rechtmäßigkeit einer von den Verwaltungsbehörden angeordneten Inhaftnahme befindet, nicht rückwirkend dazu führen, dass die Nichtbeachtung von Art. 41 der Charta durch diese Behörden unerheblich ist. Ein Verstoß gegen Art. 41 der Charta beim Erlass einer Haftverlängerungsentscheidung durch die Verwaltungsbehörden kann nicht bereits dadurch geheilt werden, dass später eine gerichtliche Kontrolle zur Verfügung steht.

49.

Die Verpflichtung der nationalen Behörden, den Anspruch auf rechtliches Gehör zu beachten, bevor sie eine für die Interessen einer Person nachteilige Entscheidung erlassen, ist seit langem in ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt ( 11 ). Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta bestätigt diese Verpflichtung ( 12 ) und verleiht ihr Verfassungsrang.

50.

Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta garantiert „jeder Person“ und damit auch illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen das Recht, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird.

51.

Aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergibt sich somit, dass sie allgemein anwendbar ist und in allen Verfahren gilt, die zu einer beschwerenden Maßnahme führen können. Sie gilt auch dann, wenn die anwendbare Regelung ein solches Verfahrensrecht nicht ausdrücklich vorsieht ( 13 ).

52.

Es ist offensichtlich, dass Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta nach Art. 51 der Charta auf die zuständigen nationalen Behörden Anwendung findet, wenn sie die Rückführungsrichtlinie umsetzen ( 14 ). Meines Erachtens geht insbesondere aus den Urteilen Dokter u. a. und M. sowie dem Urteil Honeywell Aerospace ( 15 ) nicht nur hervor, dass die nationalen Verwaltungen verpflichtet sind, bei der Umsetzung des Unionsrechts die Verteidigungsrechte zu beachten, sondern auch, dass die Betroffenen, damit diese Rechte nicht lediglich auf dem Papier oder rein formal bestehen, die Möglichkeit haben müssen, sie unmittelbar vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.

53.

Der in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör gilt notwendigerweise für Maßnahmen der Verlängerung der Haft illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, die von den nationalen Behörden gemäß den zur Umsetzung von Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie erlassenen Bestimmungen des nationalen Rechts getroffen wurden ( 16 ). Illegal aufhältige Drittstaatsangehörige werden durch derartige Maßnahmen, die zum Entzug ihrer Freiheit führen, unzweifelhaft beschwert.

54.

Auch wenn der Hinweis der Kommission richtig ist, dass die Haftmaßnahmen nach Art. 15 der Rückführungsrichtlinie keinen Strafcharakter hätten ( 17 ) und keine Gefängnisstrafen darstellten, ist zu beachten, dass der Gerichtshof im Urteil El Dridi festgestellt hat, dass es sich bei der Haftmaßnahme um die einschneidendste freiheitsbeschränkende Maßnahme handelt, die nach der Rückführungsrichtlinie im Rahmen eines Verfahrens der zwangsweisen Abschiebung zulässig ist ( 18 ). Aus diesem Grund ist die Haftmaßnahme, die zwar keinen Strafcharakter hat, gleichwohl aber zum vollständigen Freiheitsentzug führt, als äußerstes Mittel gestaltet, das nur dann vorgesehen ist, wenn die Vollstreckung der Rückkehrentscheidung in Form einer Abschiebung durch das Verhalten des Betroffenen beeinträchtigt werden könnte. Diese Maßnahme wird in den Art. 15 und 16 der Richtlinie strikt reglementiert, namentlich um die Achtung der Grundrechte der betroffenen Drittstaatsangehörigen zu gewährleisten ( 19 ). Indem die Rückführungsrichtlinie der Festlegung einer wirksamen Rückkehr- und Rückübernahmepolitik dient, die auf gemeinsamen Normen beruht, stellt sie sicher, dass die betreffenden Personen unter vollständiger Achtung der Grundrechte auf menschenwürdige Weise zurückgeführt werden ( 20 ).

55.

An dieser Stelle möchte ich mit Nachdruck betonen, dass entgegen dem Vorbringen der niederländischen Regierung ( 21 ) und der Kommission ( 22 ) eine festgestellte Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör während des Erlasses einer Haftverlängerungsmaßnahme nach Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie nicht als „marginale“ oder „begrenzte“ Verletzung dieses Anspruchs angesehen werden kann. Mit Herrn G. ( 23 ) bin ich der Ansicht, dass das Recht auf Freiheit eines der grundlegendsten Menschenrechte ist ( 24 ). Zwar ist dieses Recht nicht schrankenlos gewährleistet, sondern unterliegt insbesondere im hier relevanten Bereich der illegalen Einwanderung bestimmten Beschränkungen, doch muss jede Entscheidung der öffentlichen Stellen, die auf diese Beschränkungen gestützt ist, alle rechtlichen Voraussetzungen im Zusammenhang mit diesen Beschränkungen strikt beachten.

56.

Darüber hinaus bin ich, anders als die niederländische Regierung ( 25 ) und die Kommission ( 26 ), der Auffassung, dass die Ausführungen des Gerichtshofs in Randnr. 26 des Urteils Distillers Company/Kommission, wonach ein Verfahrensfehler nur dann zur vollständigen oder teilweisen Nichtigerklärung einer Entscheidung führt, wenn feststeht, dass die angefochtene Entscheidung ohne diesen Fehler einen anderen Inhalt hätte haben können, nicht entsprechend im Rahmen von Maßnahmen herangezogen werden können, die die persönliche Freiheit so stark beschränken wie die Haft.

57.

Grundsätzlich kann der These, dass die Anhörung der Betroffenen den Ausgang des fraglichen Verfahrens nicht hätte beeinflussen können, nur unter der Gefahr eines Eingriffs in den Wesensgehalt der Verteidigungsrechte zugestimmt werden, zumal wenn eine solche These in keiner Weise untermauert wird.

C – Zu den Auswirkungen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör

1. Hauptargumentation

58.

Selbst wenn nicht von einer marginalen Verletzung gesprochen werden könnte, macht die niederländische Regierung gleichwohl geltend, dass die Rechtsfolgen der Missachtung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte durch das nationale Recht geregelt würden ( 27 ). Die Rückführungsrichtlinie enthalte keine Bestimmungen über die Rechtsfolgen, die der nationale Richter an die Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte beim Erlass einer Verlängerungsmaßnahme im Sinne von Art. 15 Abs. 6 dieser Richtlinie knüpfen müsse. Aus Randnr. 38 des Urteils Sopropé gehe hervor, dass es in Ermangelung unionsrechtlicher Vorschriften Sache des nationalen Richters sei, unter Beachtung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität die Rechtsfolgen festzulegen, die eine Verletzung des Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte haben müsse.

59.

Ich teile diese Ansicht nicht.

60.

Wie aus Randnr. 38 des Urteils Sopropé eindeutig hervorgeht, gilt der Grundsatz der Verfahrensautonomie nur, wenn das Unionsrecht die Einzelheiten der Durchführung einer Verordnung nicht festlegt, so dass sich diese nach der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten richten ( 28 ).

61.

Auch wenn es sich um einen der seltenen Fälle handelt, in denen das Unionsrecht selbst die Sanktion der Rechtswidrigkeit vorsieht ( 29 ), sind meines Erachtens im vorliegenden Fall die Rechtsfolgen, die der nationale Richter an eine Verletzung des in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta verankerten Anspruchs auf rechtliches Gehör bei der Verlängerung der Haft eines illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen knüpfen muss, in Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie festgelegt.

62.

Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie sieht nämlich ausdrücklich und eindeutig vor: „Ist die Inhaftnahme nicht rechtmäßig, so werden die betreffenden Drittstaatsangehörigen unverzüglich freigelassen.“

63.

Diese zwingende Bestimmung lässt den Mitgliedstaaten keinen Spielraum und spiegelt den ausdrücklichen Willen des Unionsgesetzgebers wider, sicherzustellen, dass keinem illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen rechtswidrig die Freiheit entzogen werden kann.

64.

Nach Auffassung der Kommission kann Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie nicht die Rechtsfolgen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beim Erlass einer Verlängerungsmaßnahme vorsehen, da diese Bestimmung nur die inhaltlichen Voraussetzungen ( 30 ) für die Anordnung der Inhaftnahme oder der Haftverlängerung betreffe „und nicht die Entscheidung, die dazu führt“. Einer solchen Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie, bei der die Wahrung der Grundrechte unerheblich für die Frage wäre, ob eine „rechtmäßige Inhaftnahme“ vorliegt, vermag ich nicht zuzustimmen. Ich verstehe auch nicht die von der Kommission in der Sitzung getroffene Unterscheidung zwischen der Rechtmäßigkeit der Inhaftnahme und der Rechtmäßigkeit der Entscheidung, mit der die Inhaftnahme angeordnet wird. Ich kann nicht nachvollziehen, dass eine Inhaftnahme rechtmäßig bleiben soll, wenn die Entscheidung, mit der sie angeordnet wird, rechtswidrig ist.

65.

Ich schlage dem Gerichtshof deshalb vor, auf die Vorlagefrage zu antworten, dass eine Verletzung des allgemeinen Grundsatzes der Wahrung der Verteidigungsrechte (im vorliegenden Fall der Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta) durch die nationale Verwaltung beim Erlass einer Haftverlängerungsmaßnahme im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie nach Art. 15 Abs. 2 dieser Richtlinie dazu führt, dass die Maßnahme aufzuheben und der Betroffene unverzüglich freizulassen ist.

2. Hilfsargumentation

66.

Für den Fall, dass der Gerichtshof dieser Auslegung von Art. 15 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie und Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta nicht folgen sollte, möchte ich die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Folgen analysieren, die eine festgestellte Verletzung der Verteidigungsrechte und insbesondere des Anspruchs auf rechtliches Gehör in einem nationalen Verwaltungsverfahren zur Umsetzung des Unionsrechts hat, um zu ermitteln, welche Rechte ein davon Betroffener daraus herleiten kann.

67.

Ich spreche nicht von einer Interessenabwägung, wie sie das nationale Gericht vorschlägt. Wie die Überlegungen des Berichterstatters in der Sitzung gezeigt haben, führt dieser Begriff nämlich zu Ratlosigkeit, namentlich was die zu vergleichenden Umstände oder Belange angeht, ein Punkt, der in der Sitzung nicht geklärt worden ist.

68.

Zwar hat der Gerichtshof die Grundregel aufgestellt, dass die fraglichen Entscheidungen schlicht und einfach für nichtig erklärt werden ( 31 ), doch entspricht es auch ständiger Rechtsprechung, dass die Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör kein absolutes Erfordernis ist, sondern Beschränkungen unterworfen werden kann, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und keinen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und untragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antasten würde ( 32 ).

69.

So können sowohl die nationalen Behörden als auch die Unionsbehörden in Fällen großer Dringlichkeit und wenn zwingende Gründe es erfordern, individuelle, für die Betroffenen nachteilige Maßnahmen erlassen, ohne sie zuvor gehört zu haben.

70.

Der Gerichtshof hat dementsprechend eine Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör als rechtfertigbar und damit hinnehmbar angesehen, als die öffentliche Gesundheit durch die Maul- und Klauenseuche gefährdet oder die öffentliche Sicherheit durch Terrorismus bedroht war.

71.

Im Urteil Dokter u. a. hat der Gerichtshof entschieden, dass die zuständige Behörde in Anbetracht der hohen Kontagiosität der Maul- und Klauenseuche und der Notwendigkeit, diese schnell und wirksam zu bekämpfen, um die öffentliche Gesundheit zu schützen, die hierfür angemessenen Maßnahmen erlassen durfte, bevor alle potenziell Betroffenen von den Tatsachen und Unterlagen, auf die diese Maßnahmen gestützt wurden, Kenntnis erlangt und zu ihnen Stellung genommen hatten. Eine solche Beschränkung wäre nach Auffassung des Gerichtshofs nur dann ein unverhältnismäßiger Eingriff, wenn die Betroffenen die genannten Maßnahmen nicht nachträglich anfechten und in diesem Verfahren ihre Auffassung in sachdienlicher Weise vortragen könnten ( 33 ).

72.

Ferner hat der Gerichtshof im Urteil Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran ( 34 ) darauf hingewiesen, dass bei Ausgangsbeschlüssen über das Einfrieren von Geldern, die gegenüber Personen und Organisationen mit Verbindungen zu Terrornetzwerken ergehen, eine Ausnahme vom Grundrecht auf Wahrung der Verteidigungsrechte zugelassen werden kann.

73.

Diese Maßnahmen, die ohne vorherige Anhörung der Betroffenen ergingen, sind nämlich durch die Notwendigkeit, die Wirksamkeit von Maßnahmen des Einfrierens von Geldern zu gewährleisten, und letztlich durch zwingende Gründe der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Union und ihrer Mitgliedstaaten gerechtfertigt ( 35 ). Der Gerichtshof hat allerdings entschieden, dass die Behörden den Betroffenen gleichzeitig mit oder unmittelbar nach dem Erlass der Maßnahmen die diese rechtfertigenden Umstände mitteilen und sie anhören müssen ( 36 ).

74.

Ich pflichte zwar der niederländischen Regierung bei, dass alle Umstände des konkreten Falles zu berücksichtigen sind, doch meine ich wie Herr G. ( 37 ), dass die außergewöhnlichen, durch eine gravierende und extreme Dringlichkeit gekennzeichneten Umstände, die in den Rechtssachen Kadi I und Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran in Bezug auf Maßnahmen des Einfrierens von Geldern bzw. in der Rechtssache Dokter u. a. bezüglich der Maul- und Klauenseuche vorlagen, in den Ausgangsfällen völlig fehlen.

75.

Erstens sind die globale Bedrohung durch den Terrorismus, die den raschen Erlass von Maßnahmen des Einfrierens von Geldern erforderlich macht, und die ernste Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch die Maul- und Klauenseuche von anderer Schwere bzw. anderem öffentlichen Interesse als die Gefahr, dass ein illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger die Flucht ergreift.

76.

Außerdem waren die niederländischen Behörden, wie Herr R. ausführt, durch nichts an einer wirksamen vorherigen Anhörung der Betroffenen im Hinblick auf den Erlass der Haftverlängerungsmaßnahmen gehindert, und diese Verfahrensgarantie konnte ohne Schwierigkeiten beachtet werden, zumal keine Dringlichkeit vorlag, da die Betroffenen bereits inhaftiert waren und daher keine Fluchtgefahr bestand ( 38 ).

77.

Schließlich lässt sich den dem Gerichtshof vorgelegten Akten in keiner Weise entnehmen, dass Herr G. und Herr R. versucht hätten, die durch die Rückführungsrichtlinie eingeführten Verfahren einschließlich der Bestimmungen über Haftmaßnahmen missbräuchlich zu instrumentalisieren, um die Verletzung ihrer in den Ausgangsfällen in Rede stehenden Rechte herbeizuführen.

78.

Zweitens sind die Beschränkungen des Vermögensrechts, um die es in den Urteilen Dokter u. a., Kadi I und Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran ging, nicht mit einer extremen oder – mit den Worten der Kommission – „einschneidenden“ ( 39 ) Maßnahme wie der Verlängerung des Freiheitsentzugs für illegal aufhältige Drittstaatsangehörige um zwölf Monate vergleichbar.

79.

Drittens ist die Frage, ob Umstände vorliegen, die den Erlass von Maßnahmen unter Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör rechtfertigen könnten, beim Erlass dieser Maßnahmen zu klären und nicht danach.

80.

Ich meine nämlich, dass eine Modifizierung der Folgen einer Grundrechtsverletzung nicht dazu dienen darf, sie später zu heilen, wenn beim Erlass der streitigen Maßnahme keine zwingenden Gründe vorgelegen haben.

81.

In Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs und von Umständen wie denen der Ausgangsfälle kann die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nur zur Aufhebung der streitigen Entscheidungen und zur Freilassung der Betroffenen führen.

D – Eine Alternative?

82.

Neben den vom vorlegenden Gericht in Betracht gezogenen Folgen, nämlich der Aufhebung der streitigen Entscheidungen mit anschließender Freilassung der Betroffenen oder der Aufrechterhaltung dieser Entscheidungen und damit der Haft, ist in der Sitzung eine dritte Vorgehensweise erörtert worden, und zwar die Aufhebung der streitigen Entscheidungen und der gleichzeitige Erlass neuer, rechtmäßiger Entscheidungen (oder der Erlass neuer, rechtmäßiger Verwaltungsentscheidungen vor Aufhebung der streitigen Entscheidungen).

83.

Der Gerichtshof selbst hat im Urteil Kadi I die Möglichkeit anerkannt, die Rechtsfolgen einer den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzenden Entscheidung zu mildern.

84.

In den Randnrn. 373 bis 376 des Urteils Kadi I hat der Gerichtshof nämlich angesichts der schweren und irreversiblen Auswirkungen, die eine Nichtigerklärung der Maßnahmen des Einfrierens von Geldern auf die Wirksamkeit dieser Restriktionen hätte, die Wirkungen der unter Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör erlassenen Maßnahmen während eines kurzen Zeitraums aufrechterhalten, um es den Behörden zu ermöglichen, die festgestellten Verstöße zu heilen.

85.

Zunächst ist anzumerken, dass diese Lösung Ausgangsbeschlüsse über das Einfrieren von Geldern betraf, bei denen ein Überraschungseffekt erforderlich war, was im vorliegenden Fall nicht zutrifft. Vor allem aber möchte ich darauf hinweisen, dass, wie auch in der Sitzung bestätigt und vom vorlegenden Gericht sowohl für die Haftentscheidung als auch für die Haftverlängerungsentscheidung angegeben wurde, der Staatssecretaris nach nationalem Recht keine entsprechende Befugnis hat ( 40 ).

VII – Ergebnis

86.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage des Raad van State wie folgt zu beantworten:

Verletzt die nationale Verwaltung beim Erlass einer Haftverlängerungsmaßnahme im Sinne von Art. 15 Abs. 6 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger das in Art. 41 Abs. 2 Buchst. a der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankerte Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen wird, führt dies nach Art. 15 Abs. 2 dieser Richtlinie dazu, dass die Maßnahme aufzuheben und der Betroffene unverzüglich freizulassen ist.

Hilfsweise: Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den unionsrechtlichen Folgen einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör führt in Fällen wie denen des Ausgangsverfahrens dazu, dass die streitigen Haftverlängerungsentscheidungen aufzuheben und die inhaftierten Drittstaatsangehörigen freizulassen sind.


( 1 ) Originalsprache: Französisch.

( 2 ) ABl. L 348, S. 98.

( 3 ) Urteil vom 15. Juni 2006 (C-28/05, Slg. 2006, I-5431).

( 4 ) Urteil vom 3. September 2008 (C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, im Folgenden: Urteil Kadi I).

( 5 ) Urteile vom 10. Juli 1980, Distillers Company/Kommission (30/78, Slg. 1980, 2229, Randnr. 26) (Wettbewerbssache), vom 21. März 1990, Belgien/Kommission (C-142/87, Slg. 1990, I-959, Randnr. 48) (Beihilfesache), und vom 2. Oktober 2003, Thyssen Stahl/Kommission (C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Randnr. 31) (Wettbewerbssache).

( 6 ) Auch wenn sie in der Sitzung einige Fehler der Verwaltung beim Erlass der streitigen Entscheidungen eingeräumt hat.

( 7 ) Vgl. entsprechend Urteil vom 20. Mai 2010, Ioannis Katsivardas – Nikolaos Tsitsikas (C-160/09, Slg. 2010, I-4591, Randnr. 27).

( 8 ) Urteil vom 22. November 2012, M. (C‑277/11, Randnr. 82).

( 9 ) Ebd. (Randnr. 87).

( 10 ) In den Ausgangsfällen haben Herr G. und Herr R. die Rechtbank Den Haag angerufen, die innerhalb von ungefähr einem Monat über die Rechtmäßigkeit der Haftverlängerungen befunden hat. Siehe Nrn. 16 und 17 der vorliegenden Stellungnahme.

( 11 ) Vgl. u. a. Urteile vom 24. Oktober 1996, Kommission/Lisrestal u. a. (C-32/95 P, Slg. 1996, I-5373, Randnr. 21), vom 28. März 2000, Krombach (C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Randnr. 42), vom 21. September 2000, Mediocurso/Kommission (C-462/98 P, Slg. 2000, I-7183, Randnr. 36), vom 9. Juni 2005, Spanien/Kommission (C-287/02, Slg. 2005, I-5093, Randnr. 37), und vom 18. Dezember 2008, Sopropé (C-349/07, Slg. 2008, I-10369, Randnr. 37).

( 12 ) Vgl. Urteil vom 18. Juli 2013, Kommission u. a./Kadi (C‑584/10 P, C‑593/10 P und C‑595/10 P, Randnr. 99).

( 13 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil M. (Randnrn. 84 und 86).

( 14 ) Vgl. Art. 1 und den 24. Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie.

( 15 ) Urteil vom 20. Januar 2005 (C-300/03, Slg. 2005, I-689).

( 16 ) Die Worte „im Einklang mit dem einzelstaatlichen Recht“ in Art. 15 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie beziehen sich meiner Ansicht nach nur auf die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Dauer einer etwaigen Haftverlängerung auf höchstens zwölf Monate festzusetzen.

( 17 ) Siehe Nr. 38 der vorliegenden Stellungnahme. Vgl. in diesem Sinne die Stellungnahme von Generalanwalt Mázak in der Rechtssache El Dridi (Urteil vom 28. April 2011, C-61/11 PPU, Slg. 2011, I-3015, Nr. 35).

( 18 ) Randnr. 42 des Urteils El Dridi. Grundsätzlich hat die freiwillige Durchführung einer nach Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie erlassenen Rückkehrentscheidung Vorrang. Nach Art. 7 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie sieht diese Entscheidung eine angemessene Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise vor. Für den Fall, dass die betreffende Person ihrer Rückkehrverpflichtung nicht innerhalb der für die freiwillige Ausreise eingeräumten Frist nachgekommen ist, geht aus Art. 8 Abs. 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 hervor, dass diese Vorschriften, um die Wirksamkeit der Rückkehrverfahren zu gewährleisten, den Mitgliedstaat, der eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen erlassen hat, verpflichten, bei der Vornahme der Abschiebung, bei der er alle erforderlichen Maßnahmen trifft, zu denen gegebenenfalls auch Zwangsmaßnahmen gehören, unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und insbesondere der Grundrechte vorzugehen. Vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi (Randnrn. 36 bis 38).

( 19 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil El Dridi (Randnr. 42).

( 20 ) Vgl. Urteil El Dridi (Randnr. 31) und den zweiten Erwägungsgrund der Rückführungsrichtlinie.

( 21 ) Siehe Nrn. 35 und 36 der vorliegenden Stellungnahme.

( 22 ) Siehe Nr. 39 der vorliegenden Stellungnahme.

( 23 ) Siehe Nr. 29 der vorliegenden Stellungnahme.

( 24 ) Vgl. Art. 6 der Charta. Außerdem bestimmt Art. 5 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten unter der Überschrift „Recht auf Freiheit und Sicherheit“:

„(1)   Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden:

f)

rechtmäßige Festnahme oder Freiheitsentziehung zur Verhinderung der unerlaubten Einreise sowie bei Personen, gegen die ein Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren im Gange ist.

….“

( 25 ) Siehe Nr. 34 der vorliegenden Stellungnahme.

( 26 ) Siehe Nr. 41 der vorliegenden Stellungnahme.

( 27 ) Siehe Nr. 34 der vorliegenden Stellungnahme.

( 28 ) In Randnr. 38 des Urteils Sopropé hat der Gerichtshof entschieden: „… Was die Umsetzung [des] Grundsatzes [der Wahrung der Verteidigungsrechte] und insbesondere die Fristen zur Wahrnehmung der Verteidigungsrechte angeht, richten sich diese, wenn sie wie im Ausgangsverfahren nicht durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt sind, nach nationalem Recht, sofern sie denen entsprechen, die für Einzelne oder Unternehmen in vergleichbaren unter das nationale Recht fallenden Situationen gelten, und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Verteidigungsrechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.“

( 29 ) In Randnr. 47 des Urteils El Dridi hat der Gerichtshof entschieden, dass „die Art. 15 und 16 der [Rückführungsrichtlinie] unbedingt und hinreichend genau sind, ohne dass es weiterer besonderer Gesichtspunkte bedürfte, um ihre Umsetzung durch die Mitgliedstaaten zu ermöglichen“.

( 30 ) Das heißt die materiell-rechtlichen Voraussetzungen nach Art. 15 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie, wie Fluchtgefahr oder die Behinderung der Rückkehr oder des Abschiebungsverfahrens.

( 31 ) Vgl. Urteile Kommission/Lisrestal (Randnr. 45), Mediocurso/Kommission (Randnr. 50) und vom 29. Juni 1994, Fiskano/Kommission (C-135/92, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 44).

( 32 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil Dokter u. a. (Randnr. 75 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 33 ) Ebd. (Randnr. 76).

( 34 ) Urteil vom 21. Dezember 2011 (C-27/09 P, Slg. 2011, I-13427, Randnrn. 61 bis 67).

( 35 ) Urteile Kadi I (Randnr. 342) und Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran (Randnr. 67).

( 36 ) Urteile Kadi I (Randnr. 345) und Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran (Randnr. 61).

( 37 ) Siehe Nr. 29 der vorliegenden Stellungnahme.

( 38 ) Analog sei darauf hingewiesen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass der Überraschungseffekt bei einem Folgebeschluss über das Einfrieren von Geldern, mit dem die gegenüber einer Person oder Organisation getroffenen Maßnahmen aufrechterhalten werden (ein Beschluss, der mit Haftverlängerungsentscheidungen wie den in den Ausgangsfällen in Rede stehenden vergleichbar ist), nicht mehr erforderlich ist, um die Wirksamkeit der Maßnahmen sicherzustellen, so dass grundsätzlich vor Erlass solcher Maßnahmen die belastenden Umstände mitgeteilt werden müssen und der betroffenen Person oder Organisation Gelegenheit zur Anhörung gegeben werden muss (Urteil Frankreich/People’s Mojahedin Organization of Iran, Randnr. 62).

( 39 ) Siehe Nr. 38 der vorliegenden Stellungnahme.

( 40 ) Siehe Nr. 23 der vorliegenden Stellungnahme.

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